FACHBEITRÄGE Corona und ADHS - Die besonderen Schwierigkeiten von Kindern mit ADHS

 
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4      Fachbeiträge     ADHS Deutschland e. V.

    FACHBEITRÄGE

    Corona und ADHS
    Die besonderen Schwierigkeiten von Kindern mit ADHS

         In der Debatte um Schwierigkeiten von Kindern in der                     Herausforderungen, die Corona mit sich bringt, sowie
    Schule spielt die ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hy-                           ihrer ohnehin erhöhten Vulnerabilität auch in höherem
    peraktivitäts-Störung bzw. das –Syndrom) eine heraus-                         Maße leiden und von den Folgen stärker betroffen sind.
    ragende Rolle. Regelmäßig wird ADHS von Lehrkräften
    aller Schularten immer noch als eine der größten pädago-                      ADHS und emotionale und soziale Störungen
    gischen Herausforderungen genannt.
         Zunächst sah es so aus, dass durch die Regelungen, die                       Um die besonderen Belastungen der von ADHS be-
    aufgrund der Corona-Pandemie getroffen wurden – Ab-                           troffenen Kinder und Jugendlichen in der Schule und beim
    stand halten, Hygiene, Maskentragen – manche Probleme,                        Lernen zu verstehen, stelle ich die pädagogischen Heraus-
    die Kinder mit ADHS in der Schule haben, gemildert wür-                       forderungen dar, denen sie auch ohne Pandemie oftmals
    den. Durch die Abstände kam es zu weniger Konflikten,                         ausgesetzt sind.
    die Markierung von Wegen und Orten kam ihnen eben-                                Aufgrund der schlechteren Regulations- bzw. Steue-
    falls entgegen und die Masken führten vielleicht sogar zu                     rungsfähigkeit erleben sich Kinder und junge Menschen
    einer gewissen Bremse der Impulsivität. Außerdem sind                         mit ADHS als eingeschränkt sowohl in ihrer Ich- als auch
    Kinder mit ADHS häufiger in Krisen, sodass ihnen ver-                         in ihrer Sozial-Kompetenz, da ihnen häufiger als anderen
    mutlich zunächst die Veränderungen gar nicht so auffielen.                    etwas misslingt. Sie sind unsicherer und machen seltener
    Sie haben durch ihr Störungsbild eine gewisse Krisener-                       Erfahrungen einer positiven Selbstwirksamkeit. Dies führt
    fahrung mitgebracht, die das Aushalten der Veränderung                        zu einem schlechteren Selbstbild und weniger Zuversicht,
    zu Beginn der Pandemie auch ein Stück weit erleichtern                        selbst gesteckte Ziele auch zu erreichen. Alles zusammen
    konnte. Auf der anderen Seite verlangt genau dieses Stö-                      bewirkt, dass die Kinder insgesamt verletzbarer sind, fra-
    rungsbild nach Halt und struktureller Sicherheit – eine                       gilere Beziehungen haben und ihr Leistungspotential oft-
    ambivalente Ausgangslage für Kinder mit ADHS in Kri-                          mals nicht ausschöpfen können.
    senzeiten wie diesen.                                                             Erschwerend kommt hinzu, dass die Steuerungsfähig-
                                                                                  keit nicht verlässlich oder unzureichend ist, d. h. mal gelingt
        Corona ist eine Zumutung, so unsere Bundeskanzle-                         die Steuerung besser, mal erstaunlich gut, mal schlechter
    rin Angela Merkel. Allerdings mutet Corona Kindern, die                       bis gar nicht, stets abhängig von Personen und Situationen.
    von einer seelischen Entwicklungsstörung betroffen sind                       Dadurch wirkt die Störung oftmals willkürlich und mani-
    und auch ihren Lehrkräften, Pädagog*innen und vor allem                       pulativ. Gerade dies ist ein weiteres Merkmal, das sich auf
    auch ihren Familien besonders viel zu.                                        die sozialen Beziehungen auswirkt. Den Kindern wird oft-
        Mit dem Anhalten der Pandemie und den immer län-                          mals mangelnder Wille unterstellt und seltener mangelnde
    ger andauernden Lockdowns wird deutlich, dass junge                           Fähigkeit.
    Menschen, ihre Familien und auch ihr sonstiges Lebens-                            Es kommt zu Fehleinschätzungen und die Kinder
    umfeld auf Corona besonders sensibel reagieren.                               selbst und ihre Intentionen werden in den Schulen falsch
        In nahezu allen Untersuchungen zu den psychischen                         wahrgenommen. So wird sehr häufig von den Kindern
    Belastungen durch Corona kommen die Autoren zu ähn-                           verlangt, sie sollten sich „zusammenreißen“, oder „aufhö-
    lichen Ergebnissen, nämlich einer starken Zunahme von                         ren“, und dazu werden Konsequenzen angedroht oder es
    psychischen Störungen. Besonders genannt werden dabei                         werden Druckmittel wie Bloßstellungen eingesetzt. Ausge-
    Ängste, hier speziell auch Zukunftsangst und depressive                       rechnet von den Kindern, die sich am wenigsten anpassen
    Stimmungen, Vergesslichkeit, Verwirrtheit, Schlaflosigkeit,                   können, verlangt man also einfach nur Anpassung. Das,
    Suchtverhalten und vor allem auch in jedem Fall bei einer                     was sonst bei der Mehrheit der Schüler*innen wirkt, sollte
    Erkrankung, eine Stressstörung. Es liegt auf der Hand, dass                   es einfach auch bei diesen Kindern tun.
    Kinder und Jugendliche mit ADHS unter den psychischen                             Die irreführende Annahme besteht darin, es stünde in

    Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes.                                        neue AKZENTE Nr. 118 1/2021
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der Macht der Kinder (und auch ihrer Eltern), ihr Verhal-      und auch bei anderen wahrnehmen und benennen. Aus
ten besser zu steuern oder sich zu entscheiden, wie sie sich   diesem Grund kommt es immer wieder vor, dass sie ande-
verhalten wollen.                                              ren feindselige Absichten unterstellen. Den Zusammen-
    Oftmals wird vermutet, die Kinder würden uns ab-           hang zwischen ihrem eigenen Verhalten und den Folgen
sichtlich ärgern und wenn sie wollten, könnten sie sich        und zwar sowohl in sozialer Hinsicht als auch beim Lernen
einfach anders verhalten und unseren Erwartungen bes-          zu erkennen, fällt ADHS-Betroffenen meist schwer. Des-
ser entsprechen. Damit in Zusammenhang steht auch die          halb ist es ihnen oft auch nur mit viel Hilfe und Unterstüt-
Vorstellung vieler Lehrkräfte, dass die Kinder dann ihr        zung möglich, den eigenen Anteil an einem Konflikt zu er-
Verhalten ändern könnten oder würden, wenn sie selbst          kennen und darüber hinaus auch noch zuzugestehen.
nur geduldig genug und geschickt genug wären oder über
Tipps oder Tricks verfügten, nach deren Einsatz dann die       Bindung und Bindungsstörungen
Störung verschwinden würde. Gerade auch sehr engagier-
te Lehrkräfte fühlen sich in der Folge hilflos und verzwei-        Kinder mit ADHS erleben in der Folge öfter als andere
feln daran, dass einfach nichts „wirkt“ oder „funktioniert“,   Kinder Ausgrenzung und Ablehnung, sowohl von anderen
obwohl sie sich doch so große Mühe geben.                      Kindern als auch von Erwachsenen. Sie reagieren darauf
    Andere haben die Überzeugung, dass, wenn man die           auch stärker, fühlen sich häufiger einsam und erleben die
Kinder nur mit ausreichender Strenge anfasse, würden sie       vielen persönlichen Niederlagen als sehr schmerzhaft. Die
anfangen, ein besseres Verhalten zu wählen. Falls das nicht    daraus resultierende erhöhte Verletzbarkeit ist ein signifi-
den gewünschten Erfolg hat, werden den Kindern Konse-          kantes Merkmal ADHS-Betroffener.
quenzen angedroht, bis dahin, dass sie die Schule verlassen        Die Kinder sind auf regelmäßige, stabile Bindungsan-
müssen, weil sie einfach unzumutbar sind.                      gebote durch andere Kinder und auch Erwachsene außer-
                                                               halb der Familie angewiesen.
    Viele Lehrkräfte und Pädagog*innen haben auch be-              Corona beschränkt die verlässlichen Kontaktmöglich-
stimmte Rechtsüberzeugungen von Kindern mit emotio-            keiten der Kinder in hohem Maße, wenn sie Homeschoo-
nalem und sozialem Förderbedarf.                               ling machen müssen und auch sonst die Kontaktmöglich-
    Sie sind der festen Meinung, dass die Rechte der Mehr-     keiten stark eingeschränkt sind.
heit der Schüler*innen wichtiger sind als die der kleinen
Minderheit und erleben es als unfair, wenn sie sich diesen     Folgen von ADHS für die Schule und das Lernen
intensiver zuwenden als denen, die sich in ihren Augen
„richtig“ verhalten. Außerdem sind sie der Auffassung,             Die grundlegenden Defizite der betroffenen Kinder
dass sie das Recht haben, sich nur als Lehrer*innen zu ver-    wirken sich nicht nur ungünstig auf das Sozialverhalten,
stehen und nicht auch noch als Erzieher*innen oder The-        sondern auch auf das gesamte Lernverhalten des Kindes
rapeut*innen. Darüber hinaus gibt es auch noch die Vor-        aus. Metakognitive Prozesse werden schlechter entwickelt
stellung, dass die Schule ein Recht darauf habe, ihren Ruf     und die Fähigkeit und Motivation, kognitive und soziale
zu wahren, den diese Kinder möglicherweise gefährden.          Probleme zu lösen, ist eingeschränkt. Um die Probleme zu
                                                               kompensieren und das eigene Selbstwertgefühl zu stützen,
Stress und ADHS                                                entwickeln Kinder mit ADHS unterschiedliche Bewälti-
                                                               gungsstrategien, die Angst, Unsicherheit und Verletzlich-
    Kinder mit ADHS machen vielfach bereits frühkindli-        keit vermindern sollen. Ausreden, ein So-tun-als-ob, Ver-
che Stresserfahrungen, zum einen durch die Regulations-        meidung oder Verweigerung und Abwehr oder Abwertung
störungen, die sie mit auf die Welt bringen, zum anderen       von Aufgaben sind typische Verhaltensmuster. Es geht den
aber auch durch die Belastungen in der Bindung zu den          Kindern in den Interaktionen sowohl mit anderen Kindern
Eltern, die negative Wechselwirkungen zur Folge haben          als auch mit Erwachsenen in hohem Maße darum, Nieder-
können.                                                        lagen oder Gefühle von Hilflosigkeit zu vermeiden und das
                                                               Gesicht beziehungsweise die Selbstachtung nicht zu ver-
    Kinder mit ADHS sind insgesamt einem höheren chro-         lieren. Insgesamt sind die Kinder in ihrer Ich- und in ihrer
nischen Stresslevel ausgesetzt, wobei sie auf Stress stärker   Sozialkompetenz eingeschränkter.
reagieren und auch Stress häufiger verursachen.                    Typisch für ADHS-Kinder ist, dass sie wegen ihrer Unsi-
    Sie haben eine geringere Fähigkeit zur Stressregulati-     cherheiten schneller alarmiert sind und sich als Folge davon
on und dadurch insgesamt in der Folge geringere soziale        häufiger der Beziehungen zu anderen versichern müssen.
Kompetenzen. Oft verarbeiten sie soziale Informationen             Manche Kinder suchen ständig die Aufmerksamkeit
nicht richtig, d. h. sie können Gefühle schlechter bei sich    der Erwachsenen, zum Beispiel durch häufiges Nachfra-

