Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie
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Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie Annette Nageleisen-Weiss und Peter Weber Abteilung Neuropädiatrie und Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital beider Basel, Basel Zusammenfassung the seizures, but also on an unimpaired cognitive, social, and emotional development. The manuscript gives a Epilepsien stellen eine der häufigsten chronischen review about frequency and course of cognitive impair- neurologischen Erkrankungen im Kindesalter dar. Der ments in children with epilepsy, whereas several studies Einfluss der Epilepsie auf die allgemeine Entwicklung document, that in the majority of children these comor- und den Sozialisationserfolg der Kinder hängt neben bid associations exist before the first seizure occurs. We der erfolgreichen Therapierbarkeit der Anfälle wesent- discuss the functional relevance of the cognitive impair- lich von einer unbeeinträchtigten kognitiven, emotio- ment for a successful graduation at school, the develop- nalen und sozialen Entwicklung ab. Der Artikel gibt ei- ment of an age-adapted daily function level, the level of nen Überblick über die Häufigkeit und den Verlauf der quality of life experience and for a successful socializa- kognitiven Beeinträchtigungen von Kindern mit einer tion. The relevance of epileptic discharges is discussed at Epilepsie, die bereits oftmals zum Zeitpunkt des ersten the example of hypsarrhythmia. Further the phenomena zerebralen Anfalls vorhanden sind. Es werden die funk- of abnormal slow-wave slopes as well as impaired con- tionelle Bedeutung der kognitiven Beeinträchtigung für nectivity in the default-mode network as documented den Schulerfolg, die Selbstständigkeitsentwicklung, die by neuroimaging techniques are described and espe- Lebensqualität und den Sozialisationserfolg diskutiert. cially documented in childhood epilepsy such as frontal Pathophysiologisch wird die Bedeutung anhaltender lobe epilepsy and benign epilepsy with centro-temporal epileptischer Entladungen in der Elektroenzephalo- spikes (Rolando epilepsy). These aspects are discussed in graphie am Beispiel der Hypsarrhythmie erörtert. Wei- their pathophysiological relevance for the association of ter wird die Bedeutung der veränderten „slow-wave epilepsy and cognitive impairment. Neuropsychological slopes“ im Schlaf sowie einer gestörten Konnektivität screening procedures such as the EpiTrack junior© and in den Ruhephasen, neuroradiologisch gemessen über the BRIEF© are presented. „resting state“-Phänomene, bei Frontallappen-Epilep- Besides an effective pharmacological treatment a sien, aber auch bei der Rolando-Epilepsie beschrieben. comprehensive neuropsychological diagnostic work-up Die neuropsychologischen Screeningverfahren EpiTrack is helpful to catch associated impairments, to install junior© und der BRIEF© werden vorgestellt. adequately supportive interventions and thereby to im- Neben einem guten pharmakologischen Manage- prove the long term health care and prognosis of chil- ment kann eine neuropsychologische Diagnostik dazu dren suffering from epilepsy. beitragen, assoziierte Beeinträchtigungen zu erfassen, adäquate supportive Interventionen zu installieren und Key words: Childhood epilepsy, cognition, neuropsy- somit die langfristige psychosoziale Versorgung und chological diagnostics, successful socialization, sleep, Prognose der Kinder mit einer Epilepsie zu verbessern. resting state Epileptologie 2016; 33: 4 – 12 Les altérations cognitives chez l’enfant épilep- Schlüsselwörter: Kindliche Epilepsie, Kognition, neuro- tique psychologische Diagnostik, erfolgreiche Sozialisation, Schlaf, resting state L’épilepsie est l’une des maladies neurologiques chroniques les plus fréquentes de l’enfance. Les réper- cussions de l’épilepsie sur le développement général et Cognitive Impairments in Children with Epilepsy la réussite sociale des enfants dépendent bien entendu de la possibilité de traiter efficacement les crises, mais Epilepsy is one of the most frequently observed aussi essentiellement du bon développement cognitif, chronic neurological diseases in childhood. The effect of émotionnel et social de l’enfant. Cet article synthétise epilepsy on the global development and the successful les informations sur la fréquence et l’évolution des alté- socialization is dependent on the effective treatment of rations cognitives d’enfants épileptiques souvent déjà 4 Epileptologie 2016; 33 Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie | A. Nageleisen-Weiss, P. Weber
