Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit - RKI
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Leitthema: Körperliche Aktivität und Gesundheit Bundesgesundheitsbl 2012 · 55:55–65 K.-H. Schulz · A. Meyer · N. Langguth DOI 10.1007/s00103-011-1387-x Ambulanzzentrum, Fachbereich Sport- und Bewegungsmedizin, Institut für Online publiziert: 24. Dezember 2011 Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg © Springer-Verlag 2011 Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit Um den gegenwärtigen Stand des Wissens Inwieweit physiologische Reaktionen eingeräumt wird. Es wird immer deutli- zum Zusammenhang zwischen körperli- auf psychische Belastungen (Stressreakti- cher, dass dieses Potenzial hinsichtlich cher Aktivität und psychischer Gesund- vität) durch körperliche Aktivität beein- Therapieerfolg, Lebensqualität und Kos- heit darzustellen, fokussiert die vorliegen- flusst werden, stellen wir im abschließen- teneffektivität bei Weitem noch nicht aus- de narrative Übersicht primär auf aktuelle den Teil der vorliegenden Arbeit dar. geschöpft ist. Metaanalysen im Sinne eines „Review of Bei Menschen mit depressiven Ver- Reviews“. Die Forschung betrachtet hier Emotionale Effekte stimmungen verbessert körperliche Ak- einerseits den Einfluss körperlicher Akti- körperlicher Aktivität tivität die Stimmung [2]. Diese stim- vität auf emotionale Prozesse und ande- mungsaufhellenden Effekte körperlicher rerseits auf kognitive Funktionen. Sport und Depression Aktivität sind bei Patienten mit depressi- Im ersten Teil der Arbeit wird der Zu- ven Erkrankungen stärker ausgeprägt als sammenhang zwischen körperlicher Ak- Depressive Erkrankungen bedeuten bei psychisch gesunden Menschen [3, 4]. tivität und dem emotionalen Befinden er- neben dem Leid für Betroffene und ihre Conn [2] führt diesen Unterschied auf örtert. Zunächst werden Studien zur Aus- Angehörigen auch eine erhebliche sozio- einen Bodeneffekt zurück, das heißt, bei wirkung körperlicher Aktivität auf ängst- ökonomische Last. Die Behandlungskos- Gesunden ist das Verbesserungspoten- liche und depressive Stimmungen bezie- ten für depressive Erkrankungen liegen in zial geringer als bei psychisch Kranken. hungsweise auf Angststörungen und af- Deutschland jährlich bei fast sechs Mil- Eine Cochrane-Metaanalyse aus dem Jahr fektive Störungen vorgestellt. Das dann liarden Euro [1]. Klassische Behandlungs- 2009 kommt zu dem Ergebnis, dass kör- folgende Kapitel fasst die Ergebnisse von methoden für Menschen mit depressiven perliche Aktivität bei depressiven Störun- Studien zusammen, die den Zusammen- Erkrankungen umfassen den Einsatz von gen als therapeutische Maßnahme grund- hang zwischen Selbstwirksamkeit bezie- Antidepressiva einerseits und Psychothe- sätzlich empfehlenswert ist. Aufgrund hungsweise Selbstwertgefühl und kör- rapie andererseits. Aber auch körperli- methodischer Mängel der vorliegenden perlicher Aktivität untersuchen. Die Fra- ches Training kann als Antidepressivum Studien sei eine spezifischere Aussage zur ge, ob sich übermäßiges Training (Over- wirken, Symptome lindern und das Wohl- Stärke des depressionslindernden Effekts training) negativ auf die psychische Ge- befinden steigern. In der klinischen Pra- allerdings nicht möglich [5]. sundheit auswirken kann, thematisieren xis hat körperliches Training allerdings wir in einem abschließenden Kapitel des bis heute nur den Stellenwert einer zu- Körperliches Training kann bei ersten Teils. sätzlichen Hilfsmaßnahme. Sport wird Depressionen in einem ähnlichen Der zweite Abschnitt fasst die Befun- als „Good Clinical Practice“ ergänzend zu Maße wirksam sein wie eine de zum Zusammenhang zwischen kör- den etablierten Behandlungsmethoden medikamentöse Therapie perlicher Aktivität und kognitiven Funk- empfohlen. Zu diesem Ergebnis kommt eine ameri- tionen zusammen. Dabei werden insbe- Die Kritik an den methodischen Män- kanische Studie, an der über 200 depres- sondere auch die Studien zur Demenz be- geln älterer Studien führte in den letz- sive Patienten teilnahmen [6, 7]. Die Pro- rücksichtigt. ten Jahren zu einer deutlichen Verbesse- banden wurden nach dem Zufallsprin- Die Zusammenhänge zwischen kör- rung der Verfahren zur Analyse der Ef- zip in vier Gruppen aufgeteilt. Die ers- perlicher Aktivität und emotionalen so- fekte sportlicher Aktivität auf depressive te Gruppe absolvierte ein beaufsich- wie kognitiven Funktionen sind auch bei Symptome. Die Ergebnisse dieser neuen, tigtes Ausdauertraining auf dem Lauf- Kindern und Jugendlichen untersucht methodisch robusteren Studien weisen band. Dabei liefen die Teilnehmer drei- worden. Diese Studien werden im drit- darauf hin, dass dem depressionslindern- mal pro Woche mit 70 bis 85% der ma- ten Teil des Beitrages separat zusammen- den Potenzial sportlicher Aktivität im kli- ximalen Herzfrequenz. Die zweite Grup- gefasst. nischen Alltag ein zu geringer Stellenwert pe trainierte genau wie die erste Grup- Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012 | 55
Leitthema: Körperliche Aktivität und Gesundheit pe, jedoch zu Hause und ohne Aufsicht. gen in der Regel ganz erhebliche Antriebs- Antidepressiva tritt allerdings erst nach Die Probanden der dritten Gruppe erhiel- störungen vor. Sport zu treiben ist in die- etwa drei Wochen ein. ten ein Antidepressivum, die der vierten ser Zeit für den Patienten meist nicht Gruppe ein Placebo. möglich. Es gilt dann, für den einzelnen Neuroplastizitätstheorie. Mit der Mo Nach 16 Wochen zeigte sich, dass die Patienten in der jeweiligen Phase der Er- noamin-Mangel-Hypothese allein ist die depressive Symptomatik in der ersten krankung das richtige Maß an körperli- se Latenzzeit aber nicht zu erklären. Die Gruppe etwas stärker rückläufig war als in cher Aktivierung zu finden, ohne ihn zu Tatsache, dass der Organismus einen Zeit- der Medikamentengruppe. Auch bei den überfordern. raum von ebenfalls etwa drei Wochen be- Teilnehmern der zweiten Gruppe besser- Um depressiven Menschen bestmög- nötigt, um aus Vorläuferzellen neue funk- te sich die depressive Symptomatik, wenn lich zu helfen, körperlich aktiver zu wer- tionsfähige Neurone heranreifen zu las- auch nicht ganz so ausgeprägt wie in der den, wurde in Großbritannien im Rah- sen, führte zur Annahme, dass beide bio- Sportgruppe mit Anleitung. In der Pla- men einer Studie das Konzept des Phy- logischen Vorgänge in einem kausalen cebogruppe reduzierte sich die depressi- sical Activity Facilitator (PAF) entwickelt Zusammenhang stehen könnten, was die ve Symptomatik in einem geringeren Ma- [9]. Die Unterstützung durch den PAF be- Basis für die Neuroplastizitätstheorie bil- ße. Insgesamt befanden sich zum Studien- steht in einer Beratung und Motivations- dete. Ein wichtiger Meilenstein für die ende 46% aller