Kommunale Handlungsfähigkeit im europäischen Vergleich

Die Seite wird erstellt Kristin Pohl
 
WEITER LESEN
Kommunale Handlungsfähigkeit im europäischen Vergleich
Kommunale Handlungsfähigkeit
im europäischen Vergleich
                               Autonomie, Aufgaben und Reformen

                                                                  1
Kommunale Handlungsfähigkeit im europäischen Vergleich
2
Kommunale Handlungsfähigkeit im europäischen Vergleich
Kommunale Handlungsfähigkeit
                      im europäischen Vergleich

                       Autonomie, Aufgaben und Reformen

Das Projekt des Forschungsprogramms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau (ExWoSt)“ wurde vom
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Auftrag des Bundesministeriums des Innern,
für Bau und Heimat (BMI) durchgeführt.

                                                                                                         3
Vorwort

                                                                              Foto: Schafgans DGPh, Bonn
Liebe Leserinnen und Leser,

am 1. Juli 2020 hat Deutschland für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Dabei spielt auch die
Stadtentwicklung eine wichtige Rolle. Auch soll unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 „The New Leipzig
Charter – The transformative power of cities for the common good“ beraten und verabschiedet werden. Im Fokus
steht die Stärkung der transformativen Kraft der Städte, hin zu einer größeren Gemeinwohlorientierung. Die EU-Mit-
gliedstaaten hatten bereits im Jahr 2007 mit der Unterzeichnung der „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen
Stadt“ vereinbart, einen integrierten und gebietsbezogenen Ansatz in der Stadtentwicklung zu verfolgen.

Doch was heißt ‚urbane Transformation‘ in Europa konkret? Welche Handlungs- und Gestaltungsspielräume für
eine gemeinwohlorientierte Ausgestaltung von Stadtentwicklungspolitik haben die Kommunen in den unterschied-
lichen Mitgliedstaaten? Diesen Fragen widmet sich die vorliegende europaweit vergleichende Studie, welche die
Universität Potsdam für das BBSR erarbeitet hat. Das Forscherteam untersucht die Stellung der Kommunen in den
EU-Mitgliedstaaten, den Grad ihrer Autonomie, ihre Aufgaben sowie ihre fiskalische und finanzielle Handlungsfä-
higkeit im staatlichen Gefüge.

Zwar stellt die Studie einen ‚kommunalfreundlichen‘ Entwicklungstrend in Europa fest, doch zeigen sich in vielen
Feldern große Unterschiede im Hinblick auf die Gestaltungskraft der Kommunen. Starke Kommunen, die zentrale
Aufgaben der lokalen Daseinsvorsorge und des Wohlfahrtsstaates übernehmen, lassen sich vor allem in den skan-
dinavischen Staaten, aber auch in Deutschland finden. In Staaten wie Frankreich und Italien liegt der Bereich der
public utilities wie Energie, Wasser und Abfallwesen nach wie vor teils in staatlicher Hand. Auch im Bereich der
Finanzautonomie besitzen die Kommunen in Nordeuropa große Freiheitsgrade.

Der Studie zufolge fördern ein Mindestmaß an kommunaler Finanzautonomie und eine autarke Einnahmenbasis eine
effektive Erbringung öffentlicher Leistungen durch die Kommunen. Zudem sollten die Kommunen über ein breit ge-
fächertes Aufgabenspektrum eigenständig entscheiden können und über die dafür notwendigen robusten Organi-
sationsstrukturen zur Steuerung und Koordination verfügen.

Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.

Dr. Markus Eltges | Leiter des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung
IMPRESSUM

Herausgeber
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)
im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)
Deichmanns Aue 31– 37
53179 Bonn

Wissenschaftliche Begleitung
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)
Eva Schweitzer, Referat I 5
eva.schweitzer@bbr.bund.de

Auftragnehmer
Autoren: Prof. Dr. Sabine Kuhlmann/Benoît Paul Dumas/Moritz Heuberger
           Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation, Universität Potsdam
Redaktion: Lea Scheurer
           European Urban Knowledge Network (EUKN) EGTC, Den Haag

Satz und Gestaltung
Doris Fischer-Pesch, pp a|s Pesch Partner Architekten Stadtplaner, Dortmund

Stand
Juli 2020

Druck
Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn
Gedruckt auf Recyclingpapier

Bestellungen
gabriele.bohm@bbr.bund.de
Stichwort: Kommunale Handlungsfähigkeit im europäischen Vergleich

Bildnachweis
Titelbild: © Westend61/Getty Images | Werner Dieterich
Seite 3: Schafgans DGPh, Bonn
Seite 23: © ESPON Herkunft der Daten: ESPON EVTZ

Nachdruck und Vervielfältigung
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck nur mit genauer Quellenangabe gestattet.
Bitte senden Sie uns zwei Belegexemplare zu.

Die vom Auftragnehmer vertretene Auffassung ist nicht unbedingt mit der des Herausgebers identisch.

ISBN 978-3-87994-261-9                                                                                Bonn 2020
Inhaltsverzeichnis

Vorwort                                                                        5

Zusammenfassung                                                                8

1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie,               11
   Selbstverwaltung, lokale Demokratie
1.1 Europäische Verwaltungsmodelle im Vergleich                               11
1.2 Dimensionen zum Vergleich von Kommunalsystemen                            14
1.3 Kommunale Autonomie                                                       15
1.4 Kommunale Aufgabenprofile und Selbstverwaltungshoheit über Gemeingüter    17
1.5 Stellung der Kommunen im Mehrebenensystem und Verhältnis Staat-Kommunen   26
1.6 Territoriales Profil                                                      28
1.7 Politisches Profil                                                        31
1.8 Fazit                                                                     33

2. Kommunalfinanzen                                                           35
2.1 Modelle von Kommunalfinanzen in Europa:                                   35
    Finanzierungsquellen und Ausgabenvolumen
2.2 Rolle Europäischer Strukturfonds                                          39
2.3 Fazit                                                                     41

3. Reformtrends                                                               43
3.1 Reformdiskurse der Vergangenheit                                          43
3.2 Re-/Dezentralisierung                                                     44
3.3 Territorialreform                                                         47
3.4 New Public Management und Privatisierung                                  50
3.5 Post-New Public Management: Re-Kommunalisierung                           54
3.6 Fazit: Diffusion und Konvergenz von Reformmodellen                        55

4. Schlussfolgerungen                                                         57

Anhang                                                                        63

Literatur                                                                     67
Abbildungsverzeichnis                                                         73
Zusammenfassung

