Kommunale Handlungsfähigkeit im europäischen Vergleich
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Kommunale Handlungsfähigkeit im europäischen Vergleich Autonomie, Aufgaben und Reformen Das Projekt des Forschungsprogramms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau (ExWoSt)“ wurde vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) durchgeführt. 3
Vorwort Foto: Schafgans DGPh, Bonn Liebe Leserinnen und Leser, am 1. Juli 2020 hat Deutschland für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Dabei spielt auch die Stadtentwicklung eine wichtige Rolle. Auch soll unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 „The New Leipzig Charter – The transformative power of cities for the common good“ beraten und verabschiedet werden. Im Fokus steht die Stärkung der transformativen Kraft der Städte, hin zu einer größeren Gemeinwohlorientierung. Die EU-Mit- gliedstaaten hatten bereits im Jahr 2007 mit der Unterzeichnung der „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ vereinbart, einen integrierten und gebietsbezogenen Ansatz in der Stadtentwicklung zu verfolgen. Doch was heißt ‚urbane Transformation‘ in Europa konkret? Welche Handlungs- und Gestaltungsspielräume für eine gemeinwohlorientierte Ausgestaltung von Stadtentwicklungspolitik haben die Kommunen in den unterschied- lichen Mitgliedstaaten? Diesen Fragen widmet sich die vorliegende europaweit vergleichende Studie, welche die Universität Potsdam für das BBSR erarbeitet hat. Das Forscherteam untersucht die Stellung der Kommunen in den EU-Mitgliedstaaten, den Grad ihrer Autonomie, ihre Aufgaben sowie ihre fiskalische und finanzielle Handlungsfä- higkeit im staatlichen Gefüge. Zwar stellt die Studie einen ‚kommunalfreundlichen‘ Entwicklungstrend in Europa fest, doch zeigen sich in vielen Feldern große Unterschiede im Hinblick auf die Gestaltungskraft der Kommunen. Starke Kommunen, die zentrale Aufgaben der lokalen Daseinsvorsorge und des Wohlfahrtsstaates übernehmen, lassen sich vor allem in den skan- dinavischen Staaten, aber auch in Deutschland finden. In Staaten wie Frankreich und Italien liegt der Bereich der public utilities wie Energie, Wasser und Abfallwesen nach wie vor teils in staatlicher Hand. Auch im Bereich der Finanzautonomie besitzen die Kommunen in Nordeuropa große Freiheitsgrade. Der Studie zufolge fördern ein Mindestmaß an kommunaler Finanzautonomie und eine autarke Einnahmenbasis eine effektive Erbringung öffentlicher Leistungen durch die Kommunen. Zudem sollten die Kommunen über ein breit ge- fächertes Aufgabenspektrum eigenständig entscheiden können und über die dafür notwendigen robusten Organi- sationsstrukturen zur Steuerung und Koordination verfügen. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre. Dr. Markus Eltges | Leiter des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung
IMPRESSUM Herausgeber Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) Deichmanns Aue 31– 37 53179 Bonn Wissenschaftliche Begleitung Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) Eva Schweitzer, Referat I 5 eva.schweitzer@bbr.bund.de Auftragnehmer Autoren: Prof. Dr. Sabine Kuhlmann/Benoît Paul Dumas/Moritz Heuberger Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation, Universität Potsdam Redaktion: Lea Scheurer European Urban Knowledge Network (EUKN) EGTC, Den Haag Satz und Gestaltung Doris Fischer-Pesch, pp a|s Pesch Partner Architekten Stadtplaner, Dortmund Stand Juli 2020 Druck Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn Gedruckt auf Recyclingpapier Bestellungen gabriele.bohm@bbr.bund.de Stichwort: Kommunale Handlungsfähigkeit im europäischen Vergleich Bildnachweis Titelbild: © Westend61/Getty Images | Werner Dieterich Seite 3: Schafgans DGPh, Bonn Seite 23: © ESPON Herkunft der Daten: ESPON EVTZ Nachdruck und Vervielfältigung Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit genauer Quellenangabe gestattet. Bitte senden Sie uns zwei Belegexemplare zu. Die vom Auftragnehmer vertretene Auffassung ist nicht unbedingt mit der des Herausgebers identisch. ISBN 978-3-87994-261-9 Bonn 2020
Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 Zusammenfassung 8 1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, 11 Selbstverwaltung, lokale Demokratie 1.1 Europäische Verwaltungsmodelle im Vergleich 11 1.2 Dimensionen zum Vergleich von Kommunalsystemen 14 1.3 Kommunale Autonomie 15 1.4 Kommunale Aufgabenprofile und Selbstverwaltungshoheit über Gemeingüter 17 1.5 Stellung der Kommunen im Mehrebenensystem und Verhältnis Staat-Kommunen 26 1.6 Territoriales Profil 28 1.7 Politisches Profil 31 1.8 Fazit 33 2. Kommunalfinanzen 35 2.1 Modelle von Kommunalfinanzen in Europa: 35 Finanzierungsquellen und Ausgabenvolumen 2.2 Rolle Europäischer Strukturfonds 39 2.3 Fazit 41 3. Reformtrends 43 3.1 Reformdiskurse der Vergangenheit 43 3.2 Re-/Dezentralisierung 44 3.3 Territorialreform 47 3.4 New Public Management und Privatisierung 50 3.5 Post-New Public Management: Re-Kommunalisierung 54 3.6 Fazit: Diffusion und Konvergenz von Reformmodellen 55 4. Schlussfolgerungen 57 Anhang 63 Literatur 67 Abbildungsverzeichnis 73
Zusammenfassung Ein Herzstück der Neuen Leipzig-Charta befasst sich mit Die Kräftigung der kommunalen Selbstverwaltung lässt der Stärkung der transformativen Kräfte von Städten und sich in einigen europäischen Ländern, vor allem des legt dar, dass Kommunen ausreichend handlungsfähig Nordischen Verwaltungsmodells (z. B. Schweden), als sein müssen, um ihre Aufgaben im Sinne der Förderung Fortschreibung eines traditionellen Entwicklungspfades des Gemeinwohls zu erfüllen. Wirksamkeit und Qualität interpretieren, in welchem die Kommunen von jeher und öffentlicher Leistungserbringung hängen wesentlich von zunehmend eine bedeutsame Ebene subnationaler Poli- der kommunalen Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit tikgestaltung und Leistungserbringung darstellen. In die- ab. Diese ist im europäischen Kontext äußerst unter- sen Ländern treffen kommunenorientierte Politiken und schiedlich ausgeprägt und gestaltet. Vor diesem Hinter- Reformen generell auf einen verwaltungskulturell frucht- grund nimmt die vorliegende Studie einen Vergleich der baren Boden. Dagegen stellt sich die Aufwertung der kommunalen Selbstverwaltung in Europa vor und liefert Kommunen in anderen Ländern, insbesondere des Kon- Hinweise, inwiefern die Forderung nach stärkerer kom- tinentaleuropäisch-Napoleonischen Typus (Frankreich, munaler Handlungsfähigkeit in der Neuen Leipzig-Char- Italien), teils aber auch des Osteuropäischen Profils (z. B. ta Eingang finden können. Sie stützt sich dabei auf ein- Polen), tendenziell als institutioneller Pfadwechsel oder schlägige Daten zur Messung kommunaler Autonomie gar Bruch dar, in welchem die