Probanden in Remission. förderung zur Aufnahme und Beibehal- Entwicklung der Neuroplastizitätstheo- Eine katamnestische Untersuchung ein tung einer für den Patienten geeigneten rie war Ende der 1990er-Jahre die Entde- Jahr später zeigte einen weiteren Anstieg Sportart. Theoretische Grundlagen für ckung, dass sich Nervenzellen im mensch- der Remissionsrate auf insgesamt 66%. die Intervention durch den PAF bilden lichen Gehirn ein Leben lang neu bilden Dieser Anstieg um 20% war unabhän- psychologische Konzepte, die sich schon können (Neuroneogenese) [11]. Bis zu die- gig von der Gruppenzuordnung zu Be- in anderen Bereichen der Gesundheitsför- sem Zeitpunkt hatten führende Naturwis- ginn der Studie, das heißt, dass der An- derung bewährt haben. Diese zielen vor senschaftler die allgemeine Lehrmeinung teil der Patienten, die noch nach Studien- allem darauf ab, die intrinsische Motiva- vertreten, dass die Neurogenese nach der ende in Remission gingen, in allen Grup- tion für ein bestimmtes Gesundheitsver- Embryonalentwicklung und frühen Kind- pen gleich war. Allerdings war zu beob- halten zu stärken [10]. Denn je höher das heit nicht mehr möglich ist. Die Entde- achten, dass Patienten, die nach Studien- Maß an intrinsischer Motivation für eine ckung, dass sich neue Nervenzellen auch ende weiter Sport trieben, weniger depres- sportliche Tätigkeit ist, desto höher ist die im adulten Gehirn bilden können, wur- sive Symptome zeigten als die Patienten, Wahrscheinlichkeit, dass die Person diese de zunächst mit erheblicher Skepsis be- die keinen sportlichen Aktivitäten mehr sportliche Tätigkeit auch aufnimmt und trachtet [12]. Mittlerweile ist jedoch allge- nachgingen. längerfristig fortführt. mein anerkannt und vielfach nachgewie- Die Studie gibt einen ersten Hinweis sen, dass eine Neurogenese auch in Ge- darauf, dass körperliches Training oh- Welche neurobiologischen hirnen erwachsener Säugetiere stattfindet. ne gleichzeitige Gabe von Medikamen- Mechanismen führen zur Man geht heute davon aus, dass bei De- ten nach vier Monaten depressive Symp- Stimmungsverbesserung? Von der pressionen eine gestörte neuronale Plasti- tome in einem vergleichbaren Ausmaß re- Monoamin-Mangel-Hypothese zität vorliegt. Die neuronale Plastizität be- duziert wie eine psychopharmakologische zur Neuroplastizitätstheorie schreibt die Veränderungsfähigkeit von Behandlung. Darüber hinaus hält die Bes- Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzer serung der depressiven Symptomatik län- Monoamin-Mangel-Hypothese. Die Hirnareale. Voraussetzung hierfür ist wie- ger an, wenn Erkrankte nach Beendigung antidepressiven Mechanismen auf zellu- derum die Fähigkeit des adulten Gehirns einer Behandlung sportlich aktiv sind. lärer und molekularer Ebene zu verste- zur Neuroneogenese. Dies bestätigen auch frühere Studien, die hen ist seit Jahren Gegenstand der moder- ebenfalls nachweisen konnten, dass kör- nen neurowissenschaftlichen Forschung. Der Brain-derived neurotrophic perliches Training die Rezidivrate bei De- Bis Mitte der 1990er-Jahre war die Mono- factor (BDNF) im Fokus pressionen senkt [8]. Da depressive Stö- amin-Mangel-Hypothese das vorherr- aktueller Forschung rungen sehr häufig rezidivieren, erhält schende Modell zur Erklärung der De- Sowohl für neuronale Neubildungs- als diese Erkenntnis ein besonderes Gewicht. pressionsentstehung. Nach dieser Theorie auch Umbildungsprozesse sind Nerven- besteht bei Depressionen ein Mangel an wachstumsfaktoren, sogenannte Neu- Trotz depressiver Antriebslosigkeit Neurotransmittern im synaptischen Spalt. rotrophine, von wesentlicher Bedeutung sportlich aktiv? Das Konzept des Klassische pharmakologische Behand- [13]. Ein Vertreter der Neurotrophine ist Physical Activity Facilitator lungsmethoden mit Serotoninwiederauf- der Brain-derived neurotrophic factor Menschen mit Depression leiden oft an nahme-Hemmern (SSRI), trizyklischen (BDNF). Er scheint für die adulte Neuro- schweren Antriebsstörungen. Dies ist eine Antidepressiva oder MAO-Hemmern er- genese und Neuroplastizität von zentraler besondere Herausforderung, wenn kör- höhen die Konzentration bestimmter Bo- Bedeutung zu sein. BDNF spielt nicht nur perliche Bewegung als Therapieelement tenstoffe im synaptischen Spalt und kön- eine wichtige Rolle beim Heranreifen, bei in die Behandlung integriert werden soll. nen die depressive Symptomatik bessern. der Differenzierung und beim Überleben Während einer schweren Depression lie- Die stimmungsverbessernde Wirkung der von Nervenzellen, sondern auch bei der 56 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012
Zusammenfassung · Abstract aktivitätsabhängigen synaptischen Plasti- Bundesgesundheitsbl 2012 · 55:55–65 DOI 10.1007/s00103-011-1387-x zität [14]. © Springer-Verlag 2011 BDNF ist im Organismus ubiquitär K.-H. Schulz · A. Meyer · N. Langguth vorhanden und sowohl im zentralen Ner- Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit vensystem als auch in zahlreichen peri- pheren Organen (zum Beispiel Muskel- Zusammenfassung gewebe, Nieren, Prostata) und im Blut Die Forschung zum Zusammenhang zwi- bessert. Körperliche Aktivität kann dem ko- nachweisbar. Dort scheint BDNF für Pro- schen körperlicher Aktivität und psychischer gnitiven Abbau im Alter vorbeugen und die zesse im Energiestoffwechsel wichtig zu Gesundheit betrachtet die Auswirkungen Entwicklung einer Demenz hinauszögern. körperlicher Aktivität sowohl auf der emo- Auch bei Kindern und Jugendlichen hat kör- sein [15]. tionalen als auch auf der kognitiven Ebene. perliche Aktivität einen positiven Effekt auf In Gehirnen verstorbener depressiver Körperliches Training kann bei Depressionen die psychische Gesundheit und auf kognitive Patienten fanden sich – im Vergleich zu ähnlich wirksam sein wie eine medikamentö- Funktionen, insbesondere auf die sich in die- Hirnen von Gesunden – im Hippocampus se Therapie. Im vorliegenden Beitrag werden sem Alter entwickelnden exekutiven Funk- und Kortex verminderte Konzentrationen in diesem Zusammenhang diskutierte neuro- tionen. Schließlich übt körperliche Aktivität an BDNF [16]. Die bei Depression ernied- biologische Mechanismen, die der Stim- auch einen positiven Einfluss auf die hormo- mungsverbesserung zugrunde liegen, sowie nellen Stressregulationssysteme aus: Bei Trai- rigten BDNF-Spiegel lassen sich durch die psychologische Selbstkonzept- und Selbst- nierten zeigen diese eine stärkere Reaktivität Einnahme antidepressiver Medikamente wirksamkeitsmodelle dargestellt. Bei der gut und eine schnellere Regenerationsfähigkeit. ausgleichen [17]. Sportliche Aktivität zeigt belegten positiven Wirkung körperlicher Akti- einen ähnlichen Effekt: Körperliches Trai- vität auf Angstzustände und Angststörungen Schlüsselwörter ning führt zu einem transienten