Krawalle in St. Gallen: "Man hat zentrale Bedürfnisse der Jugendlichen einfach gekappt, ohne die Folgen zu bedenken", sagt ein Jugendpsychologe ...
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Corona-Frust: Jugendpsychologe zu Krawallen in St. Gallen https://www.nzz.ch/panorama/corona-frust-jugendpsychologe-zu... INTERVIEW Krawalle in St. Gallen: «Man hat zentrale Bedürfnisse der Jugendlichen einfach gekappt, ohne die Folgen zu bedenken», sagt ein Jugendpsychologe Der Jugendpsychologe Felix Hof kritisiert die Krawalle in St. Gallen, bringt für den Unmut der Jugendlichen in der Corona-Krise aber auch Verständnis auf. Michele Coviello 01.04.2021, 17.21 Uhr Augenschein beim Hotspot Stadelhofen in Zürich am Samstagabend: Kleinere Gruppen zerstreuen sich sofort wenn die Polizei in die Nähe kommt Christoph Ruckstuhl / NZZ Eine Anti-Corona-Party von Jugendlichen in St. Gallen mündete zuletzt in Gewalt. Die gleichen Akteure rufen für dieses Wochenende zu neuen 1 of 7 02.04.21, 15:55
Corona-Frust: Jugendpsychologe zu Krawallen in St. Gallen https://www.nzz.ch/panorama/corona-frust-jugendpsychologe-zu... Krawallen auf. Wie schätzen Sie die Lage ein? Felix Hof: Einerseits bin ich massiv enttäuscht. Ich meine es nicht moralisierend, aber ich kann in keiner Art und Weise begrüssen, dass Jugendliche diesen Weg wählen müssen, um ihren Unmut kundzutun. Mit Sachbeschädigungen an Geschäften beeinträchtigen sie Menschen zusätzlich, die von den Corona-Massnahmen hart getroffen werden. Andererseits? Dieser Unmut stösst bei mir auf grosses Verständnis. Er zeigt ganz klar, woran man bei all den Massnahmen seit über einem Jahr nicht gedacht hat, dass wir Menschen auf Austausch und Kreativräume angewiesen sind. Vor allem Jugendliche müssen sich artikulieren können – sei es in Gruppen, sei es, indem sie Musik machen oder sich auf der Strasse treffen. Das alles wurde ihnen abgeschnitten – und zwar abrupt, ohne Alternativangebote. Man hat zentrale Bedürfnisse und Entwicklungsmöglichkeiten der Jugendlichen einfach gekappt, ohne die Folgen zu bedenken. Und jetzt ist genug, das Fass ist voll. Erwarten Sie, dass solche Unmutsbekundungen unter Jugendlichen zunehmen? Wie in allen schwierigen Lagen gibt es Trittbrettfahrer, die ohnehin so strukturiert sind und die Situation ausnutzen. Aber ich erwarte eine Zunahme, ja. Vor allem, wenn wir keine Perspektive bieten, und zwar eine Der Zürcher Jugendpsychologe Felix Hof. verbindliche. Man kann nicht PD Lockerungen in Aussicht stellen, Hoffnungen schüren – und letztlich 2 of 7 02.04.21, 15:55
Corona-Frust: Jugendpsychologe zu Krawallen in St. Gallen https://www.nzz.ch/panorama/corona-frust-jugendpsychologe-zu... werden diese wieder enttäuscht. Nein. Es braucht wirklich verbindliche Aussagen und Termine, an denen sich Jugendliche orientieren können und mit denen sie wissen: Jetzt kann ich mich wieder mit den Kumpels treffen, jetzt habe ich meinen Jugendraum wieder. Ein Aufruf zu neuer Gewalt im Netz wurde so formuliert: «Es mues eskaliere, mer müend zeige, wer mir sind.» Ist das ein Hilferuf einer vergessenen Gruppe? In all den Planungen wurden Jugendliche bis jetzt nicht angehört. Zentrale Entwicklungspotenziale wurden massiv beeinträchtigt, und zwar völlig unbedacht. Jugendliche wollen die Welt erkunden, wollen nicht von den Eltern bevormundet oder von Autoritätspersonen beliebig gelenkt und kontrolliert werden. Sie müssen sich mit Gleichaltrigen treffen und austauschen können. Das wurde ihnen ein Jahr lang genommen. Ich sehe keine Jugendlichen und nicht einmal eine Vertretung eines Jugendverbandes in der Task-Force. Man geht immer noch davon aus, dass sich Jugendliche beliebig verwalten lassen sollen. Ungewisse Perspektiven, wenig Austausch, wenige Möglichkeiten, sich auszutoben, vielleicht gar, sich zu verlieben: Es fehlt Grundlegendes. Das ist tragisch. Viele meiner Klientinnen und Klienten spielen in Fussballklubs. Die haben eine unsägliche Durststrecke hinter sich. Die Entbehrung des Teams, aller Rituale, der fehlende Kontakt zum vertrauten Trainer. Sie leiden unglaublich. Es fehlt ein Ventil. Von welchen Sorgen hören Sie bei Ihrer täglichen Arbeit? Es ist unglaublich, was ich an Not erfahre, auch bezüglich der Bildung: Ängste, nicht weiterzukommen, Ängste, dass der Covid-Abschluss in der Berufsmatur zum Nachteil wird. Darüber wird nicht geredet. Man mutet 3 of 7 02.04.21, 15:55