présentes au moment de la première crise cérébrale. Il Einführung y est par ailleurs question du rôle fonctionnel de l’alté- ration cognitive pour la réussite scolaire, le dévelop- Die Epilepsie ist im Kindes- und Jugendalter eine pement de l’autonomie, la qualité de vie et la réussite der häufigsten chronischen neurologischen Erkrankun- sociale. Sur le plan physiopathologique, la significa- gen, die mit einem breiten Spektrum an kognitiven, tion des décharges épileptiques persistantes sur l’élec- leistungsbezogenen, emotionalen und sozialen Beein- troencéphalogramme est abordée à l’exemple de l’hyp- trächtigungen verbunden ist. sarythmie. L’article décrit ensuite la signification des Die Prävalenz der Epilepsie wird im Kindes- und « slow-wave slopes » durant le sommeil et d’une Jugendalter in der Literatur zwischen 1,5 - 8 pro 1000 connectivité perturbée dans les phases de repos, mesu- angegeben [1] und, obwohl bis zu 70 % der pädiat- rées par neuroradiologie par rapport aux phénomènes risch-epileptischen Erkrankungen remittieren, haben de « resting state », dans l’épilepsie du lobe frontal, alle Kinder mit chronisch aktiven Epilepsien ein erhöh- mais aussi dans l’épilepsie rolandique. Des procédés tes Risiko, insbesondere in den Bereichen Aufmerksam- de dépistage neuropsychologiques, tels que l’EpiTrack keit, Gedächtnis und kognitive Verarbeitungsgeschwin- junior© et le BRIEF© sont présentés. digkeit, aber auch im emotionalen und sozialen Verhal- Outre une bonne gestion pharmacologique, un dia- tensbereich Probleme zu entwickeln [1]. Auch wenn die gnostic neuropsychologique peut aider à repérer les epileptischen Anfälle im Krankheitsverlauf sistieren, répercussions associées, à mettre en place des interven- können die genannten Ko-Morbiditäten weit über die tions adéquates de soutien et ainsi à améliorer à long aktive Periode des Anfallsgeschehens hinaus bis ins terme la prise en charge psychosociale et le pronostic Erwachsenenalter fortbestehen. Daraus resultierende des enfants souffrant d’épilepsie. Lernschwierigkeiten und dem Begabungsniveau nicht entsprechende, schwächere Schulleistungen sind be- Mots clés : Epilepsie de l’enfant, cognition, diagnostic kannte Folgen, die zu ungünstigen beruflichen, sozialen neuropsychologique, socialisation réussie, sommeil, und psychosozialen Entwicklungen führen. resting state Die Epilepsie stellt in jeder Altersstufe ein Risiko für die Entwicklung neurokognitiver und sozial-emotiona- ler Störungen dar, wobei sich das Risiko über die ver- schiedenen Epilepsie-Syndrome auch intra- und interin- dividuell unterschiedlich verteilt. Tabelle 1: Einflussvariablen auf die kognitive Leistungsfähigkeit (5= steigert; 6= senkt; (?) = fraglicher Einfluss), Einflussrichtung dargestellt von Spalte zu Zeile. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) Hypersynchrone Aktivität (1) - 5 5 6 5 5 5 6 zerebrale Anfälle (2) - Antiepileptische Medikation (3) 6 6 - 6 5 6 5 5 5 5 6 Neuronale Dysfunktion (4) - Psychosoziale Belastung (5) 5? 5? 5? - 6 Psychosoziale Förderung (6) 6? 6? 6? - 5 Kognitive Leistungsfähigkeit (7) - Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie | A. Nageleisen-Weiss, P. Weber Epileptologie 2016; 33 5
Das Thema „Kognitive Veränderungen und Epilepsie im einer Verlangsamung der kognitiven Entwicklung, son- Kindesalter“ umfasst folgende Themenbereiche: dern im Sinne der epileptischen Enzephalopathie zum • geistige Behinderungen und Epilepsie regressiven Verlust prämorbid vorhandener kognitiver • kognitive Beeinträchtigung und Anfälle als unab- Fähigkeiten führen. hängige Symptome einer gemeinsamen zugrunde- liegenden neuronalen Funktionsstörung • epileptische Enzephalopathien Kognition – Definition und Einflussfaktoren • medikamenteninduzierte kognitive Beeinträchti- gung Kognition ist ein Sammelbegriff für alle Vorgänge, die die mentale Fähigkeit, Informationen aus der Um- Der Einfluss von mentaler Prädisposition, chroni- welt aufzunehmen, zu verarbeiten und daraus resultie- scher oder akuter neuronaler Funktionsstörung inkl. rende adaptive Handlungen an die Anforderungen der hypersynchroner Entladungen in der Elektroenzepha- Umwelt zu zeigen, betreffen. Sie bezeichnet somit alle lographie und manifester epileptischer Anfälle, sowie reizverarbeitenden und auch selbstreflexiven Prozesse, kognitiver Auswirkungen der antiepileptischen Medi- beginnend bei der sensorischen Kodierung, zentralen kation und psychosozialer Belastungsfaktoren auf die Reizerkennung/Reizvergleich mit Reaktionsentscheid