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    gen oder andere Sicherstellungen von Zuwendung. Dieses                            Die hier aufgeführten Lernfelder, nämlich mit Unsi-
    Verhalten wird in der Regel als Störung bewertet und wirkt                    cherheit zurecht zu kommen, Niederlagen zu ertragen,
    sich auch tatsächlich als störend für das Kind selbst, die                    Fehler auszuhalten, Widersprüche und Ambiguität zu
    Klasse und den Verlauf des Unterrichts aus. Häufig führt                      bewältigen und insgesamt mit Stress besser zurechtzu-
    dieses Verhalten in einen Teufelskreis, dessen Bewältigung                    kommen, werden durch die Anforderungen, die die Co-
    den Betroffenen viel Kraft kostet. Es liegt auf der Hand,                     rona-Pandemie an die Kinder und jungen Menschen, aber
    dass diese verbrauchte Energie am Ende für das Lernen                         auch an die Lehrkräfte und die Eltern stellt, problemati-
    und Gestalten fehlt.                                                          scher. Schule an sich hat in der Regel schon keine förder-
                                                                                  lichen Rahmenbedingungen für diese Herausforderungen.
        Angesichts einer drohenden Möglichkeit, einen Feh-                        Durch Corona kommen nun viele Unwägbarkeiten, Unvor-
    ler zu machen, einen Fehler anderer aushalten zu müssen                       hersehbarkeiten und angstauslösende Belastungen hinzu.
    oder etwa in einem Spiel zu verlieren, reagieren Kinder mit                   Umso wichtiger ist es, dass die Hilfen, die Schule für das
    ADHS besonders empfindlich. Sie können deshalb oftmals                        Lernen von Kindern mit ADHS anbieten sollte, im Hin-
    sowohl schlechter gewinnen als auch verlieren. Gewinnen                       blick auf ihre Umsetzung unter der Belastung von Corona
    sie etwa bei einem Spiel, dann reicht ihnen das manchmal                      überprüft und gegebenenfalls modifiziert werden.
    noch nicht, sondern der Triumph wird auch auf Kosten
    der Verlierer ausgelebt. Und verlieren sie, erleben manche                    Schule als schützender Lebensraum
    das als solch schlimme Niederlage, dass sie darüber sehr
    wütend werden, das Spiel oder die Mitspieler abwerten bis                          Das oberste Ziel der Schule sollte sein, dass sie für Kin-
    dahin, dass sie das Spiel sogar zerstören. Auf jeden Fall ent-                der mit erhöhter Stressbelastung und Verletzlichkeit als
    steht eine sehr schwierige Situation für Mitspielende und                     Gemeinschaft und Lebensraum Schutz und Halt vermit-
    auch für die involvierten Pädagogen.                                          telt. Kinder mit ADHS und auch mit anderen sozial-emo-
        Deshalb gehört es zu den wichtigsten Förderzielen der                     tionalen Entwicklungsstörungen sind darauf angewiesen,
    betroffenen Kinder, verlieren und gewinnen zu lernen, in                      dass sie unterstützt werden in
    kleinen und sicheren Schritten. Dabei müssen die drohen-                      • Aufmerksamkeitslenkung durch pädagogische Führung
    den negativen Gefühle vorweggenommen werden und ge-                              und Regulierungshilfen zur Selbststeuerung und auch der
    naue Abmachungen getroffen werden, wie man sich als gu-                          Steuerung der Lerngemeinschaften und Klassen.
    ter Gewinner oder Verlierer verhält. Für das Kind muss das                    • der Verbesserung ihrer Selbstwirksamkeit durch ange-
    Förderziel klar sein: Es geht weniger darum, das Spiel zu                        messene kognitive Anforderungen.
    gewinnen als den Sieg über die eigenen Gefühle und ihre                       	In der Folge können Misserfolgserwartungen reduziert
    Regulierung zu erlangen. Erst wenn das gelingt, kann das                         und Mut, sich Herausforderungen zu stellen, gewonnen
    Spiel mitgespielt und genossen werden und das ist so lange                       werden.
    in der Ferne, wie das erste Ziel, nämlich Sieg oder Nieder-                   	Dies führt zu einem positiveren Selbstbild, das gestützt
    lage fair zu ertragen, nicht erreicht ist.                                       wird durch mehr Selbstvertrauen und Gelassenheit im
                                                                                     Umgang mit Schwächen.
        Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, Widersprüche                       	Auf diese Weise entwickeln sich Zuversicht und eine po-
    zu ertragen und zu wissen, dass es nicht immer eine allge-                       sitivere Zukunftserwartung.
    meingültige Lösung gibt. Dazu gehört auch die Fähigkeit,                      •	emotionalem Rückhalt bei der Regulierung ihrer Emo-
    eine andere als die eigenen Perspektive einnehmen zu kön-                        tionen. Sie benötigen besondere Hilfen, eigene Gefühle
    nen und Mehrdeutigkeit auszuhalten. Ambiguitätstoleranz                          wahrzunehmen, auszudrücken und ihnen weniger impul-
    ist zudem eine Voraussetzung für interkulturelle Kompe-                          siv ausgeliefert zu sein. Gleichzeitig brauchen sie beson-
    tenz. Allerdings verlangt sie Ich-Stärke.                                        dere Angebote, die Gefühle anderer wahrzunehmen, zu
        Ein gemeinsames Merkmal von Kindern mit Störungen                            respektieren und auf sie Rücksicht zu nehmen.
    ihrer Ich-Kompetenz ist, dass sie Ambiguität sehr schlecht                         Aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass Lehrkräfte
    ertragen. Bei zu viel Verschiedenheit vermuten sie Unein-                     über die Entstehung und Wirkung von ADHS besser Be-
    deutigkeit und dadurch geraten sie schneller in eine Identi-                  scheid wissen und dadurch über Fördermöglichkeiten ver-
    tätskrise oder fühlen sich bedroht davon und verlieren den                    fügen, die die Kinder tatsächlich unterstützen und ihnen
    Boden unter den Füßen. Oft beharren sie daher auf Polari-                     dabei helfen, erfolgreicher zu lernen.
    sierungen wie gut - böse, schwarz – weiß, wir - die anderen
    und reagieren auf Mehrdeutigkeit eher aggressiv. Deshalb
    sind sie auch gefährdeter, sich Cliquen oder Gruppierun-
    gen anzuschließen, die sie von den für sie schwer erträgli-
    chen ambivalenten Gefühlen entlasten.