                  Ein Herzstück der Neuen Leipzig-Charta befasst sich mit      Die Kräftigung der kommunalen Selbstverwaltung lässt
                  der Stärkung der transformativen Kräfte von Städten und      sich in einigen europäischen Ländern, vor allem des
                  legt dar, dass Kommunen ausreichend handlungsfähig           Nordischen Verwaltungsmodells (z. B. Schweden), als
                  sein müssen, um ihre Aufgaben im Sinne der Förderung         Fortschreibung eines traditionellen Entwicklungspfades
                  des Gemeinwohls zu erfüllen. Wirksamkeit und Qualität        interpretieren, in welchem die Kommunen von jeher und
                  öffentlicher Leistungserbringung hängen wesentlich von       zunehmend eine bedeutsame Ebene subnationaler Poli-
                  der kommunalen Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit           tikgestaltung und Leistungserbringung darstellen. In die-
                  ab. Diese ist im europäischen Kontext äußerst unter-         sen Ländern treffen kommunenorientierte Politiken und
                  schiedlich ausgeprägt und gestaltet. Vor diesem Hinter-      Reformen generell auf einen verwaltungskulturell frucht-
                  grund nimmt die vorliegende Studie einen Vergleich der       baren Boden. Dagegen stellt sich die Aufwertung der
                  kommunalen Selbstverwaltung in Europa vor und liefert        Kommunen in anderen Ländern, insbesondere des Kon-
                  Hinweise, inwiefern die Forderung nach stärkerer kom-        tinentaleuropäisch-Napoleonischen Typus (Frankreich,
                  munaler Handlungsfähigkeit in der Neuen Leipzig-Char-        Italien), teils aber auch des Osteuropäischen Profils (z. B.
                  ta Eingang finden können. Sie stützt sich dabei auf ein-     Polen), tendenziell als institutioneller Pfadwechsel oder
                  schlägige Daten zur Messung kommunaler Autonomie             gar Bruch dar, in welchem die traditionellen Prägungen
                  und Leistungskraft sowie auf tiefergehende Analysen zur      eines exekutiven Zentralismus in Frage gestellt werden
                  Kommunalentwicklung in ausgewählten Ländern (Frank-          müssen, was dort seit den 1980er Jahren bzw. dem Sys-
                  reich, Italien, Schweden, Ungarn, Vereinigtes Königreich),   temwechsel auch zunehmend der Fall ist. Allerdings
                  die jeweils typische Vertreter europäischer Kommunal-        sind in diesen Ländern mit traditionell eher schwachen
                  und Verwaltungsmodelle repräsentieren.                       Kommunalsystemen entsprechende Veränderungen und
                       Hinsichtlich der Rolle der Kommunen im Verwal-          Kompetenzverschiebungen mit größeren Widerständen
                  tungsgefüge zeigt sich im europäischen Vergleich ein         verbunden und bedürfen auch eines längeren verwal-
                  sehr heterogenes Bild, das auch im Zeitverlauf deutliche     tungskulturellen Wandels.
                  Verschiebungen und Wechsel erkennen lässt. Während                Wirft man den Blick auf einzelne Elemente und Indika-
                  die Rolle der Kommunen im Mehrebenensystem u. a. in          toren kommunaler Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit,
                  Frankreich, Italien und Schweden in den vergangenen          so zeigt sich auch im Bereich der Finanzautonomie (ab-
                  Jahrzehnten klar aufgewertet und gestärkt wurde, haben       lesbar am eigenen kommunalen Steueraufkommen sowie
                  die englischen local governments seit den 1980er Jahren      am Anteil staatlicher Zuweisungen an den kommunalen
                  eine deutliche Schwächung erfahren. In Ungarn wurden         Gesamteinnahmen) eine große europäische Bandbreite.
                  die Kommunen nach anfänglicher Stärkung im Zuge des          Wiederum sind die Kommunen des Nordischen Verwal-
                  umfassenden Transformations- und Dezentralisierungs-         tungsprofils (Schweden) Spitzenreiter, was eine entspre-
                  prozesses inzwischen zunehmend in ihren Autonomie-           chend ausgeprägte Autonomie und breite Handlungsfrei-
                  rechten beschnitten, was aber auf andere osteuropäische      räume zur Gestaltung lokaler Angelegenheiten indiziert.
                  Länder, etwa Polen, das nach wie vor vergleichsweise         Dagegen weisen die Kommunen der Angelsächsischen
                  starke und zunehmend handlungsfähige Kommunen hat,           Ländergruppe im europäischen Vergleich eine geringe
                  nicht zutrifft. Wenn somit im europäischen Ländervergleich   Finanzautonomie und entsprechend begrenzte Gestal-
                  einerseits der Trend einer Aufwertung und Bekräftigung       tungsfähigkeit auf. Auch die osteuropäischen Kommunen
                  kommunaler Selbstverwaltung, ablesbar an Dezentralisie-      verfügen, gemessen an eigenen Steuereinnahmen, über
                  rungsreformen und Kompetenzübertragungen, nach wie           eher geringe finanzielle Gestaltungsräume, die gerade in
                  vor dominiert und auch der kommunale Autonomiegrad           Ungarn in den vergangenen zehn Jahren noch deutlich
                  in den vergangenen 25 Jahren europaweit zugenommen           reduziert worden sind. Die Kommunen der Kontinental-
                  hat, gibt es doch andererseits in einigen Ländern (Eng-      europäisch-Napoleonischen Ländergruppe (mit Ausnah-
                  land, Ungarn, teils Südeuropa) Gegentendenzen, die auf       me Griechenlands) genießen eine vergleichsweise hohe
                  eine Schwächung der Rolle der Kommunen hinauslau-            lokale Steuerautonomie, was in finanzieller Hinsicht für
                  fen. Sie repräsentieren jedoch eher abweichende Fälle        breite Entscheidungsfreiheiten spricht. Dabei ist zu be-
                  von einem insgesamt ‚kommunalfreundlichen‘ Entwick-          achten, dass letztgenannte Kommunen ein traditionell eher
                  lungstrend in Europa.                                        begrenztes – wenn auch inzwischen wachsendes – Auf-

8
gabenprofil besitzen und eine nach wie vor gewichtige         Die funktionalen Profile und Kapazitäten von Kommunen,
Stellung des lokal operierenden Staatsapparates vorliegt.     die lokale Daseinsvorsorge für ihre Bürger zu bestrei-
     Die europäischen Länder weisen auch markante Un-         ten und neue Aufgaben zu übernehmen, stehen im en-
terschiede im Hinblick auf die Aufgaben und Funktionen        gen Zusammenhang mit ihrer territorialen Lebensfähig-
auf, die der öffentlichen Verwaltung und den einzelnen        keit, die im europäischen Vergleich ebenfalls erheblich
Verwaltungsebenen zugewiesen sind. Sie variieren so-          variiert. Während es in den süd- und osteuropäischen
mit teilweise erheblich im Ausmaß und in der Ausgestal-       Ländern eher kleinteilige Gemeindestrukturen und viele
tung der kommunalen Selbstverwaltungshoheit über Ge-          Gemeinden mit geringer Einwohnerzahl gibt, da auf ge-
meingüter, etwa im Sozial- und Gesundheitssektor, der         setzlich ‚erzwungene‘ Gebietsreformen verzichtet wor-
lokalen Daseinsvorsorge (public utilities) oder der Aus-      den ist (Südeuropäischer Gebietstypus), zeichnen sich
übung kommunaler Planungshoheit. Funktional starke            die Länder des Nordischen Verwaltungsmodells (außer
Kommunalsysteme, die wesentliche Aufgaben der lo-             Island), aber auch das Vereinigte Königreich und einige
kalen Daseinsvorsorge und wohlfahrtsstaatlichen Leis-         nordosteuropäische Staaten, durch wenige großflächi-
tungserbringung übernehmen, lassen sich vor allem in          ge Einheitsgemeinden aus, die als Folge weitreichender
den Kontinentaleuropäisch-Föderalen sowie Nordischen          (gesetzlich erwirkter) Gebietsreformen hohe Einwohner-
Systemen (z. B. in Deutschland und Schweden) finden,          zahlen aufweisen. Die funktionale Aufnahmefähigkeit und
aber auch im Vor-Thatcher-England. Dagegen waren wei-         damit Leistungskraft von Kommunen wird maßgeblich
te Teile dieser Aufgabenfelder in den Kontinentaleuro-        (auch) durch ihre territoriale Lebensfähigkeit bestimmt.
päisch-Napoleonischen Systemen der Staatsverwaltung           So zeigt sich, dass große Kommunen leistungsfähiger
vorbehalten und die Kommunen sind erst im Laufe der           sind, über professionellere Verwaltungen verfügen und
letzten Jahrzehnte zu wichtigen Akteuren avanciert. Dies      aufgrund von Skaleneffekten eher in der Lage sind, Kos-
gilt vor allem für wohlfahrtsstaatliche und planerische       teneinsparungen zu realisieren. Allerdings gibt es auch
Aufgaben, wohingegen der Bereich der public utilities         Hinweise darauf, dass überdimensionierte und zu große
(wie Energie, Wasser, Abfall) in diesen Ländern (Frank-       Kommunen Probleme für die Qualität der lokalen Demo-
reich, Italien) nach wie vor teils in staatlicher Hand ist,   kratie, Partizipation, Akzeptanz und lokalen Identität mit
teils von privaten Firmen erledigt wird. Zunehmend stellt     sich bringen können.
aber auch die interkommunale Kooperation eine Organi-              Um Kommunen handlungs-, leistungs- und gestal-
sationsform dar, mittels derer sich Kommunen in territo-      tungsfähiger zur Ausübung ihrer Daseinsvorsorgefunk-
rial fragmentierten Systemen (Südeuropäische und teils        tionen und Förderung des Gemeinwohls zu machen, las-
Osteuropäische Ländergruppe) behelfen, Aufgaben der           sen sich einige institutionelle Stellschrauben bewegen
lokalen Daseinsvorsorge effizienter zu erbringen.             und Steuerungsprinzipien benennen. Zunächst ist ein
     Die unterschiedlichen Zuständigkeiten der Kommu-         Mindestmaß an kommunaler Autonomie erforderlich,
nen, die – im Zusammenspiel mit ihrer Autonomie und           das insbesondere fiskalische Aspekte einschließt (u. a.
ihren institutionellen Rahmenbedingungen – die kom-           eigene Steuereinnahmen; selbstbestimmte Einnahmen-
munale Handlungs- und Leistungsfähigkeit bestimmen,           verwendung und Ausgabenwirtschaft), um die Hand-
spiegeln sich auch einem Anteil kommunaler Ausgaben           lungs- und Leistungsfähigkeit von Kommunen sicherzu-
am Bruttoinlandsprodukt (BIP) wider, der im hier betrach-     stellen. Die finanzielle Situation der Kommunen ist eine
teten Ländersample in den schwedischen Kommunen am            entscheidende Voraussetzung für ihre Leistungsfähigkeit.
höchsten ist (24 Prozent) und auch in Frankreich, Italien     Kommunaler Aufgabenvollzug funktioniert dann beson-
und Polen noch vergleichsweise hohe Werte erreicht            ders gut, wenn er mit einer starken Fiskalautonomie und
(über 10 Prozent). Dagegen ist der Anteil im Vereinigten      finanziellen Gestaltungsspielräumen der Kommunen ver-
Königreich im Zuge der Zentralisierungstendenzen und          bunden ist. Dagegen können zentral vorgegebene Auste-
funktionalen Aushöhlung der Kommunen inzwischen auf           ritäts- und Sparzwänge die kommunale Selbstverwaltung
unter 10 Prozent gesunken und hat sich auch in Ungarn         im Extremfall ad absurdum führen. Starke handlungs- und
die Re-Zentralisierung seit dem Amtsantritt von Orbán im      leistungsfähige Kommunen besitzen ferner ein breites
Jahr 2010 in einem deutlich schrumpfenden Anteil kom-         multifunktionales Aufgabenportfolio zur eigenständigen
munaler Ausgaben am BIP niedergeschlagen.                     Erledigung, welches möglichst auch politische Entschei-

