Kolumbien-Hearing zur sozialen und politischen - Heike Hänsel
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Kolumbien-Hearing Öffentliche Anhörung der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag am 2. Juni 06 zur sozialen und politischen Situation in Kolumbien ViSdP: Heike Hänsel, MdB Platz der Republik 1 11011 Berlin Tel.: 030 227 73179 Fax: 030 227 76179 heike.haensel@bundestag.de
Liebe Freundinnen und Freunde, Ende Mai nahm ich auf Einladung einer unabhängigen Kommission (MOE) an einer Wahlbeobachtung der Präsidentschaftswahlen in Kolumbien teil. Diese Kommission bestand aus mehr als 20 Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich aufgrund der Erfahrungen von massiven Wahlfälschungen der vorange- gangenen Wahlen gegründet hatte. Insgesamt hatten sich 15 internationale und mehr als 1000 lokale Wahlbeobachter/innen bereit erklärt, die Wahlen zu beglei- ten. Trotz der vermeintlich geringen Zwischenfälle am Wahltag selbst, können diese Wahlen kaum als „demokratisch“ bezeichnet werden. Das zeigt allein schon die geringe Wahlbeteiligung. Drohungen, Feindseligkeiten, Stimmenkauf und Einschüchterungen seitens der Paramilitärs, kurzfristige Verlegung oder Auf- hebung von Wahllokalen in ländlichen (eher linken) Regionen seitens der Re- gierung, hatten starken Einfluß auf die Wahlbeteiligung und das Ergebnis. Mit 62% der Stimmen wurde Álvaro Uribe am 29. Mai in seinem Amt bestätigt (der für seine Wiederwahl zuvor die Verfassung ändern musste). Horacio Serpa erreichte mit 11,8 % das niedrigste Wahlergebnis der liberalen Partei seit Jahr- zehnten. Carlos Gaviria erreichte für das neu gegründete linke Bündnis PDA mit über zwei Millionen Stimmen, das sind 22,1%, ein Rekordergebnis. Damit kann man wohl vom endgültigen Ende des traditionellen Zweiparteiensystems in Kolumbien sprechen. Die Wahlbeteiligung lag mit 45,1% unter der der letzten 20 Jahre. Für die nächsten vier Jahre ist anzunehmen, dass Uribe die Militarisierung der kolumbianischen Gesellschaft vorantreibt, seinen neoliberalen Kurs beibehält und die Menschenrechte weiter mit Füßen tritt. Auch macht er bisher keine An- stalten, die Infiltration des politischen Systems durch die Paramilitärs zu ver- hindern, im Gegenteil. Kolumbien bleibt damit eher eine „rechte“ Ausnahme auf dem zunehmend links dominierten Subkontinent. Die Fraktion Die Linke. hat sich entschlossen, nicht nur progressive Regierungspolitik in Lateinamerika zu begleiten und ver- netzen sondern auch verstärkt Aktivist/innen zu unterstützen, die unter schwie- rigsten politischen Bedingungen, wie in Kolumbien, für soziale und politische Rechte kämpfen. Mit der Kolumbien-Anhörung im Juni dieses Jahres haben wir einen Anfang gemacht. Für das kommende Jahr planen wir eine Delegations- reise nach Kolumbien, die Unterstützung vertriebener Kleinbauern und des Friedensdorfes San José de Apartadó. Heike Hänsel, November 2006 Wahlbeobachter/innen des Internationalen Teams 2
Inhaltsverzeichnis∗ Kolumbien-Hearing der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundes- 4 tag: Wege zu einer friedlichen Konfliktlösung Gloria Cuartas im Interview 6 Julio Avella García: Geschichte, Prozesse und Alternativvorschläge 10 der gesellschaftlichen Bewegungen zur Lösung des bewaffneten Konflikts in Kolumbien Alexandra Huck: Zur Situation der Menschenrechte in Kolumbien 12 Dario Azzellini: Zur Kolumbien-Politik der USA 21 Dr. Diether Dehm: Zur Kolumbien-Politik der EU 25 Bettina Reis: Die Kolumbien-Politik der EU und Deutschlands 27 Stefan Ofteringer: Kolumbien in der deutschen Entwicklungszusam- 35 menarbeit Dr. Ute Watermann: Zur Problematik des Koka-Anbaus in Kolumbien 38 Wolfgang Gehrcke: Resümee und Herausforderungen 41 Polo Democratico (PDA) in Deutschland: Selbstdarstellung 43 Antrag der Fraktion DIE LINKE.: Nach dem Wiener Gipfel – die Bezie- 44 hungen zwischen der EU und Lateinamerika solidarisch gestalten Enlazando Alternativas 2 am 11. bis 13. Mai 2006 in Wien 51 Coca-Cola-Kampagne Kolumbien 55 Personen 58 ∗ Die Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeberin wieder. Sie wurden auf dem Hearing teilweise kontrovers diskutiert. 3
Kolumbien-Hearing der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundes- tag: Wege zu einer friedlichen politischen Konfliktlösung. Am 2. Juni 2006 veranstaltete die Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag eine öffentliche Anhörung zur aktuellen politischen und sozialen Lage in Kolumbien – wenige Tage nach der Präsidentschaftswahl vom 28. Mai. Über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer folgten den Ausführungen der Podiumsgäste, die aus Kolumbien und mehreren europäischen Ländern angereist waren – darunter die „Bürgermeisterin des Friedens“ Gloria Cuartas. Heike Hänsel und Gloria Cuartas Auf dem Hearing der Linksfraktion beleuchteten die Sachverständigen unterschiedliche Aspekte der aktuellen Situation in Kolumbien, wo viele Menschen nach wie vor massiv von Menschenrechtsverletzungen bedroht sind. Dabei sind politische, struktu- relle und kriminelle Gewalt eng miteinander verknüpft. Der Autor Raúl Zelik erläuterte die enge Verstrickung des Staatsapparats und der rechts-konservativen Regierung von Álvaro Uribe mit den rechten Paramilitärs. Unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl war diese Verstrickung durch die Aussagen eines früheren Ge- heimdienstmitarbeiters in die öffentliche Debatte geraten. In Kolumbien tätige Konzerne wie Coca-Cola und Nestlé profitieren ungeniert vom Terror der Paramilitärs gegen Gewerkschafter. Zelik und andere engagieren sich deshalb in der Coca-Cola-Kampagne, um diese Zusammenhänge auch vor dem Hintergrund der Fuß- ballweltmeisterschaft, auf der Coca-Cola als großer Sponsor auftritt, sichtbar zu machen und den Druck auf die Multinationals zu erhöhen, ihre Arbeiter zu schützen, ihnen würdige Ar- beitsbedingungen zu schaffen und Mitbestimmungsrechte einzuräumen. Das Programm zur „Nationalen Versöhnung“ der Regierung Uribe wurde auf der An- hörung kritisch analysiert. Die Demobilisierung der Paramilitärs wirke vor allem als General- amnestie, die Interessen ihrer Opfer spielten dabei eine untergeordnete Rolle, kritisierte Ale- xandra Huck von KOLKO (Menschenrechte für Kolumbien). Die Paramilitärs gäben nicht alle Waffen ab, vielfach organisierten sie sich neu. Bettina Reis von der Informationsstelle Lateinamerika machte darauf aufmerksam, dass die „Friedenslabors“, auf die sich die europäische Entwicklungszusammenarbeit mit Kolumbien positiv bezieht, in einigen Fällen als Teil der Kriegsstrategie der Regierung miss- braucht werden: Sie flankieren vielerorts den Kampf um die Kontrolle ökonomisch bedeut- samer Regionen und setzen dort eine konservative Hegemonie