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Anregungen für die Schulpädagogik
und Unterrichtsgestaltung bei ADHS und
ihre Modifikation in Corona-Zeiten

  Aufmerksamkeitslenkung durch pädagogische Führung

  Anregungen                                           Modifizierungen bei Corona

  Eindeutige Regeln einführen:
  Besser wenige Regeln und die konsequent              Anwendung eingeschränkt,
  einhalten.                                           Anpassung nach jeweiliger Lernsituation.
  Regeln mit den Kindern formulieren und gut
  sichtbar auch für andere Lehrkräfte in der Klasse
  anbringen.
  Regeln täglich in Erinnerung bringen.
  Weitere Regeln oder Modifikationen erst einführen,
  wenn die vorigen von allen angenommen sind oder
  sich zwingende neue Bedingungen ergeben.

  Umsicht zeigen:
  Übersicht behalten über die Interaktionen zwischen   Stark erschwert oder unmöglich.
  den Kindern.
  Die gesamte Klassendynamik zu jedem Zeitpunkt
  im Auge haben.
  Sich nicht auf das einzelne Kind „einschießen“.

  Vorausschauendes Wahrnehmen der Gruppen-             Ggf. Regelungen anpassen.
  dynamik
  vor allem bei Übergängen und Ortswechseln.           Besonders wichtig, da Routinen kaum oder
  Mit Störungen rechnen und in der Unterrichts-        weniger möglich.
  planung Steuerungsmöglichkeiten mitdenken.
  Störungen und Ablenkungen im Ansatz erkennen
  und produktiv umlenken.                              Gilt immer.
  Kurz, sachbezogen und vorwurfsfrei sprechen.

  Eindeutige Anweisungen:
  Kurz, knapp, nicht vorwurfsvoll sprechen.            Gilt immer.
  Verhaltensregelnde Symbole, Handzeichen,
  Gestik/-Mimik „vereinbaren“.                         Sehr schwierig umsetzbar im Homeschooling.
  Verschiedene akustische Signale einsetzen für
  Situationswechsel.
  Anweisungen möglichst zugleich schriftlich anbie-
  ten oder erschließen lassen.
  Anweisungen auf Arbeitsblättern mit Markern
  hervorheben (lassen).

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       Reaktionen auf Regelverstöße:
       Mit Regelverstößen rechnen und in Planungen                                Wahrnehmen, wenn Regelverstöße abnehmen.
       von Handlungsabläufen mit einbeziehen.
       Mögliche Regelverstöße bereits im Vorfeld
       entschärfen.
       Regelverstöße nicht dramatisieren, aber sofort
       einschreiten (nichts laufen lassen).
       Grundsatzdiskussionen vermeiden, stattdessen auf                           Nehmen vermutlich ab oder sind auf Eltern
       Regeln hinweisen.                                                          verlagert.
       Räumliche Nähe zum Kind herstellen: sich auf den
       Schüler zubewegen, Hand auf Schulter, Arm legen,                           Entfällt völlig.
       Blickkontakt wenn möglich herstellen.
       Eher beruhigende Stimmlage benutzen.                                       Besonders wichtig, falls möglich.

       Sitzordnung:
       Fester, nicht ständig wechselnder Sitzplan.                                Gilt immer, auch bei Wechselunterricht oder
       Mit Problemen an Gruppentischen rechnen.                                   anderen Formen.
       ADHS-Kind nicht an Einzeltisch in der letzten Reihe
       (hinten links) setzen, sondern besser vorne links.                         Bei flexiblen Notgruppen kaum möglich.
       Auch beim Morgenkreis oder anderen Formationen
       feste Sitzordnungen vereinbaren.

       Offene Unterrichtsformen:
       Offene Unterrichtsformen überfordern leicht.                               Erheblich erschwert.
       Deshalb besonders klar räumliche und zeitliche
       Struktur regeln.
       Eindeutige Regeln einführen:                                               Selbstorganisation vermutlich
       Erledigte und zu erledigende Aufgaben optisch                              überfordert.
       sichtbar machen.
       Aufgaben und Arbeiten zu Ende bringen lassen
       und das Ende besonders betonen.                                            Kaum möglich im Distanz-
       Freiarbeit, Wochenplanarbeit nur mit helfendem,                            Unterricht.
       strukturierendem Begleiten.
       Warten zu können den Kindern zumuten.
       Wartezeiten planen und regeln.                                             Bei kleineren Gruppen im
                                                                                  Wechselunterricht

       Pausen:
       Auch Pausensituationen brauchen Struktur.                                  Im Homeschooling besonders herausfordernd.
       Pausenhof in Zonen einteilen für Essen, Ruhe
       und Spielen.
       Verkehrsregeln und Markierungen für Gänge und                              Hilft auch nach Corona. Zeigt sich als besonders
       Garderoben einführen.                                                      praktisch.
       Patenschaften von größeren Schülern einführen.                             Wegen Kontaktbeschränkungen schlecht
                                                                                  möglich.

    Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes.                               neue AKZENTE Nr. 118 1/2021
ADHS Deutschland e. V.         Fachbeiträge   9

      Förderung von Lernerfolgen durch angemessene
      kognitive Anforderungen

  Anregungen                                               Modifizierungen bei Corona

  Ruhe in der Klasse gewährleisten:
  Kein Unterrichtsbeginn ohne absolute Ruhe.               Bei Homeschooling nicht kontrollierbar.
  Überflüssiges vom Tisch, Notwendiges vorher auf          Tipp für zuhause.
  den Tisch (immer zu Stundenbeginn prüfen und
  durchsetzen).
  Stille wahrnehmen.                                       Tipp für zuhause.
  In der Klasse leise miteinander sprechen, flüstern       Entfällt.
  üben.
  Sich selbst leise und ruhig in der Klasse bewegen.
  Keine Hektik verbreiten
  Lichtsignale und schriftliche statt verbaler Anweisun-   Organisation von Arbeitsplatz visualisieren.
  gen geben.                                               Genaue Angaben zur Vorgehensweise.

  Unterrichtliche Arbeitsweisen:
  Kurzbögig strukturieren und vorgehen, immer wieder       Im Homeschooling schlecht möglich.
  rückfragen und Erarbeitetes sichern.
  Ergebnisse in Merksätzen und Regeln festhalten,
  lernen lassen und abfragen. Wichtige Informationen
  in der Klasse sichtbar anbringen.
  Vermeidung von Monotonie im Unterricht,
  Abwechslung in der Gestaltung, passgenaues neu-          Eingeschränkte Angebote im
  es Material einführen, ohne „Materialschlacht“ vor       Digital-Unterricht.
  allem auch beim Üben.
  Aufgaben mit positivem Anreizwert, Anpassung an          Digital umsetzbar und sinnvoll.
  die Lernvoraussetzungen. Kein stereotypes Üben,
  sondern stets mit Denkaufgaben verbinden wie z. B.
  ein Unsinnwort einbauen, das zu finden ist.
  Isolierung von Schwierigkeiten, z. B. statt
  Arbeitsblättern mit vielen Aufgaben eher Aufgaben-       Besondere organisatorische Hilfen für Kinder
  streifen, die gebündelt und gesammelt werden kön-        anbieten
  nen.
  Überwindung von Problemen durch vertiefendes
  Wiederholen.

  Unterrichtsstil:
  Expressiv unterrichten: das heißt mit Mimik und Ges-     Im Wechsel-Unterricht gut umsetzbar,
  tik, modulierender Stimme und erkennbarem Spaß           digital schwierig.
  am Unterricht.
  Sinn für Humor entwickeln und die komischen Seiten       Immer wichtig, gerade auch in Krisen.
  von Situationen erkennen.
  Unterrichtsroutinen pflegen, Rituale einführen, die      Für alle Unterrichtsformen gültig.
  der Komplexitätsverminderung von Situationen
  dienen.

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10      Fachbeiträge     ADHS Deutschland e. V.

        Rückmeldung geben:
        Häufige kurze schriftliche wie mündliche Überprü-                          Bei Homeschooling kaum umsetzbar.
        fungen mit Lernerfolgsmöglichkeit.
        Anerkennung geben für selbst gefundene Fehler.
        Kontrollhilfen geben wie Text von hinten lesen, Wort
        für Wort lesen,
        nur Zeile mit Fehlerwort markieren.
        Individuelle Gestaltung von Überprüfungssituatio-
        nen,
        z. B. Fehler mit Etiketten überkleben statt sie zu
        unterstreichen.
        Erteilte Aufgaben immer nachsehen, möglichst mit
        ermutigendem schriftlichem Kurzkommentar
        versehen.
        Schülern mit positiver Erfolgserwartung begegnen –
        täglich neu!
        Täglich bewältigbare Hausaufgaben geben. Erteilte
        Hausaufgaben immer und bei jedem kontrollieren.

        Zeitplanung und Ermüdungen:
        Ermüdungen im Laufe eines Schulvormittages mit                             Genauer Zeitplan hilft auch beim
        einkalkulieren.                                                            Homeschooling.
        Woche strukturieren. Keine Einführungsstunden am
        Montag, sondern mit Umstellungsschwierigkeiten                             Arbeitszeit vorher einschätzen lassen und
        rechnen.                                                                   dann mit Uhr oder Stoppuhr arbeiten.
        Ermüdungen am Freitag mitplanen.
        Ermüdungen vor den Ferien von Lehrkräften und                              Pausen einbauen.
        Kindern mitplanen und mit geeigneten entspannen-
        den Unterrichtsformen begegnen

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 Emotionalen Rückhalt geben

  Anregungen                                                Modifizierungen bei Corona

  Positive Rückmeldung:                                     Gilt alles besonders auch bei Corona.
  Rückmeldungen eher sachlich geben, ohne über-
  schwängliche Betonungen.
  Benennen, was richtig gemacht wird und wer sich
  richtig verhält (statt Fokus auf Fehlverhalten), ermu-
  tigen statt entmutigen.
  Schwächen, Rückstände und Sorglosigkeiten benen-
  nen, aber zugleich Hilfen aufzeigen und Zuversicht
  vermitteln.
  Selbstvertrauen stärken durch individualisierte Hilfe-
  stellung.
  Nicht nur gute Ergebnisse, sondern auch Individuelle
  Anstrengung und individuelle Fortschritte anerken-
  nen (positive Anmerkungen ins Heft).
  Die Individualität der persönlichen Lerndisposition
  anerkennen und achten.