kognitive Leistungsfähigkeit ist uni-, wie auch multi- und letztlich motorischer Antwortvorbereitung und variabel komplex und kann im Einzelfall oft nicht mit Durchführung einer Handlung sowie Effektkontrolle. ausreichender Sicherheit differenziert werden (siehe Damit verbunden sind auch die Sprache und das Tabelle 1). Verhalten als individuelle Antwortmöglichkeiten auf Im Einzelfall kann eine bis zum Auftreten der epi- wechselnde soziale Kontexte und Anforderungen, als leptischen Anfälle unbeeinträchtigte kognitive Ent- Ausdruck und Erfahrung von Gefühltem sowie zur Auf- wicklung weiterhin bei erfolgreicher Behandlung einen rechterhaltung interpersoneller Beziehungen. unbeeinträchtigten Verlauf nehmen. Andererseits kann eine konstitutionelle Beeinträchtigung der kognitiven Im engeren Sinne umfassen kognitive Prozesse fol- Entwicklung im Rahmen des Auftretens der Epilepsie gende neuropsychologische Kern-Funktionen: deutlich exazerbieren. Dabei ist die prämorbide Stö- • Logisches Denken (inklusive Abstraktionsleistung rung gerade bei jungen Kindern oft bis zum Auftreten und Regelerkennung) der Anfälle klinisch wenig offensichtlich, so dass die • Exekutive Funktionen (inklusive mentale Hand- Anfälle oder die antiepileptische Medikation im Verlauf lungsplanungs- und Handlungskontrolle) für die Merkmale der kognitiven Beeinträchtigung von • Gedächtnis (inklusive der Teilfunktionen Arbeitsge- Betreuern des Kindes fälschlicherweise allein verant- dächtnis, Langzeitgedächtnis, deklaratives und epi- wortlich gemacht werden. Eine therapierefraktäre Situ- sodisches Gedächtnis) ation kann andererseits in manchen Fällen nicht nur zu • Aufmerksamkeit (inklusive der Teilfunktionen Dau- Tabelle 2: Zu berücksichtigende Einflussfaktoren bei der Beurteilung des Zusammenhangs zwischen Kognition und Epilepsie im Kindes- und Jugendalter Kind Epilepsie Medikation Grundintelligenz Epilepsietyp welches Medikament Entwicklungsstand Epilepsiedauer Mono- vs. Polytherapie Alter Behandelbarkeit Medikamentenspiegel Anzahl der Anfälle nach soziookönomischer Hintergrund Kurzzeiteffekt/Dauermedikation vs. vor Therapiebeginn Effekt nach Beginn Genetik Persistierende EEG-Veränderungen vs. nach Beendigung 6 Epileptologie 2016; 33 Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie | A. Nageleisen-Weiss, P. Weber
eraufmerksamkeit, selektive Aufmerksamkeit, Ab- • 22 % der Kinder wiesen eine leichte Retardierung lenkbarkeit) auf • die Geschwindigkeit der mentalen Informationsver- • 28 % eine mittlere bis schwere Retardierung arbeitung • Der mittlere IQ lag mit 76 signifikant unter dem Mit- • die motorische Reaktionsgeschwindigkeit telwert der Normalbevölkerung • die Sprachleistung (inklusive der Teilfunktionen des Sprachflusses und sprachlichen Ausdrucks) • die visuo-räumliche Wahrnehmung und visuo-kon- Kognition und aktive Epilepsie im Schulalter struktive Fähigkeit Eine weitere populationsbasierte Studie aus Eng- Diskutieren wir an dieser Stelle den Zusammen- land [3] untersuchte die kognitiven Profile von 85 hang von Epilepsie und Kognition im Kindes- und Schulkindern mit aktiver Epilepsie im Alter von 5 - 15 Jugendalter, so wird neben der Vielzahl der beschriebe- Jahren, unter besonderer Berücksichtigung der Häu- nen kognitiven Prozesse eine Vielzahl der in Tabelle 2 figkeit von globalen Entwicklungsretardierungen, so- aufgeführten Faktoren zu berücksichtigen sein, was wie verschiedener Aspekte des Arbeitsgedächtnisses eine eineindeutige Zuordnung im klinischen Alltag oft und der Verarbeitungsgeschwindigkeit („processing schwierig macht. speed“). Die Studienteilnehmer wurden einer ausführ- Die Bedeutung prämorbider neuronaler und kogni- lichen entwicklungspsychologischen Diagnostik zu- tiver Merkmale bei der Beurteilung der Kognition im geführt (Wechsler Abbreviated Scale of Intelligence, Rahmen der kindlichen Epilepsien wurde in den letz- „processing speed“: „subtest Coding“, „Symbol Search“; ten Jahren verstärkt untersucht, indem die kognitiven „working memory“: „subtests Digit Recall“, „Block Merkmale zum Zeitpunkt des ersten epileptischen An- Recall“, „Backward Digit Recall“, „Counting Recall“ aus falls erfasst wurden. Working Memory Test Battery for Children). Mittels standardisierter Fragebogen wurden Eltern und Lehrer zusätzlich im Hinblick auf das Auftreten von Kernmerk- Kognition und aktive Epilepsie im Vor-Schulalter malen einer Autismus-Spektrumsstörung, einer Auf- merksamkeitsstörung, von Ängsten und motorischen Im Rahmen einer populationsbasierten finnischen Koordinationsproblemen befragt. Studie [2] wurden 