durch. Stefan Ofteringer von Misereor fragte deshalb, ob die deutsche Entwicklungszusammenarbeit diese Zusammen- hänge wirklich erkennt und berücksichtigt. Ein besonders kritischer Blick wurde auf die Kolumbien-Politik der USA geworfen. Sie stütze sich voll auf den kolumbianischen Repressionsapparat, kritisierte der Autor Dario Az- zellini. Der Plan Colombia, für den die USA bereits 3,5 Mrd. Euro aufgewandt haben, habe vor allem eine starke militärische Komponente: die gewaltsame Niederschlagung der linken Guerilla und den Ausbau der militärischen Präsenz der USA in Südamerika. Die Bekämpfung des Koka-Anbaus im Rahmen des Plan Colombia mittels großflä- chiger Besprühungen schädigt die Kleinbauern, auch die, die kein Koka anbauen, und die Umwelt, beklagten die kolumbianischen Menschenrechtsaktivisten Julio Avella und Naca Mandinga. Letzterer verwies als Vertreter des „Proceso de Comunidades Negras“ auf die doppelte Diskriminierung der schwarzen und indigenen Bevölkerung in Kolumbien. Von den Vertreibungen, die mit der Bekämpfung der Guerilla begründet werden, mit denen sich aber 4
ökonomische Interessen – die Kontrolle über rohstoffreiche Regionen – verbinden, sind indi- gene und afrokolumbianische Gruppen in besonderem Maße betroffen. Nicht nur die USA, auch die EU unterstützt die Regierung Uribe. Auch seitens der Bundesregierung sind frühere kritischere Töne einem grundsätzlichen Einverständnis gewi- chen. Kolumbien unter der Regierung Uribe gilt als Bollwerk gegen den linken Aufbruch in Lateinamerika und gegen die regionalen Integrationsbemühungen des venezolanischen Prä- sidenten Hugo Chavez. Kolumbien vereinbarte 2006 ein Freihandelsabkommen mit den USA – gegen den Widerstand der kolumbianischen Kleinbauern, die fürchten, in der Konkurrenz mit billiger Importware aus den USA zu unterliegen. Auch die EU verspricht sich von Uribe Unterstüt- zung bei ihren Bemühungen, mit lateinamerikanischen Staatengruppen Freihandelsabkom- men zu vereinbaren. Friedliche Wege aus der strukturellen, kriminellen und politischen Gewalt wiesen die Refe- rentinnen und Referenten aus Kolumbien auf, insbesondere Gloria Cuartas, die als Bürger- meisterin der Stadt Apartadó für ihr Engagement von der UNESCO als „Bürgermeisterin des Friedens“ ausgezeichnet wurde. Sie entwarf ihr Projekt einer „Landkarte des Friedens“, eines ständig wachsenden Netzwerkes von Kommunen, aus denen heraus soziale und politische Gruppen wechselseitige Unterstützung im Kampf um Frieden und soziale Rechte organisie- ren. Sie selbst ist aktiver Teil dieser Bewegung (vgl. Interview mit Gloria Cuartas ab S. 5). Mit dem Aufbau des Polo Democratico entsteht nun eine landesweit organisierte Kraft, die in diesem Sinne wirksam werden kann. Wenige Tage nach der Präsidentschaftswahl in Kolumbien, aus der Amtsinhaber Álvaro Uri- be mit 62 Prozent als Sieger hervorgegangen war, berichtete die Entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion Heike Hänsel von ihrer Teilnahme an einer Internationalen Wahlbeobachtermission. Der Wahlkampf hatte in einem Klima der Einschüchterung stattge- funden. Doch auch wenn das Wahlziel der Linken, Uribe in einen zweiten Wahlgang zu zwingen, deutlich scheiterte, konnte der Polo Democratico mit seinem Kandidaten Dr. Carlos Gaviria einen Erfolg erzielen: Gaviria erhielt 22 Prozent und platzierte den Polo damit auf dem zweiten Rang vor den Liberalen. Damit wurde erstmals das traditionelle Zweiparteien- system mit Konservativen und Liberalen durchbrochen. Aus der Anhörung ergaben sich konkrete Arbeitsaufträge für die deutsche Linke. Die Frakti- on DIE LINKE. wurde aufgefordert, mehr Druck auf die Bundesregierung auszuüben, die Wahrung der Menschenrechte stärker als bisher zum Maßstab der EZ mit Kolumbien zu ma- chen. Die deutsche EZ solle verstärkt in einen Dialog mit den zivilgesellschaftlichen Kräften eintreten. Außerdem wurde ein neuer Blick auf den Komplex Koka-Anbau und Drogenhandel gefordert. Dieser neue Blick muss darauf gerichtet werden, dass nicht nur der Endverbrauch, sondern vor allem der Großteil der Gewinnabschöpfung im Drogenhandel und der Investition dieser Gewinne im Norden stattfindet. Aus dieser Perspektive wird der Drogenhandel zu ei- nem Problem des Nordens. Der traditionelle Anbau und Nutzung von Koka in Kolumbien und anderswo müssen neu bewertet werden. Bezüglich der deutschen Verstrickung in die Kon- flikte in Kolumbien wurde verabredet, dass die Fraktion DIE LINKE. Kleine Anfragen ein- bringt, um die deutsche Kolumbien-Politik – beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen Bundesgrenzschutz und kolumbianischem Zoll – kritisch auszuleuchten. Die Fraktion DIE LINKE. hat im Zuge der Anhörung neue Partnerinnen und Partner in Ko- lumbien, Deutschland und Europa gefunden. Sie wird sich weiter mit der politischen und so- zialen Situation in Kolumbien beschäftigen und dabei auch die Zusammenarbeit mit außer- parlamentarischen Initiativen wie der Coca-Cola-Kampagne suchen (zur weiteren Informati- on siehe www.kolumbienkampagne.de). Der nächste Schritt soll die Gründung einer AG La- teinamerika innerhalb der Fraktion sein. Diese AG wird offen, das heißt unter Beteiligung von Interessierten außerhalb der Fraktion arbeiten. 5
Gloria Cuartas im Interview Gloria Cuartas ist ehem. Bürgermeisterin von Aparta- dó, ausgezeichnet von der Unesco als „Bürgermeiste- rin für den Frieden“. Bei den Präsidentschaftswahlen Ende Mai hat sie den Polo Democratico unterstützt. Anfang Juni war sie auf Einladung der Fraktion DIE LINKE Referentin einer Kolumbien-Anhörung im Bun- destag. Was ist der POLO DEMOCRATICO ALTERNATIVO? Der POLO DEMOCRATICO ALTERNATIVO (P.D.A) oder ALTERNATIVER DEMO- KRATISCHER POL ist eine VEREINIGUNG unterschiedlicher politischer und sozialer Bewe- gungen. Seine Vorgeschichte liegt im politischen Leben des Landes und in den Jahren der Ausrottung und des politischen Ausschlusses linker Kräfte. Jede dieser politischen und so- zialen Kräfte ging ihren eigenen Weg. Vor 8 Jahren sind über den FRENTE SOCIAL Y PO- LITICO, F.S.P (SOZIALE UND POLITISCHE FRONT) verschiedene Plattformen für den Dia- log eröffnet worden und als Teil dieses Prozesses entstanden dann die ALTERNATIVA DEMOCRATICA (Demokratische Alternative) und der POLO DEMOCRATICO INDEPEN- DIENTE (unabhängiger demokratischer Pol). Adressaten waren Gewerkschaften, Kleinbau- ern und indianische Bevölkerung, KolumbianerInnen afrikanischer Abstammung, Frauenbe- wegung, StudentInnen, ArbeiterInnen, UmweltaktivistInnen und viele andere mehr. Im De- zember 2005 entstand aus den vielfältigen Strömungen von progressiven Linken und Unab- hängigen erstmalig eine VEREINIGUNG der Linken. Dies ist eine vereinte Alternative, der sich die reale Möglichkeit