Anstieg können Desensitivierungsprozesse eine Rol- Körperliche Aktivität · Depression · Angst · der BDNF-Konzentration im peripheren le spielen. Das Phänomen des vor allem bei Selbstwirksamkeit · Kognitive Funktionen · Leistungssportlern bekannten Übertrainings Demenz · Kinder Blut [18]. Das dort messbare BDNF ent- zeigt, dass körperliches Training nicht in je- stammt sowohl zentralen als auch peri- dem Fall das psychische Wohlbefinden ver- pheren Quellen; der überwiegende Teil wird aber höchstwahrscheinlich im zen- tralen Nervensystem gebildet und gelangt Exercise and psychological well-being über die Blut-Hirn-Schranke ins periphe- Abstract re Blut [19]. Der Ursprung des übrigen aus Research on the association between physi- in over-trained athletes. Research on the rela- der Peripherie stammenden BDNFs ist bis cal activity and mental health addresses the tionship between physical activity and cogni- heute nicht eindeutig geklärt. beneficial effects of physical activity on emo- tive functioning reveals that physical activity Neben den Neurotrophinen gibt es tional and cognitive functioning. With regard can prevent the age-related cognitive decline weitere Moleküle, die depressive Symp- to emotional functioning, most studies fo- and can delay the onset of dementia. Physi- cus on the influence of physical activity on cal activity has beneficial effects not only on tome über eine gesteigerte Neurogenese depressive symptoms or affective disorders. adults but also on children’s and adolescents’ positiv beeinflussen können und deren These studies show that the beneficial ef- mental health and cognitive performance, Synthese durch sportliche Aktivität indu- fects of aerobic exercise and pharmacothera- particularly on their executive functions that ziert werden kann. Ernst et al. [12] nen- py on depressive symptoms seem to be com- are still developing throughout adolescence. nen in einer Übersichtsarbeit vier Schlüs- parable and discuss a variety of neurobiologi- Finally, physical activity also affects the endo- selmoleküle, die bei Nervenzellneubil- cal mechanisms that improve symptoms. The crine stress-regulation system: trained people positive effects of physical activity on anx- reveal stronger reactivity and quicker regen- dungen im Hippocampus eine besonde- ious mood and anxiety disorders are also well eration when faced with stressful events. re Rolle spielen. Dazu zählen BDNF, β- documented. Desensitization to physiological Endorphin, Vascular endothelial growth changes, improved self-esteem, and self-ef- Keywords factor (VEGF) und Serotonin (5-HT). Es ficacy seem to play an important part. How- Exercise · Depression · Anxiety · Self-efficacy · gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass die ever, aerobic exercise does not improve men- Cognitive function · Dementia · Children tal health in every case, as seen for instance se Moleküle neben vielfältigen weiteren bekannten Funktionen auch die Neuro- neogenese beeinflussen (. Abb. 1). Pharmakotherapien der Depression führen also – entsprechend der Neuro- plastizitätstheorie – zu neuroplastischen Veränderungen im menschlichen Gehirn. Diese Veränderungen werden über viel- fältige molekulare Mechanismen gesteu- ert, die im hohen Maße auch durch kör- perliche Aktivität und die dadurch her- beigeführte Stimulation neuroplastischer Vorgänge beeinflusst werden. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012 | 57
Leitthema: Körperliche Aktivität und Gesundheit Neuronale tensität) sowie den Wirkmechanismen Plastizität nachgehen. Herring et al. [24] fassen in ihrer Meta- analyse 40 Studien zusammen, in denen bei klinischen Stichproben (Patienten mit Tumorerkrankungen, kardiovaskulä- Neuroneogenese ren Erkrankungen, mit COPD, Multipler Abb. 1 9 Körperliche Sklerose und mit psychiatrischen oder or- Aktivität induziert über die Bildung von BDNF, thopädischen Erkrankungen) bewegungs- VEGF, β-Endorphin und therapeutische Interventionen zur Linde- Serotonin die Neuro- rung von Angstzuständen durchgeführt BDNF VEGF ß-Endorphin Serotonin neogenese im Hippo- wurden. Die mittlere Effektstärke beträgt campus (nach [12]). d = 0,29 (95%-KI 0,23–0,36). Dabei erziel- BDNF Brain-derived neurotrophic factor, ten Trainingsprogramme mit einer Dau- Körperliche Aktivität VEGF Vascular endo- er von bis zu 12 Wochen bessere Effekte thelial growth factor als längere Programme. Die Autoren füh- ren dies auf die bessere Adhärenz bei den Entzündungshypothese le sind aber bei Depressiven hyperaktiv kürzeren Interventionen zurück. Weiter- der Depression (Grübeln, Selbstgespräche, negative Emo- hin wurden stärkere Effekte erzielt, wenn Die Entzündungs-Serotonin-Hypothese tionen). Durch sportliche Aktivität sinkt die Dauer der einzelnen Trainingseinhei- ist ein weiterer Ansatzpunkt, um die posi- die Aktivität in diesen Arealen nicht nur ten mindestens 30 min (am häufigsten tiven Effekte körperlicher Aktivität bei akut, sondern auch langfristig. dreimal pro Woche) umfasste und in den Depressionen zu erklären. Diese Theo- eingesetzten Verfahren zur Messung der rie stützt sich unter anderem auf die Be- Angst Ängstlichkeit ein Zeitfenster von mehr obachtung, dass bei depressiven Störun- als einer Woche abgefragt wurde. Auf gen eine Dysbalance zwischen verschie- In einer Metaanalyse zur Überprüfung Grundlage dieser Studienergebnisse kön- denen Immunparametern im Sinne eines der Effektstärke bewegungstherapeu nen bewegungstherapeutische Interven- Überwiegens der Typ-1-Immunreaktion tischer Interventionen auf die Reduktion tionen mit minimalem Risiko für widri- vorliegt. Eine veränderte Immunreak- des Ausmaßes von Ängstlichkeit fassen ge Ereignisse zur Reduktion von Angstzu- tion wirkt sich wiederum auf die mono Wipfli et al. 49 randomisierte kontrol- ständen empfohlen werden, insbesonde- aminen Neurotransmitter-Systeme aus. lierte Studien zusammen, die bis Januar re für Patienten, die nicht-pharmakologi- Über verschiedene Mechanismen kommt 2006 publiziert wurden [23]. In 46 dieser sche Therapien präferieren. Bei intensive- es dann zu einer neuronalen Schädigung. Studien wurde ein aerobes Ausdauertrai- rer körperlicher Aktivität machen die Be- Moderate körperliche Aktivität wirkt ent- ning verwendet. Die Effektstärke über troffenen wiederholt die Erfahrung, dass sprechend der Entzündungshypothese alle Studien mit insgesamt 3566 Teil- körperliche Symptome wie Schwitzen, der Depression antiinflammatorisch, in- nehmern im Vergleich zu unbehandel- Hyperventilation und Herzrasen ohne be- dem sie die mit Depressionen assoziier- ten Kontrollgruppen liegt bei d = −0,48 gleitende emotionale Störungen auftreten. ten Dysbalancen der Immunantwort re- (95%-KI − 0,63 bis − 0,33), im Vergleich Dadurch könnte ein Desensitivierungs- guliert [20]. zu Gruppen mit anderen anxiolytischen prozess bei den körperlichen Begleitsym- Therapieformen (Entspannungsverfah- ptomen von Angstzuständen einsetzen. Transiente Hypofrontalitätstheorie ren, Stressmanagementedukation, Yo- Bisher in diesem Forschungsbereich Die sogenannte „Transiente Hypofronta- ga, Gruppentherapie und andere) noch vernachlässigte Interventionsformen wie litätstheorie“ ist eine neuere Theorie zur bei −0,19 (28 Studien, 1924 Teilnehmer), Krafttraining sollten in zukünftige Stu- Erklärung der positiven psychischen Ef- das heißt, dass die Angstreduktion durch dien einbezogen und die Trainingsinten- fekte von körperlicher Aktivität [21, 22]. körperliche Aktivität zwar gering ausfällt, sität und Dauer verändert werden, um der Sportliche Aktivität erhöht die neurona- jedoch signifikant stärker ist als bei ande- Frage der optimalen Art und Dosierung le Aktivität des motorischen und sensori- ren Behandlungsmethoden. Wipfli et al. körperlicher Aktivität nachzugehen. schen Kortex sowie der Hirnregionen für [23] schließen aus diesen Ergebnissen, Zu weiteren psychischen Störungen die autonome Regulation. In den neuro- dass bewegungstherapeutische Inter- wie Abhängigkeitserkrankungen [25] nalen Strukturen, die für höhere kogni- ventionen zur Linderung von Angstzu- oder somatoformen Störungen [26] gibt tive Aufgaben (Planung, Problemlösen, ständen empfohlen werden können, da es einzelne empirische Untersuchungen, Arbeitsgedächtnis, sogenannte exekutive ein hoher Grad an empirischer Evidenz die noch keinen Schluss über die Effekte Funktionen) und für die emotionale In- vorhanden ist. Zukünftige Studien soll- von körperlicher Aktivität zulassen. Zum formationsverarbeitung zuständig sind ten an klinischen Populationen durchge- Einsatz körperlicher Aktivität bei der (präfrontaler Kortex) vermindert sich die führt werden und Fragen nach der opti- Raucherentwöhnung wurde ein Coch- Aktivität hingegen. Gerade diese Area- malen Dosierung (Frequenz, Dauer, In- rane-Review [27] vorgelegt, das aber nur 58 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012
wenige Studien (n = 13) zusammenfasst. Die Richtung der Einflussnahme und persönlich wahrgenommene Kontrolle In drei dieser Studien konnte ein positi- Effekte von körperlicher Bewegung auf und Zuversicht, zum Beispiel an einem ver Effekt körperlichen Trainings bei der die Eigenwahrnehmung und das Selbst- bestimmten Bewegungsprogramm teil- Raucherentwöhnung festgestellt werden, wertgefühl zu untersuchen ist Ziel sport- nehmen zu können. Selbstwirksamkeits- in einer Studie auch nach einem 12-mo- psychologischer Forschung [30]. Wichtige erwartungen dürfen dabei allerdings natigen Follow-up. Die Autoren führen psychologische Konstrukte in diesem Zu- nicht mit Ergebniserwartungen – eine ge- dies auf die geringe methodische Quali- sammenhang sind das Konzept des glo- wünschte Gewichtsabnahme beispielswei- tät, insbesondere auf geringe Stichproben- balen Selbstwertgefühls, das Konzept der se – verwechselt werden. größen und Interventionen von zu gerin- Selbstwirksamkeit und das Modell des Dass die Selbstwirksamkeitserwartung ger Intensität und Dauer zurück. physischen Selbstkonzepts. Auf diese soll ein wesentlicher bestimmender Faktor im Auch zum Einsatz körperlicher Akti- im Folgenden näher eingegangen werden. Zusammenhang zwischen körperlicher vität zur Behandlung schizophrener Psy- Aktivität und allgemeinem psychischem chosen gibt es ein Cochrane-Review [28], Sport und globales Wohlbefinden ist, konnten Netz et al. das aber ebenfalls nur wenige randomi- Selbstwertgefühl [33] in einer Metaanalyse (36 kontrollier- sierte kontrollierte Studien (n = 3) zu- Das globale Selbstwertgefühl lässt sich de- te Studien) mit gesunden älteren Erwach- sammenfasst. Die Ergebnisse zeigen, dass finieren als der allgemeine subjektiv emp- senen nachweisen. Hier zeigte sich, dass Interventionsstudien mit körperlichem fundene Wert, den wir uns selbst als Per- eine Steigerung des allgemeinen psychi- Training auch bei dieser Patientenpopu- son beimessen. Spence et al. [31] stellten schen Wohlbefindens durch körperliche lation durchführbar sind und sich posi- sich in einer Metaanalyse (113 kontrollier- Aktivität vor allem über eine Stärkung der tiv sowohl auf das psychische als auch auf te Studien) die Frage, wie stark sich sport- Selbstwirksamkeitserwartung (d = 0,38; das körperliche Wohlbefinden auswirken. liche Aktivität auf das globale Selbstwert- 95%-KI 0,24–0,52) zustande kommt. Darüber hinaus demonstriert eine neue- gefühl bei Erwachsenen auswirkt. Die re deutsche Studie [29] eindrucksvoll, dass Analyse ergab, dass Sport bei Erwachse- Sport und physisches ein dreimonatiges aerobes Ausdauertrai- nen insgesamt zu einer „leichten aber si- Selbstkonzept ning sowohl in einer Gruppe von Patien- gnifikanten“ Verbesserung des globalen Ein zentraler Begriff im Kontext von Sport ten mit chronischer Schizophrenie (n = 8) Selbstwertgefühls führt (mittlere Effekt- und positiver Eigenwahrnehmung ist der als auch in einer gesunden Kontrollgrup- stärke d = 0,23; 95%-KI 0,18–0,28). Als des physischen Selbstkonzepts. Dieser pe (n = 8) zu einem Anstieg des Hippo- wichtige Moderatorvariablen für diese Teilbereich des globalen Selbstkonzepts campusvolumens und zu verbesserten ko- Verbesserung konnten die Veränderung fasst alle selbstbezogenen Informationen gnitiven Leistungen führt. des körperlichen Fitnesszustands sowie über den eigenen Körper zusammen. Es die Art der Sportaktivität identifiziert enthält Informationen über körperliche Körperliche Aktivität und werden. So zeigten vor allem diejenigen Fähigkeiten (Kraft, Ausdauer, Schnellig- positive Eigenwahrnehmung Probanden ein verbessertes Selbstwertge- keit, Beweglichkeit, Koordination) so- fühl, die durch das Sportprogramm auch wie Aspekte der körperlichen Attraktivi- Dass ein Zusammenhang zwischen sport- körperlich fitter wurden. „Life-Style-Pro- tät [34]. Mehrere Studien konnten nach- licher Aktivität und positiver Eigenwahr- gramme“ (bei denen das Sportprogramm weisen, dass Sport zu einer Verbesserung nehmung besteht, ist eine weit verbreite- mit Entspannungsverfahren oder Er- des physischen Selbstkonzepts führt [35]. te Annahme. Kausale Aussagen zu for- nährungsprogrammen kombiniert wur- mulieren, die den Zusammenhang zwi- de) waren dabei einem Training überle- Übertrainingssyndrom und schen Sport und Wahrnehmung und Be- gen, bei dem es allein um die Verbesse- sportliches Burnout wertung der eigenen Person betreffen, ist rung technischer Fertigkeiten in einzel- jedoch weitaus schwieriger. Es geht dabei nen Sportdisziplinen ging. Körperliches Training verbessert nicht in um die Beantwortung folgender Kernfra- jedem Fall das psychische Wohlbefinden. gen: „Führt körperliche Aktivität