64 Vorschulkinder im Alter von 3 bis 7 Jahren mit den Wechsler Scales of Intelligence unter- Dabei zeigte sich folgende Verteilung der Ergebnisse: sucht. • 55 % der Kinder zeigten einen IQ < 85, wobei 40 % einen IQ < 70 und 24 einen IQ < 24 aufwiesen Dabei zeigten sich folgende Ergebnisse: • Die Werte für die Verarbeitungsgeschwindigkeit la- • 50 % der betroffenen Kinder zeigten normale oder gen signifikant unter den Werten des Verbal- oder im Grenzbereich liegende kognitive Fähigkeiten Handlungs-IQ (Teilleistungsstörung) (hier definiert als IQ ≥ 70) • 58 % der Kinder zeigten schwächere Leistungen in mindestens 1 der 4 Gedächtnistests Tabelle 3: Faktoren, die im Rahmen pädiatrischer populationsbasierter Studien mit einer beeinträchtigten kognitiven Leistung assoziiert sind (MRI = Magnetresonanztomographie; ADHS = Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätssyndrom) Rantanen et al., 2011 [2] Reilly et al., 2015 [1] Medikation Alter zum Zeitpunkt des 1. Anfalls Alter zum Zeitpunkt des 1. Anfalls welches Medikament Strukturelle Epilepsie Antiepileptische Polytherapie Mono- vs. Polytherapie Pathologisches MRI Co-morbide Merkmale eines ADHS Medikamentenspiegel Weitere neurolog. Symptomatik Co-morbide Koordinationsstörung Kurzzeiteffekt/Dauermedikation Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie | A. Nageleisen-Weiss, P. Weber Epileptologie 2015; 32 7
Die Studie belegte einerseits eine hohe Rate an glo- punkt des ersten Anfalls ebenfalls nicht generell, son- balen aber auch spezifischen kognitiven Schwierigkei- dern vor allem bei den Kindern nachweisbar war, die ten bei Kindern mit Epilepsie. Die in beiden Studien mit bereits prämorbid durch schlechtere Schulleistungen einem beeinträchtigten kognitiven Profil assoziierten aufgefallen waren und/oder eine spezifische Anfallslo- Faktoren sind in der Tabelle 3 aufgeführt. kalisation (Temporallappenepilepsie) aufwiesen. Kognitives Profil zum Zeitpunkt des ersten Anfalls Verlauf kognitiver Fähigkeiten nach Beginn der Epilepsie Die im Rahmen verschiedener Studien nachgewie- sene Häufung kognitiver Beeinträchtigungen bei Kin- Ein weiterer Aspekt der Assoziation zwischen dern und Jugendlichen mit einer Epilepsie und deren Kognition und Epilepsie beschäftigt sich mit der kli- Assoziation mit einer Reihe klinischer Faktoren (u.a. nisch relevanten Frage nach der Entwicklung der kog- Ätiologie, Alter bei Erkrankungsbeginn, Anfalls-Typus, nitiven Fähigkeiten im Verlauf der epileptischen Erkran- Schwere und Häufigkeit der Anfälle, antiepileptische kung. Rathouz et al. [6] konnten 2014 in Übereinstim- Therapie) werfen die Frage auf, in welcher Form und mung mit der oben zitierten Arbeit von Hermann et al. welchem Ausmass die Veränderungen bereits zu Be- nachweisen, dass im Durchschnitt die kognitiven Fähig- ginn der Erkrankung vorhanden sind, beziehungsweise keiten bei Kindern mit einer Epilepsie bereits prämor- sich diese erst im Laufe der Zeit entwickeln oder später bid reduziert waren, wobei in diesen Untersuchungen evident werden. gezeigt werden konnte, dass diese mittlere Differenz Eine Studie von Hermann et al. (2006) [4] verglich gegenüber der gesunden Vergleichspopulation über 5 - die neuropsychologischen Daten von 56 Kindern im Al- 6 Jahre hinweg stabil blieb. ter von 8 - 18 Jahren mit neu aufgetretener Epilepsie Um den Verlauf der kognitiven Entwicklung bei Kin- bezüglich Intelligenz, Sprache, Gedächtnis, Exekutiv- dern mit neu aufgetretener Epilepsie zu beschreiben, funktionen und Psychomotorik, als auch volumetrische untersuchten die Autoren Kinder im Alter von 8 - 18 Daten der Hirnstruktur (graue und weisse Substanz) Jahren (n = 69) mit neu aufgetretener Epilepsie neu- mit denen gesunder Kontrollkinder (n = 50). ropsychologisch bei Diagnosestellung, 2 Jahre nach dem ersten Anfall und 5 - 6 Jahre später im „follow-up“. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Es wurden Intelligenz, schulische Leistungen, Exekutiv- • Kinder mit einer Epilepsie in allen untersuchten funktionen und psychomotorische Geschwindigkeit mit neuropsychologischen Funktionsbereichen milde einer Gruppe gesunder Kinder verglichen (n = 62). Die kognitive Defizite bereits zum Zeitpunkt des ersten Daten wurden im Gruppenvergleich und in einer Sub- zerebralen Anfalles aufwiesen gruppenanalyse untersucht, bei der nach der Diagnose • Kinder mit einer Epilepsie schlechtere Schul- einer fokalen vs. idiopathisch generalisierten Epilepsie leistungen zeigten, die bei einem Teil der betrof- differenziert wurde. Kognitive Defizite zeigten die Kin- fenen Kinder