eröffnet, zu einer starken politischen Kraft zu werden, die mit Wür- de auf soziale Veränderungen abzielt; Veränderungen, die Arbeit, Bildung, Gesundheit und öffentliche Daseinsfürsorge für das kolumbianische Volk garantierten sollen; ohne diese Ver- änderungen wird eine Befriedung des Landes kaum möglich sein. Was ist Deine Meinung zu den Wahlen? Die in Kolumbien am 28. Mai 2006 abgehaltenen Wahlen gehörten zu den meistbeachteten in Lateinamerika und in der Karibik, u. a. auch wegen der Prozesse des Aufbaus und des zivilen Widerstands und der Konsolidierung von alternativen Ansätzen, die sich in Venezue- la, Kuba, Bolivien, Ecuador, Brasilien, Argentinien und Uruguay herauskristallisieren. Wir erkennen den Fortschritt des POLO an, denn zum ersten Mal hat sich die Linke in Kolumbien für die Wahlen vereint und 2,6 Millionen Menschen haben für die Vorhaben von POLO, für den Aufbau der Demokratie, für das Leben und für den Frieden gestimmt. Es sind die Stim- men derjenigen, die erkennen, dass es in Kolumbien eine andere Art zu leben gibt, eine an- dere Art, interne Konflikte zu lösen, die keine Ungleichheit und keinen Ausschluss akzeptie- ren und auch keine wirtschaftliche, militärische und politische Besetzung unseres Landes durch die Regierung der Vereinigten Staaten. In welchem Klima fanden die Wahlen statt? Inmitten eines Klimas der Einschüchterung, der Legalisierung paramilitärischer Handlungen und des Bündnisses mit dem Drogenhandel über das Gesetz "Gerechtigkeit und Frieden"; das die Straflosigkeit fördert, indem es die Paramilitärs in die Gesellschaft integriert, sie lega- lisiert, ihnen Straffreiheit gewährt und dabei von Rechts wegen ihre grauenhafte Vergangen- heit löscht. Die Unterstützung, die dies durch die Medien, den Gesetzgeber, die Machthaber 6
und durch Eingriffe in die Lokal- und Regionalpolitik, in die Parteipolitik und in die Institutio- nen und auch durch die internationale Zusammenarbeit erfahren hat, lässt bei uns Zweifel aufkommen, ob es unter diesen Umständen tatsächlich möglich ist, von Frieden zu reden. Die Verfassungsänderung zugunsten der Wiederwahl, das war eine Gesetzgebung zu per- sönlichen Zwecken. Die Wiederwahl ist NICHT das eigentliche Problem, das Problem ist das Programm zur Vertiefung des Krieges, die territoriale Umgestaltung im Dienste multinationa- ler Unternehmen, wie bereits aus Álvaro Uribes langfristig ausgelegtem Programm "Vision Kolumbien 2019" ersichtlich; schon bevor er seine zweite Amtsperiode antritt, wird im ko- lumbianischen Parlament bereits ein neues Gesetzesvorhaben vorbereitet, um durch eine erneute Verfassungsänderung eine weitere Wiederwahl zu ermöglichen. Wie beurteilst Du das Ergebnis und die bisherige Politik von Alvaro Uribe? Der so genannte Sieg von Álvaro Uribe, d.h. mit 7 Millionen Stimmen, scheint wahrhaftig überwältigend zu sein. Aber man muss auch die starke Wahlenthaltung im Lande berück- sichtigen; von 26 Millionen wahlberechtigten Kolumbianerinnen und Kolumbianern sind letzt- endlich nur 12 Millionen zu den Wahlurnen gegangen. Die internationale Gemeinschaft sieht Uribe an der Seite derjenigen, die das von den Vereinigten Staaten propagierte Modell des globalen Terrorismus anwenden. Dieses Modell kann in dem Satz zusammengefasst wer- den: "Wer nicht für die Expansions- und Beherrschungspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika ist, der ist auf der Seite des Terrorismus" (eine Aussage, die zum Teil auch eindeu- tig in der Sicherheitspolitik des Wahlsiegers enthalten ist). Uribe ist in Lateinamerika und der Karibik ein bedingungslos ergebener Verbündeter der USA – diesbezüglich möchte ich daran erinnern, dass im Irak-Krieg Kolumbien eines der Länder gewesen ist, die die Invasion unter- stützt haben – und Garant einer Politik, die im Dienste der kolumbianischen Oligarchie steht. Mit anderen Worten: Seine Politik "des großen Herzens und der harten Hand" bedeutet, die tiefe soziale Ungleichheit aufrechtzuerhalten und die sozialen und bewaffneten Konflikte mit Gewalt zu lösen; dabei wird die von den USA strategisch vorgegebene Kriegspolitik verstärkt und durch den "Plan Patriota" umgesetzt, um durch Waffengewalt den Aufstand auszulö- schen, der in der öffentlichen Meinung als Terrorismus dargestellt wird; ohne ein politisches Projekt und ohne Faktoren wie Ungleichheit und historischen Ausschluss der Mehrheit der kolumbianischen Bevölkerung zu berücksichtigen. Die Einführung des Gemeinschaftsstaates macht den Staat zum gewinnorientierten Unternehmen, Wirtschaftswachstum soll durch Kos- teneinsparungen herbeigeführt werden – zum Beispiel durch Reduzierung der Anzahl öffent- licher Angestellter. Die Rechten konsolidieren sich in einer einzigen politischen Bewegung, in der sich Liberale und Konservative, d.h. die Traditionsparteien Kolumbiens, vereint haben, um sich an der Macht zu halten. Mit dem Wahlsieg der Anhänger und Parteien Uribes, die 63 % der Sitze im Senat und 53 % in der Abgeordnetenkammer erhalten haben, wird die Situation für die linke parlamentarische Plattform schwieriger; einer der hier zu verfolgenden Wege wird die Mobili- sierung der Bevölkerung sein. Wir werden den zivilen Widerstand im Lande fortführen als Männer und Frauen, die in einem politischen Prozess wie dem POLO zusammengefunden haben. Allerdings werden die Akteure des zivilen Widerstands, u. a. Angehörige indigener Gemeinschaften, Kolumbianer afrikanischer Abstammung oder die Bauerngemeinschaften größeren Bedrohungen ausgesetzt sein, da die Regierung verstärkt ihre Macht gegen sie einsetzt. 7
Viele loben Uribe wegen seiner Friedenspolitik, wegen der Demobilisierung der Para- militärs. Wie ist Situation heute in Kolumbien? Es ist nicht möglich, in Kolumbien von einer Friedenspolitik zu sprechen. Zurzeit verfestigt sich ein Prozess der Straflosigkeit, der die soziale Bewegung zu einer Spaltung führt. Wir stellen bei der kolumbianischen Opferbewegung eine ablehnende Haltung gegenüber der internationalen Zusammenarbeit fest; es sollen KEINE Prozesse unterstützt werden, die sich gegen die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Entschädigung richten. Es gibt zum Beispiel die Friedensgemeinde San José de Apartadó. Seit über 9 Jahren verlangt diese Gemeinde, man möge sie respektieren und auf ihrem Territorium leben lassen, ohne ihre Teilnahme an den bewaffneten Auseinandersetzungen zu erzwingen. Das Militär und auch die paramilitäri- schen Kräfte verstärkten daraufhin die Verfolgung, und es gibt über 620 Fälle der Gewalt gegen die Bevölkerung; von diesen Straftaten sind heute über 170 straffrei gestellt worden, und die Gemeinde wird weiterhin bedroht. Wie diese gibt es Tausende von Fällen, die sich im ganzen Lande wiederholen, sogar in den