zu einer Sport und Selbstwirksamkeit Das Phänomen des Übertrainings (over- positiveren Eigenwahrnehmung und er- Der Begriff der Selbstwirksamkeit (self- training) und des sportlichen Burnouts ist klärt dies den Zusammenhang zwischen efficacy) geht auf den amerikanischen vor allem bei Leistungssportlern bekannt. Sport und einem verbesserten Selbstwert- Psychologen Albert Bandura zurück. Aber auch Freizeitsportler können betrof- gefühl oder führt umgekehrt ein positi- Bandura versteht unter Selbstwirksam- fen sein. ves Selbstwertgefühl zu vermehrter kör- keitserwartungen (self efficacy beliefs) perlicher Aktivität? Gibt es nur eine Wir- den Glauben und die Zuversicht, mit den Übertrainingssyndrom. Das Übertrai- kungsrichtung oder treffen eventuell bei- eigenen zur Verfügung stehenden Fähig- ningssyndrom (ÜTS) ist ein komplexes de Hypothesen im Sinne einer wechselsei- keiten einen Handlungsverlauf so zu or- multifaktorielles Geschehen und um- tigen Selbstverstärkung zu? Welche wei- ganisieren und durchzuführen, dass ein fasst sowohl körperliche als auch psy- teren Faktoren beeinflussen den Zusam- gegebenes Ziel verfolgt werden kann [32]. chische Aspekte. Es kommt zunächst zu menhang zwischen Sport und Selbstwert- Im Kontext sportlicher Aktivität bedeu- einer Leistungsstagnation und schließlich gefühl?“ ten Selbstwirksamkeitserwartungen die zu einem Abfall der sportartspezifischen Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012 | 59
Leitthema: Körperliche Aktivität und Gesundheit Leistungsfähigkeit trotz weitergeführtem Eine in der internationalen Literatur le Veränderungen im Trainings- und Re- oder sogar intensiviertem Training. Auch allgemeingültige und abgrenzende generationsplan eingeleitet werden. nach einer verlängerten Regenerations- Definition der Begriffe „Overreaching“, phase von zwei bis drei Wochen ist der „Übertraining“ und „Burnout“ gibt es Kognitive Effekte Abfall der Leistungsfähigkeit noch nach- nicht. Winsley und Matos [39] stellen körperlicher Aktivität weisbar. Bei einer kürzeren Dauer spricht Overreaching, Übertraining und sportli- man eher von einem Überlastungszustand ches Burnout auf einer Achse als Kontinu- Die Forschung zum Zusammenhang zwi- (overreaching oder overloading) [36]. um dar. Ein Ende dieses Kontinuums zeigt schen körperlicher Aktivität und der Ver- Neben dem Leistungsabfall findet den Zustand des regenerierten Sport- besserung kognitiver Funktionen ist vor sich bei Sportlern mit ÜTS typischerwei- lers an, das entgegengesetzte Ende mar- dem Hintergrund der Altersstrukturent- se eine allgemeine physische und psychi- kiert den Zustand des sportlichen Burn- wicklung der Bevölkerung besonders be- sche Erschöpfung. Oftmals sind depres- outs. Overreaching und Overtraining sind deutsam. Die Frage, ob körperliche Akti- sive Symptome wie Niedergeschlagen- Zwischenstadien, die fließend ineinander vität dem kognitiven Abbau im Alter vor- heit, Stimmungslabilität, Gleichgültigkeit, übergehen. beugen oder diesen verzögern und da Reizbarkeit, verringertes Selbstvertrauen, Im Gegensatz dazu argumentieren Ri- rüber hinaus sogar die Entwicklung einer Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Appe- chardson et al. [38] dafür, das sportliche Demenz beeinflussen kann, ist deshalb titlosigkeit, Gewichtsverlust, Konzentra- Burnout nicht als Endstadium des Über- gesellschaftspolitisch von hoher Relevanz. tionsstörungen und Ängstlichkeit vorhan- trainings zu sehen. Sie betonen, dass das Während einige Reviewarbeiten [43, den. Weitere Kennzeichen sind Infektan- ÜTS in erster Linie ein Zustand physi- 44] den Zusammenhang zwischen kör- fälligkeit, ein erhöhter Ruhepuls, Schwere scher Überanstrengung ist, der auf einer perlicher Aktivität und der Verbesserung der Arbeitsmuskulatur, Myalgien, gastro- zu hohen Trainingsbelastung bei unzu- kognitiver Funktionen als nicht erwie- intestinale Störungen und erhöhte Verlet- reichender Regeneration beruht. Sport- sen darstellen, kommen andere, insbe- zungsanfälligkeit. liches Burnout ist dagegen ein Erschöp- sondere neuere Metaanalysen [45, 46, 47] fungszustand, der primär auf emotiona- zu gegenteiligen Schlüssen. Unterschie- Sportliches Burnout. Das sportliche le Stressoren zurückzuführen ist und des- de können in den Kriterien für die Aus- Burnout zeichnet sich im Vergleich zum halb nicht als Folge eines ÜTS angesehen wahl der Studien (Querschnitt-, Längs- ÜTS durch einen zusätzlichen Antriebs- werden kann. schnitt-, experimentelle Studien) begrün- und Motivationsverlust aus. Während Kellmann [40] betont die Wichtigkeit det sein, in der Wahl und Kategorisierung Sportler mit ÜTS oftmals noch ein ausrei- einer optimalen Regeneration zur Prä- der Outcome-Parameter und in den je- chendes Maß an Motivation zeigen, wei- vention eines ÜTS. Ein Leistungssport- weils untersuchten Stichproben (Gesun- tere Trainingseinheiten zu absolvieren, ler kann nur dann Steigerungen im Trai- de versus Kranke, Ältere versus Jüngere). kann ein Sportler mit Burnout das Trai- ningsumfang verkraften, wenn entspre- In einem Cochrane-Review [45] von ning in der Regel nicht mehr fortführen. chende Regenerationsressourcen zur Ver- randomisierten kontrollierten Studien Es kommt zu einer starken Trainingsab- fügung stehen. Da die körperlichen, psy- mit über 55-jährigen Probanden ohne neigung und einer negativen Bewertung chologischen und sozialen Aspekte der neurokognitive Beeinträchtigung wur- der ausgeübten Sportart. Regeneration bei jedem Sportler unter- den elf Studien zusammengefasst. Der Die am häufigsten diskutierten Ursa- schiedlich gewichtet sind, sollten Regene- Anstieg der kardiorespiratorischen Fit- chen für ein ÜTS und sportliches Burnout rationsmaßnahmen genau auf die jewei- ness ging mit Verbesserungen in einigen sind eine für den Trainingszustand zu ho- ligen Bedürfnisse des einzelnen Athleten kognitiven Funktionen (motorisches Ler- he Trainingsintensität, ein zu hoher Trai- abgestimmt sein. nen, Aufmerksamkeit, Verarbeitungsge- ningsumfang und/oder zu häufige Wett- Auch die körperlichen und psychi- schwindigkeit) einher, in anderen (zum kämpfe ohne ausreichende Erholungs- schen Belastbarkeitsgrenzen, die bei einer Beispiel Gedächtnis, exekutive Funktio- phasen. Allerdings müssen noch weitere Überschreitung zum Übertraining und nen) zeigten sich allerdings keine Verbes- Faktoren vorliegen, die dazu führen, dass zum sportlichen Burnout führen können, serungen. Die Autoren werfen die Frage ein Athlet ein ÜTS oder sportliches Burn- sind bei Leistungssportlern inter- und in- auf, weshalb sich einige kognitive Funk- out entwickelt. Dafür spricht allein schon, traindividuell höchst unterschiedlich. tionen durch körperliches Training ver- dass viele Sportler, obwohl sie hart trai- Sportler und deren