dem ersten beobachteten Anfall be- der mit einer Epilepsie zum Zeitpunkt der Diagnosestel- reits vorausgingen, und zwar unabhängig davon, lung beim Rechnen, in der Aufmerksamkeit, der Reak- welches Epilepsiesyndrom vorlag tionsinhibition, in der feinmotorischen Geschicklichkeit • sowohl bei Patienten mit einer fokalen, als auch mit und psychomotorischen Geschwindigkeit. Die Defizite einer primär generalisierten Epilepsie gegenüber blieben über 5 - 6 Jahre stabil. Diese Verlaufsbeobach- den Kontrollen signifikant schlechtere Intelligenz- tung fand sich für beide Krankheitsgruppen (fokale und leistungen nachzuweisen waren generalisierte Epilepsie), wobei die Patienten mit einer • beeinträchtigte Exekutivfunktionen als auch gerin- fokalen Epilepsie der Gruppe der Kinder mit einer gene- gere psychomotorische Geschwindigkeit zu finden ralisierten Epilepsie in den Bereichen Rechnen, Reakti- waren onsinhibition und psychomotorische Geschwindigkeit • die Kinder mit einer fokalen Epilepsie sich zusätzlich überlegen waren. in den Bereichen der Sprache und des Gedächtnisses von den Kontrollkindern signifikant unterschieden. Aufmerksamkeitsstörung und Epilepsie Anhand einer Subgruppenanalyse konnten die Au- toren belegen, dass die durchschnittlich schlechteren Bei der Evaluation der Frage nach einem Zusam- kognitiven Leistungen vor allem auf die Subgruppe zu- menhang zwischen Kognition und Epilepsie im Kindes- rückgeführt werden konnte, die bereits vor dem ersten alter wird der Aufmerksamkeitsleistung ein besonderes Anfall in der Schule spezifischer unterstützender Mass- Augenmerk gewidmet. Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ nahmen bedurfte. Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stellt die am häufigsten In einer weiteren Studie dokumentierte die Arbeits- berichtete komorbide Störung bei Epilepsien im Kin- gruppe um Hermann et al. (2008) [5], dass die Redukti- desalter dar. Etwa 1/3 der Kinder mit Epilepsie erfüllen on der Volumina in bestimmten Hirnregionen zum Zeit- zusätzlich die Kriterien eines ADHS. In einer kontrollier- 8 Epileptologie 2016; 33 Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie | A. Nageleisen-Weiss, P. Weber
ten prospektiven Studie wurde die kognitive Reifung/ Kognitionsdefizite und Schulleistung Entwicklung von Hermann et al. (2008) [5, 7] unter der Bedingung „Präsenz oder Abwesenheit eines zusätz- In einer jüngst veröffentlichten longitudinalen Ana- lich bestehenden komorbiden ADHS“ analysiert. Beide lyse zeigten Almane et al. [10], dass Kinder mit Epi- Gruppen wurden mit gesunden Kontrollen hinsichtlich lepsien im schulischen Alltag häufiger spezielle päda- Intelligenz, Schulleistungen, Sprache, Gedächtnis, Exe- gogische Unterstützung und zusätzliche Förderhilfen kutivfunktionen und psychomotorischer Geschwindig- benötigen als Gleichaltrige (53 % vs. 18 %), wobei diese keit verglichen. Die psychiatrische Symptomatik wurde in über 80 % bereits vor dem ersten Anfall in Anspruch anhand des „Kiggie-SADS“ und eines semistrukturier- genommen wurden. ten, DSM-IV-basierten Interviews erfasst. Die Kinder Die Häufigkeit der Inanspruchnahme von akademi- mit einer Epilepsie ohne komorbides ADHS waren in al- schen Supportmassnahmen wurde gemeinsam mit der len neuropsychologisch untersuchten Funktionsberei- Entwicklungs- und Krankengeschichte bei 91 Kindern chen mit gesunden Kindern zum Zeitpunkt der „base- (28 fokale Epilepsien, 22 generalisierte Epilepsien, 41 line“ und im „follow-up“, sowie bezüglich des Tempos Kontrollkinder) durch ein strukturiertes Eltern-Inter- der kognitiven Entwicklung vergleichbar. Im Gegensatz view erhoben und mit den Werten objektiver Leistungs- hierzu scheint ein prämorbid oder komorbid vorhande- tests im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen verglichen. nes ADHS ein wesentlicher Marker für eine auffällige Kinder mit einer Epilepsie zeigten signifikant schlech- kognitive Entwicklung zu sein. tere Leistungen in allen überprüften schulischen Fer- Bechtel et al. [8] untersuchten 2012, ob sich Jungen tigkeiten, sowohl zu Beginn der Erkrankung, als auch in im Alter von 8 - 14 Jahren mit einem konstitutionellen den Erhebungen 2 und 5 Jahre nach Krankheitsbeginn. ADHS oder mit einem ADHS als Komorbidität zu einer Die schulischen Probleme bei Krankheitsbeginn persis- epileptischen Grunderkrankung hinsichtlich ihrer neu- tierten in der Mehrheit auch nach 5 Jahren. ropsychologischen Leistungen und der Effektivität ei- ner Behandlung mit Stimulanzien unterscheiden. In einem 2-back- und 3-back-Verfahren, als Paradigma zur