so genannten "Friedenslabors" [1] besteht die Gewalt gegen die Bevölkerung fort; dies erfordert eine Reaktion, die der Gewalt einen Riegel vorschiebt. Welche politischen Alternativen gibt es für die Lösung dieses Konflikts? Der Ausweg aus diesem kolumbianischen Konflikt sind der Dialog und die Politik, aber nicht die Gewalt, nicht das Militär. Auf internationaler Ebene muss die tatsächliche Bedeutung des Plans "Militärische Besetzung Kolumbiens durch die Vereinigten Staaten" erkannt werden; es muss überprüft werden, ob die Unterstützung der Europäischen Union tatsächlich Prozesse von Entwicklung und Frieden in Gang setzt, oder ob es erforderlich ist, nach der Wahl den Dialog mit den sozialen und politischen Organisationen zu intensivieren. Es ist wichtig, ent- schieden den Dialog zu unterstützen, der humanitäre Abkommen und Verhandlungen zwi- schen der Guerilla und der Kolumbianischen Regierung ermöglicht. Auch der POLO braucht Unterstützung als politische und soziale Linke, die bestrebt ist, den Dialog zu eröffnen mit verschiedenen Sektoren der Gesellschaft: Unternehmern, Universitäten und Gemeinschaf- ten, und die nicht weiter eine passive Rolle als Zuschauer der Ausrottung und des Völker- mords an breiten Schichten der Gesellschaft einnehmen will; wir bestehen auf unserem Recht auf ein Leben in Würde, auf Frieden und auf soziale Gerechtigkeit. Was erwartest Du von der deut- schen und europäischen Politik? Wir möchten mit ihr einen Dialog er- öffnen, um zu zeigen, wie schlimm die Menschenrechtssituation in Kolumbien tatsächlich ist. Kolumbien erfüllt die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen noch immer nicht, und dies müsste die Europäische Union dazu bringen, eine stärkere politische Kon- trolle über die Beziehungen mit Ko- Gloria Cuartas mit Oskar Lafontaine lumbien auszuüben, indem sie auf die Einhaltung besteht. Wir erwarten, dass sie die Rechte der Bauernorganisationen, der indigenen Organisationen und der Ko- lumbianer afrikanischer Abstammung anerkennt, sowie die Frauenbewegung, die dabei ist, alternative Lebensformen auszuarbeiten; wir wünschen, dass die EU den kolumbianischen Staat auffordert, diese legitimen Alternativen zu respektieren und nicht zu bekämpfen. 8
Was erwartest Du von der Linken und von den sozialen Bewegungen, wie können sie den Friedensprozess unterstützen? Die Unterstützung und Solidarität, die wir von deutschen Schwesterorganisationen erhalten haben, waren für uns sehr wichtig, um mit dem Aufbau von Friedensvorschlägen vorankom- men zu können. Also ich glaube, dass es sehr wichtig ist, den POLO als die Kolumbianische Linke und in seinem Recht auf politische Opposition zu unterstützen. Es ist sehr wichtig, eine politische Beziehung mit der deutschen und der europäischen Linken zu vertiefen, die tat- sächlich in die internationale Politik, von Europa nach Kolumbien, eingreift. Wir brauchen den wirtschaftlichen, politischen, sozialen und sozialwissenschaftlichen Austausch mit den Orga- nisationen, die an anderen Alternativen in Kolumbien arbeiten. Wir sollten einen 'Wander- lehrstuhl Kolumbien' für die Schulen in Deutschland einrichten, um das Land mit seinem Po- tential und mit seinen Schwierigkeiten zu zeigen, als eine Landschaft der Hoffnung. Damit die Kinder ein lebensbejahendes Kolumbien kennen lernen, ein Kolumbien, das die Mitarbeit und die Solidarität braucht, für den Respekt und die Beziehungen unter Gleichen, die uns als Grundlage für die nächsten Generationen dienen möge. Es ist wichtig, zwischen den sozia- len Bewegungen in Europa und Kolumbien einen solidarischen Austausch zu entwickeln, der den interkulturellen Dialog und die Friedensarbeit fördert. Wir wollen auch die Kommunikati- on auf gleicher Augenhöhe mit sozialen Bewegungen Deutschlands vertiefen. Der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE., Oskar Lafontaine, eröffnete die Anhörung. 9
Julio Avella García: Geschichte, Prozesse und Alternativvorschläge der gesellschaftli- chen Bewegungen zur Lösung des bewaffneten sozialen Konflikts in Kolumbien Die Ursachen des sozialen Konflikts in Kolumbien gehen auf die Zeit der Eroberung des lateinameri- kanischen Kontinents durch die Spanier zurück. Im Jahr 1781 bildete sich zum ersten Mal eine Widerstandsbewegung (Union der Unterdrückten gegen die Unterdrücker), die sich gegen die Kolonialherren auflehnte. Anfang des 19. Jahrhunderts folgten der Freiheitskampf und die Befreiung und Unabhängigkeit von Venezuela, Ecuador, Kolumbien, Bolivien, Peru und Panama unter Simón Bolívar. Im 20. Jahrhundert bildeten sich soziale Bewegungen heraus, die gegen die Unterdrückung und Ausbeutung durch internationale Konzerne kämpften. Im Jahr 1928 wurden mehr als 3000 Bananenpflücker und deren Familien ermordet, nachdem sie sich gegen die Ausbeu- tung durch das US-amerikanische Unternehmen United Fruit Company zur Wehr gesetzt hatten. Dieses Massaker kennzeichnete den Beginn der systematischen gewaltsamen Un- terdrückung der Bevölkerung und fand ihre Fortsetzung in der "Phase der Gewalt" zwischen 1948 und 1953, in die auch die Gründung der Frente Nacional fiel. Später, d.h. in den 60er und 70er Jahren, kamen zahlreiche Untergrundorganisationen (z.B. FARC, die Guerilla M-19 usw.) hinzu. Darüber hinaus bildeten sich regionale soziale Bewegungen und Parteien, die von offizieller Seite als "Staatsfeinde", "Helfershelfer der Aufständischen" und "Terroristen" gebrandmarkt wurden. In den 80er Jahren kam es zu verschiedenen Friedensbemühungen, z.B. unter der konser- vativen Regierung von Belisario Betancur (1982-1986) und der liberalen Regierung von Virgi- lio Barco (1985-1990), die sich um Friedensgespräche mit den Aufständischen in Kolumbien bemühten. Diese Bemühungen wurden durch rechte Gruppierungen und Maßnahmen der Weltbank und des IWF torpediert. In den 90er Jahren gab es einen Rückfall in die Auseinan- dersetzungen der 60er und 70er Jahre mit dem traurigen Höhepunkt der Bildung so genann- ter "Convivir"-Gruppen, d.h. paramilitärischen Gruppen, die für Massaker an der Zivilbevölke- rung verantwortlich waren (im Jahr 1997 gab es in ganz Kolumbien insgesamt 414 dieser Gruppen). Der konservative Präsident Andrés Pastrana (1998-2002) versuchte im Jahr 1999 erneut, in vier Provinzen in Verhandlungen mit der FARC zu treten; diese trafen jedoch auf den erbitterten Widerstand der politischen Führungsschichten in Kolumbien. Der Beginn des 21. Jahrhunderts in Kolumbien ist einerseits durch die Hoffnung auf die Wie- deraufnahme des Dialogs und den Weg zur nationalen Versöhnung und Verknüpfung von Frieden und sozialer Gerechtigkeit und andererseits durch Misstrauen gekennzeichnet, das sich in Form von Barbarei und autoritären Strukturen äußert und den historischen Konflikt verlängert. Die derzeitige Regierung von Álvaro Uribe sperrt sich gegen Verhandlungen und stellt stattdessen die Notwendigkeit der Fortsetzung des Kampfes gegen Drogen und Auf- ständische mithilfe des Plan Colombia heraus. Der Plan Colombia Der unter der Regierung Pastrano auf Vorschlag der USA angenommene Plan Colombia, der der Beherrschung und Ausbeutung Lateinamerikas dient, wurde von der derzeitigen Re- 10