traditionellen Prägungen und Leistungskraft sowie auf tiefergehende Analysen zur eines exekutiven Zentralismus in Frage gestellt werden Kommunalentwicklung in ausgewählten Ländern (Frank- müssen, was dort seit den 1980er Jahren bzw. dem Sys- reich, Italien, Schweden, Ungarn, Vereinigtes Königreich), temwechsel auch zunehmend der Fall ist. Allerdings die jeweils typische Vertreter europäischer Kommunal- sind in diesen Ländern mit traditionell eher schwachen und Verwaltungsmodelle repräsentieren. Kommunalsystemen entsprechende Veränderungen und Hinsichtlich der Rolle der Kommunen im Verwal- Kompetenzverschiebungen mit größeren Widerständen tungsgefüge zeigt sich im europäischen Vergleich ein verbunden und bedürfen auch eines längeren verwal- sehr heterogenes Bild, das auch im Zeitverlauf deutliche tungskulturellen Wandels. Verschiebungen und Wechsel erkennen lässt. Während Wirft man den Blick auf einzelne Elemente und Indika- die Rolle der Kommunen im Mehrebenensystem u. a. in toren kommunaler Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit, Frankreich, Italien und Schweden in den vergangenen so zeigt sich auch im Bereich der Finanzautonomie (ab- Jahrzehnten klar aufgewertet und gestärkt wurde, haben lesbar am eigenen kommunalen Steueraufkommen sowie die englischen local governments seit den 1980er Jahren am Anteil staatlicher Zuweisungen an den kommunalen eine deutliche Schwächung erfahren. In Ungarn wurden Gesamteinnahmen) eine große europäische Bandbreite. die Kommunen nach anfänglicher Stärkung im Zuge des Wiederum sind die Kommunen des Nordischen Verwal- umfassenden Transformations- und Dezentralisierungs- tungsprofils (Schweden) Spitzenreiter, was eine entspre- prozesses inzwischen zunehmend in ihren Autonomie- chend ausgeprägte Autonomie und breite Handlungsfrei- rechten beschnitten, was aber auf andere osteuropäische räume zur Gestaltung lokaler Angelegenheiten indiziert. Länder, etwa Polen, das nach wie vor vergleichsweise Dagegen weisen die Kommunen der Angelsächsischen starke und zunehmend handlungsfähige Kommunen hat, Ländergruppe im europäischen Vergleich eine geringe nicht zutrifft. Wenn somit im europäischen Ländervergleich Finanzautonomie und entsprechend begrenzte Gestal- einerseits der Trend einer Aufwertung und Bekräftigung tungsfähigkeit auf. Auch die osteuropäischen Kommunen kommunaler Selbstverwaltung, ablesbar an Dezentralisie- verfügen, gemessen an eigenen Steuereinnahmen, über rungsreformen und Kompetenzübertragungen, nach wie eher geringe finanzielle Gestaltungsräume, die gerade in vor dominiert und auch der kommunale Autonomiegrad Ungarn in den vergangenen zehn Jahren noch deutlich in den vergangenen 25 Jahren europaweit zugenommen reduziert worden sind. Die Kommunen der Kontinental- hat, gibt es doch andererseits in einigen Ländern (Eng- europäisch-Napoleonischen Ländergruppe (mit Ausnah- land, Ungarn, teils Südeuropa) Gegentendenzen, die auf me Griechenlands) genießen eine vergleichsweise hohe eine Schwächung der Rolle der Kommunen hinauslau- lokale Steuerautonomie, was in finanzieller Hinsicht für fen. Sie repräsentieren jedoch eher abweichende Fälle breite Entscheidungsfreiheiten spricht. Dabei ist zu be- von einem insgesamt ‚kommunalfreundlichen‘ Entwick- achten, dass letztgenannte Kommunen ein traditionell eher lungstrend in Europa. begrenztes – wenn auch inzwischen wachsendes – Auf- 8
gabenprofil besitzen und eine nach wie vor gewichtige Die funktionalen Profile und Kapazitäten von Kommunen, Stellung des lokal operierenden Staatsapparates vorliegt. die lokale Daseinsvorsorge für ihre Bürger zu bestrei- Die europäischen Länder weisen auch markante Un- ten und neue Aufgaben zu übernehmen, stehen im en- terschiede im Hinblick auf die Aufgaben und Funktionen gen Zusammenhang mit ihrer territorialen Lebensfähig- auf, die der öffentlichen Verwaltung und den einzelnen keit, die im europäischen Vergleich ebenfalls erheblich Verwaltungsebenen zugewiesen sind. Sie variieren so- variiert. Während es in den süd- und osteuropäischen mit teilweise erheblich im Ausmaß und in der Ausgestal- Ländern eher kleinteilige Gemeindestrukturen und viele tung der kommunalen Selbstverwaltungshoheit über Ge- Gemeinden mit geringer Einwohnerzahl gibt, da auf ge- meingüter, etwa im Sozial- und Gesundheitssektor, der setzlich ‚erzwungene‘ Gebietsreformen verzichtet wor- lokalen Daseinsvorsorge (public utilities) oder der Aus- den ist (Südeuropäischer Gebietstypus), zeichnen sich übung kommunaler Planungshoheit. Funktional starke die Länder des Nordischen Verwaltungsmodells (außer Kommunalsysteme, die wesentliche Aufgaben der lo- Island), aber auch das Vereinigte Königreich und einige kalen Daseinsvorsorge und wohlfahrtsstaatlichen Leis- nordosteuropäische Staaten, durch wenige großflächi- tungserbringung übernehmen, lassen sich vor allem in ge Einheitsgemeinden aus, die als Folge weitreichender den Kontinentaleuropäisch-Föderalen sowie Nordischen (gesetzlich erwirkter) Gebietsreformen hohe Einwohner- Systemen (z. B. in Deutschland und Schweden) finden, zahlen aufweisen. Die funktionale Aufnahmefähigkeit und aber auch im Vor-Thatcher-England. Dagegen waren wei- damit Leistungskraft von Kommunen wird maßgeblich te Teile dieser Aufgabenfelder in den Kontinentaleuro- (auch) durch ihre territoriale Lebensfähigkeit bestimmt. päisch-Napoleonischen Systemen der Staatsverwaltung So zeigt sich, dass große Kommunen leistungsfähiger vorbehalten und die Kommunen sind erst im Laufe der sind, über professionellere Verwaltungen verfügen und letzten Jahrzehnte zu wichtigen Akteuren avanciert. Dies aufgrund von Skaleneffekten eher in der Lage sind, Kos- gilt vor allem für wohlfahrtsstaatliche und planerische teneinsparungen zu realisieren. Allerdings gibt es auch Aufgaben, wohingegen der Bereich der public utilities Hinweise darauf, dass überdimensionierte und zu große (wie Energie, Wasser, Abfall) in diesen Ländern (Frank- Kommunen Probleme für die Qualität der lokalen Demo- reich, Italien) nach wie vor teils in staatlicher Hand ist, kratie, Partizipation, Akzeptanz und lokalen Identität mit teils von privaten Firmen erledigt wird. Zunehmend stellt sich bringen können. aber auch die interkommunale Kooperation eine Organi- Um Kommunen handlungs-, leistungs- und gestal- sationsform dar, mittels derer sich Kommunen in territo- tungsfähiger zur Ausübung ihrer Daseinsvorsorgefunk- rial fragmentierten Systemen (Südeuropäische und teils tionen und Förderung des Gemeinwohls zu machen, las- Osteuropäische Ländergruppe) behelfen, Aufgaben der sen sich einige institutionelle Stellschrauben bewegen lokalen Daseinsvorsorge effizienter zu erbringen. und Steuerungsprinzipien benennen. Zunächst ist ein Die unterschiedlichen Zuständigkeiten der Kommu- Mindestmaß an