Betreuer sollten die- bessern lassen, andere jedoch nicht. Smith nieren, kein ÜTS entwickeln. Neben einer se möglichst frühzeitig erkennen. Dabei et al. [47] kommen in einer neueren Meta- Dysbalance zwischen Trainingsbelastung können psychometrische Verfahren wie analyse von 29 Studien mit über 18-jähri- und Erholung spielen daher vermutlich das Profile of Mood States (POMS, [41]) gen Teilnehmern (N = 2049; 234 Effekt- weitere Bedingungen, wie etwa psycho- oder der Recovery Stress Questionaire for maße) zu dem Ergebnis, dass körperli- soziale Stressfaktoren (Beziehungsprob- Athletes (RESTQ-Sport, [42]) hilfreich ches Training die Aufmerksamkeit, die leme, Einschränkungen der Autonomie, sein. Mithilfe dieser Fragebögen können Verarbeitungsgeschwindigkeit und die hoher Erwartungsdruck) oder die Ent- Stimmungsumschwünge und mögliche exekutiven sowie Gedächtnisfunktionen – wicklung eines depressiven Syndroms Dysbalancen zwischen Stress und Erho- allerdings nicht des Arbeitsgedächtnisses eine Rolle [37, 38]. lung frühzeitig identifiziert und eventuel- – verbessert. Sie finden also auch Verän- 60 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012
derungen in kognitiven Funktionen, die fekt körperlichen Trainings (Walking, ae- sich körperliche Aktivität ebenfalls prä- im Cochrane-Review als durch körperli- robic exercise, Krafttraining) auf kogniti- ventiv auf die Entwicklung einer vaskulä- che Aktivität nicht veränderbar eingestuft ve Funktionen. Die mittlere Effektstärke ren Demenz auswirkt, untersuchten Aars- wurden. Erickson und Kramer [46] be- lag hier bei d =0,57 (95%-KI 0,38–0,75). land et al. [57] in einer Metaanalyse pros- tonen, dass gerade exekutive Funktionen Hinsichtlich der Intensität oder Dauer des pektiver epidemiologischer Studien (Fol- (Planung, Koordination, Arbeitsgedächt- Trainings war kein Unterschied festzustel- low-up vier bis sieben Jahre, 10.108 Teil- nis, Flexibilität) einer Verbesserung durch len. Die am schwersten beeinträchtigten nehmer, 374 Fälle). Sie stellten ein um körperliche Aktivität zugänglich sind, und Patienten profitierten am meisten. Ande- 38% geringeres Risiko für körperlich ak- führen querschnittliche MRI-Studien an, re therapeutische Interventionen bei De- tive Personen fest. die belegen, dass dementsprechend prä- menzpatienten weisen vergleichbare Ef- frontale, parietale und temporale Hirnre- fektstärken auf: Nicht-pharmakologische Körperliche Aktivität, gionen bei fitteren Personen stärker aus- Therapien wie kognitives Training zeigen psychische Gesundheit und geprägt sind. je nach Art, Dauer und Setting Effektstär- kognitive Funktionen bei Sofi et al. [48] führten eine Metaana- ken von 0,31 bis 0,59 [50]. Dieser Effekt Kindern und Jugendlichen lyse prospektiver Studien durch, die den ist wiederum vergleichbar mit dem von Zusammenhang zwischen körperlicher pharmakologischen Therapien zum Bei- Die meisten Jugendlichen in Deutsch- Aktivität und dem Risiko für eine abfal- spiel mit Cholinesteraseinhibitoren [51], land bewegen sich zu wenig: Zu diesem lende kognitive Leistungsfähigkeit (cog- Memantin (NMDA-Rezeptor-Antago- Schluss kommt der Kinder- und Jugend- nitive decline) bei nicht dementen Per- nist: KI 0,32–0,49) [52] oder Ginkgo bilo- gesundheitssurvey des Robert Koch-Ins- sonen im Alter untersuchten. Sie konn- ba (d = 0,58) [53]. Die Effektstärken vari- tituts [58]. Denn nur 8% der Jungen und ten 15 prospektive Studien über 12 Kohor- ieren je nach Krankheitsstadium und den 5% der Mädchen im Alter zwischen 14 ten mit insgesamt 33.186 Teilnehmern in eingesetzten Messverfahren [54]. und 17 Jahren bewegen sich mindestens die Analyse einschließen. Der Beobach- In einem neueren Cochrane-Review 60 Minuten pro Tag mit moderater bis tungszeitraum umfasste zwischen einem [55] zur Frage der Wirksamkeit von kör- sehr hoher Intensität. Damit erfüllt we- und 12 Jahren. Bei 3210 Teilnehmern ging perlichen Aktivierungsprogrammen bei niger als ein Zehntel der Jugendlichen in die kognitive Leistungsfähigkeit zurück. Patienten mit Demenz (alle Formen und Deutschland die Bewegungsrichtlinien Körperlich aktive Teilnehmer wiesen ins- Schweregrade) konnten aufgrund res- der WHO für diesen Altersbereich. Ein gesamt ein um bis zu 38% geringeres Ri- triktiver methodischer Einschlusskrite- Mangel an körperlicher Aktivität beein- siko auf, kognitive Beeinträchtigungen zu rien nur vier Studien berücksichtigt wer- trächtigt jedoch nicht nur die körperliche, entwickeln als körperlich Inaktive. den, von denen schließlich nur zwei in die sondern auch die psychische Gesundheit Metaanalyse einbezogen wurden. Die Au- und schränkt die kognitive Leistungsfä- Demenz toren kommen zu dem Schluss, dass die higkeit der betroffenen Kinder und Ju- vorliegende empirische Evidenz bisher gendlichen ein. Heyn et al. [49] führten eine Metaanalyse nicht ausreicht, um die Effizienz körper- von 30 randomisierten kontrollierten Stu- licher Aktivierungsprogramme bei De- Körperliche Aktivität und dien mit an Demenz erkrankten Patienten menzpatienten zu beurteilen. Sie füh- psychische Gesundheit bei zu Effekten körperlichen Trainings (mitt- ren dies Ergebnis auf die zum Teil klei- Kindern und Jugendlichen lere Dauer 23 Wochen, 3,6 Trainings pro nen Stichproben (n = 11), die Art, Inten- Woche à 45 min) durch. Die Teilneh- sität und Dauer der Intervention und die In einer Metaanalyse von Larun et al. mer setzten sich aus Patienten mit unter- schlechte Adhärenz der Patienten in den [59], in die ausschließlich randomisier- schiedlichen Formen einer Demenz zu- Studien zurück. te kontrollierte Studien einbezogen wur- sammen („Alzheimer’s disease, demen- Hamer und Chida [56] untersuchten den, wurde die Wirkung von Interven- tia, mixed dementia, cognitive disor- in einer Metaanalyse prospektiver Stu- tionen zur körperlichen Aktivitätssteige- ders, organic brain disease, mentally im- dien, inwieweit körperliche Aktivität die rung (Ausdauertraining) auf Angst- und paired older adults, cognitively impai- Entwicklung neurodegenerativer Stö- depressive Symptome bei Kindern und Ju- red nursing home residents, or geriatric rungen beeinflusst. Sie fassen 16 Studien gendlichen untersucht. Die Autoren fass- mental patients“; [49]. In 22 Studien wur- mit 163.797 Teilnehmern zusammen, von ten 16 Studien mit 1191 Teilnehmern im de die kognitive Beeinträchtigung mit- denen im Beobachtungszeitraum (4,7 bis Alter von elf bis 19 Jahren zusammen. tels der Mini Mental State Examination 30 Jahre) 3219 erkrankten. Das Risiko, an Fünf (Depressivität) beziehungsweise (MMSE) quantifiziert: In neun Studien einer Demenz zu erkranken, war für kör- sechs Studien (Angst) zeigten, dass kör- wiesen die Teilnehmer geringe, in neun perlich Aktive um 28% geringer, an Mor- perliche Aktivität bei gesunden Kindern mittlere und in vier schwere kognitive Be- bus Alzheimer zu erkranken sogar um und Jugendlichen negative Stimmungen einträchtigungen auf. Von den 30 einge- 45%. Aussagen über die optimale Dosie- reduziert (d = − 0,48; 95%-KI –0,97 − 0,01). schlossenen Studien (N = 2020; mittleres rung (Dauer, Intensität) der körperlichen In einer Metaanalyse zum Zusammen- Alter 80 ± 6,1 Jahre; Range 66 bis 91 Jah- Aktivität konnten die Autoren anhand der hang zwischen körperlicher Aktivität und re) untersuchten 12 (N = 820) auch den Ef- vorliegenden Studien nicht treffen. Ob psychischer Gesundheit bei klinisch un- Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012 | 61