gierung ausgeweitet. Wir müssen im Zusammenhang mit Drogen vom offiziellen Sprach- gebrauch abweichen und vom "Anbau für den illegalen Gebrauch" sprechen, da der Anbau von Koka-Pflanzen an sich und die heilende Wirkung der Kokablätter eine alte Tradition sind und der Missbrauch durch Kriminelle etwas ganz anderes ist – im Übrigen ist Deutschland neben den Vereinigten Staaten der größte Hersteller und Lieferant von Chemikalien, die der Gewinnung von Kokain aus den Blättern der Koka-Pflanze dienen. Diejenigen, die vom Kampf gegen den Drogenhandel sprechen, zeigen hier eine Doppelmoral. Die im Rahmen der Anti-Drogen-Strategie verfolgte "Null-Toleranz"-Politik hat keinerlei positive Resultate gezeitigt. Der Wert eines Kilos Kokain vervielfacht sich auf dem Weg von den Erzeugern in Kolumbien zu den Konsumenten in den USA von 2.000 US-Dollar auf 150.000 US-Dollar. Das große Geschäft wird in den Industriestaaten gemacht (50 Millionen Dollar jährlicher Um- satz), aber die Stigmatisierung, Diskriminierung und Kriminalisierung trifft ausschließlich die Kolumbianer. Der Plan Colombia hat für einen weiteren Abbau des sozialen Rechtsstaats sowie die weitere Zerstörung des sozialen Zusammenhalts und die Beseitigung der gesell- schaftlichen Einrichtungen gesorgt – alles im Namen der Sicherheit. Zusammengefasst han- delt es sich beim Plan Colombia um einen unvernünftigen und schändlichen Plan, den das ausländische Kapital im Verborgenen ausgeheckt hat. Der aktuelle Konflikt Wir erleben eine Offensive des internationalen Kapitals und des Neoliberalismus im Rahmen des so genannten "Washingtoner Konsens" von 1989. Die kolumbianische Regierung über- nahm die These der USA, dass das Problem Kolumbiens die Guerilla-Bewegung und deren Beseitigung die geeignete Lösung für die Probleme des Landes sei, später aber nahm sie ihre Position zurück und behauptete das Gegenteil, d.h. dass es keinen bewaffneten Konflikt gäbe und man gegen Terroristen kämpfe. In Kolumbien gibt es verschiedene Plattformen, Bewegungen und gesellschaftliche Organisationen von Ureinwohnern, Bauern, Gewerk- schaftern, Umweltschützern, Journalisten und Künstlern für Menschenrechte, Frieden sowie Forschung und Entwicklung, z.B.: Solidaritätskomitees für politische Gefangene Ständige Versammlung der Zivilgesellschaft für den Frieden Nationales Netzwerk der Friedens- und Anti-Kriegs-Initiativen Kolumbianische Plattform für Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung Nationale Koordinierungsstelle der Bauern Verband der Familienangehörigen von verschwundenen Gefangenen "La Alianza" (gesellschaftliche Organisationen für Frieden und Demokratie in Ko- lumbien) Frauenrechtsbewegungen Bewegungen afrikanischstämmiger Kolumbiens Umweltschutzbewegungen Bewegung der Opfer des staatlichen Terrorismus Gewerkschaften (CUT, CGTD, CTC) Diese Bewegungen und Organisatio- nen haben in der Vergangenheit (im Rahmen des nationalen Dialogs der 70er Jahre und des Waffenstillstands- und Friedensprozesses der 80er Jah- re) in verschiedenen gesellschaftli- chen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen innerhalb der kolumbianischen Bevölkerung eine wichtige Rolle gespielt. Die sozialen Bewegungen beziehen seit über 40 Jahren auf intelligente Weise und mit Naco Mandinga repräsentierte den Proceso de moralischer Kraft und zivilem Unge- Comunidades Negras 11
horsam zu den Problemen des Landes Stellung. Sie sind die Speerspitze des sozialen Pro- tests und unterbreiten Alternativvorschläge im Hinblick auf die demokratische Transformation von Staat und Gesellschaft. Nach Meinung der Internationalen Versammlung der Zivilgesell- schaft für den Frieden in Kolumbien und der Welt, der ich angehöre, ist neben dem Krieg die soziale Ungleichheit der größte Feind der Menschheit. Im Dialog zwischen den Parteien müssen unter anderem die folgenden Fragen und Themen erörtert werden: Sind die Parteien zum Frieden bereit? Müssen Staat und Regierung festlegen, worüber verhandelt wird und wie weit man gehen darf? Untersuchung der historischen Wurzeln und Anerkennung des Konflikts Einbeziehung der Zivilgesellschaft als weiteren Akteur im Konflikt Freilassung der politischen Gefangenen und Kriegsgefangenen Einfrieren der Militärhilfe im Namen der Menschlichkeit Schaffung eines Bewusstseins über die humanitäre Krise in Kolumbien Beachtung der Souveränitätsrechte seitens der multinationalen Konzerne Verteidigung der 17 Friedens- und Entwicklungsprogramme der Regionen Beachtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung von unabhängigen Journalisten Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung für die Opfer von Kriegsverbrechen und deren Familien – wider die Straflosigkeit und das Vergessen. Alexandra Huck: Zur Situation der Menschenrechte in Kolumbien Im Rahmen dieses Überblicks über einige wesentliche Aspekte der Situation der Menschen- rechte in Kolumbien ist der so genannte Demobilisierungsprozess der paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen (AUC) besonders zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Situation der Menschenrechte gibt es unterschiedliche Einschätzungen sei- tens kolumbianischer Regierung einerseits und seitens kolumbianischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen andererseits; aber auch in Deutschland stimmen die Ein- schätzungen der Nichtregierungsorganisationen nicht mit denen der Regierung überein. Der Dissens in Deutschland, so viel sei vorweggenommen, besteht im Wesentlichen darüber, inwiefern die jeweilige kolumbianische Regierung guten Willen zeigt, die Situation der Men- schenrechte zu verbessern. Deshalb soll diese Frage des "guten Willens" später besonders betrachtet werden. Daran anknüpfend sollen einige Empfehlungen an die deutsche Pollitik hinsichtlich Kolumbiens formuliert werden. Überblick über die aktuelle Situation der Menschenrechte in Kolumbien Kolumbien leidet nicht nur an einem seit mehr als 40 Jahren andauernden bewaffneten Kon- flikt, sondern auch an einer seit Jahrzehnten anhaltenden, dramatischen Situation der Men- schenrechte. Wenngleich es einen Zusammenhang und vielfache Wechselwirkungen zwi- schen bewaffnetem Konflikt und Menschenrechtssituation gibt, so darf nicht davon ausge- gangen werden, dass der bewaffnete Konflikt die Ursache für die dramatische Situation der Menschenrechte ist; vielmehr kann vielfach beobachtet werden, dass der bewaffnete Konflikt die "optimalen Bedingungen" bietet, um unter dessen Deckmantel Menschenrechtsverlet- zungen, aber auch Verletzungen des humanitären Völkerrechtes seitens der Guerillagruppen zu begehen; nur unter den Bedingungen des bewaffneten Konfliktes ist es möglich, Millionen Kleinbauern zu vertreiben und sich ihres Landes zu bemächtigen. Einige wesentliche Aspekte hinsichtlich der aktuellen Menschenrechtslage in Kolumbien sind: Die Zahl der Morde, die gewaltsame Vertreibung, willkürliche und Massenverhaftungen, 12