 Angstfreie Lernatmosphäre:
 Fehler und Nichtkönnen nicht diffamieren, nicht vor       Ermutigung und Zutrauen hilft und sind beson-
 der Klasse bloßstellen.                                   ders wichtig.
 Schwierige Aufgaben fordern Kinder heraus.
 Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad         Alle Stützungsmethoden modifiziert auf die
 von                                                       Lernsituation anwenden.
 Kindern selbst wählen lassen und Kinder auch zu
 schwierigen Aufgaben ermutigen.
 Zeit lassen, nicht drängeln. Zeitgrenzen vorher
 aufzeigen und zwischendurch darauf verweisen.
 Einfühlungsvermögen und Geduld vermitteln, zuhören
 können, mit- und einfühlend verstehen.
 Störendes Verhalten nicht persönlich nehmen (nicht
 beleidigt sein), stattdessen zwischendurch Rückmel-
 dung geben über
 persönliche Befindlichkeit,
 z. B. ich werde müde, das strengt mich an, das macht      Statt „Time out“ eher ein „Time intensiv” anbie-
 mir Spaß etc.                                             ten, um Bindungsverlusten entgegenzuwirken.
 Misstrauen und Vorurteile ablegen, stattdessen            Dazu auch digitale Hilfen anwenden, die neue
 hinter einem unverständlichen Verhalten nach dem          Beratungsformen mit sich bringen.
 subjektiven Sinn des Kindes suchen.
 Ständige Gesprächsbereitschaft anbieten, allerdings
 nur zu bestimmten Zeiten. Aufmerksamkeitsschwa-
 che Kinder suchen ständig die Aufmerksamkeit von
 Erwachsenen und brauchen sie auch als Halt.
 Kritik nur im Vier-Augengespräch, nicht vor der
 Klasse.
 Positive Einstellungen zum Kind suchen – täglich neu!

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12      Fachbeiträge     ADHS Deutschland e. V.

     Zusammenarbeit mit den Eltern und Familien                                    Schulische Formen in Zeiten von Corona
         Kinder mit ADHS sind in der Regel in ihren Familien                       Digitaler Unterricht – Distanzunterricht
     nicht die einzigen. Meist gibt es auch noch einen Elternteil
     und oftmals noch ein Geschwisterkind, die ebenfalls be-                           In den Phasen des Lockdowns waren lange Zeit für alle
     troffen sind.                                                                 Altersstufen sogenannter Distanzunterricht und die Ver-
         Für ADHS gibt es bekanntermaßen genetische Dispo-                         sorgung mit digitalen Materialien die zentralen Mittel.
     sitionen und darüber hinaus epigenetische Faktoren, die                           Unterbrochen wurde dies durch Videokonferenzen.
     den Schweregrad mitbestimmen. ADHS bestimmt in ho-                            Ergänzt wurde die Kommunikation teilweise durch Tele-
     hem Maße das Familienleben auch der nicht selbst betrof-                      fonate, Kurznachrichten auf Schulapps oder per E-Mail,
     fenen Familienmitglieder.                                                     zentrale Austauschplattformen und teilweise auch durch
         Frühe Mutter-Kind-Interaktion, Bindungsverhalten                          ergänzenden Versand analoger Materialien.
     und traumatische Ereignisse müssen in Zusammenhang
     mit den genetischen Prädispositionen gesehen werden.
         ADHS entwickelt sich in einem Beziehungskontext                               In den verschiedenen Altersstufen hatte dies unter-
     und geht mit diesen Wechselwirkungen ein. Eine beson-                         schiedliche Auswirkungen.
     ders wichtige Rolle scheint dabei auch die Posttraumati-                          Grundschulkinder, insbesondere Kinder in der Primar-
     sche Belastungsstörung zu spielen, die bei den Kindern zu                     stufe waren in dieser Zeit nahezu vollständig auf die Hilfe
     einem physiologisch messbaren erhöhten Erregungsniveau                        der Eltern angewiesen.
     sowie zu Wutausbrüchen, Impulshandlungen, dissoziati-                             Einmal in der Woche brachten die Eltern teilweise die
     ven Abwesenheitszuständen, Ruhelosigkeit und auch nicht                       erledigten Aufgaben zu bestimmten Zeiten in die Schule zu-
     zuletzt zu Beziehungsstörungen bei Gleichaltrigen führt.                      rück und holten dann an einem zweiten Zeitpunkt die kor-
     (Siehe dazu Vuksanovic)                                                       rigierten Aufgaben wieder ab. Der Lernerfolg hing in diesen
         Psychische oder körperliche Probleme der Eltern spie-                     Phasen vollständig von der Zuverlässigkeit und pädagogi-
     len also eine große Rolle ebenso wie andere, etwa soziale                     schen Fähigkeit der Eltern ab, abgesehen davon, dass die
     Belastungen. Armut oder ökonomischer Druck von außen                          digitale häusliche Ausstattung in vielen Fällen einfach nicht
     erhöhen den Stress in den Familien und damit auch mehr                        oder nicht ausreichend gegeben war. Hatten in dieser Zeit
     oder weniger direkt die ADHS. Kommen dann noch fami-                          schon unbelastete Grundschulkinder und ihre Familien
     liäre Überforderungen, starke Dualismen in der Partnerbe-                     große Mühe, diesen Anforderungen gerecht zu werden, so
     ziehung und wenig gegenseitige Hilfe hinzu, so potenziert                     braucht man nicht allzu viel Fantasie, sich vorzustellen, wie
     sich der Gefährdungsgrad durch eine negative Dynamik.                         sich diese auf von ADHS betroffene Familien auswirken.
         Da die Problematik bei den Familien immer wieder
     Hilflosigkeit auslöst, erleben sich die Eltern als in der Er-                     Digitale Medien haben die Eigenschaft, den Kindern in
     ziehung versagend. Sie entwickeln entsprechende Abwehr-                       der Regel schnell Rückmeldung und auch Erfolg zu geben.
     strategien, um sich gegen die damit verbundenen Schuld-                       Darin besteht jedoch die Gefahr, dass die Kinder nicht ler-
     gefühle, aber auch tatsächlichen Schuldzuweisungen zu                         nen, Unlustgefühle, Aufschieben und Erreichen von wei-
     schützen.                                                                     ter entfernten Zielen, Geduld und Ausdauer zu erwerben,
                                                                                   auch wenn sie nicht ständig Bestätigung erfahren, wie dies
         Kommt nun zu den ohnehin bereits bestehenden Be-                          ein Programm geben kann. Gerade auch für Kinder mit
     lastungen dieser Familien noch Corona hinzu, kann das                         ADHS sind diese Lernaufgaben stark an eine bestätigende
     bisher vielleicht gerade noch aufrecht gehaltene Gleichge-                    Person gebunden, die sie in der Entwicklung von Durch-
     wicht kippen. Die Überforderung ist dann möglicherweise                       haltevermögen und Ausdauer bestärkt.
     so hoch, dass sie zur Gefährdung wird.
                                                                                       Den Kindern fehlt aber vor allem die Klasse und der di-
                                                                                   rekte Austausch beim Lernen und beim Spiel mit Gleich-
                                                                                   altrigen. Gerade auch Kinder mit emotionalen und sozi-
                                                                                   alen Entwicklungsstörungen, zu denen ja die Kinder mit
                                                                                   ADHS gehören, sind auf das Lernen und auch das Kor-
                                                                                   rektiv in der Gruppe angewiesen. Wenn ihnen dieses Feld
                                                                                   vollständig entzogen wird, ist zu befürchten, dass dies mit
                                                                                   erheblichen weiteren Entwicklungsrisiken einhergeht.

     Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes.                                       neue AKZENTE Nr. 118 1/2021
ADHS Deutschland e. V.             Fachbeiträge          13

    Bei älteren Kindern, die bereits mehr Erfahrung in der     ne wechselnde Betreuung, sondern feste Bezugspersonen.
Selbstorganisation und im Umgang mit digitalen Medien          Dadurch soll auch gewährleistet sein, dass möglichst wenig
haben, können digitale Lernformen durchaus ihren Sinn          Wechsel verkraftet werden muss, die Tage vorhersehbar
haben, etwa bei der Recherche zu verschiedenen Themen.         sind und insgesamt so viel Sicherheit und Halt wie möglich
Allerdings sind auch diese jungen Menschen auf den Aus-        vermittelt werden.
tausch mit Gleichaltrigen in hohem Maße angewiesen.                Die Zeit sollte genutzt werden können für „Time inten-
Wenn sich dieser nur auf digitale Medien beschränkt, be-       sive“, einer Form der Betreuung, die ohnehin für die von
steht nicht nur die Gefahr von Isolation, sondern auch von     ADHS betroffenen Kinder und jungen Menschen angebo-
Abhängigkeit. Sind von ADHS betroffene junge Menschen          ten werden sollte statt eines häufigen „Time out“.
ohnehin in Gefahr, Sucht auch ohne Substanzmissbrauch
zu entwickeln, so kann die Corona-Situation diese Gefahr       Zusammenfassung
noch verstärken.
                                                                   „Kinder möchten in Ruhe lernen, Lehrer in Ruhe un-
Wechselunterricht                                              terrichten“. (Biegert)
                                                                   Dieser Satz gilt ganz besonders unter den Belastungen
    Wechselunterricht bedeutet, dass eine Klasse geteilt       in Corona-Zeiten.
wird und abwechselnd mit der anderen Hälfte zu unter-              Kinder mit ADHS und anderen sozial-emotionalen
schiedlichen Zeiten unterrichtet wird. Dies kann so er-        Entwicklungsstörungen sind oftmals eine Herausforde-
folgen, dass die eine Gruppe in den ersten drei Stunden        rung: für sich selbst, für die Klasse, die Lehrkräfte und vor
unterrichtet wird, die andere in den letzten drei und dann     allem auch für Eltern und Geschwister. Und während der
wöchentlich gewechselt wird.                                   Pandemie nehmen diese Herausforderungen noch zu.
    Allein durch die Halbierung der Lerngruppe ist es viel-        Aber Kinder mit ADHS können mit ihren besonderen
fach möglich, in der halben Unterrichtszeit so viel mehr zu    Bedürfnissen auch eine Bereicherung zur Bewältigung der
erarbeiten, wie es in der gleichen Zeit mit der ganzen Klas-   Krise darstellen. Sie sind sozusagen der Seismograf, an dem
se nicht möglich ist.                                          sich die pädagogische Qualität bewähren muss.
    Es wird vielfach aber auch so organisiert, dass die hal-       Grundsätzlich kann man sagen: Wenn sich die Schul-
ben Gruppen alternierend einen Tag in der Schule sind          qualität an diesen Kindern ausrichtet, steigt sie. Das bedeu-
und dann wieder einen Tag zuhause digital beschult wer-        tet: Wenn es Kindern mit ADHS in der Schule besser
den.                                                           geht, dann geht es allen besser: den anderen Kindern
    Für die Kinder und auch die Lehrkräfte bedeutet dies       in der Klasse, den Lehrkräften und auch den Eltern
ständige vorausschauende Planung über das normale Maß          und Geschwistern. Und: Wenn der Unterricht sich auf
hinaus und auch einen Grad an Selbstorganisation, dem          ADHS-Kinder einstellt, wird er auch für alle anderen
viele Kinder mit ADHS einfach nicht gewachsen sind. Eine       Kinder besser. Und das gilt vor allem auch für die Coro-
schnelle Möglichkeit der Rückkoppelung mit den Lehr-           na-Zeiten.
kräften ist sicher hilfreich für Kinder und auch Eltern, be-
deutet jedoch für alle einen erheblichen zeitlichen und or-         Voraussetzung für die emotionale und soziale Entwick-
ganisatorischen Aufwand.                                       lung der von ADHS betroffenen jungen Menschen in der
                                                               Corona-Krise ist, dass alle in noch stärkerem Maße eine
Notbetreuung                                                   Gemeinschaft bilden. Diese Gemeinschaft übernimmt Ver-
                                                               antwortung dafür, dass alle, Kinder, Lehrkräfte und Fami-
    Für Kinder mit ADHS und anderen emotionalen und            lien profitieren und alle möglichen Hilfen und Unterstüt-
sozialen Entwicklungsstörungen und für ihre Familien ist       zungen ausgeschöpft werden.
in jedem Fall eine Indikation für die Notbetreuung gege-            Dieser Entwicklungsprozess einer Schule in der Krise
ben. In Bayern gesteht dies die Staatregierung den Kindern     verfolgt eine Vision von Achtung und Würde, die immer
zu und ermöglicht so den Weiterbesuch einer HPT (Heil-         wieder erneut angestrebt wird, auch und vor allem auch bei
pädagogische Tagesstätte) und auch den entsprechenden          den üblichen Widrigkeiten, mit denen Schulen zu kämpfen
Förderzentren.                                                 haben, vom Personalmangel bis zu anderen Unzulänglich-
    Allerdings sind an die Notbetreuung besondere Bedin-       keiten. Gerade, wenn sich Schulen in einer Krise befinden,
gungen zu knüpfen, die nicht immer gegeben sind, nämlich       ist diese Vision besonders sinnvoll, hilfreich und tröstlich.
eine stabile und überschaubare Gruppenzusammenset-
zung, verbindliche Abläufe und Regelungen, enge Zusam-         AUTOR | Dr. phil. Edith Wölfl
menarbeit mit der Lehrkraft des Kindes und vor allem kei-      Frauenstraße 38, 80469 München