Leitthema: Körperliche Aktivität und Gesundheit auffälligen Kindern und Jugendlichen durchgeführten Bewegungsinterventio- keit, räumliches und logisches Denken, (Alter: drei bis 18 Jahre) fassten Ahn und nen, die Durchführungsbedingungen Arbeitsgedächtnis) und auf die schuli- Feweda [60] 73 Studien (30 randomisier- (zum Beispiel individuelle oder Grup- schen Leistungen (Lese- und Rechenauf- te kontrollierte Studien, 24 nicht randomi- penintervention) sowie die Stichproben gaben) bei 171 übergewichtigen Kindern sierte kontrollierte Studien, 19 korrelative voneinander unterscheiden (zum Beispiel (Alter: sieben bis elf Jahre), die entwe- Studien) zusammen. Die Ergebnisse der im Alter, kognitiven Entwicklungsstand, der einer von zwei Interventionsgruppen RCT-Studien zeigten, dass Bewegungs- Körpergewicht). (Dauer der Intervention entweder 20 Mi- interventionen Depressivität, Angst und Ein aktueller Review-Artikel [63] nuten/Tag oder 40 Minuten/Tag über elf psychologischen Distress beziehungswei- kommt trotz der oben beschriebenen me- bis 15 Wochen) oder der Kontrollgruppe se posttraumatische Belastungsstörungen thodischen Defizite zu dem Schluss, dass (kein Training) zugeordnet wurden. Zu- am wirksamsten reduzieren (quantifiziert sich bei Kindern und Jugendlichen so- sätzlich wurden mittels funktioneller Ma- als durchschnittliche Effektstärken). Da- wohl einmalige als auch kontinuierliche gnetresonanztomographie (fMRT) die rüber hinaus wurde durch Bewegungs- Einheiten körperlicher Aktivität positiv Hirnaktivitäten bei elf Kindern aus der interventionen auch das Selbstwertgefühl auf exekutive Funktionen auswirken. Als Interventionsgruppe und bei neun Kin- der Kinder und Jugendlichen verbessert. exekutive Funktionen werden kognitive dern aus der Kontrollgruppe während der Motl et al. [61] untersuchten in einer Prozesse bezeichnet, die für die Planung, Aufgabenbearbeitung untersucht. Vergli- groß angelegten prospektiven Längs- Ausführung und Kontrolle zielgerichte- chen mit Kindern aus der Kontrollgrup- schnittstudie mit 4594 Jugendlichen den ten Verhaltens verantwortlich sind. Sie pe zeigten Kinder aus beiden Interven- Zusammenhang zwischen natürlichen werden von Strukturen im präfrontalen tionsgruppen bessere exekutive Funktio- Veränderungen der körperlichen Aktivi- Kortex gesteuert. Dieser Teil des Gehirns nen und mathematische Leistungen. Bei tät und der Häufigkeit depressiver Symp- befindet sich bei Kindern und Jugendli- Kindern aus beiden Interventionsgrup- tome über einen Zeitraum von zwei Jah- chen noch in der Entwicklung und ist da- pen fand sich zudem – anders als bei Kin- ren (vom Beginn der 7. bis zum Ende der her in diesem Lebensabschnitt besonders dern aus der Kontrollgruppe – eine ge- 8. Klasse). Die Autoren konnten für die- vulnerabel beziehungsweise empfäng- steigerte Aktivität im präfrontalen Kortex sen Zeitraum zeigen, dass häufigere kör- lich für positive Einflüsse [64, 65]. Kogni- und eine geringere Aktivität im posterio- perliche Aktivität mit einer Verminde- tiv anspruchsvollere körperliche Aktivitä- ren parietalen Kortex. Diese Unterschie- rung depressiver Symptome einherging. ten scheinen dabei eine stärkere positive de deuten auf eine Verbesserung exekuti- Jerstad et al. [62] führten über die Dauer Wirkung auf exekutive Funktionen auszu- ver Funktionen als Folge des aeroben Aus- von sechs Jahren eine prospektive Längs- üben als kognitiv weniger fordernde Ak- dauertrainings hin. schnittstudie zum Zusammenhang zwi- tivitäten. In einer Metaanalyse überprüften Si- schen körperlicher Aktivität und De- In einem Review-Artikel, der sich auf bley und Etnier [68] die Effekte von kör- pressivität bei 496 weiblichen Jugendli- die Wirkung kontinuierlicher körperli- perlicher Aktivität (zum Beispiel Training chen (Alter zu t1: elf bis 15 Jahre) durch cher Aktivität auf globale intellektuelle motorischer Fertigkeiten, aerobes Aus- (ein Messzeitpunkt pro Jahr). Eine gerin- Fähigkeiten, kognitive Funktionen (zum dauertraining) auf die kognitiven Funk- gere Anzahl von Aktivitäten während der Beispiel Wahrnehmungs-, Aufmerksam- tionen (beispielsweise intellektuelle Fä- letzten 12 Monate sagte ein erhöhtes Risi- keits-, Gedächtnisprozesse) und auf schu- higkeiten, Leistungen bei Lese- und Re- ko für depressive Symptome sowie für den lische Leistungen bei Kindern bezieht, chenaufgaben, Gedächtnisleistung) und Beginn einer Depression vorher. Umge- fassten Tomporowski et al. [66] 16 korrela- fassten 44 Studien mit Kindern und Ju- kehrt reduzierte aber das Vorhandensein tive, prospektive und randomisierte kont- gendlichen (Alter: vier bis 18 Jahre) zu- depressiver Symptome auch die körperli- rollierte Studien zusammen. Die Autoren sammen. Die einbezogenen Studien, die che Aktivität der Jugendlichen. kommen zu dem Schluss, dass körperliche sich in ihrer methodischen Qualität stark Aktivität die Entwicklung insbesondere voneinander unterschieden, deuten mit Körperliche Aktivität und von exekutiven Funktionen bei Kindern einer durchschnittlichen Effektstärke von kognitive Funktionen bei und Jugendlichen begünstigt. Sie betonen, 0,32 auf einen positiven Zusammenhang Kindern und Jugendlichen dass bisher aber noch nicht hinreichend zwischen körperlicher Aktivität und ko- geklärt werden konnte, ob diese positiven gnitiven Funktionen hin. Jedoch unter- Die Datenlage zum Zusammenhang zwi- Effekte vorwiegend von der Art der kör- schieden sich die einzelnen Effektstärken schen körperlicher Aktivität und kogni- perlichen Aktivität, von ihrer Dauer oder je nach untersuchter kognitiver Funktion, tiver Leistungsfähigkeit bei Kindern und von ihrer Intensität beeinflusst werden. nicht aber nach der Art der körperlichen Jugendlichen ist bisher noch wenig zu- Davis et al. [67] überprüften die Do- Aktivität. friedenstellend. Häufig sind die Ergebnis- sis-Wirkungs-Beziehung zwischen kör- se uneinheitlich, was unter anderem dar- perlicher Aktivität und exekutiven Funk Stressreaktivität auf zurückzuführen ist, dass in den Stu- tionen. Sie untersuchten die Wirkung dien unterschiedliche Aspekte kogniti- eines aeroben Ausdauertrainings auf die Phylogenetisch betrachtet dient die Stress- ver Funktionen untersucht wurden und kognitiven Funktionen (exekutive Funk- reaktion zur Mobilisierung von Energie in sich die verwendeten Testverfahren, die tionen, Aufmerksamkeit/Unablenkbar- Antizipation körperlicher Aktivität für die 62 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012