kommunaler Autonomie erforderlich, nen, die – im Zusammenspiel mit ihrer Autonomie und das insbesondere fiskalische Aspekte einschließt (u. a. ihren institutionellen Rahmenbedingungen – die kom- eigene Steuereinnahmen; selbstbestimmte Einnahmen- munale Handlungs- und Leistungsfähigkeit bestimmen, verwendung und Ausgabenwirtschaft), um die Hand- spiegeln sich auch einem Anteil kommunaler Ausgaben lungs- und Leistungsfähigkeit von Kommunen sicherzu- am Bruttoinlandsprodukt (BIP) wider, der im hier betrach- stellen. Die finanzielle Situation der Kommunen ist eine teten Ländersample in den schwedischen Kommunen am entscheidende Voraussetzung für ihre Leistungsfähigkeit. höchsten ist (24 Prozent) und auch in Frankreich, Italien Kommunaler Aufgabenvollzug funktioniert dann beson- und Polen noch vergleichsweise hohe Werte erreicht ders gut, wenn er mit einer starken Fiskalautonomie und (über 10 Prozent). Dagegen ist der Anteil im Vereinigten finanziellen Gestaltungsspielräumen der Kommunen ver- Königreich im Zuge der Zentralisierungstendenzen und bunden ist. Dagegen können zentral vorgegebene Auste- funktionalen Aushöhlung der Kommunen inzwischen auf ritäts- und Sparzwänge die kommunale Selbstverwaltung unter 10 Prozent gesunken und hat sich auch in Ungarn im Extremfall ad absurdum führen. Starke handlungs- und die Re-Zentralisierung seit dem Amtsantritt von Orbán im leistungsfähige Kommunen besitzen ferner ein breites Jahr 2010 in einem deutlich schrumpfenden Anteil kom- multifunktionales Aufgabenportfolio zur eigenständigen munaler Ausgaben am BIP niedergeschlagen. Erledigung, welches möglichst auch politische Entschei- 9
Zusammenfassung dungsrechte der gewählten Vertretung im Hinblick auf tungskraft der Kommunen und die Professionalisierung die wahrgenommenen Aufgaben einschließt und auf dem der Verwaltungsarbeit gehören dabei zu den zentralen Grundsatz der Allzuständigkeit beruht. So kann gewähr- Pluspunkten territorial lebensfähiger Kommunaleinhei- leistet werden, dass die Kommunen ihrer territorialen ten. Dieses institutionelle Grundprofil starker Kommu- Steuerungs- und Koordinierungsfunktion nachkommen nen muss mit einer entsprechenden politischen Ver- und potenziell widerstreitende Fachpolitiken im territoria- antwortlichkeit und Artikulationsfähigkeit einhergehen, len Raum miteinander in Einklang bringen können. Mas- z. B. in Form von Mitwirkungsrechten an der Gesetzge- sive Privatisierungen, Auslagerungen und Fremdvergabe bung oder Zugangsrechten zu Entscheidungsprozessen von (Teil-)Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge höherer Ebenen, aber auch unmittelbaren Einfluss- und führen dagegen zu Steuerungs- und Koordinationsprob- Kontrollmöglichkeiten der Bürger, um die demokratische lemen sowie Verlusten politisch-demokratischer Kontrol- Legitimation und politische Mitwirkung der Kommunen le und Verantwortlichkeit, die bewirken, dass die lokale im Mehrebenensystem sicherzustellen. Daseinsvorsorge- und Gemeinwohlfunktion nicht mehr Angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforde- adäquat ausgeübt werden kann. Zur Wahrnehmung einer rungen und zunehmend vertrackter Probleme (wicked gesamtkommunalen Steuerungsfunktion im Rahmen des problems) ist eine starke kommunale Ebene in Europa multifunktionalen Kompetenzprofils ist ferner eine an- unabdingbar und stellt die Steigerung der Handlungs- gemessene territoriale Lebensfähigkeit von Kommunen und Gestaltungsfähigkeit der Städte daher ein zentrales erforderlich. Die Schaffung robusterer Organisations- institutionen- und verwaltungspolitisches Zukunftsthe- strukturen, die Verbesserung von Verwaltungsprozes- ma dar, dem hohe Priorität eingeräumt werden sollte. sen, die Steigerung der Verwaltungs- und Veranstal- 10
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie Die Vollzugs- und Leistungsverwaltung ist in vielen euro- isch-Napoleonische Verwaltungsprofil wird Frankreich päischen Ländern zum großen Teil kommunal-dezentral und speziell für die Südeuropäische Subgruppe Italien, organisiert. Durch die Dezentralisierungsreformen seit für das Nordische Verwaltungsprofil Schweden, für das den 1980er und 1990er Jahren (z. B. in Frankreich, Italien Angelsächsische Verwaltungsprofil das UK/England und und Osteuropa) wurde diese Tendenz teilweise deutlich für das Osteuropäische Länderprofil Ungarn ausgewählt. verstärkt. Allerdings zeichnen sich in einigen Ländern Zwar werden bei der Darstellung der Länderkurzprofile die in Zeiten von Finanzkrisen (z. B. Griechenland, Italien genannten Länder als für das jeweilige Verwaltungsprofil und Vereinigtes Königreich (UK)) sowie politischen Ver- exemplarisch hervorgehoben und vertieft behandelt. Je- schiebungen (Ungarn) inzwischen Re-Zentralisierungs- doch wird, wenn die Problemstellung dies nahelegt, auch tendenzen ab, die gewonnene lokale Handlungsspiel- auf andere Länder (insbesondere Polen) eingegangen. räume wieder einschränken. Das folgende Kapitel stellt Der hier verwendete typologische Zugang stützt sich zunächst die Position der kommunalen Selbstverwaltung auf verwaltungs- und rechtskulturelle sowie politisch-in- in unterschiedlichen europäischen Verwaltungsmodel- stitutionelle Vergleichsmerkmale. Hinsichtlich der Ver- len (1.1) sowie wesentliche Dimensionen des Vergleichs waltungstradition bzw. -kultur kann grob zwischen zwei von Kommunalsystemen (1.2) anhand einschlägiger Kon- westlichen Verwaltungskulturkreisen unterschieden zepte der Vergleichenden Verwaltungswissenschaft vor. werden: der Klassisch-Kontinentaleuropäischen Rechts- Anschließend erfolgt eine Analyse der Kommunalsyste- staatskultur auf der einen und der angelsächsischen pu- me typischer Ländervertreter der fünf wichtigsten euro- blic interest-Kultur (oder civic culture-Tradition) auf der päischen Verwaltungsprofile anhand von fünf zentralen anderen Seite (vgl. Heady 1996; König 2006; Kuhlmann Analysedimensionen: lokale Autonomie (1.3), kommunale 2009; Pollitt und Bouckaert 2017). Die Zugehörigkeit zu Aufgabenmodelle und Selbstverwaltung über Gemeingü- einem Verwaltungskulturkreis ist dabei wesentlich durch 1 Im Folgenden werden unter ter (1.4), Stellung der Kommunen1 im Mehrebenensystem/ die Rechtstradition und Zuordnung des jeweiligen Lan- dem Begriff der Kommune – dem deutschen Verständnis fol- Verhältnis Staat-Kommunen (1.5), Territorialprofile (1.6) des zu bestimmten Rechtsfamilien geprägt (für Europa: gend – die Gebietskörperschaf- ten der überörtlichen Kommu- und lokale Politikprofile/Demokratiemodelle (1.7). Die aus- Common Law; Römisch-französisch; Römisch-deutsch; nalebene (Kreise, départements, gewählten Ländervertreter repräsentieren unterschied- Römisch-skandinavisch; vgl. LaPorta et al. 1999; Schnapp counties etc.) und der örtlichen Ebene (Gemeinden, communes, liche Kommunal- und Verwaltungsmodelle in Europa, die 2004, S. 44ff.; König 2006). Die Rechtstradition eines Landes districts etc.) analysiert. Zwar sind im europäischen Vergleich jeweils wesentlichen Einfluss auf Verwaltungsentwicklung hat wesentlichen Einfluss auf die dominierenden Werte jeweils die Spezifika der unter- schiedlichen lokalen Institutio- und -reformen insgesamt hatten. Vor diesem Hintergrund im Verwaltungshandeln und die Art und Weise des Ver- nenmodelle zu berücksichtigen ist eine eingehendere Analyse ihrer Kommunalsysteme waltungsvollzugs sowie das Verhältnis zwischen Poli- und vor allem die territorialen und funktionalen Varianzen in zur Bewertung der zukünftigen Handlungsfähigkeit kom- tik, Bürger2 und Verwaltung. Im Hinblick auf die zweite Rechnung zu stellen. Jedoch ist es in der vergleichenden Kom- munaler Akteure in Europa sinnvoll. Vergleichsdimension, den Staats- und Verwaltungsauf- munalforschung üblich, das zweistufige Kommunalsystem, bau, sind der Grad der Zentralisierung bzw. Dezentrali- welches in den europäischen 1.1 Europäische Verwaltungsmodelle im Vergleich sierung der öffentlichen Verwaltung und das Verhältnis Ländern (wenn auch nicht über- all flächendeckend) vorzufinden Um die Position der Kommunen in unterschiedlichen eu- von zentralstaatlicher und subnational-dezentraler bzw. ist, als institutionelle Ausgangs- basis des Vergleichs zu verwen- ropäischen Verwaltungsgefügen zu bestimmen, wird im kommunaler Selbstverwaltung entscheidend. Wiederum den. Auf Sonderfälle einer Fu- sion von örtlicher und überört- Folgenden auf die von Kuhlmann und Wollmann (Bouck- vereinfachend sind drei Varianten zu differenzieren: Fö- licher Kommunalebene (nach dem Modell der kreisfreien aert und Kuhlmann 2016, S. 11ff., Kuhlmann und Wollmann deral, unitarisch-zentralistisch sowie unitarisch-dezen- Stadt oder der unitary authority) 2019, S. 71ff.) entwickelte Typologie der Vergleichenden tralisiert. Abbildung 1 verdeutlicht, dass sich auf dieser wird im gegebenen Kontext ein- gegangen. Dagegen bleiben die Verwaltungswissenschaft zurückgegriffen, die eine Zu- Grundlage für den europäischen Verwaltungsraum fünf Regionen im Folgenden ebenso ausgeklammert wie staatliche ordnung der europäischen Länder zu sechs Verwaltungs- Länderfamilien oder -gruppen unterscheiden lassen, die subnationale Einheiten. profilen erlaubt. Hiervon unbenommen bleiben Besonder- in Europa jeweils durch typische Merkmalskombinatio- 2 Im Folgenden wird aus Grün- heiten der anderen Länder, auf welche im Rahmen der hier nen ihrer Verwaltungssysteme und -traditionen gekenn- den der besseren Lesbarkeit ausschließlich das männliche verfolgten, vergleichenden Analyse jedoch nicht näher zeichnet sind (siehe ausführlich Kuhlmann und Wollmann Genus verwendet. Die weibli- che sowie diverse Form sind da- eingegangen werden kann. Für das Kontinentaleuropä- 2019, S. 10ff.). bei immer mit eingeschlossen. 11
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie Abbildung 1: Verwaltungsprofile in Europa Quelle: In Anlehnung an Kuhlmann und Wollmann 2019, S. 24 sowie Heinelt et al. 2018 Die in Abbildung 1 kursiv geschriebenen Länder sind Gegenstand einer vertieften Analyse in dieser Studie (1) Kennzeichnend für das Kontinentaleuropäisch-Na- ral-)staatlicher Regelungsautorität sowie eine mächtige poleonische Verwaltungsprofil (Frankreich, Italien, Bel- zentralstaatliche Bürokratie aus, deren sektorale Behör- gien, Griechenland, Portugal, Spanien) ist zum einen die denstränge zumeist von der zentralen bis auf die lokale gemeinsame römisch-französische Rechtstradition und Ebene reichen und als deren Personifizierung der zent- die große Bedeutung des gesatzten Rechts. Das Staats- ralstaatlich ernannte Präfekt angesehen werden kann. und Verwaltungsverständnis ist durch das Legalitäts- Die subnationalen und lokalen Ebenen sind innerhalb der prinzip (principe de légalité) bestimmt und spiegelt sich napoleonischen Tradition funktional nachrangig, so dass in einer umfassenden Kodifizierung von Rechtsnormen das Prinzip territorialer Verwaltungsorganisation und in- und einer ausgebauten verwaltungsgerichtlichen Judi- stitutioneller Subsidiarität wenig entwickelt ist. katur wider. Für die napoleonische Tradition waren vor allem die unter Napoléon Bonaparte zu Beginn des 19. (2) Italien, Griechenland, Portugal und Spanien werden Jahrhunderts durchgeführten Reformen wegweisend, in der vergleichenden Forschung einer gemeinsamen die zunächst die französische Verwaltung prägten und Südeuropäischen (oder Mediterranen) Subgruppe von sodann auf die Benelux-Länder sowie Italien und Spa- napoleonisch geprägten Kontinentaleuropäischen Ver- nien ausstrahlten. Die napoleonische Tradition (Ongaro waltungssystemen zugeordnet (Kickert 2011, S. 107; Soti- und Peters 2008) zeichnet sich durch einen starken Zen- ropoulos 2004; Kuhlmann und Wollmann 2019, S. 19). Dies tralstaat, eine umfassende verwurzelte Akzeptanz (zent- erklärt sich aus den Besonderheiten im Bereich des öf- 12
fentlichen Dienstes und der Verwaltungskultur bzw. vor britischen Verwaltungssystem die kognitiven und nor- allem aus der ausgeprägten (Partei-)Politisierung des mativen Unterscheidungen zwischen der staatlichen und öffentlichen Dienstes, dem Klientelismus bei der Beset- der gesellschaftlich-ökonomischen Sphäre wenig aus- zung von Verwaltungsposten und der für den Norden des geprägt. Die für das kontinentaleuropäische Verwaltungs- Kontinents in dieser Form unüblichen Patronagepolitik im verständnis wesentliche Trennung von öffentlicher und öffentlichen Sektor. privater Rechtssphäre (siehe oben) ist den Ländern der public interest-Tradition weitgehend fremd. Vor diesem (3) Die nordischen Länder (Schweden, Dänemark, Finn- Hintergrund ist auch der Konzept- und Ideentransfer zwi- land, Norwegen) weisen hinsichtlich ihres Verwaltungs- schen öffentlicher und gesellschaftlich-marktlicher Sphä- profils deutliche Schnittmengen mit den (hier nicht näher re reibungsloser, so dass beispielsweise managerielle behandelten) kontinentaleuropäisch-föderalen Ländern Handlungsprinzipien des New Public Management (NPM) auf, da sie ebenfalls der römischen Rechtstradition fol- tief in der Verwaltungskultur verankert sind (König 2006). gen. Allerdings besteht in Form der Offenheit der Rekru- Für die Ausgestaltung der subnationalen Verwaltungs- tierungs- und Karrieresysteme des öffentlichen Dienstes ebenen ist der Grundsatz der Parlamentssouveränität und in der ausdrücklichen Öffnung des Verwaltungssys- prägend, da sich aus ihm die Regel ableitet, dass den tems zur Bürgerschaft (Informationsfreiheit, Transparenz regionalen und lokalen Gebietskörperschaften nur die- nach außen, Bürgerbeteiligung) ein markantes Merkmal jenigen