Kognitionsdefizite und Alltagsfähigkeit Erfassung der Daueraufmerksamkeit und des Arbeits- gedächtnisses, und häufig beeinträchtigter exekutiver Was bedeuten die Kognitions- und konsekutiven Funktion im Rahmen eines ADHS, zeigten beide Grup- Leistungsdefizite für die Fähigkeiten der Kinder in ihrer pen im Vergleich zu gesunden Kontrollkindern eine Alltagsbewältigung? signifikante Beeinträchtigung der Arbeitsgedächtnis- Buelow et al. [11] untersuchten 2012 die Beziehung leistungen. In beiden Gruppen konnte eine funktionelle zwischen neuropsychologischen und adaptiven Funkti- Verbesserung nach Gabe von Stimulanzien dokumen- onen bei 50 Kindern mit einer Epilepsie und Lernproble- tiert werden. men. Der geschätzte mittlere IQ (Screening) lag bei 72,8 In einer Nachuntersuchung zeigten Bechtel und We- (SD = 18,3), die adaptiven Funktionen, eingeschätzt ber 2015 [9], dass bei 16 der zuvor untersuchten Jun- über die „Vineland Adaptive Behavior Scales“, lagen im gen mit Epilepsie plus ADHS und 14 Jungen mit konsti- Mittel zwei Standardabweichungen unter der Norm, tutionellem ADHS die Kern-Symptomatik über die Zeit wobei selbst bei Kindern mit normaler Intelligenz (IQ in beiden Gruppen signifikant abnahm – betont in der > 80) deutliche Defizite in den adaptiven Funktionen Gruppe der Kinder mit einer Epilepsie (Werte Conners nachweisbar waren. Darüber hinaus waren auch erheb- Fragebogen). Die Autoren schlossen daraus, dass die liche neuropsychologische und psychische Probleme Entwicklung der Aufmerksamkeitsleistung bei beiden erkennbar. Patientengruppen denselben positiven Verlauf nehmen kann. Kognitionsdefizite und Lebensqualität Funktionelle Bedeutung der Kognitionsdefizite Den Zusammenhang zwischen Anfallsfreiheit, Schweregrad der Epilepsie, psychiatrischen und an- Neben der Beschreibung und Diagnostik von kog- deren komorbiden Störungen und der gesundheits- nitiven Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendli- bezogenen Lebensqualität untersuchten Baca et al. chen mit einer Epilepsie mittels einer detaillierten neu- [12] in einer prospektiven Studie an Kindern mit ei- ropsychologischen Diagnostik stellt sich im Sinne der ner neu diagnostizierten Epilepsie. Dazu wurde die „International Classification of Functioning, Disability „Health related quality of life“ bei 277 Kindern zwischen and Health“ die Frage nach ihrer alltagrelevanten funk- 8 - 9 Jahren nach Diagnosestellung anhand eines Le- tionellen Bedeutung. Bei Kindern und Jugendlichen ste- bensqualitätsfragebogens für Eltern und Kinder er- hen dabei die Bereiche Schulleistung, Entwicklung der fasst. Das mittlere Alter zum Zeitpunkt der Diagnose- Selbstständigkeit, Lebensqualität und das soziale Out- stellung betrug 4,4 Jahre (SD 2,6); bei der 9 Jahre später come im Fokus. durchgeführten Nachuntersuchung waren die Kinder im Mittel 13 Jahre alt (SD 2,6). Inzwischen waren 64 % Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie | A. Nageleisen-Weiss, P. Weber Epileptologie 2016; 33 9
der Kinder seit mindestens 5 Jahren anfallsfrei, 31 % Pathophysiologische Vorstellungen nahmen weiterhin antiepileptische Medikamente ein, 19 % zeigten eine komplizierte Epilepsie. Welche Faktoren tragen zur beeinträchtigten Ent- In der „follow-up“-Untersuchung lag die Präva- wicklung der Kognition bei Kindern bei? Neben konsti- lenz psychiatrischer Diagnosen bei 26 %, die entwick- tutionellen Faktoren werden in neuerer Zeit drei Fakto- lungs-neurologischer Störungen bei 39 %, die chro- ren in der Forschung favorisiert: kontinuierliche epilepti- nischer Erkrankungen bei 24 %, die der Migräne bei sche Entladungen im EEG, eine veränderte Schlafphysio- 15 %. Das Vorhandensein einer psychiatrischen Diagno- logie und ein veränderter neuronaler Erholungsmodus. se war mit den Lebensqualitätsskalen der Kinder und Eltern stark assoziiert; die Anfallsfreiheit hatte dage- gen keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die Le- Epileptische Entladungen „stören“ die synap- bensqualität. tische Konsolidierung Die Bedeutung der epileptischen Entladungen für Bedeutung der Epilepsie und kognitive Komorbi- eine gestörte kognitive Entwicklung wird paradigma- dität für das soziale Outcome tisch am Beispiel der Bedeutung der persistierenden Hypsarrhythmie im Rahmen eines West-Syndroms Wie sind die langfristigen gesundheitlichen und so- diskutiert. Mehrere Studien konnten zeigen, dass ei- zioökonomischen Folgen einzuschätzen, welche Fakto- ne anhaltende Hypsarrhythmie trotz Beendigung der ren sind für eine Prognose bezüglich des Sozialisations- klinischen Anfälle