neue AKZENTE Nr. 118 1/2021
14      Fachbeiträge     ADHS Deutschland e. V.

     Dr. phil. Edith Wölfl                                                         Heuschen K. Werner, Nathrath Doris, Neuy-Bartmann
                                                                                   Astrid, Wölfl Edith:
     ADHS und Corona                                                               Informationen zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivi-
                                                                                   tätsstörung
     Die besonderen Schwierigkeiten von                                            Nürnberg 2010
     Kindern mit ADHS
                                                                                   Howard Judith.A.: Distressed or Deliberately Defiant?
     Auswahl der zugrunde liegenden Literatur:                                     Managing challenging student behavior due to trauma
                                                                                   and disorganized attachment, Australian Academic Press,
     Alfred Adam, Eiden Stefanie, Geist Alexander,                                 2013
     Nathrath Doris, Wölfl Edith:
     Lernen mit ADHS in der Schule – Wie Lehrer ihre                               Nathrath Doris, Wölfl Edith:
     Schüler unterstützen können                                                   Erfolgreicher Schulanfang mit ADHS-Kindern, Theorie
     ADHS-Zentrum München GmbH München 2013                                        und Praxis für den Unterricht in der Grundschule
                                                                                   Neuried 2006
     Abelein Philipp, Stein Roland:
     Förderung bei Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-                           Papousek Mechthild, Wurmser Harald:
     störungen                                                                     Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken
     Stuttgart 2017-08-27                                                          – frühe Hilfen
                                                                                   In Neue Akzente der Sozialpädiatrie, Wissenschaftliche
     Bergsson Marita, Luckfiel Heide:                                              Tagung Oktober 2000, Kirchheim 2002
     Umgang mit „schwierigen“ Kindern. Auffälliges Verhalten,
     Förderpläne, Handlungskonzepte                                                Spork Peter: Gesundheit ist kein Zufall – Wie das Leben
     Berlin 1989                                                                   unsere Gene prägt – Die neuesten Erkenntnisse der Epi-
                                                                                   genetik, München 2017
     Biegert Hans: (HEBO-Privatschule) Zitat aus Vortrag
     o. D.                                                                         Vuksanovic Nevena: Traumatische Erfahrungen, Stress
                                                                                   und ADHS – Was können wir von der Neuroendokrino-
     Brennecke Ulrich: Entstehung von ADHS – Genetische                            logie lernen? Vortrag Ärztliche Akademie München Seite
     und epigenetische Ursachen von AD(H)S Karlsruhe                               3 https://akzente.net/user_upload akzente, o.D.
     2020, https:www.adxs.org/entstehung-von-adhs/
     genetische-epigenetische-ursache-adhs/

     Brisch Karl Heinz:
     Bindungsstörungen – von der Bindungstheorie zur
     Therapie
     5. Auflage, Stuttgart 2003

     Brisch Karl Heinz, Hellbrügge Theodor (HRSG.):
     Bindung und Trauma – Risiken und Schutzfaktoren
     für die Entwicklung von Kindern
     Stuttgart 2003

     Döpfner Manfred, Schürmann Stephanie, Lehmkuhl
     Gerd: Wackelpeter und Trotzkopf. Hilfen bei hyperkineti-
     schem und oppositionellem Verhalten
     Weinheim 1999

     Hattie John: Lernen sichtbar machen, Baltsmannsweiler
     2013

     Nachdruck und Vervielfältigung aller Art nur mit Genehmigung des Verbandes.                                       neue AKZENTE Nr. 118 1/2021
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