gewaltsames Verschwindenlassen, die fehlende Meinungsfreiheit und die Armut. Das Thema der herrschenden enormen Straflosigkeit zieht sich dabei wie ein roter Faden durch diese Aspekte, denn sie ist die Grundlage und Voraussetzung für immer neue Verbrechen. Die so genannte Demobilisierung beeinflusst auch die Situation der Menschenrechte. Menschen- rechtsverletzungen haben sich - was die direkte Autorenschaft betrifft - in Kolumbien Anfang der neunziger Jahre von staatlichen Kräften hin zu paramilitärischen Gruppen verlagert, wel- che in großem Maßstab auf Unterstützung und Duldung staatlicher Kräfte zählen können. Im Rahmen der aktuellen scheinbaren Auflösung der paramilitärischen Strukturen verändert sich die Wirkungsweise dieser Gruppen. Die Verbrechen der Guerilla fallen zwar nicht unter den Oberbegriff Menschenrechtsverlet- zungen, da bei Menschenrechtsverletzungen per definitionem staatliche Kräfte, sei es durch Handeln oder durch Unterlassung, beteiligt sind. Dennoch sollen auch die von der Guerilla verübten kontinuierlichen und schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrech- tes hier nicht ohne Erwähnung bleiben. Hinsichtlich der Mordrate ist ein deutliches Absinken in den letzten Jahren zu verzeichnen, wie wir hier im Schaubild sehen können; gerne präsentiert die Regierung dies als Erfolg ihrer Politik der "demokratischen Sicherheit". Auf die Wahl und deren Rahmenbedingungen soll hier nicht weiter eingegangen werden, da dies Thema eines anderen Beitrags ist. Bei allen Einschränkungen hinsichtlich Wahlbeteiligung, Einschüchterungen, Drohungen und von ille- galen Gruppen ausgeübtem Druck, ist davon auszugehen, dass dort, wo Präsident Uribe reale, freiwillige Unterstützung genießt, dies nicht unwesentlich mit einem Gefühl von mehr Sicherheit zusammenhängt. Dennoch sind zur Zahl der Morde noch drei Dinge zu erläutern: Zum einen ist diese Zahl nicht spezifiziert nach den Arten der Morde, was im Bericht des UN- Hochkommissariats für Menschenrechte kritisiert wird.1 Das Hochkommissariat weist darauf hin, dass die offizielle Statistik weder Indikatoren für die Ermordung besonders geschützter Personen liefert, noch die Morde durch (Alltags) Kriminalität differenziert von politischer Kri- minalität erfasst. Das Menschenrechtsobservatorium des Vizepräsidentenbüros enthält keine Informationen über extralegale Hinrichtungen oder bestimmte Kategorien von Verletzungen des humanitären Völkerrechtes. Zum anderen ist im Rahmen des Prozesses mit den parami- litärischen AUC und des vereinbarten Waffenstillstandes ein Rückgang der Morde zwingend notwendig zu erwarten. Es ist vielmehr besorgniserregend, dass trotz der versprochenen Waffenruhe von 2002 bis Ende 2005 mehr als 2.750 Menschen von diesen Gruppen ermor- det wurden oder gewaltsam verschwunden sind. Außerdem ist auf ein verändertes Vorgehen der Paramilitärs hinzuweisen; aus vielen Regionen des Landes wird berichtet, dass sie sehr viel selektiver morden. Das heißt dass bei anhaltenden oder zunehmenden Drohungen we- niger Personen, diese jedoch gezielter ermordet werden, was für die Arbeit von sozialen und Menschenrechtsorganisationen weiterhin verheerende Folgen hat und eine gleich bleibende soziale Kontrolle durch paramilitärische Gruppen ermöglicht, jedoch in der Statistik wesent- lich besser aussieht als zuvor. 1 Report of the High Commissioner for Human Rights on the situation of human rights in Colombia.01-2006, E/CN.4/2006/009. www.hchr.org.co 13
Morde pro Jahr 1986 - 2005 erstellt nach Angaben des Observatoriums des kolumbianischen Vizepräsidentenbüros 35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 In ihrem jährlichen Bericht für das Jahr 2005 weist die UN-Hochkommissarin auf eine Zu- nahme der Vergehen hin, bei denen staatliche Kräfte direkt beteiligt sind.2 Hier sind insbe- sondere die extralegalen Hinrichtungen zu nennen. Zumeist werden getötete Zivilisten in diesen Fällen von den Streitkräften als im Gefecht gefallene Guerilleros präsentiert. Besorg- niserregend ist hier die mangelnde Bereitschaft staatlicher Stellen, effektive Ermittlungen in diesen Fällen zu führen, kritisiert die Hochkommissarin in ihrem Bericht.3 Willkürliche und Massenverhaftungen haben sich in den letzten Jahren verdreifacht. Die Verhaftungen kamen oftmals aufgrund von falschen Anschuldigungen zustande, die von de- mobilisierten Guerilleros oder von bezahlten Informanten gemacht wurden.4 Willkürliche Verhaftungen aber auch Strafverfahren, die aufgrund von fadenscheinigen Zeugenaussagen angestrengt werden, sind insbesondere für Menschenrechts- und soziale Organisationen zunehmend ein schwerwiegendes Hindernis. Ein Beispiel dafür ist die Menschenrechtsorganisation Justicia y Paz. Justicia y Paz wurde im Jahr 2003 als Zivilklägerin im Fall gegen den ehemaligen General Rito Alejo del Rio zuge- lassen. Seither wurde sie zur Zielscheibe von 4 Strafprozessen; die Strafverfolgung wurde eingeläutet durch im Fernsehen übertragene Diffamierungen seitens des damaligen Ober- kommandierenden der kolumbianischen Streitkräfte, Jorge Enrique Mora. Trotzdem ist es Justicia y Paz gelungen, ihre Arbeit fortzusetzen und unter anderem zu erreichen, dass ein massiver Landraub an den afrokolumbianischen Gemeinden des Jiguamiandó und Curvara- dó Beckens im Bundesstaat Chocó bekannt, und vom Interamerikanischen Menschen- rechtsgerichtshof verurteilt wurde. Doch im Januar 2006 erfuhr Justicia y Paz von einem neuen Strafverfahren, in dem nicht nur gegen sie ermittelt wird, vielmehr wurde auch gegen alle Führungspersonen der Gemeinden aus dem Jiguamiandó und Curvaradó Becken, die ihr Land mit Unterstützung der Menschenrechtsorganisation auf dem rechtsstaatlich vorge- sehenen Wege verteidigen, bereits Haftbefehl erlassen. 2 Report of the High Commissioner for Human Rights…: II B 21 3 Report of the High Commissioner for Human Rights…: II B 25. ff 4 Coordinación Colombia Europa Estados Unidos: Libertad: rehén de la "seguridad democrática", 2006 (Bericht der Menschenrechtskoordination Kolumbien – Europa U.S.A.) 14