mit einem schlechteren kognitiven erfolges ausschlaggebend? Outcome verbunden ist – ebenso wurde in mehreren Chin et al. [13] untersuchten aus einem Pool der Studien gezeigt, dass ein verspäteter Behandlungs- National Child Development Study (UK), 101 Kinder beginn mit einem schlechteren Outcome verbunden mit einer Epilepsie, die vor dem 16. Lebensjahr begon- ist [14]. Auch jenseits des Säuglingsalter wird durch nen hatte, im Alter von 33 Jahren nach. Der mittlere verschiedene Untersuchungen, zum Beispiel von Ebus „follow-up“-Zeitraum betrug 28 Jahre („range“ 17 - 33 et al. 2012 [15, 16] nahe gelegt, dass eine lebhafte Jahre). Bei 46 % begann die Epilepsie mit < 5 Jahren, „spike-wave“-Aktivität im Schlaf unabhängig vom Auf- 49 % litten an einer symptomatischen, 51 % an einer treten klinischer Anfälle zu einer Beeinträchtigung der idiopathischen Epilepsie. Davon waren 48 % wegen der kognitiven Fähigkeiten beitragen kann. Epilepsie weiterhin in ärztlicher Kontrolle, 42 % der Ko- horte waren erwerbsunfähig, nur 39 % besassen einen Führerschein. 65 % der Patienten waren der Auffas- Epileptische Entladungen stören die synaptische sung, dass es durch die Epilepsie schwieriger sei, eine Homöostase im Schlaf berufliche Tätigkeit kontinuierlich beizubehalten. In dieser Untersuchung zeigte sich die Epilepsie as- Die Bedeutung der hypersynchronen Aktivität im soziiert mit einer geringeren allgemeinen und psychi- Schlaf für die Entwicklung einer kognitiven Beein- schen Gesundheit und stellte ein erhöhtes Risiko dar, trächtigung wurde auch in der Arbeit von Galer et al. unverheiratet und kinderlos zu bleiben. 2015 [17] thematisiert. Die Autoren zeigten einen Bei guter kognitiver Entwicklung ohne Komorbiditä- engen korrelativen Zusammenhang zwischen dem ten zeigten die jungen Erwachsenen mit Epilepsie ver- „spike-wave“-Index im Non-REM-Schlaf und den Ge- glichen mit der Kontrollgruppe die gleichen Ergebnisse dächtnisleistungen am Tag nach dem Schlaf. Je höher der hinsichtlich Gesundheit, Bildung und Beschäftigung, al- „spike-wave“-Index war, desto stärker war der Verlust lerdings hatten sie vermehrt Schwierigkeiten, persönli- des am Vortag Gelernten in der Abrufleistung. che Beziehungen einzugehen und aufrecht zu erhalten. Pathophysiologisch wird in der neueren Literatur Eine Kombination von kindlicher Epilepsie und hierfür eine Veränderung in der physiologischen Ab- schwacher kognitiver Entwicklung ist mit ungünstige- nahme der Synchronisierung kortikaler Neurone als ren Entwicklungsverläufen verbunden. Kinder mit einer Ausdruck der synaptischen Homöostase und damit der Epilepsie haben zudem ein erhöhtes Sterberisiko in jun- Erholung des Gehirns im Schlaf diskutiert (zusammen- gen Jahren. fassend siehe Bölsterli et al., 2011 [18]). Eine Verände- Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ein rung des physiologischen Markers dieser als „downsca- rein pharmakologisches Management in der Betreuung ling“ bezeichneten Abnahme der Synchronisation, dem epilepsiekranker Kinder und Jugendlicher meist unge- sogenannten „slow-wave sloop“, wurde sowohl bei Pa- nügend und eine langfristige psychosoziale Unterstüt- tienten mit einem „electrical status epilepticus during zung mit erforderlich ist. slow wave sleep», als auch bei Kindern mit infantilen Spasmen beobachtet [18, 19]. 10 Epileptologie 2016; 33 Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie | A. Nageleisen-Weiss, P. Weber
Epileptische Entladungen stören die „resting Verfahren, bestehend aus einem computergestützten state“-Konnektivität Screeningtest und einem standardisierten Fragebogen für Eltern ein wertvolles Instrument darstellt, um Hin- In zahlreichen Studien wurde die „resting state“-Ak- weise auf kognitive Beeinträchtigungen als auch Ver- tivität des Gehirns über die Zeitachse als Mass für die haltens- und emotionale Auffälligkeiten bei Kindern Verbindung von Hirnregionen im Ruhezustand unter- mit einer Epilepsie zu erhalten. sucht und in Zusammenhang gebracht mit der kogniti- Im deutschsprachigen Raum wurde von Helmstaed- ven Leistungsfähigkeit, da bei verschiedenen neurologi- ter et al. (2010) [25] ein valides und reliables Untersu- schen und psychiatrischen Erkrankungen, die mit einer chungsinstrument zur Einschätzung von Aufmerksam- eingeschränkten kognitiven Fähigkeit einher gehen, ei- keits- und exekutiven Funktionen, sowie zur Kontrolle ne gestörte „resting state“-Konnektivität dokumentiert antikonvulsiver Therapieeffekte auf die kognitiven wurde. Im Fokus der epileptologischen Studien steht Funktionen entwickelt. Es handelt sich