Aufgaben zufallen, die ihnen ausdrücklich durch des Nordischen Verwaltungsprofils, welches dieses Parlamentsgesetz übertragen wurden. Diese als Ultra- von anderen Systemen mit römischer Rechtstradition vires-Regel bezeichnete Aufgabenlogik stellt gegenüber unterscheidet. Gemeinsamkeiten mit den kontinental- der kontinentaleuropäischen Allzuständigkeitsvermu- europäisch-föderalen Ländern sind ferner die subsidiär tung ein Gegenmodell dar. Sie beinhaltet die – nicht nur bestimmte Aufgabenverteilung im Verhältnis von zent- theoretische, sondern mehrfach praktizierte – Möglich- ralstaatlicher und lokaler Verwaltungsebene. Aufgrund keit, den dezentralen Institutionen einmal übertragene ihres hochgradig dezentralen Verwaltungsaufbaus mit Aufgaben jederzeit durch einfaches Parlamentsgesetz traditionell starker kommunaler Selbstverwaltung und ho- wieder zu entziehen. Allerdings wurde die Ultra-vires- her Handlungsautonomie der lokalen Selbstverwaltungs- Regel im Rahmen eines new localism, der durch die New- einheiten funktionieren daher die Länder innerhalb des Labour-Regierung proklamiert worden war, erheblich Nordischen Verwaltungsprofils – trotz ihres unitarischen abgeschwächt. Staatsaufbaus – teilweise sogar dezentraler als födera- le Länder. Wenngleich die Niederlande historisch auch (5) Wie Ungarn und Polen beispielhaft zeigen, hat das durch napoleonische Einflüsse geprägt wurden, weisen Osteuropäische Verwaltungsprofil eine wechselvolle Ge- sie doch überwiegend Gemeinsamkeiten mit der Nordi- schichte. Die geopolitische Entwicklung widerspiegelnd3, schen Ländergruppe auf, welche durch jüngste (Dezen- wurde es durch das Kontinentaleuropäische bzw. speziell tralisierungs-)Reformen noch verstärkt wurden. Daher Österreichische und Preußische Verwaltungsmodell ge- werden die Niederlande hier dem Nordischen Verwal- prägt (vgl. Wollmann 1995, S. 566, 572). Nach der Unab- tungsprofil zugeordnet. hängigkeit der Länder nach 1919 blieb die Verwaltungs- organisation von einem „stark zentralistischen System (4) Die Länder der Angelsächsischen (und Anglo-Ame- nach französischem Modell“ (Kaltenbach 1990, S. 85) rikanischen) Verwaltungstradition (Vereinigtes König- bestimmt. Die kontinentaleuropäische Entwicklungslinie reich, Irland, Malta, Zypern) werden in der vergleichen- wurde 1945 durch die kommunistische Machtübernahme den Verwaltungswissenschaft typologisch der public abgebrochen. An ihrer Stelle wurde das (stalinistische) interest- oder civic culture-Tradition zugeordnet (Heady Staatsorganisationsmodell durchgesetzt (doppelte Unter- 2001; Halligan 2003; König 2006). Fußend auf den libera- stellung der staatlichen Verwaltung unter die zentralis- len und utilitaristischen Staatsphilosophien ist diese Tra- tische Parteiherrschaft, vgl. Dimitrov et al. 2006, S. 205). dition durch ein instrumentelles Staatsverständnis ge- Mit dem Ende des kommunistischen Regimes in diesen 3 kennzeichnet, in dessen Mittelpunkt eher government Ländern kam deren Transformation wesentlich in der Weite Teile Polens wurden als Folge der Polnischen Tei- als handelnde Regierung und weniger state als ‚Wert an Ablösung der realsozialistischen Staatsorganisation lung von 1772 von Österreich bzw. Preußen annektiert, Un- sich‘ steht. Eingebettet in eine bürgerlich-kulturelle (civic und der Einführung des Westlich-Kontinentaleuropäi- garn wurde 1867 Bestandteil der Habsburgischen k.u.k.-Doppel- culture) und individualistische Tradition haben sich im schen Verfassungs-, Staats- und Verwaltungsmodells monarchie. 13
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie zum Ausdruck (König 1993). Diese Entwicklung hat sich den Kommunen ohne eigene politische Beschlussrech- vor dem Hintergrund landesspezifischer politischer und te der gewählten Vertretungen zu erledigen sind, die institutioneller Gegebenheiten in unterschiedlichen Ge- Tendenz einer ‚Verstaatlichung der Kommunen‘ in sich. schwindigkeiten und Akzentsetzungen abgespielt. Von ‚Reformkommunisten‘ bereits im Verlauf der 1980er Jah- 1.2 Dimensionen zum Vergleich von re vorbereitet und eingeleitet und später vom erwarte- Kommunalsystemen ten bzw. vollzogenen Beitritt zur EU beschleunigt, galt Um die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich Ungarn bei der (Wieder-)Begründung des Kontinental- analysieren zu können, werden anhand einschlägiger europäischen Verfassungs- und Verwaltungsmodells Konzepte der vergleichenden Kommunalforschung fünf als Vorreiter. So machte das Kommunalgesetz von 1990 Merkmalsbereiche näher betrachtet, die ausschlagge- die Gemeinden als untere Selbstverwaltungsebene zum bend für die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit kom- Angelpunkt der Dezentralisierung und Demokratisierung munaler Akteure in Europa sind (vgl.Page und Goldsmith der neuen Staatsorganisation. Die Demokratisierungs- 1987; Wollmann 2004, 2008; Heinelt und Hlepas 2006; Kuhl- und Dezentralisierungsbemühungen in Ungarn wurden mann 2009; Heinelt et al. 2018; Kuhlmann 2019, Kuhlmann seit dem Amtsantritt von Orbán 2011 jedoch durch ein- und Wollmann 2019): schneidende Re-Zentralisierungsschritte in Teilen wie- 3 Kommunale Autonomie, d. h. die Handlungs- und Ge- der rückgängig gemacht. staltungsfreiheit von Kommunen, über lokale Politik Auf das Kontinentaleuropäisch-Föderale Länder- und Leistungserbringung zu entscheiden und diese profil (mit Deutschland, Österreich und der Schweiz als zu vollziehen. Aufgrund ihrer wichtigen Rolle bei der einschlägigen Ländervertretern; siehe hierzu Kuhlmann Bewertung der kommunalen Handlungsfähigkeit in und Wollmann 2019, S. 87ff.) wird im Folgenden nur dort Europa wird die kommunale Autonomie hier als ei- näher eingegangen, wo die vergleichende Analyse dies genständige Analysedimension behandelt. nahelegt, um bestimmte Eigenheiten und Spezifika der 3 Funktionales Profil, d. h. Umfang und Wichtigkeit anderen Systeme besser herausarbeiten zu können. Dies der Kompetenzen, die von den lokalen Gebietskör- bietet sich auch deshalb an, weil Deutschland im Länder- perschaften wahrgenommen werden (functional re- vergleich zu den besonders starken Kommunalsystemen sponsibilities). Das funktionale Profil beschreibt den gezählt wird, was sich u. a. an der verfassungsmäßigen Kompetenzrahmen der Kommunen und gibt Aus- Absicherung kommunaler Selbstverwaltung, einschließ- kunft über die dem Kommunalsystem zugrundelie- lich einer rechtlich verbrieften Allzuständigkeit, ferner in genden Konzepte von Gemeinwohlorientierung und einem breiten multifunktionalen Aufgabenprofil (Subsi- Daseinsvorsorge. diaritätsprinzip), einer starken politisch-demokratischen 3 Stellung der Kommunen im Mehrebenensystem und Legitimation (gewählte Vertretungen, Bürgerbeteiligung) Funktionsteilung zwischen Kommunen und