                                                                                                                           9
Zusammenfassung

                  dungsrechte der gewählten Vertretung im Hinblick auf          tungskraft der Kommunen und die Professionalisierung
                  die wahrgenommenen Aufgaben einschließt und auf dem           der Verwaltungsarbeit gehören dabei zu den zentralen
                  Grundsatz der Allzuständigkeit beruht. So kann gewähr-        Pluspunkten territorial lebensfähiger Kommunaleinhei-
                  leistet werden, dass die Kommunen ihrer territorialen         ten. Dieses institutionelle Grundprofil starker Kommu-
                  Steuerungs- und Koordinierungsfunktion nachkommen             nen muss mit einer entsprechenden politischen Ver-
                  und potenziell widerstreitende Fachpolitiken im territoria-   antwortlichkeit und Artikulationsfähigkeit einhergehen,
                  len Raum miteinander in Einklang bringen können. Mas-         z. B. in Form von Mitwirkungsrechten an der Gesetzge-
                  sive Privatisierungen, Auslagerungen und Fremdvergabe         bung oder Zugangsrechten zu Entscheidungsprozessen
                  von (Teil-)Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge          höherer Ebenen, aber auch unmittelbaren Einfluss- und
                  führen dagegen zu Steuerungs- und Koordinationsprob-          Kontrollmöglichkeiten der Bürger, um die demokratische
                  lemen sowie Verlusten politisch-demokratischer Kontrol-       Legitimation und politische Mitwirkung der Kommunen
                  le und Verantwortlichkeit, die bewirken, dass die lokale      im Mehrebenensystem sicherzustellen.
                  Daseinsvorsorge- und Gemeinwohlfunktion nicht mehr                 Angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforde-
                  adäquat ausgeübt werden kann. Zur Wahrnehmung einer           rungen und zunehmend vertrackter Probleme (wicked
                  gesamtkommunalen Steuerungsfunktion im Rahmen des             problems) ist eine starke kommunale Ebene in Europa
                  multifunktionalen Kompetenzprofils ist ferner eine an-        unabdingbar und stellt die Steigerung der Handlungs-
                  gemessene territoriale Lebensfähigkeit von Kommunen           und Gestaltungsfähigkeit der Städte daher ein zentrales
                  erforderlich. Die Schaffung robusterer Organisations-         institutionen- und verwaltungspolitisches Zukunftsthe-
                  strukturen, die Verbesserung von Verwaltungsprozes-           ma dar, dem hohe Priorität eingeräumt werden sollte.
                  sen, die Steigerung der Verwaltungs- und Veranstal-

10
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung,
   lokale Demokratie

Die Vollzugs- und Leistungsverwaltung ist in vielen euro-     isch-Napoleonische Verwaltungsprofil wird Frankreich
päischen Ländern zum großen Teil kommunal-dezentral           und speziell für die Südeuropäische Subgruppe Italien,
organisiert. Durch die Dezentralisierungsreformen seit        für das Nordische Verwaltungsprofil Schweden, für das
den 1980er und 1990er Jahren (z. B. in Frankreich, Italien    Angelsächsische Verwaltungsprofil das UK/England und
und Osteuropa) wurde diese Tendenz teilweise deutlich         für das Osteuropäische Länderprofil Ungarn ausgewählt.
verstärkt. Allerdings zeichnen sich in einigen Ländern        Zwar werden bei der Darstellung der Länderkurzprofile die
in Zeiten von Finanzkrisen (z. B. Griechenland, Italien       genannten Länder als für das jeweilige Verwaltungsprofil
und Vereinigtes Königreich (UK)) sowie politischen Ver-       exemplarisch hervorgehoben und vertieft behandelt. Je-
schiebungen (Ungarn) inzwischen Re-Zentralisierungs-          doch wird, wenn die Problemstellung dies nahelegt, auch
tendenzen ab, die gewonnene lokale Handlungsspiel-            auf andere Länder (insbesondere Polen) eingegangen.
räume wieder einschränken. Das folgende Kapitel stellt             Der hier verwendete typologische Zugang stützt sich
zunächst die Position der kommunalen Selbstverwaltung         auf verwaltungs- und rechtskulturelle sowie politisch-in-
in unterschiedlichen europäischen Verwaltungsmodel-           stitutionelle Vergleichsmerkmale. Hinsichtlich der Ver-
len (1.1) sowie wesentliche Dimensionen des Vergleichs        waltungstradition bzw. -kultur kann grob zwischen zwei
von Kommunalsystemen (1.2) anhand einschlägiger Kon-          westlichen Verwaltungskulturkreisen unterschieden
zepte der Vergleichenden Verwaltungswissenschaft vor.         werden: der Klassisch-Kontinentaleuropäischen Rechts-
Anschließend erfolgt eine Analyse der Kommunalsyste-          staatskultur auf der einen und der angelsächsischen pu-
me typischer Ländervertreter der fünf wichtigsten euro-       blic interest-Kultur (oder civic culture-Tradition) auf der
päischen Verwaltungsprofile anhand von fünf zentralen         anderen Seite (vgl. Heady 1996; König 2006; Kuhlmann
Analysedimensionen: lokale Autonomie (1.3), kommunale         2009; Pollitt und Bouckaert 2017). Die Zugehörigkeit zu
Aufgabenmodelle und Selbstverwaltung über Gemeingü-           einem Verwaltungskulturkreis ist dabei wesentlich durch         1
                                                                                                                                Im Folgenden werden unter
ter (1.4), Stellung der Kommunen1 im Mehrebenensystem/        die Rechtstradition und Zuordnung des jeweiligen Lan-           dem Begriff der Kommune –
                                                                                                                              dem deutschen Verständnis fol-
Verhältnis Staat-Kommunen (1.5), Territorialprofile (1.6)     des zu bestimmten Rechtsfamilien geprägt (für Europa:           gend – die Gebietskörperschaf-
                                                                                                                              ten der überörtlichen Kommu-
und lokale Politikprofile/Demokratiemodelle (1.7). Die aus-   Common Law; Römisch-französisch; Römisch-deutsch;               nalebene (Kreise, départements,
gewählten Ländervertreter repräsentieren unterschied-         Römisch-skandinavisch; vgl. LaPorta et al. 1999; Schnapp        counties etc.) und der örtlichen
                                                                                                                              Ebene (Gemeinden, communes,
liche Kommunal- und Verwaltungsmodelle in Europa, die         2004, S. 44ff.; König 2006). Die Rechtstradition eines Landes   districts etc.) analysiert. Zwar
                                                                                                                              sind im europäischen Vergleich
jeweils wesentlichen Einfluss auf Verwaltungsentwicklung      hat wesentlichen Einfluss auf die dominierenden Werte           jeweils die Spezifika der unter-
                                                                                                                              schiedlichen lokalen Institutio-
und -reformen insgesamt hatten. Vor diesem Hintergrund        im Verwaltungshandeln und die Art und Weise des Ver-            nenmodelle zu berücksichtigen
ist eine eingehendere Analyse ihrer Kommunalsysteme           waltungsvollzugs sowie das Verhältnis zwischen Poli-            und vor allem die territorialen
                                                                                                                              und funktionalen Varianzen in
zur Bewertung der zukünftigen Handlungsfähigkeit kom-         tik, Bürger2 und Verwaltung. Im Hinblick auf die zweite         Rechnung zu stellen. Jedoch ist
                                                                                                                              es in der vergleichenden Kom-
munaler Akteure in Europa sinnvoll.                           Vergleichsdimension, den Staats- und Verwaltungsauf-            munalforschung üblich, das
                                                                                                                              zweistufige Kommunalsystem,
                                                              bau, sind der Grad der Zentralisierung bzw. Dezentrali-         welches in den europäischen
1.1 Europäische Verwaltungsmodelle im Vergleich               sierung der öffentlichen Verwaltung und das Verhältnis          Ländern (wenn auch nicht über-
                                                                                                                              all flächendeckend) vorzufinden
Um die Position der Kommunen in unterschiedlichen eu-         von zentralstaatlicher und subnational-dezentraler bzw.         ist, als institutionelle Ausgangs-
                                                                                                                              basis des Vergleichs zu verwen-
ropäischen Verwaltungsgefügen zu bestimmen, wird im           kommunaler Selbstverwaltung entscheidend. Wiederum              den. Auf Sonderfälle einer Fu-
                                                                                                                              sion von örtlicher und überört-
Folgenden auf die von Kuhlmann und Wollmann (Bouck-           vereinfachend sind drei Varianten zu differenzieren: Fö-        licher Kommunalebene (nach
                                                                                                                              dem Modell der kreisfreien
aert und Kuhlmann 2016, S. 11ff., Kuhlmann und Wollmann       deral, unitarisch-zentralistisch sowie unitarisch-dezen-        Stadt oder der unitary authority)
2019, S. 71ff.) entwickelte Typologie der Vergleichenden      tralisiert. Abbildung 1 verdeutlicht, dass sich auf dieser      wird im gegebenen Kontext ein-
                                                                                                                              gegangen. Dagegen bleiben die
Verwaltungswissenschaft zurückgegriffen, die eine Zu-         Grundlage für den europäischen Verwaltungsraum fünf             Regionen im Folgenden ebenso
                                                                                                                              ausgeklammert wie staatliche
ordnung der europäischen Länder zu sechs Verwaltungs-         Länderfamilien oder -gruppen unterscheiden lassen, die          subnationale Einheiten.
profilen erlaubt. Hiervon unbenommen bleiben Besonder-        in Europa jeweils durch typische Merkmalskombinatio-            2
                                                                                                                                Im Folgenden wird aus Grün-
heiten der anderen Länder, auf welche im Rahmen der hier      nen ihrer Verwaltungssysteme und -traditionen gekenn-           den der besseren Lesbarkeit
                                                                                                                              ausschließlich das männliche
verfolgten, vergleichenden Analyse jedoch nicht näher         zeichnet sind (siehe ausführlich Kuhlmann und Wollmann          Genus verwendet. Die weibli-
                                                                                                                              che sowie diverse Form sind da-
eingegangen werden kann. Für das Kontinentaleuropä-           2019, S. 10ff.).                                                bei immer mit eingeschlossen.