um ein 12 - 15 das „default-mode network“ [20]. Minuten dauerndes Verfahren, das sechs Untertests Gestörte „default-mode network“-Aktivitäten wur- umfasst, mit denen folgende Domänen erfasst werden: den dabei nicht nur bei Kindern mit therapierefraktärer psychomotorische Geschwindigkeit, Fexibilität, Pla- Epilepsie [22] und Frontallappen-Epilepsie [21] nachge- nung, Reaktionsinhibition, Wortflüssigkeit und Arbeits- wiesen, sondern auch bei Kindern mit einer epilepto- gedächtnis. logisch als benigne geltenden Rolando-Epilepsie [23]. Dieses Verfahren wurde in einer Studie mit 277 Kin- Die Autoren diskutieren dies als Grundlage der in dieser dern und Jugendlichen im Alter von 6 - 18 Jahren vali- Patientengruppe gehäuft beobachtbaren Veränderung diert. der Sprachleistungen. Zur Erfassung verschiedener Aspekte der exekutiven Funktionen, basierend auf beobachtbarem alltäglichem Verhalten, steht das inzwischen in deutschsprachiger Neuropsychologische Diagnostik Übersetzung und Validierung vorliegende Verhaltensin- ventar BRIEF [26] zur Verfügung, eine deutschsprachige In den vorhergehenden Abschnitten wurde versucht Adaptation des Behavior Rating Inventory of Executive zu dokumentieren, dass die Erfassung der neuropsy- Function von Gioia et al. [27]. Es liefert Informationen chologischen Beeinträchtigungen für eine umfassende über Art und Ausprägung verschiedener exekutiver Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit einer Epi- Funktionsdefizite anhand klinischer Fragebogen. Zur lepsie wesentlich ist, sowohl um Effekte der Epilepsie Beurteilung möglicher Beeinträchtigungen liegen drei und/oder Medikation auf die Kognition anschaulich zu Versionen vor: Fremdbeurteilung durch Eltern und Leh- machen, aber auch, um kognitive Entwicklungsverläufe rer, sowie die Selbsteinschätzung bei Kindern und Ju- zu erkennen/beschreiben und bei Bedarf entsprechend gendlichen im Alter von 11 - 16 Jahren. intervenieren zu können, und damit das kognitive, aber Es werden aus verschiedenen Skalen zwei Hauptin- auch soziale Outcome der Patienten zu verbessern. dices ermittelt: ein Verhaltensregulationsindex und ein Eine umfassende neuropsychologische Diagnostik kognitiver Regulationsindex, aus beiden kann ein exe- ist oftmals auch unter dem Aspekt der Verlaufskon- kutiver Gesamtwert errechnet werden. trollen aufwendig und scheitert nicht selten an den zur Die Ergebnisse einiger weniger Studien [28, 29] ge- Verfügung stehenden Ressourcen. Aus diesem Grunde ben Hinweise darauf, dass objektive Messdaten exeku- sind Bestrebungen zu begrüssen, die anamnestischen tiver Funktionsdefizite zwar stärker als die subjektiven Informationen zum Beispiel über Schulleistungen Einschätzungen mit epilepsierelevanten Faktoren kor- mittels eines Screeninginstruments zu ergänzen, wo- relieren, sie aber andererseits beobachtbare Defizite mit diejenigen Kinder ökonomisch, valide und reliabel nicht vorhersagen können. Daher sollte eine umfassen- selektioniert werden können, die einer aufwendigeren de Beurteilung dieser Defizite beides mit einbeziehen: Diagnostik zugeführt werden müssen. sowohl objektive Messdaten, als auch eine subjektive Triplett et al. (2015) [24] stellten für den amerika- Einschätzung der Eltern und Betreuer sowie des Betrof- nischen Raum eine Machbarkeitsstudie vor, in der ein fenen selbst. solches Screeninginstrument zur Erfassung der verba- len und visuellen Gedächtnisleistung, der exekutiven Funktionen, der kognitiven Arbeitsgeschwindigkeit und Referenzen Flexibilität, der komplexen Aufmerksamkeit und Re- aktionszeit sowie des psychomotorischen Tempos ein- 1. Reilly C, Atkinson P, Das KB et al. Factors associated with quality of life in gesetzt wurde. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit active childhood epilepsy: a population based study. Eur J Paediatr Neu- beträgt 32 Minuten, alle Patienten durchliefen das gan- rol 2015; 19: 308-313 ze Untersuchungsverfahren in weniger als 45 Minuten. 2. Rantanen K, Eriksson K, Nieminen P et al. Cognitive impairment in Die Forschergruppe, die deutliche Leistungsunterschie- preschool children with epilepsy. Epilepsia 2011; 52: 1499-1505 de zwischen der Patienten- und der Kontrollgruppe 3. Reilly C, Atkinson P, Das KB et al. Cognition in school-aged children with darlegen konnte, kam zu dem Schluss, dass ein kurzes “active” epilepsy: A population based study. J Clin Exp Neuropsychol 2015; 37: 429-438 Kognitive Veränderungen bei Kindern mit Epilepsie | A. Nageleisen-Weiss, P. Weber Epileptologie 2016; 33 11
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