Staat so- und territorialen Lebensfähigkeit (Gebietsreformen in ei- wie Aspekte der staatlichen Aufsicht, Kontrolle und nigen Bundesländern) festmachen lässt. Zum anderen Intervention sowie der lokal-dezentralen Zugänge zu haben jüngste Reformen dazu beigetragen, das deut- übergeordneten Ebenen (access). sche Kommunalsystem weiter zu stärken, etwa durch 3 Territoriales Profil, d. h. gebietlicher Zuschnitt und die Einführung zusätzlicher Partizipationsrechte für die damit territoriale Lebensfähigkeit (viability) der Ge- Bürger (Direktwahl der Exekutiven, bindenden lokale meindeebene. Referenden), weitere Aufgabentransfers von der staat- 3 Politisches Profil, d. h. Ausgestaltung der lokalen lichen auf die kommunale Ebene (Funktionalreform) und Demokratie (repräsentativ vs. direktdemokratisch), neue Anläufe territorialer Maßstabsvergrößerung. Nach horizontale Machtbeziehungen bzw. insbesondere wie vor ist allerdings die finanzielle Autonomie der deut- Verhältnis zwischen Rat und lokaler Exekutive (mo- schen Kommunen nur auf einem mittleren bis geringen nistisch vs. dualistisch) und Wahlmodus des Verwal- Niveau (auf Kreisebene gar nicht vorhanden) und birgt tungsoberhaupts (direkt vs. indirekt). der recht hohe Anteil von staatlichen Aufgaben, die von 14
1.3 Kommunale Autonomie 3 Fiscal autonomy: Möglichkeit zur eigenständigen Das Ausmaß lokaler Autonomie ist ein zentrales Kriteri- Steuererhebung. um zur Bewertung der kommunalen Handlungs- und Ge- 3 Financial transfer system: Anteil nicht weisungsge- staltungsfähigkeit. Einschlägige quantitative Indikatoren bundener finanzieller Transfers an den gesamten hierfür sind der Anteil des eigenen kommunalen Steuer- Zuweisungen. aufkommens sowie der Anteil staatlicher Zuweisungen 3 Financial self-reliance: Anteil eigenständiger Ein- an den kommunalen Gesamteinnahmen. In diesem Zu- nahmen (Steuern, Gebühren) am kommunalen Ge- sammenhang ist zunächst festzuhalten, dass das Ausmaß samtbudget. lokaler Autonomie umso höher ist, je geringer der Anteil 3 Borrowing autonomy: Möglichkeit zur Kreditauf- staatlicher Zuweisungen und je höher der Anteil eigener nahme. kommunaler (Steuer-)Einnahmen ist. Im hier betrachte- 3 Organisational autonomy: Kompetenz zur Gestal- ten Ländersample genießen die Kommunen in Schwe- tung der eigenen Organisation und des kommuna- den mit einem Eigenanteil von knapp 68 Prozent an den len Wahlsystems. kommunalen Gesamteinnahmen die höchste Autonomie, 3 Legal protection: rechtliche bzw. ggf. in der Verfas- wohingegen im Vereinigten Königreich nur 22 Prozent der sung festgeschriebene Garantie kommunaler Selbst- kommunalen Einnahmen auf eigenen Steuern basieren. verwaltung. Mit einem Eigenanteil von ca. 50 und 36 Prozent haben 3 Administrative supervision: Umfang der staatlichen die französischen und italienischen Kommunen mehr Fi- Aufsicht über Kommunen (Fach-/Rechts-/Finanz- nanzautonomie als die deutschen (23 Prozent), polnischen aufsicht). (20 Prozent) und ungarischen (13,5 Prozent) Kommunen 3 Central or regional access: Einflussmöglichkeiten der (Heinelt et al. 2018, S. 67; siehe dazu auch Kapitel 2.1 und Kommunen auf die Politikgestaltung höherer Ebenen.4 Abbildung 11). Im Hinblick auf den Anteil staatlicher Zu- weisungen ergibt sich ein ähnliches Bild. Hier weisen die Im Verlauf der vergangenen 25 Jahre ist es insgesamt Kommunen in Schweden und Frankreich mit nur 30 Pro- zu einem bemerkenswerten Anstieg der lokalen Autono- zent staatlicher Zuweisungen am kommunalen Gesamt- mie gekommen, dessen Ausmaß jedoch erheblich nach budget die niedrigsten Werte auf, während die Anteile Ländern und einzelnen Autonomiedimensionen variiert. in anderen Ländern zwischen 40 Prozent (Deutschland) So weist Irland einen LAI-Wert von 35 auf und ist damit und einem Extremwert von 70 Prozent (UK) variieren, was das Land mit der niedrigsten lokalen Autonomie. Auch das erwähnte Länderranking bezüglich der kommunalen im Vereinigten Königreich verfügen die Kommunen nur Autonomie erneut bestätigt. über eingeschränkte Autonomie (LAI-Wert 46), was der Eine weitere Möglichkeit zur Messung kommuna- generellen Situation im Angelsächsischen Verwaltungs- ler Autonomie im europäischen Ländervergleich bietet profil entspricht. Am anderen Ende der Skala rangieren der Local Autonomy Index (LAI), durch den kommunale die Schweiz (80) sowie Finnland, Island und Schweden Autonomieprofile in 39 Ländern über einen Zeitraum von mit LAI-Werten zwischen 75 und 79, wobei für Länder mit 25 Jahren (1990-2014) verglichen werden können (siehe Nordischem Verwaltungsprofil generell ein vergleichs- ausführlich: Baldersheim et al. 2017; Ladner et al. 2015, weise hoher Grad lokaler Autonomie charakteristisch ist. 2016, 2019; Heinelt et al. 2018, S. 33ff.). Im LAI werden In- Daneben sind auch Staaten des Kontinentaleuropäisch- dikatoren zum funktionalen und zum politischen Profil Napoleonischen Verwaltungsprofils (67-68 in Frankreich der Gemeinden sowie zu deren intergouvernementalen und Italien) sowie des Osteuropäischen Typus (65-74 in Beziehungen anhand von 11 Variablen gemessen (Lad- Polen und Tschechien) durch recht hohe lokale Auto- ner et al. 2019, S. 64ff.): nomie gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu ist diese in 3 Institutional depth: formale Autonomie, selbständige Slowenien und in Ungarn (Werte von 49-51) im osteuro- Aufgabenauswahl. päischen Vergleich am geringsten ausgeprägt. 3 Policy scope: Umfang der von Kommunen wahrge- Der stärkste Anstieg lokaler Autonomie war im Unter- nommenen Aufgaben. suchungszeitraum in Bulgarien, Slowenien und Italien zu 3 Effective political discretion: tatsächliche Entschei- beobachten. Aber auch in Litauen und Tschechien hat 4 Die Variablen 1-8 charakteri- dungskompetenz der Kommunen im Hinblick auf die sich der LAI-Wert in den vergangenen Jahren signifikant sieren die sogenannte self rule; die Variablen 9-11 bestimmen wahrgenommenen Aufgaben. erhöht (Ladner et al. 2015, S. 60). Betrachtet man einzelne die sogenannte interactive rule. 15