                                                                                                                                                             11
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie

Abbildung 1:
Verwaltungsprofile in
Europa

Quelle:
In Anlehnung an Kuhlmann
und Wollmann 2019, S. 24
sowie Heinelt et al. 2018

Die in Abbildung 1 kursiv
geschriebenen Länder sind
Gegenstand einer vertieften
Analyse in dieser Studie

                              (1) Kennzeichnend für das Kontinentaleuropäisch-Na-         ral-)staatlicher Regelungsautorität sowie eine mächtige
                              poleonische Verwaltungsprofil (Frankreich, Italien, Bel-    zentralstaatliche Bürokratie aus, deren sektorale Behör-
                              gien, Griechenland, Portugal, Spanien) ist zum einen die    denstränge zumeist von der zentralen bis auf die lokale
                              gemeinsame römisch-französische Rechtstradition und         Ebene reichen und als deren Personifizierung der zent-
                              die große Bedeutung des gesatzten Rechts. Das Staats-       ralstaatlich ernannte Präfekt angesehen werden kann.
                              und Verwaltungsverständnis ist durch das Legalitäts-        Die subnationalen und lokalen Ebenen sind innerhalb der
                              prinzip (principe de légalité) bestimmt und spiegelt sich   napoleonischen Tradition funktional nachrangig, so dass
                              in einer umfassenden Kodifizierung von Rechtsnormen         das Prinzip territorialer Verwaltungsorganisation und in-
                              und einer ausgebauten verwaltungsgerichtlichen Judi-        stitutioneller Subsidiarität wenig entwickelt ist.
                              katur wider. Für die napoleonische Tradition waren vor
                              allem die unter Napoléon Bonaparte zu Beginn des 19.        (2) Italien, Griechenland, Portugal und Spanien werden
                              Jahrhunderts durchgeführten Reformen wegweisend,            in der vergleichenden Forschung einer gemeinsamen
                              die zunächst die französische Verwaltung prägten und        Südeuropäischen (oder Mediterranen) Subgruppe von
                              sodann auf die Benelux-Länder sowie Italien und Spa-        napoleonisch geprägten Kontinentaleuropäischen Ver-
                              nien ausstrahlten. Die napoleonische Tradition (Ongaro      waltungssystemen zugeordnet (Kickert 2011, S. 107; Soti-
                              und Peters 2008) zeichnet sich durch einen starken Zen-     ropoulos 2004; Kuhlmann und Wollmann 2019, S. 19). Dies
                              tralstaat, eine umfassende verwurzelte Akzeptanz (zent-     erklärt sich aus den Besonderheiten im Bereich des öf-