Fight-or-Flight-Reaktion [69]. Auf die Li- könnte – zusätzlich zu den bereits oben der Behandlung psychischer Störungen pid- und Glukosemobilisierung durch die dargestellten Mechanismen – die positi- zu etablieren. neuroendokrine Stressreaktion folgt im ve Wirkung körperlicher Aktivität auf de- Herauszufinden, wie eine sportthera- Falle psychischer Stressoren in aller Re- pressive Störungen erklären. peutische Intervention gestaltet sein gel keine motorische Nutzung der bereit- Jackson und Dishman [75] fassten muss, um für psychisch erkrankte Er- gestellten Energieressourcen. Statt verfüg- in einem Review 73 Studien zur Reakti- wachsene sowie Kinder und Jugendli- bare Energien zu metabolisieren, werden vität physiologischer Stressindikatoren che auch umsetzbar zu sein, ist eine der diese in Fettdepots gespeichert. Insulin- bei Trainierten und Untrainierten nach wesentlichen Aufgaben in diesem For- resistenz, viszerale Fettspeicherung, Blut- akuter psychischer Laborbelastung zu- schungsfeld. Zum Beispiel sind auf Ba- hochdruck und Hypertriglyceridämie, das sammen. Sie kommen zu dem Schluss, sis der bisherigen Literatur bislang kei- sogenannte metabolische Syndrom, kön- dass Trainierte schneller und stärker mit ne fundierten Aussagen zur Dosis-Wir- nen als Folge der Persistenz von Stress- einer Stresshormonausschüttung reagie- kungs-Beziehung zwischen körperlicher reaktionen mit konsekutivem Cortisol- ren, aber auch schneller zur entsprechen- Aktivität und emotionalen beziehungs- und Katecholaminexzess und einer Hem- den Baseline zurückkehren, das heißt weise kognitiven Effekten möglich. Es mung der Ausschüttung von Geschlechts- sich schneller erholen. Hamer et al. [76] sind pragmatische Ansätze gefordert, die hormonen, des Wachstumshormons und kommen in ihrer Übersicht von Studien, speziell auf die Bedürfnisse psychisch Er- der Schilddrüsenachse angesehen wer- die nach einer akuten körperlichen Trai- krankter eingehen und insbesondere den. Die in der heutigen westlichen Zivi- ningseinheit die Reaktivität auf psychi- auch die möglichen Hinderungsgründe lisation ubiquitären Stressreaktionen und sche Stressoren untersuchen, zu dem Er- für körperliche Aktivität aufgreifen. Für die körperliche Inaktivität potenzieren die gebnis, dass die Reaktion des Blutdrucks die entsprechende Adhärenz bestimm- Akkumulation von Energiebereitstellung auf psychische Stressoren nach sportli- ter Patientengruppen könnten beispiels- und -speicherung. Dies führt zu einer en- cher Tätigkeit geringer ausfällt. Insge- weise die sozialen Rahmenbedingungen demischen Ausbreitung von Diabetes, samt kann zwar nicht von einer höhe- von Bedeutung sein. Diese müssten im Adipositas und Herzerkrankungen. Kör- ren Stressresistenz bei Trainierten ge- Rahmen klinischer Studien für einzelne perliche Aktivität verstoffwechselt die- sprochen werden, doch zeigen sie eine Patienten- und Altersgruppen ermittelt se Energie durch konsekutive mitochon- verbesserte Stressregeneration, was prä- und dann als fester Bestandteil in sport- driale Proliferation, die damit verbunde- ventivmedizinisch von Bedeutung sein therapeutische Interventionen integriert ne Verstärkung der oxidativen Kapazität könnte, das heißt, sportliche Aktivität werden. der Muskulatur und Erhöhung der Insu- könnte der Hyperaktivität der Hypotha- linsensitivität [70]. lamus-Hypophysen-Nebennierenrin- Korrespondenzadresse Abgesehen von diesen direkten Wir- den-Achse bei depressiven Störungen Prof. Dr. Dr. K.-H. Schulz kungen körperlicher Aktivität auf lang- entgegenwirken. Ambulanzzentrum, fristige Konsequenzen hyperaktiver Fachbereich Sport- und Bewegungsmedizin, Institut für Medizinische Psychologie, Stresshormonachsen wird auch die hor- Fazit Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf monelle und physiologische Stressant- Martinistr. 52, W26, 20241 Hamburg wort selbst durch körperliche Aktivität Körperliche Aktivität wirkt sich sowohl khschulz@uke.de beeinflusst. Die sogenannte „Cross-Stres- bei psychisch Erkrankten als auch bei Ge- sor-Adaptationshypothese“ [71] geht der sunden günstig auf die emotionale und Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Frage nach: „…, ob sich sportbeding- geistige Gesundheit aus. Menschen aller te Stressadaptationsvorgänge auch auf Altersklassen profitieren von den posi- sportfremde, insbesondere psychosoziale tiven Effekten. Die vorliegenden Ergeb- Literatur Stressreize verallgemeinern lassen“ ([72], nisse weisen darauf hin, dass körperliche S. 170). Das Stresshormonsystem Trai- Aktivität ein enormes Potenzial sowohl 1. König HH, Luppa M, Riedel-Heller S (2010) Die Kos- ten der Depression und die Wirtschaftlichkeit ihrer nierter zeichnet sich dadurch aus, dass als präventive als auch als therapeuti- Behandlung. Psychiatr Prax 37:213–215 bei submaximaler Belastung die Schwel- sche Maßnahme bei psychischen Störun- 2. Conn VS (2010) Depressive symptom outcomes of le für den Anstieg der Katecholamine Ad- gen besitzt. physical activity interventions: meta-analysis fin- dings. Ann Behav Med 39:128–138 renalin und Noradrenalin im Plasma hö- In den Neurowissenschaften und in der 3. Stathopoulou G, Powers MB, Berry AC et al (2006) her und die ACTH- und Cortisolsekre- Psychologie konnten in den vergange- Exercise interventions for mental health: a quanti- tion geringer ist. In diesem Zusammen- nen Jahren beachtliche Fortschritte bei tative and qualitative review. Clin Psychol Sci Pract 13:179–193 hang ist von Bedeutung, dass eine Hyper- der Entschlüsselung der Mechanismen 4. Rethorst CD, Wipfli BM, Landers DM (2009) The aktivität der Hypothalamus-Hypophy- erzielt werden, die der Wirkung körperli- antidepressive effects of exercise. A meta-analysis sen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) cher Aktivität auf die psychische Gesund- of randomized trials. Sports Med 39:491–511 5. Mead GE, Morley W, Campbell P et al (2009) Exer- mit psychischen Erkrankungen, insbe- heit zugrunde liegen. Das bessere Ver- cise for depression. Cochrane Database Syst Rev sondere mit der Depression in einem en- ständnis dieser neurobiologischen Zu- 8:CD004366 gen Zusammenhang steht [73, 74]. Die ge- sammenhänge ist ein erster Schritt, um ringere Cortisolsekretion bei Trainierten körperliche Aktivität als Komponente in Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 1 · 2012 | 63
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