Die UN-Arbeitsgruppe über gewaltsames Verschwindenlassen hat Kolumbien im Juli 2005 besucht, sie hat 1100 Fälle erfasst, von denen fast 900 bisher ohne Aufklärung geblieben sind. Die Fälle des gewaltsamen Veschwindenlassens sind nur unzureichend erfasst. Die UN-Arbeitsgruppe zu gewaltsamem Verschwindenlassen erklärte nach ihrem Besuch: "Die Arbeitsgruppe bedauert, dass es eine erhebliche Zahl von Fällen gibt, die nicht gemeldet wird. Obwohl im Jahr 2004 nur von 4 Fällen an die Arbeitsgruppe berichtet wurde, hat die Arbeitsgruppe allein bei ihrem Besuch in Kolumbien Dutzende zusätzlicher Anfragen zur Be- arbeitung weiterer Fälle erhalten, und wir haben unzählige mündliche Berichte von Fällen gehört, die nicht an die Arbeitsgruppe gemeldet wurden. Wir haben von verschiedenen Fak- toren Notiz genommen, die dazu führen, dass die Fälle nicht berichtet werden, aber wir müs- sen als wichtigsten Faktor das Problem betonen, dass Angehörige der Opfer von großer Angst davor erfüllt sind, die Fälle bei den Autoritäten zu melden."5 Die gewaltsame Vertreibung hat in Kolumbien seit Jahren dramatische Ausmaße, laut dem UN Hochkommissariat für Flüchtlinge gibt es in Kolumbien 2-3 Millionen Binnenflüchtlinge, die weltweit größte Zahl nach dem Sudan.6 In Kolumbien wurden von 1995 bis 2005 nahezu drei Millionen Menschen Opfer von gewaltsamer Vertreibung. Während die Regierung von einer Halbierung der Zahl zusätzlicher Vertreibungen im Zeitraum 2002 bis 2004 spricht, legt die Nichtregierungsorganisation CODHES Zahlen vor, die in den Jahren 2004 und 2005 von einem Anstieg sprechen.7 Zahl der jährlichen zusätzlichen Vertreibungen laut CODHES8 Vertreibung in Kolumbien bedeutet in aller Regel nicht die Flucht vor bewaffneten Auseinan- dersetzungen, sondern ist das Ergebnis von gezieltem Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung. Amnesty International hat im Februar 2006, im Vorfeld der Kongress- und Präsidentschafts- wahlen einen Bericht veröffentlicht, in dem auf die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Kolumbien aufmerksam gemacht wird. Darin wird von Todesdrohungen und Angriffen gegen JournalistInnen, KandidatInnen und WählerInnen berichtet. Für diese sind nicht nur die - the- oretisch - demobilisierten paramilitärischen Gruppen, sondern auch Guerillagruppen verant- wortlich. 5 Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances. Press Release. Mission to Colombia. Bogotá, 12 July 2005. Übersetzung durch die Autorin. 6 United Nation High Commissioner for Refugees: The State of the World's Refugees 2006. 7 Viele Vertriebene lassen sich aus Angst vor weiterer Verfolgung nicht registrieren und tauchen daher in den Statistiken der Regierung nicht oder später auf. 8 www.codhes.org, Daten vom 15.02.2006 15
Auch MenschenrechtsverteidigerInnen werden weiterhin aufgrund ihrer Arbeit bedroht und verfolgt. Von August 2002 bis Juni 2005 wurden 43 von ihnen ermordet oder Opfer von ge- waltsamem Verschwindenlassen.9 Während die Zahl der Morde an GewerkschafterInnen in den letzten Jahren zurückgegangen ist, so bleibt sie dennoch weiterhin mit 70 getöteten im Jahre 2005 erschreckend hoch.10 Wie in den Jahren zuvor berichtet die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte auch im Bericht für das Jahr 2005 von Verbindungen zwischen Paramilitärs und öffentlichen Bediens- teten und schreibt hierzu: "Es gab kaum Fortschritte bei der Bestrafung von Verbindungen zwischen Staatsdienern und Paramilitärs oder bei der Auflösung des Paramilitarismus."11 Daneben zieht derzeit ein Skandal um enge Verbindungen des Geheimdienstes DAS zu den Paramilitärs immer weitere Kreise. Neben der Weitergabe von Informationen über Gewerk- schafterInnen und MenschenrechtsaktivistInnen, von denen in Folge viele ermordet wurden, hat der DAS auch die Daten über Vorstrafen von 7 Narco- Paramilitärs gelöscht. Die Guerilla-Gruppen - im Wesentlichen FARC und ELN - haben weiterhin kontinuierlich und massiv das humanitäre Völkerrecht verletzt. Morde, Massaker, Angriffe auf die Zivilbevölke- rung sowie bewaffnete Angriffe ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung sind hier ebenso zu nennen wie gewaltsame Vertreibung, Einsatz von Anti-Personen Minen sowie die Rekrutie- rung von Minderjährigen. Im Jahr 2005 gingen 273 der insgesamt 751 Entführungen auf das Konto der Guerillagruppen; insgesamt ist die Zahl der Entführungen laut Regierungsangaben im Jahr 2005 um fast die Hälfte gesunken im Vergleich zu 2004.12 Armut ist weiter ein Problem, 66% der Bevölkerung leben in Armut,13 wobei das ärmste Fünftel der Bevölkerung über 2,7% des Einkommens des Landes verfügt und das reichste Fünftel über mehr als 60%. "Demobilisierungsprozess" der paramilitärischen Gruppen Seit Jahren sind paramilitärische Gruppen im Wesentlichen für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, was von staatlichen Stellen teilweise unterstützt, teilweise stillschweigend toleriert wird. Die tatsächliche Auflösung dieser Gruppen wäre für Kolumbien ein großer Schritt zum Frieden und zur Verbesserung der Menschenrechtssituation, leider erfüllt der derzeitig stattfindende so genannte Demobilisierungsprozess diese Hoffnungen nicht. Seit Beginn des Prozesses im Jahr 2002 haben nach offiziellen Statistiken 30.151 Paramili- tärs ihre Waffen abgegeben.14 Zu Beginn der Amtszeit der Regierung Uribe wurde jedoch davon ausgegangen, dass die paramilitärischen Gruppen weniger als 20.000 Paramilitärs umfassen. Sind die paramilitärischen Gruppen unter der Regierung Uribe also in einem Um- fang angewachsen, wie nie zuvor? Die Erklärung ist etwas komplexer. Ein Blick auf das Schaubild soll verdeutlichen, wie der "Demobilisierungsprozess" in Kolumbien sich gestaltet. 9 Information aus der gemeinsamen Erklärung der Koordination kolumbianischer Menschenrechtsorganisationen (Coordinación Colombia Europa Estados Unidos), Januar 2006 10 amnesty international, Jahresbericht 2006. 11 Report of the High Commissioner for Human Rights…: Summary 12 (2005: 751, 2004: 1402; davon 273 durch Guerilla, 49 durch Paramilitärs, 208 durch Unbekannte; amnesty international Jahresbericht 2006. 13 Nach Angaben der Contraloría General de la República von 2004 14 Zahlen von Ende Mai 2006 16