12
fentlichen Dienstes und der Verwaltungskultur bzw. vor          britischen Verwaltungssystem die kognitiven und nor-
allem aus der ausgeprägten (Partei-)Politisierung des           mativen Unterscheidungen zwischen der staatlichen und
öffentlichen Dienstes, dem Klientelismus bei der Beset-         der gesellschaftlich-ökonomischen Sphäre wenig aus-
zung von Verwaltungsposten und der für den Norden des          geprägt. Die für das kontinentaleuropäische Verwaltungs-
Kontinents in dieser Form unüblichen Patronagepolitik im        verständnis wesentliche Trennung von öffentlicher und
öffentlichen Sektor.                                            privater Rechtssphäre (siehe oben) ist den Ländern der
                                                                public interest-Tradition weitgehend fremd. Vor diesem
(3) Die nordischen Länder (Schweden, Dänemark, Finn-            Hintergrund ist auch der Konzept- und Ideentransfer zwi-
land, Norwegen) weisen hinsichtlich ihres Verwaltungs-          schen öffentlicher und gesellschaftlich-marktlicher Sphä-
profils deutliche Schnittmengen mit den (hier nicht näher       re reibungsloser, so dass beispielsweise managerielle
behandelten) kontinentaleuropäisch-föderalen Ländern            Handlungsprinzipien des New Public Management (NPM)
auf, da sie ebenfalls der römischen Rechtstradition fol-        tief in der Verwaltungskultur verankert sind (König 2006).
gen. Allerdings besteht in Form der Offenheit der Rekru-        Für die Ausgestaltung der subnationalen Verwaltungs-
tierungs- und Karrieresysteme des öffentlichen Dienstes         ebenen ist der Grundsatz der Parlamentssouveränität
und in der ausdrücklichen Öffnung des Verwaltungssys-           prägend, da sich aus ihm die Regel ableitet, dass den
tems zur Bürgerschaft (Informationsfreiheit, Transparenz        regionalen und lokalen Gebietskörperschaften nur die-
nach außen, Bürgerbeteiligung) ein markantes Merkmal            jenigen Aufgaben zufallen, die ihnen ausdrücklich durch
des Nordischen Verwaltungsprofils, welches dieses               Parlamentsgesetz übertragen wurden. Diese als Ultra-
von anderen Systemen mit römischer Rechtstradition              vires-Regel bezeichnete Aufgabenlogik stellt gegenüber
unterscheidet. Gemeinsamkeiten mit den kontinental-             der kontinentaleuropäischen Allzuständigkeitsvermu­-
europäisch-föderalen Ländern sind ferner die subsidiär          tung ein Gegenmodell dar. Sie beinhaltet die – nicht nur
bestimmte Aufgabenverteilung im Verhältnis von zent-            theoretische, sondern mehrfach praktizierte – Möglich-
ralstaatlicher und lokaler Verwaltungsebene. Aufgrund           keit, den dezentralen Institutionen einmal übertragene
ihres hochgradig dezentralen Verwaltungsaufbaus mit             Aufgaben jederzeit durch einfaches Parlamentsgesetz
traditionell starker kommunaler Selbstverwaltung und ho-        wieder zu entziehen. Allerdings wurde die Ultra-vires-
her Handlungsautonomie der lokalen Selbstverwaltungs-           Regel im Rahmen eines new localism, der durch die New-
einheiten funktionieren daher die Länder innerhalb des          Labour-Regierung proklamiert worden war, erheblich
Nordischen Verwaltungsprofils – trotz ihres unitarischen        abgeschwächt.
Staatsaufbaus – teilweise sogar dezentraler als födera-
le Länder. Wenngleich die Niederlande historisch auch           (5) Wie Ungarn und Polen beispielhaft zeigen, hat das
durch napoleonische Einflüsse geprägt wurden, weisen            Osteuropäische Verwaltungsprofil eine wechselvolle Ge-
sie doch überwiegend Gemeinsamkeiten mit der Nordi-             schichte. Die geopolitische Entwicklung widerspiegelnd3,
schen Ländergruppe auf, welche durch jüngste (Dezen-            wurde es durch das Kontinentaleuropäische bzw. speziell
tralisierungs-)Reformen noch verstärkt wurden. Daher            Österreichische und Preußische Verwaltungsmodell ge-
werden die Niederlande hier dem Nordischen Verwal-              prägt (vgl. Wollmann 1995, S. 566, 572). Nach der Unab-
tungsprofil zugeordnet.                                         hängigkeit der Länder nach 1919 blieb die Verwaltungs-
                                                                organisation von einem „stark zentralistischen System
(4) Die Länder der Angelsächsischen (und Anglo-Ame-             nach französischem Modell“ (Kaltenbach 1990, S. 85)
rikanischen) Verwaltungstradition (Vereinigtes König-           bestimmt. Die kontinentaleuropäische Entwicklungslinie
reich, Irland, Malta, Zypern) werden in der vergleichen-        wurde 1945 durch die kommunistische Machtübernahme
den Verwaltungswissenschaft typologisch der public              abgebrochen. An ihrer Stelle wurde das (stalinistische)
interest- oder civic culture-Tradition zugeordnet (Heady        Staatsorganisationsmodell durchgesetzt (doppelte Unter-
2001; Halligan 2003; König 2006). Fußend auf den libera-        stellung der staatlichen Verwaltung unter die zentralis-
len und utilitaristischen Staatsphilosophien ist diese Tra-     tische Parteiherrschaft, vgl. Dimitrov et al. 2006, S. 205).
dition durch ein instrumentelles Staatsverständnis ge-          Mit dem Ende des kommunistischen Regimes in diesen
                                                                                                                               3
kennzeichnet, in dessen Mittelpunkt eher government             Ländern kam deren Transformation wesentlich in der               Weite Teile Polens wurden
                                                                                                                               als Folge der Polnischen Tei-
als handelnde Regierung und weniger state als ‚Wert an          Ablösung der realsozialistischen Staatsorganisation            lung von 1772 von Österreich
                                                                                                                               bzw. Preußen annektiert, Un-
sich‘ steht. Eingebettet in eine bürgerlich-kulturelle (civic   und der Einführung des Westlich-Kontinentaleuropäi-            garn wurde 1867 Bestandteil der
                                                                                                                               Habsburgischen k.u.k.-Doppel-
culture) und individualistische Tradition haben sich im         schen Verfassungs-, Staats- und Verwaltungsmodells             monarchie.

                                                                                                                                                           13
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie

                         zum Ausdruck (König 1993). Diese Entwicklung hat sich          den Kommunen ohne eigene politische Beschlussrech-
                         vor dem Hintergrund landesspezifischer politischer und         te der gewählten Vertretungen zu erledigen sind, die
                         institutioneller Gegebenheiten in unterschiedlichen Ge-        Tendenz einer ‚Verstaatlichung der Kommunen‘ in sich.
                         schwindigkeiten und Akzentsetzungen abgespielt. Von
                         ‚Reformkommunisten‘ bereits im Verlauf der 1980er Jah-         1.2 Dimensionen zum Vergleich von
                         re vorbereitet und eingeleitet und später vom erwarte-             Kommunalsystemen
                         ten bzw. vollzogenen Beitritt zur EU beschleunigt, galt        Um die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich
                         Ungarn bei der (Wieder-)Begründung des Kontinental-            analysieren zu können, werden anhand einschlägiger
                         europäischen Verfassungs- und Verwaltungsmodells               Konzepte der vergleichenden Kommunalforschung fünf
                         als Vorreiter. So machte das Kommunalgesetz von 1990           Merkmalsbereiche näher betrachtet, die ausschlagge-
                         die Gemeinden als untere Selbstverwaltungsebene zum            bend für die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit kom-
                         Angelpunkt der Dezentralisierung und Demokratisierung          munaler Akteure in Europa sind (vgl.Page und Goldsmith
                         der neuen Staatsorganisation. Die Demokratisierungs-           1987; Wollmann 2004, 2008; Heinelt und Hlepas 2006; Kuhl-
                         und Dezentralisierungsbemühungen in Ungarn wurden              mann 2009; Heinelt et al. 2018; Kuhlmann 2019, Kuhlmann
                         seit dem Amtsantritt von Orbán 2011 jedoch durch ein-          und Wollmann 2019):
                         schneidende Re-Zentralisierungsschritte in Teilen wie-         3 Kommunale Autonomie, d. h. die Handlungs- und Ge-
                         der rückgängig gemacht.                                            staltungsfreiheit von Kommunen, über lokale Politik
                              Auf das Kontinentaleuropäisch-Föderale Länder-                und Leistungserbringung zu entscheiden und diese
                         profil (mit Deutschland, Österreich und der Schweiz als            zu vollziehen. Aufgrund ihrer wichtigen Rolle bei der
                         einschlägigen Ländervertretern; siehe hierzu Kuhlmann              Bewertung der kommunalen Handlungsfähigkeit in
                         und Wollmann 2019, S. 87ff.) wird im Folgenden nur dort            Europa wird die kommunale Autonomie hier als ei-
                         näher eingegangen, wo die vergleichende Analyse dies               genständige Analysedimension behandelt.
                         nahelegt, um bestimmte Eigenheiten und Spezifika der           3 Funktionales Profil, d. h. Umfang und Wichtigkeit
                         anderen Systeme besser herausarbeiten zu können. Dies              der Kompetenzen, die von den lokalen Gebietskör-
                         bietet sich auch deshalb an, weil Deutschland im Länder-           perschaften wahrgenommen werden (functional re-
                         vergleich zu den besonders starken Kommunalsystemen                sponsibilities). Das funktionale Profil beschreibt den
                         gezählt wird, was sich u. a. an der verfassungsmäßigen             Kompetenzrahmen der Kommunen und gibt Aus-
                         Absicherung kommunaler Selbstverwaltung, einschließ-               kunft über die dem Kommunalsystem zugrundelie-
                         lich einer rechtlich verbrieften Allzuständigkeit, ferner in       genden Konzepte von Gemeinwohlorientierung und
                         einem breiten multifunktionalen Aufgabenprofil (Subsi-             Daseinsvorsorge.
                         diaritätsprinzip), einer starken politisch-demokratischen      3 Stellung der Kommunen im Mehrebenensystem und
                         Legitimation (gewählte Vertretungen, Bürgerbeteiligung)            Funktionsteilung zwischen Kommunen und Staat so-
                         und territorialen Lebensfähigkeit (Gebietsreformen in ei-          wie Aspekte der staatlichen Aufsicht, Kontrolle und
                         nigen Bundesländern) festmachen lässt. Zum anderen                 Intervention sowie der lokal-dezentralen Zugänge zu
                         haben jüngste Reformen dazu beigetragen, das deut-                 übergeordneten Ebenen (access).
                         sche Kommunalsystem weiter zu stärken, etwa durch              3 Territoriales Profil, d. h. gebietlicher Zuschnitt und
                         die Einführung zusätzlicher Partizipationsrechte für die           damit territoriale Lebensfähigkeit (viability) der Ge-
                         Bürger (Direktwahl der Exekutiven, bindenden lokale                meindeebene.
                         Referenden), weitere Aufgabentransfers von der staat-          3 Politisches Profil, d. h. Ausgestaltung der lokalen
                         lichen auf die kommunale Ebene (Funktionalreform) und              Demokratie (repräsentativ vs. direktdemokratisch),
                         neue Anläufe territorialer Maßstabsvergrößerung. Nach              horizontale Machtbeziehungen bzw. insbesondere
                         wie vor ist allerdings die finanzielle Autonomie der deut-         Verhältnis zwischen Rat und lokaler Exekutive (mo-
                         schen Kommunen nur auf einem mittleren bis geringen                nistisch vs. dualistisch) und Wahlmodus des Verwal-
                         Niveau (auf Kreisebene gar nicht vorhanden) und birgt              tungsoberhaupts (direkt vs. indirekt).
                         der recht hohe Anteil von staatlichen Aufgaben, die von