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie Autonomiedimensionen, so zeigt sich, dass die größten reich der rechtlichen Autonomie unter dem europäischen Länderunterschiede in den Bereichen der finanziellen Durchschnitt, wobei hier vor allem detaillierte staatliche Transfersysteme und staatlichen Zuweisungsregelun- Vorgaben für lokale Aktivitäten und eine fehlende Ver- gen, der Finanzautonomie (Anteil kommunaler Steuern/ fassungsgarantie zu Buche schlagen. Bezüglich aller Gebühren an Gesamteinnahmen) und der Aufgabenauto- anderen Indikatoren übertrifft Schweden den europäi- nomie (selbständige Aufgabenauswahl) anzutreffen sind schen Durchschnitt, was besonders auf den Bereich der (Ladner et al. 2016, S. 331). In Bezug auf den Umfang der finanziellen Autonomie zutrifft. Schweden gehört zu den von den Kommunen wahrgenommenen Aufgaben sowie Ländern, deren Kommunen sowohl funktional als auch ihrer faktischen Entscheidungsfreiheit innerhalb der Auf- finanziell am stärksten dezentralisiert sind. gabenfelder gibt es hingegen stärkere Gemeinsamkeiten Das Vereinigte Königreich weist eine relativ geringe lo- zwischen den Ländern, was – bei allen Unterschieden im kale Autonomie auf. Insbesondere bei den funktionalen Einzelnen – auf ähnliche inhaltliche Zuständigkeiten der Zuständigkeiten und den faktischen Entscheidungskom- kommunalen Ebene in Europa hindeutet. petenzen hinsichtlich der wahrgenommenen Aufgaben Frankreich gehört zu denjenigen Ländern, in denen bleiben die britischen Kommunen deutlich hinter dem eine relativ hohe lokale Autonomie festzustellen ist (sie- europäischen Durchschnitt zurück. Aufgrund der (inzwi- he oben, zum Folgenden siehe Ladner et al. 2019). Ins- schen abgeschwächten) Ultra-vires-Regel, welche dem besondere die rechtliche Absicherung der kommunalen britischen Parlament erlaubt, das kommunale Aufgaben- Selbstverwaltung ist in Frankreich stark ausgeprägt, da profil jederzeit anzupassen und zu verändern, wird die für die Gemeinden seit dem 19. Jahrhundert eine allge- Lokalautonomie zusätzlich eingeschränkt. Auch infolge meine Zuständigkeitsregel gilt. Außerdem sind die Ga- der 2011 formal eingeführten general power of compe- rantie kommunaler Selbstverwaltung, die in der ersten tence, die einer allgemeinen Zuständigkeitsklausel prak- Nachkriegsverfassung formuliert wurde, sowie Dezent- tisch gleichkommt, konnte eine substanzielle Stärkung ralisierung der Republik, die mit der Verfassungsreform der kommunalen Autonomie bislang nicht erreicht wer- von 2003 verankert wurde, inzwischen Verfassungsprin- den, was auch mit jüngsten Sparmaßnahmen und einer zipien. Nicht zuletzt infolge der Verfassungsreform von drastischen, auf Kommunen gerichteten zentralstaatli- 2010, welche Kommunen die Möglichkeit gab, vor das chen Austeritätspolitik zu erklären ist. Verfassungsgericht zu ziehen, wurde deren Stellung in Mit einem LAI-Wert von knapp 51 ist Ungarn, ähnlich rechtlicher Hinsicht gestärkt. Infolge der Dezentralisie- wie das Vereinigte Königreich, der Gruppe der Länderver- rungsreformen wurde zudem das Aufgabenprofil der treter mit niedriger lokaler Autonomie zuzuordnen, wo- französischen Kommunen erweitert. Gleichwohl sind bei die Werte vor allem seit dem Amtsantritt von Orbán die Kommunen nach wie vor Bestandteil der unteilbaren klar rückläufig sind. Kennzeichnend sind eine geringe Republik, welche dem Zentralstaat die uneingeschränkte finanzielle Autonomie, welche im Zeitverlauf zusätzlich Souveränität einräumt. Die Autonomie der Kommunen in geschwächt wurde, sowie begrenzte Möglichkeiten der Italien (siehe oben) verteilt sich recht gleichmäßig auf die Einflussnahme auf die höheren Ebenen im politisch-ad- untersuchten Variablen. Ein bemerkenswerter Anstieg ist ministrativen System. Außerdem leidet die Autonomie im Bereich der Organisationsautonomie festzustellen: so der Kommunen in Ungarn unter einer zuletzt verstärkten können italienische Kommunen ihre Organisationsstruktur administrativen Kontrolle durch übergeordnete Ebenen. selber bestimmen, eigene Mitarbeiter einstellen und kom- Polen weist hingegen einen LAI-Wert von über 74 auf munale Unternehmen gründen (was auch in Frankreich und gehört damit zu den Ländern mit besonders hoher der Fall ist). Des Weiteren erhöhte die Verfassungsände- lokaler Autonomie. Zum einen fallen hier die funktionale rung von 2001 durch die Festschreibung des Subsidiari- Stärke und das Aufgabenvolumen der polnischen Kom- tätsprinzips die formale Eigenständigkeit der Kommunen munen ins Gewicht; zum anderen besitzen diese eine und die Möglichkeit, über die Aufgabenwahrnehmung ausgeprägte Organisationsautonomie und können zum selbst zu entscheiden. In diesem Zusammenhang wur- Beispiel über den Zuschnitt von Wahlbezirken selbst ent- de des Weiteren die Kommunalaufsicht abgeschwächt. scheiden. Auch der Zugang zu Entscheidungsprozessen Schweden gehört zu den Ländern mit besonders ho- auf höheren staatlichen Ebenen steht den polnischen her lokaler Autonomie (siehe oben). Im Vergleich zum Kommunen – in deutlichem Gegensatz zur Situation in europäischen Durchschnitt liegt Schweden nur im Be- Ungarn – offen. 16
1.4 Kommunale Aufgabenprofile und (Kuhlmann und Wollmann 2019, S. 27). Um das funktio Selbstverwaltungshoheit über Gemeingüter nale Gewicht der Kommunen im politisch-administrativen Die europäischen Länder weisen markante Unterschie- Mehrebenensystem quantitativ zu erfassen und zu verglei- de im Hinblick auf die Aufgaben und Funktionen auf, die chen, können zum einen Beschäftigungszahlen und zum der öffentlichen Verwaltung und den einzelnen Verwal- anderen Finanzdaten herangezogen werden. Hinsichtlich tungsebenen zugewiesen sind. Sie variieren somit teil- der Beschäftigungszahlen wird deutlich, dass der Anteil weise erheblich im Ausmaß und in der Ausgestaltung der zentralstaatlicher Bediensteter an der öffentlichen Ge- kommunalen Selbstverwaltungshoheit über Gemeingüter, samtbeschäftigung, der zumindest indirekte Schlüsse etwa im Sozial- und Gesundheitssektor, der lokalen Da- auf den funktionalen Stellenwert der kommunalen Ebene seinsvorsorge (public utilities) oder der Ausübung kom- erlaubt, erheblich zwischen den europäischen Ländern munaler Planungshoheit. Funktional starke Kommunal- und auch im Zeitverlauf variiert. Auch wenn die institu- systeme lassen sich vor allem in den Kontinentaleuropä- tionellen Unterschiede zwischen den (insbesondere uni- isch-Föderalen sowie Nordischen Systemen – also z. B. tarischen und föderalen/regionalisierten) Ländern bei der in Deutschland und Schweden – finden, aber auch im Interpretation der Daten zu berücksichtigen sind, zeigen Vor-Thatcher-England, und weisen eher eine Orientie- die Daten doch deutlich, dass die Staaten des Angelsäch- rung am Territorialprinzip administrativer Kompetenzver- sischen Verwaltungsprofils personell nur sehr begrenz- teilung auf (sog. Gebietsorganisationsmodell oder multi te Kapazitäten in den Kommunen vorweisen können. So purpose model). Dagegen ist für die funktional schwachen arbeiten in Malta, Zypern und Irland jeweils mehr als Kommunalsysteme, bei denen die monofunktional ope- 90 Prozent der öffentlich Beschäftigten für die Zentral- rierende dekonzentrierte Staatsverwaltung administrativ regierung (OECD 2017). Im Vereinigten Königreich ist in den Vorrang hat (klassischerweise die napoleonischen den vergangenen Jahrzehnten ein deutlicher Rückgang Systeme), eher eine Ausrichtung am Funktionalprinzip des Anteils der Beschäftigten auf kommunaler Ebene zu (Aufgabenorganisationsmodell oder single purpose mo- verzeichnen. Arbeiteten im Jahre 1985 noch ca. 55 Pro- del) charakteristisch. zent der öffentlichen Bediensteten bei den Kommunen, Die reale funktionale Stärke von Kommunen weicht so waren es 2014 nur noch 38 Prozent, was einer abso- teilweise erheblich von ihrem formalen rechtlichen/ver- luten Personalreduzierung von 30 Prozent in diesem Zeit- fassungsmäßigen Status ab. So besitzt zwar die kommu- raum entspricht (vgl. Abbildung 2). Traditionell wurden nale Selbstverwaltung inzwischen in vielen Ländern eine subnationale Aufgaben im Vereinigten Königreich von verfassungsmäßig verbriefte Garantie – also einen hohen den local governments (counties/districts) erbracht, was konstitutionellen Status (Deutschland, Frankreich, Italien, auch ihren Anteil von 55 Prozent der öffentlichen Gesamt- Ungarn); teils ist ihr tatsächliches Aufgabenspektrum aber beschäftigung in den 1980ern erklärt. Dementsprechend begrenzt. Hier weichen gerade in Frankreich und in Italien hat sich im Vereinigten Königreich der Anteil der beim die tatsächlichen Aufgabenspektren vom jeweiligen ver- Zentralstaat tätigen Bediensteten von 22 Prozent im Jahr fassungsmäßigen Status ab. Umgekehrt traf es auf das 1985 auf 30 Prozent im Jahr 2017 gesteigert (vgl. Abbil- Vereinigte Königreich bis zur Thatcher-Ära zu, dass die dung 2), was die dort erfolgten Re-Zentralisierungsten- local governments zwar keinen Verfassungsstatus hat- denzen, drastischen Privatisierungs- und Outsourcing- ten (was auch nach wie vor der Fall ist), aber dennoch Programme, Sparmaßnahmen und insgesamt die Erosion sehr weitreichende Autonomie genossen und ein brei- des ehemals starken kommunalen Aufgabenmodells seit tes Aufgabenprofil besaßen, welches inzwischen jedoch der Nachkriegszeit und insbesondere seit der Thatcher- weitgehend erodiert ist. Auf der rechtlichen Ebene steht Ära belegt. So verloren die Kommunen im Vereinigten Kö- der für Kontinentaleuropa und Skandinavien geltenden nigreich nach 1945 wichtige traditionelle Aufgaben der allgemeinen Zuständigkeitsregel, wonach die Gemeinde- kommunalen Daseinsvorsorge (Wasserversorgung, Ab- vertretung (zumindest formal) für alle Angelegenheiten wasser, Gesundheitsdienste) durch deren Übertragung der örtlichen Gemeinschaft zuständig ist, das britische auf staatliche Strukturen (z. B. National Health Service). Ultra-vires-Prinzip gegenüber, das den Kommunen nur Zwar wurden ihre Zuständigkeiten im Feld der sozialen die Aufgaben zuschreibt, die ihnen im Rahmen der Parla- Dienstleistungen noch bis in die 1970er Jahre hinein er- mentssouveränität explizit qua Gesetz übertragen worden weitert und die local governments agierten zunächst sind und auch jederzeit wieder entzogen werden können weiterhin als Monopolanbieter lokaler Sozialleistungen 17
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie Abbildung 2: Anteil der öffentlich Be- schäftigten nach Sektoren in Prozent Quelle: Kuhlmann und Wollmann 2019, S. 129 (mit weiteren Nachweisen) (Percy-Smith und Leach 2001, S. 55f.), was auch als mu- öffentlichen Beschäftigung in den kontinentaleuropä- nicipal socialism bezeichnet worden ist und den Primat isch-napoleonischen Ländern nach wie vor relativ hoch des öffentlichen Sektors beim Ausbau des Sozialstaa- (insbesondere im Vergleich zu den nordischen und den tes verdeutlichte. Jedoch kam es auch in diesem Sek- föderalen Ländern), was – unbeschadet der Dezentrali- tor mit Beginn der neo-liberalen Privatisierungspolitik sierung – auf die fortwährende funktionale Bedeutung unter Thatcher und später im Zuge von austerity loca- zentralstaatlicher Behörden bei der (lokalen) öffentlichen lism zunehmend zur Aushöhlung der Kommunen durch Leistungserbringung und Aufgabenwahrnehmung hindeu- verpflichtende Ausschreibung (Compulsory Competitive tet, zumal ein Großteil dieser Behörden dekonzentriert im Tendering – CCT), Outsourcing und Übertragung von Auf- Territorium und somit teilweise in institutioneller Dupli- gaben an private Anbieter. Im Ergebnis ist das (ehemals zierung von lokalen Selbstverwaltungskörperschaften starke, leistungs- und handlungsfähige) britische Modell agiert (so arbeiten in Frankreich 95 Prozent der Staats- kommunaler Daseinsvorsorge und Selbstverwaltungsho- bediensteten außerhalb von Paris in territorialisierten heit grundlegend umgekrempelt worden. Staatsbehörden, sog. services déconcentrés de l‘Etat; Im Gegensatz dazu haben die Kommunen in den kon- vgl. Kuhlmann und Wollmann 2019). Dieses Phänomen tinentaleuropäisch-napoleonischen Staaten als Leis- ist mit Blick auf den französischen Fall auch als dualisme tungsanbieter und Träger von kommunalen Selbstverwal- bezeichnet worden und kontrastiert besonders auffällig tungsaufgaben im Zuge von Dezentralisierung und Auf- mit den kontinentaleuropäisch-föderalen Staaten, deren gabenübertragung an funktionalem Gewicht gewonnen. zentralstaatlicher Anteil (Bundesebene) an der gesam- Allerdings haben diese Reformen in den napoleonischen ten öffentlichen Beschäftigung äußerst gering ist. Dies Ländern (z. B. Frankreich, Italien) personell sehr unter- hängt dort allerdings nicht nur mit der wichtigen Rolle schiedliche Spuren hinterlassen, was auf Varianzen im kommunaler Selbstverwaltung als Ort der Erbringung Hinblick auf den unterschiedlichen Grad der funktiona- von öffentlichen Daseinsvorsorgeleistungen zusammen, len Aufwertung kommunaler Selbstverwaltung in diesen sondern auch mit der funktional starken Stellung der in- Ländern insgesamt hinweist. So hat sich der Anteil der termediären Ebene (Bundesländer), die in Deutschland Beschäftigten in der Zentralregierung in Frankreich in- den größten Anteil am öffentlichen Gesamtpersonal hat folge der als Acte I (1982) und Acte II (2003) bekannten (insbesondere wegen ihrer Zuständigkeit für die Bereiche Dezentralisierungswellen von 55 Prozent (1985) auf 44 Bildung und Polizei). So verfügt der Bund in Deutschland Prozent (2014) deutlich reduziert. Dagegen sind in Italien nur über 12 Prozent (2016) aller öffentlich Beschäftigten, nach wie vor 61 Prozent (2015) der öffentlichen Beschäf- während sich der Anteil der Länder auf 42 Prozent und tigten auf zentralstaatlicher Ebene angesiedelt (1995 lag jener der Kommunen auf 38 Prozent beläuft. der Wert ebenfalls bei 61 Prozent), so dass die Dezentra- Auch wenn der kommunale Sektor in den nordischen lisierungsreformen der 1990er Jahre personal-strukturell Staaten ebenfalls in der Grundtendenz schrumpfte, so offensichtlich nur bedingt gegriffen haben. Generell ist bewegt sich die dortige Personalreduzierung doch auf der Personalanteil des Zentralstaats an der gesamten einem ganz anderen Niveau und erfolgte in deutlich ge- 18
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