In- und Output des "Demobilisierungsprozesses" der paramilitäri- schen Gruppen Strafprozess gemäß Gesetz 975: 2180 Personen Private Sicherheitsdienste Zusätzlich rekrutierte Zivilbevölkerung Informantennetzwerk Bauernsoldaten Demobilisierung: Paramilitärs 30.151 Personen Ziviles Leben Waffen, Geld, Land Kriminalität Paramilitärs Neue Generation der Paramilitärs Was ist der Input und der Output in diesem Prozess? Der Kasten in der Mitte des Schaubil- des stellt den Moment der Waffenabgabe dar. Diesen Prozess haben nach offiziellen Anga- ben 30.151 Personen durchlaufen. Sie haben allerdings nur knapp 17.000 Waffen abgege- ben. Nur knapp 2200 dieser Personen beantragen die Anwendung des umstrittenen Geset- zes "Gerechtigkeit und Frieden". Bei allen anderen kommt dies nicht zur Anwendung. Sie berufen sich auf das Dekret 128. Das ist immer dann möglich, wenn keine Strafprozesse gegen sie anhängig sind. Die Herausgabe von Informationen über Funktionsweise und Fi- nanzquellen ihrer Einheit ist keine Voraussetzung dafür, die Vergünstigungen nach Dekret 128 zu erhalten. Aufgrund der Verwendung von Decknamen während der Zeit als Kombat- tanten ist es ein seltener Ausnahmefall, dass Anklagen – unter dem richtigen Namen der Demobilisierten - vorliegen. Anders sieht es im Fall der Kommandanten aus. Gegen sie lie- gen häufig nicht nur Anklagen sondern auch Auslieferungsanträge aus den USA vor. Bei ihnen kommt das Gesetz "Gerechtigkeit und Frieden" zur Anwendung, das einen massiven Strafnachlass vorsieht. Nach offiziellen Angaben beantragen 2.180 Paramilitärs nach dem so genannten Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden behandelt zu werden. Auf der linken Seite ist der Input, also das was in den "Demobilisierungsprozess" hineingeht, zu sehen. Zu einem Teil sind dies wie erwartet und verkündet die Kombattanten der paramili- tärischen Gruppen. Doch neben ihnen wurden auch jeweils in den Wochen vor der "Demobi- lisierung" des jeweiligen Blocks in großem Umfang junge Leute und Kleinkriminelle speziell dafür angeworben, sich zu demobilisieren.15 Auf diese Rekrutierungen ist vermutlich auch das wundersame Anwachsen der Demobilisierten im Vergleich zu den vor Beginn des Pro- zesses vorhandenen Paramilitärs zurückzuführen. Ein Teil des auf der rechten Seite aufgezeigten Output sind erwartungsgemäß Zivilisten. Zum anderen integrieren sich viele Paramilitärs jedoch in das als "Informantennetzwerk" be- zeichnete Netz staatlich bezahlter Spitzel oder in das Bauernsoldatenprogramm, andere kommen in privaten Sicherheitsdiensten unter, mehrere Tausend sollen nach Plänen der 15 amnesty international: The paramilitaries in Medellin: Demobilization or Legalization? September 2005, AMR 23/019/2005 17
Regierung in der Polizei Dienst tun. In vielen Teilen Kolumbiens, in denen sich die Paramili- tärs offiziell demobilisiert haben, setzen sie ihre soziale, wirtschaftliche und militärische Kon- trolle fort. Amnesty International hat das im Bericht über die "Demobilisierung" in Medellin sehr anschaulich dargelegt.16 Beachtlich sind auch die Menschen und Ressourcen, die am Prozess vorbeigehen. Das sind die Truppenteile, die sich nicht demobilisieren, sondern direkt in die neue Struktur der "Pa- ramilitärs der neuen Generation" übergehen. Weitgehend am "Demobilisierungsprozess" vorbei ist auch ein Teil der Waffen gegangen, ganz zu Schweigen von den Finanzmitteln der Paramilitärs und den von ihnen geraubten Ländereien, gegen deren massive Unterschla- gung ebenfalls keine effektiven Maßnahmen ergriffen wurden. In ihrem Sechsten Bericht über den "Demobilisierungsprozess" weist die MAPP-Mission der Organisation Amerikani- scher Staaten auf neu entstandene und weiterexistierende Gruppen hin.17 Es wäre wün- schenswert, Zahlen oder eine Größenordnung hinsichtlich der Anteile der verschiedenen In- und Outputs angeben zu können, aufgrund der fehlenden Transparenz des Prozesses ist dies jedoch leider nicht möglich. Der "Demobilisierungsprozess" wird zur Farce, in der die Waffenabgabe medienwirksam inszeniert wird, während die Paramilitärs ihre Kontrolle im Land weiter ausbauen und immer mehr auch die legalen Strukturen des Staates und der Gesellschaft unterwandern. Hier sei nicht nur der Skandal um den Geheimdienst DAS genannt (s. o.) sondern vielfache Berichte über die Beeinflussung der administrativen Strukturen auf Gemeindeebene oder die Hinwei- se darauf, dass Kongressabgeordnete den Paramilitärs nahe stehen. Auch durch das Gesetz für Gerechtigkeit und Frieden wird die Auflösung der paramilitäri- schen Strukturen nicht gewährleistet. Erfreulicherweise hat das Verfassungsgericht in einem Urteil einige der kritischen Punkte des Gesetzes korrigiert. Die Paramilitärs stehen nun mit ihrem ganzen Vermögen, nicht nur mit dem illegal erworbenen für die Entschädigung der Opfer gerade. Dadurch ist leider dem Einsatz von Strohmännern zur Verbergung dieses Vermögens immer noch kein Riegel vorgeschoben. Auch ist nach dem Verfassungsgerichts- urteil die Mitwirkungsmöglichkeit der Opfer verbessert und die Fristen für Ermittlungen wur- den verlängert – das gibt zumindest etwas mehr Chancen für die Ermittlung der Wahrheit, als sie zuvor gegeben waren. Ein möglicher "Blackout" der Paramilitärs wenn es um Ges- tändnisse über ihre Vergehen geht und ihre Angaben unvollständig sind, wird nach dem Ver- fassungsgerichtsurteil ebenfalls härter, also mit dem tatsächlichen Verlust der Vergünstigun- gen, bestraft, wenn die Taten später bekannt werden. Die Verwicklung der Streitkräfte und anderer Staatsbediensteter bleibt jedoch weiterhin unberücksichtigt und droht damit dem Schleier des Vergessens und der Straflosigkeit preisgegeben zu werden. Die ohnehin in Kolumbien herrschende Straflosigkeit wird durch den "Demobilisierungspro- zess" weiter zementiert. Der Gesellschaft und den Opfern wird erklärt, dass ein gewisser Verzicht auf Gerechtigkeit der Preis für den Frieden sei, doch während die Opfer ihre Rechte auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung missachtet sehen, erhalten sie dennoch nicht die versprochene Gegenleistung, denn sowohl der Frieden als auch die ersehnte Auflö- sung der paramilitärischen Strukturen bleiben aus. Insgesamt ist hinsichtlich der Situation der Menschenrechte festzustellen, dass es in einigen Bereichen Verbesserungen geben mag. Zugleich verschärfen sich die Schwierigkeiten in anderen Bereichen. Die gewaltsame Vertreibung spielt hier weiterhin eine traurige Hauptrolle. Gibt es einen guten Willen der kolumbianischen Regierung zur Verbesserung der Si- tuation der Menschenrechte? Die Situation der Menschenrechte in Kolumbien ist anhaltend von systematischen und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen geprägt. Von Regierungsseite wird dies gegenüber der internationalen Gemeinschaft allzu häufig damit erklärt, dass der kolumbiani- sche Staat zu schwach sei, die Menschenrechte besser umzusetzen, dass jedoch das Mög- liche getan werde. Ein Argument, das nicht erst von der jetzigen Regierung in die Waagscha- 16 amnesty international: The Paramilitaries in Medellin: Demobilization … 17 MAPP/ OEA , "Mission zur Begleitung des Friedensprozesses in Kolumbien der Organisation Amerikani- scher Staaten". Sechster Bericht vom März 2006. 18
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