14
1.3 Kommunale Autonomie                                         3 Fiscal autonomy: Möglichkeit zur eigenständigen
Das Ausmaß lokaler Autonomie ist ein zentrales Kriteri-           Steuererhebung.
um zur Bewertung der kommunalen Handlungs- und Ge-              3 Financial transfer system: Anteil nicht weisungsge-
staltungsfähigkeit. Einschlägige quantitative Indikatoren         bundener finanzieller Transfers an den gesamten
hierfür sind der Anteil des eigenen kommunalen Steuer-            Zuweisungen.
aufkommens sowie der Anteil staatlicher Zuweisungen             3 Financial self-reliance: Anteil eigenständiger Ein-
an den kommunalen Gesamteinnahmen. In diesem Zu-                  nahmen (Steuern, Gebühren) am kommunalen Ge-
sammenhang ist zunächst festzuhalten, dass das Ausmaß             samtbudget.
lokaler Autonomie umso höher ist, je geringer der Anteil        3 Borrowing autonomy: Möglichkeit zur Kreditauf-
staatlicher Zuweisungen und je höher der Anteil eigener           nahme.
kommunaler (Steuer-)Einnahmen ist. Im hier betrachte-           3 Organisational autonomy: Kompetenz zur Gestal-
ten Ländersample genießen die Kommunen in Schwe-                  tung der eigenen Organisation und des kommuna-
den mit einem Eigenanteil von knapp 68 Prozent an den             len Wahlsystems.
kommunalen Gesamteinnahmen die höchste Autonomie,               3 Legal protection: rechtliche bzw. ggf. in der Verfas-
wohingegen im Vereinigten Königreich nur 22 Prozent der           sung festgeschriebene Garantie kommunaler Selbst-
kommunalen Einnahmen auf eigenen Steuern basieren.                verwaltung.
Mit einem Eigenanteil von ca. 50 und 36 Prozent haben           3 Administrative supervision: Umfang der staatlichen
die französischen und italienischen Kommunen mehr Fi-             Aufsicht über Kommunen (Fach-/Rechts-/Finanz-
nanzautonomie als die deutschen (23 Prozent), polnischen          aufsicht).
(20 Prozent) und ungarischen (13,5 Prozent) Kommunen            3 Central or regional access: Einflussmöglichkeiten der
(Heinelt et al. 2018, S. 67; siehe dazu auch Kapitel 2.1 und      Kommunen auf die Politikgestaltung höherer Ebenen.4
Abbildung 11). Im Hinblick auf den Anteil staatlicher Zu-
weisungen ergibt sich ein ähnliches Bild. Hier weisen die       Im Verlauf der vergangenen 25 Jahre ist es insgesamt
Kommunen in Schweden und Frankreich mit nur 30 Pro-             zu einem bemerkenswerten Anstieg der lokalen Autono-
zent staatlicher Zuweisungen am kommunalen Gesamt-              mie gekommen, dessen Ausmaß jedoch erheblich nach
budget die niedrigsten Werte auf, während die Anteile           Ländern und einzelnen Autonomiedimensionen variiert.
in anderen Ländern zwischen 40 Prozent (Deutschland)            So weist Irland einen LAI-Wert von 35 auf und ist damit
und einem Extremwert von 70 Prozent (UK) variieren, was         das Land mit der niedrigsten lokalen Autonomie. Auch
das erwähnte Länderranking bezüglich der kommunalen             im Vereinigten Königreich verfügen die Kommunen nur
Autonomie erneut bestätigt.                                     über eingeschränkte Autonomie (LAI-Wert 46), was der
     Eine weitere Möglichkeit zur Messung kommuna-              generellen Situation im Angelsächsischen Verwaltungs-
ler Autonomie im europäischen Ländervergleich bietet            profil entspricht. Am anderen Ende der Skala rangieren
der Local Autonomy Index (LAI), durch den kommunale             die Schweiz (80) sowie Finnland, Island und Schweden
Autonomieprofile in 39 Ländern über einen Zeitraum von          mit LAI-Werten zwischen 75 und 79, wobei für Länder mit
25 Jahren (1990-2014) verglichen werden können (siehe           Nordischem Verwaltungsprofil generell ein vergleichs-
ausführlich: Baldersheim et al. 2017; Ladner et al. 2015,       weise hoher Grad lokaler Autonomie charakteristisch ist.
2016, 2019; Heinelt et al. 2018, S. 33ff.). Im LAI werden In-   Daneben sind auch Staaten des Kontinentaleuropäisch-
dikatoren zum funktionalen und zum politischen Profil           Napoleonischen Verwaltungsprofils (67-68 in Frankreich
der Gemeinden sowie zu deren intergouvernementalen              und Italien) sowie des Osteuropäischen Typus (65-74 in
Beziehungen anhand von 11 Variablen gemessen (Lad-              Polen und Tschechien) durch recht hohe lokale Auto-
ner et al. 2019, S. 64ff.):                                     nomie gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu ist diese in
3 Institutional depth: formale Autonomie, selbständige          Slowenien und in Ungarn (Werte von 49-51) im osteuro-
     Aufgabenauswahl.                                           päischen Vergleich am geringsten ausgeprägt.
3 Policy scope: Umfang der von Kommunen wahrge-                     Der stärkste Anstieg lokaler Autonomie war im Unter-
     nommenen Aufgaben.                                         suchungszeitraum in Bulgarien, Slowenien und Italien zu
3 Effective political discretion: tatsächliche Entschei-        beobachten. Aber auch in Litauen und Tschechien hat           4
                                                                                                                                Die Variablen 1-8 charakteri-
     dungskompetenz der Kommunen im Hinblick auf die            sich der LAI-Wert in den vergangenen Jahren signifikant       sieren die sogenannte self rule;
                                                                                                                              die Variablen 9-11 bestimmen
     wahrgenommenen Aufgaben.                                   erhöht (Ladner et al. 2015, S. 60). Betrachtet man einzelne   die sogenannte interactive rule.

                                                                                                                                                            15
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie

                         Autonomiedimensionen, so zeigt sich, dass die größten          reich der rechtlichen Autonomie unter dem europäischen
                         Länderunterschiede in den Bereichen der finanziellen           Durchschnitt, wobei hier vor allem detaillierte staatliche
                         Transfersysteme und staatlichen Zuweisungsregelun-             Vorgaben für lokale Aktivitäten und eine fehlende Ver-
                         gen, der Finanzautonomie (Anteil kommunaler Steuern/           fassungsgarantie zu Buche schlagen. Bezüglich aller
                         Gebühren an Gesamteinnahmen) und der Aufgabenauto-             anderen Indikatoren übertrifft Schweden den europäi-
                         nomie (selbständige Aufgabenauswahl) anzutreffen sind          schen Durchschnitt, was besonders auf den Bereich der
                         (Ladner et al. 2016, S. 331). In Bezug auf den Umfang der      finanziellen Autonomie zutrifft. Schweden gehört zu den
                         von den Kommunen wahrgenommenen Aufgaben sowie                 Ländern, deren Kommunen sowohl funktional als auch
                         ihrer faktischen Entscheidungsfreiheit innerhalb der Auf-      finanziell am stärksten dezentralisiert sind.
                         gabenfelder gibt es hingegen stärkere Gemeinsamkeiten          Das Vereinigte Königreich weist eine relativ geringe lo-
                         zwischen den Ländern, was – bei allen Unterschieden im         kale Autonomie auf. Insbesondere bei den funktionalen
                         Einzelnen – auf ähnliche inhaltliche Zuständigkeiten der       Zuständigkeiten und den faktischen Entscheidungskom-
                         kommunalen Ebene in Europa hindeutet.                          petenzen hinsichtlich der wahrgenommenen Aufgaben
                              Frankreich gehört zu denjenigen Ländern, in denen         bleiben die britischen Kommunen deutlich hinter dem
                         eine relativ hohe lokale Autonomie festzustellen ist (sie-     europäischen Durchschnitt zurück. Aufgrund der (inzwi-
                         he oben, zum Folgenden siehe Ladner et al. 2019). Ins-         schen abgeschwächten) Ultra-vires-Regel, welche dem
                         besondere die rechtliche Absicherung der kommunalen            britischen Parlament erlaubt, das kommunale Aufgaben-
                         Selbstverwaltung ist in Frankreich stark ausgeprägt, da        profil jederzeit anzupassen und zu verändern, wird die
                         für die Gemeinden seit dem 19. Jahrhundert eine allge-         Lokalautonomie zusätzlich eingeschränkt. Auch infolge
                         meine Zuständigkeitsregel gilt. Außerdem sind die Ga-          der 2011 formal eingeführten general power of compe-
                         rantie kommunaler Selbstverwaltung, die in der ersten          tence, die einer allgemeinen Zuständigkeitsklausel prak-
                         Nachkriegsverfassung formuliert wurde, sowie Dezent-           tisch gleichkommt, konnte eine substanzielle Stärkung
                         ralisierung der Republik, die mit der Verfassungsreform        der kommunalen Autonomie bislang nicht erreicht wer-
                         von 2003 verankert wurde, inzwischen Verfassungsprin-          den, was auch mit jüngsten Sparmaßnahmen und einer
                         zipien. Nicht zuletzt infolge der Verfassungsreform von        drastischen, auf Kommunen gerichteten zentralstaatli-
                         2010, welche Kommunen die Möglichkeit gab, vor das             chen Austeritätspolitik zu erklären ist.
                         Verfassungsgericht zu ziehen, wurde deren Stellung in               Mit einem LAI-Wert von knapp 51 ist Ungarn, ähnlich
                         rechtlicher Hinsicht gestärkt. Infolge der Dezentralisie-      wie das Vereinigte Königreich, der Gruppe der Länderver-
                         rungsreformen wurde zudem das Aufgabenprofil der               treter mit niedriger lokaler Autonomie zuzuordnen, wo-
                         französischen Kommunen erweitert. Gleichwohl sind              bei die Werte vor allem seit dem Amtsantritt von Orbán
                         die Kommunen nach wie vor Bestandteil der unteilbaren          klar rückläufig sind. Kennzeichnend sind eine geringe
                         Republik, welche dem Zentralstaat die uneingeschränkte         finanzielle Autonomie, welche im Zeitverlauf zusätzlich
                         Souveränität einräumt. Die Autonomie der Kommunen in           geschwächt wurde, sowie begrenzte Möglichkeiten der
                         Italien (siehe oben) verteilt sich recht gleichmäßig auf die   Einflussnahme auf die höheren Ebenen im politisch-ad-
                         untersuchten Variablen. Ein bemerkenswerter Anstieg ist        ministrativen System. Außerdem leidet die Autonomie
                         im Bereich der Organisationsautonomie festzustellen: so        der Kommunen in Ungarn unter einer zuletzt verstärkten
                         können italienische Kommunen ihre Organisationsstruktur        administrativen Kontrolle durch übergeordnete Ebenen.
                         selber bestimmen, eigene Mitarbeiter einstellen und kom-       Polen weist hingegen einen LAI-Wert von über 74 auf
                         munale Unternehmen gründen (was auch in Frankreich             und gehört damit zu den Ländern mit besonders hoher
                         der Fall ist). Des Weiteren erhöhte die Verfassungsände-       lokaler Autonomie. Zum einen fallen hier die funktionale
                         rung von 2001 durch die Festschreibung des Subsidiari-         Stärke und das Aufgabenvolumen der polnischen Kom-
                         tätsprinzips die formale Eigenständigkeit der Kommunen         munen ins Gewicht; zum anderen besitzen diese eine
                         und die Möglichkeit, über die Aufgabenwahrnehmung              ausgeprägte Organisationsautonomie und können zum
                         selbst zu entscheiden. In diesem Zusammenhang wur-             Beispiel über den Zuschnitt von Wahlbezirken selbst ent-
                         de des Weiteren die Kommunalaufsicht abgeschwächt.             scheiden. Auch der Zugang zu Entscheidungsprozessen
                              Schweden gehört zu den Ländern mit besonders ho-          auf höheren staatlichen Ebenen steht den polnischen
                         her lokaler Autonomie (siehe oben). Im Vergleich zum           Kommunen – in deutlichem Gegensatz zur Situation in
                         europäischen Durchschnitt liegt Schweden nur im Be-            Ungarn – offen.

16
1.4 Kommunale Aufgabenprofile und                             (Kuhlmann und Wollmann 2019, S. 27). Um das funktio­
     Selbstverwaltungshoheit über Gemeingüter                 nale Gewicht der Kommunen im politisch-administrativen
Die europäischen Länder weisen markante Unterschie-           Mehrebenensystem quantitativ zu erfassen und zu verglei-
de im Hinblick auf die Aufgaben und Funktionen auf, die       chen, können zum einen Beschäftigungszahlen und zum
der öffentlichen Verwaltung und den einzelnen Verwal-         anderen Finanzdaten herangezogen werden. Hinsichtlich
tungsebenen zugewiesen sind. Sie variieren somit teil-        der Beschäftigungszahlen wird deutlich, dass der Anteil
weise erheblich im Ausmaß und in der Ausgestaltung der        zentralstaatlicher Bediensteter an der öffentlichen Ge-
kommunalen Selbstverwaltungshoheit über Gemeingüter,          samtbeschäftigung, der zumindest indirekte Schlüsse
etwa im Sozial- und Gesundheitssektor, der lokalen Da-        auf den funktionalen Stellenwert der kommunalen Ebene
seinsvorsorge (public utilities) oder der Ausübung kom-       erlaubt, erheblich zwischen den europäischen Ländern
munaler Planungshoheit. Funktional starke Kommunal-           und auch im Zeitverlauf variiert. Auch wenn die institu-
systeme lassen sich vor allem in den Kontinentaleuropä-       tionellen Unterschiede zwischen den (insbesondere uni-
isch-Föderalen sowie Nordischen Systemen – also z. B.         tarischen und föderalen/regionalisierten) Ländern bei der
in Deutschland und Schweden – finden, aber auch im            Interpretation der Daten zu berücksichtigen sind, zeigen
Vor-Thatcher-England, und weisen eher eine Orientie-          die Daten doch deutlich, dass die Staaten des Angelsäch-
rung am Territorialprinzip administrativer Kompetenzver-      sischen Verwaltungsprofils personell nur sehr begrenz-
teilung auf (sog. Gebietsorganisationsmodell oder multi       te Kapazitäten in den Kommunen vorweisen können. So
purpose model). Dagegen ist für die funktional schwachen      arbeiten in Malta, Zypern und Irland jeweils mehr als
Kommunalsysteme, bei denen die monofunktional ope-            90 Prozent der öffentlich Beschäftigten für die Zentral-
rierende dekonzentrierte Staatsverwaltung administrativ       regierung (OECD 2017). Im Vereinigten Königreich ist in
den Vorrang hat (klassischerweise die napoleonischen          den vergangenen Jahrzehnten ein deutlicher Rückgang
Systeme), eher eine Ausrichtung am Funktionalprinzip          des Anteils der Beschäftigten auf kommunaler Ebene zu
(Aufgabenorganisationsmodell oder single purpose mo-          verzeichnen. Arbeiteten im Jahre 1985 noch ca. 55 Pro-
del) charakteristisch.                                        zent der öffentlichen Bediensteten bei den Kommunen,
     Die reale funktionale Stärke von Kommunen weicht         so waren es 2014 nur noch 38 Prozent, was einer abso-
teilweise erheblich von ihrem formalen rechtlichen/ver-       luten Personalreduzierung von 30 Prozent in diesem Zeit-
fassungsmäßigen Status ab. So besitzt zwar die kommu-         raum entspricht (vgl. Abbildung 2). Traditionell wurden
nale Selbstverwaltung inzwischen in vielen Ländern eine       subnationale Aufgaben im Vereinigten Königreich von
verfassungsmäßig verbriefte Garantie – also einen hohen       den local governments (counties/districts) erbracht, was
konstitutionellen Status (Deutschland, Frankreich, Italien,   auch ihren Anteil von 55 Prozent der öffentlichen Gesamt-
Ungarn); teils ist ihr tatsächliches Aufgabenspektrum aber    beschäftigung in den 1980ern erklärt. Dementsprechend
begrenzt. Hier weichen gerade in Frankreich und in Italien    hat sich im Vereinigten Königreich der Anteil der beim
die tatsächlichen Aufgabenspektren vom jeweiligen ver-        Zentralstaat tätigen Bediensteten von 22 Prozent im Jahr
fassungsmäßigen Status ab. Umgekehrt traf es auf das          1985 auf 30 Prozent im Jahr 2017 gesteigert (vgl. Abbil-
Vereinigte Königreich bis zur Thatcher-Ära zu, dass die       dung 2), was die dort erfolgten Re-Zentralisierungsten-
local governments zwar keinen Verfassungsstatus hat-          denzen, drastischen Privatisierungs- und Outsourcing-
ten (was auch nach wie vor der Fall ist), aber dennoch        Programme, Sparmaßnahmen und insgesamt die Erosion
sehr weitreichende Autonomie genossen und ein brei-           des ehemals starken kommunalen Aufgabenmodells seit
tes Aufgabenprofil besaßen, welches inzwischen jedoch         der Nachkriegszeit und insbesondere seit der Thatcher-
weitgehend erodiert ist. Auf der rechtlichen Ebene steht      Ära belegt. So verloren die Kommunen im Vereinigten Kö-
der für Kontinentaleuropa und Skandinavien geltenden          nigreich nach 1945 wichtige traditionelle Aufgaben der
allgemeinen Zuständigkeitsregel, wonach die Gemeinde-         kommunalen Daseinsvorsorge (Wasserversorgung, Ab-
vertretung (zumindest formal) für alle Angelegenheiten        wasser, Gesundheitsdienste) durch deren Übertragung
der örtlichen Gemeinschaft zuständig ist, das britische       auf staatliche Strukturen (z. B. National Health Service).
Ultra-vires-Prinzip gegenüber, das den Kommunen nur           Zwar wurden ihre Zuständigkeiten im Feld der sozialen
die Aufgaben zuschreibt, die ihnen im Rahmen der Parla-       Dienstleistungen noch bis in die 1970er Jahre hinein er-
mentssouveränität explizit qua Gesetz übertragen worden       weitert und die local governments agierten zunächst
sind und auch jederzeit wieder entzogen werden können         weiterhin als Monopolanbieter lokaler Sozialleistungen

                                                                                                                           17
1. Die Rolle der Kommunen im europäischen Vergleich: Autonomie, Selbstverwaltung, lokale Demokratie

Abbildung 2:
Anteil der öffentlich Be-
schäftigten nach Sektoren
in Prozent

Quelle:
Kuhlmann und Wollmann
2019, S. 129 (mit weiteren
Nachweisen)

                             (Percy-Smith und Leach 2001, S. 55f.), was auch als mu-      öffentlichen Beschäftigung in den kontinentaleuropä-
                             nicipal socialism bezeichnet worden ist und den Primat       isch-napoleonischen Ländern nach wie vor relativ hoch
                             des öffentlichen Sektors beim Ausbau des Sozialstaa-         (insbesondere im Vergleich zu den nordischen und den
                             tes verdeutlichte. Jedoch kam es auch in diesem Sek-         föderalen Ländern), was – unbeschadet der Dezentrali-
                             tor mit Beginn der neo-liberalen Privatisierungspolitik      sierung – auf die fortwährende funktionale Bedeutung
                             unter Thatcher und später im Zuge von austerity loca-        zentralstaatlicher Behörden bei der (lokalen) öffentlichen
                             lism zunehmend zur Aushöhlung der Kommunen durch             Leistungserbringung und Aufgabenwahrnehmung hindeu-
                             verpflichtende Ausschreibung (Compulsory Competitive         tet, zumal ein Großteil dieser Behörden dekonzentriert im
                             Tendering – CCT), Outsourcing und Übertragung von Auf-       Territorium und somit teilweise in institutioneller Dupli-
                             gaben an private Anbieter. Im Ergebnis ist das (ehemals      zierung von lokalen Selbstverwaltungskörperschaften
                             starke, leistungs- und handlungsfähige) britische Modell     agiert (so arbeiten in Frankreich 95 Prozent der Staats-
                             kommunaler Daseinsvorsorge und Selbstverwaltungsho-          bediensteten außerhalb von Paris in territorialisierten
                             heit grundlegend umgekrempelt worden.                        Staatsbehörden, sog. services déconcentrés de l‘Etat;
                                  Im Gegensatz dazu haben die Kommunen in den kon-        vgl. Kuhlmann und Wollmann 2019). Dieses Phänomen
                             tinentaleuropäisch-napoleonischen Staaten als Leis-          ist mit Blick auf den französischen Fall auch als dualisme
                             tungsanbieter und Träger von kommunalen Selbstverwal-        bezeichnet worden und kontrastiert besonders auffällig
                             tungsaufgaben im Zuge von Dezentralisierung und Auf-         mit den kontinentaleuropäisch-föderalen Staaten, deren
                             gabenübertragung an funktionalem Gewicht gewonnen.           zentralstaatlicher Anteil (Bundesebene) an der gesam-
                             Allerdings haben diese Reformen in den napoleonischen        ten öffentlichen Beschäftigung äußerst gering ist. Dies
                             Ländern (z. B. Frankreich, Italien) personell sehr unter-    hängt dort allerdings nicht nur mit der wichtigen Rolle
                             schiedliche Spuren hinterlassen, was auf Varianzen im        kommunaler Selbstverwaltung als Ort der Erbringung
                             Hinblick auf den unterschiedlichen Grad der funktiona-       von öffentlichen Daseinsvorsorgeleistungen zusammen,
                             len Aufwertung kommunaler Selbstverwaltung in diesen         sondern auch mit der funktional starken Stellung der in-
                             Ländern insgesamt hinweist. So hat sich der Anteil der       termediären Ebene (Bundesländer), die in Deutschland
                             Beschäftigten in der Zentralregierung in Frankreich in-      den größten Anteil am öffentlichen Gesamtpersonal hat
                             folge der als Acte I (1982) und Acte II (2003) bekannten     (insbesondere wegen ihrer Zuständigkeit für die Bereiche
                             Dezentralisierungswellen von 55 Prozent (1985) auf 44        Bildung und Polizei). So verfügt der Bund in Deutschland
                             Prozent (2014) deutlich reduziert. Dagegen sind in Italien   nur über 12 Prozent (2016) aller öffentlich Beschäftigten,
                             nach wie vor 61 Prozent (2015) der öffentlichen Beschäf-     während sich der Anteil der Länder auf 42 Prozent und
                             tigten auf zentralstaatlicher Ebene angesiedelt (1995 lag    jener der Kommunen auf 38 Prozent beläuft.
                             der Wert ebenfalls bei 61 Prozent), so dass die Dezentra-         Auch wenn der kommunale Sektor in den nordischen
                             lisierungsreformen der 1990er Jahre personal-strukturell     Staaten ebenfalls in der Grundtendenz schrumpfte, so
                             offensichtlich nur bedingt gegriffen haben. Generell ist     bewegt sich die dortige Personalreduzierung doch auf
                             der Personalanteil des Zentralstaats an der gesamten         einem ganz anderen Niveau und erfolgte in deutlich ge-

18
Sie können auch lesen