Corona-Frust: Jugendpsychologe zu Krawallen in St. Gallen https://www.nzz.ch/panorama/corona-frust-jugendpsychologe-zu... den Jungen einfach zu: «Das trägst du, du kannst damit umgehen.» Aber nein, Jugendliche können das nicht und wissen nicht, woran sie sich orientieren sollen. Wie sollte man Jugendlichen helfen? Ich habe eine ganz böse Vermutung. Wir werden gerade so sozialisiert, dass beliebig Eingriffe in unsere Eigenständigkeit gemacht werden können. Es gibt immer wieder Argumente: Mal sind es die vollen Intensivstationen, mal ist es der R-Wert, mal ist es die Virusmutation, mal die Impfbereitschaft. Ich nehme Covid todernst. Aber die Palette der Beschränkungsargumente ist gross, und es wird immer wieder neue geben. Die Jugendlichen müssen aber eine Perspektive bekommen, und zwar sofort. Wer die Massnahmen plant, muss sich ernsthaft überlegen: Wollen wir die Covid-Generation weiter stören und damit Langzeitfolgen mit solchen Auswüchsen herbeiführen, wie sie jetzt schon sichtbar sind? Oder wollen wir das Entwicklungspotenzial in eine Richtung lenken, in der die Jugendlichen ihre Erfahrungen wieder machen können? Welche Langzeitfolgen befürchten Sie? Jugendliche sind momentan verängstigt und können wesentliche Sozialisationsschritte nicht machen: Sie können Beziehungen, Solidarität, ganz allgemein ihre Werte nicht einüben. Das wird verzögert passieren. Sie können sich auch nicht von ihren Familien ablösen. Diese blockierten Entwicklungen müssen sie nachholen, bekommen aber möglicherweise gar keine Zeit dazu. Sobald Covid durch ist, haben wir den Status quo ante. Sie müssen dann den Anforderungen genügen, die wir 2019 angeblich alle hatten. Das macht mir Angst, denn sie sind nicht dafür gerüstet. Die Krise ist auch eine Zeit, um für die Zukunft zu lernen. Was nehmen wir für unsere Jugendlichen mit? 4 of 7 02.04.21, 15:55
Corona-Frust: Jugendpsychologe zu Krawallen in St. Gallen https://www.nzz.ch/panorama/corona-frust-jugendpsychologe-zu... Dass man nicht beliebig in Grundbedürfnisse ihrer Entwicklung eingreifen darf, ohne Alternativen zu bieten. Macht man ihnen monatelang klar, dass sie ein marginales Infektionsrisiko darstellen und das später verneint, dann macht das etwas mit den Jugendlichen. Was kann man verbessern? Die Kommunikation. Pseudowissen, Halbwissen und Eventualitäten sind so zu kommunizieren: «Wir wissen es nicht oder noch nicht.» Die Angstmacherei ist systematisiert. Und die ist auch bei den Jugendlichen angekommen, sie hat sie zum Teil völlig paralysiert, und sie führt zu grenzüberschreitendem Verhalten. Jetzt wollen sie auch diese Angst überwinden. Und es braucht Stringenz bei den Massnahmen. Sie können wie Sardinen in der S-Bahn sitzen, aber ein Bier im Klub trinken ist nicht erlaubt. Das kann man einem Jugendlichen nicht vermitteln. 5 of 7 02.04.21, 15:55
Corona-Frust: Jugendpsychologe zu Krawallen in St. Gallen https://www.nzz.ch/panorama/corona-frust-jugendpsychologe-zu... Mehr zum Thema Krawalle in St. Gallen: Feiernde liefern sich Kämpfe mit der Polizei Die Auflösung einer Versammlung von 200 Personen in St. Gallen hat in der Nacht von Freitag auf Samstag zu Krawallen geführt. Dabei entstand ein Sachschaden in Höhe von mehreren 10 000 Franken. Michael Ferber 27.03.2021 «Es fehlt quasi eine Seite im Fotoalbum meines Lebens» – wie Jugendliche das Corona-Jahr erlebt haben Junge Menschen sind in der Pandemie am wenigsten gefährdet, werden aber am meisten eingeschränkt. Keine Uni, keine Arbeit, dafür Rumsitzen und Langeweile. Wie gehen sie damit um? Franco Arnold, Nils Pfändler, Florian Schoop, Janique Weder, Text; Karin Hofer, Bilder 31.12.2020 KOMMENTAR Jung, still und «lost»: Jugendliche leiden besonders unter der Corona-Krise. Jetzt sind die Erwachsenen gefragt Die Jungen brauchen sich vor dem Coronavirus kaum zu fürchten. Die Massnahmen treffen sie aber besonders hart. Das hat Folgen für die ganze Gesellschaft. Nils Pfändler 05.01.2021 6 of 7 02.04.21, 15:55
Corona-Frust: Jugendpsychologe zu Krawallen in St. Gallen https://www.nzz.ch/panorama/corona-frust-jugendpsychologe-zu... Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderen Zwecken ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis von Neue Zürcher Zeitung ist nicht gestattet. 7 of 7 02.04.21, 15:55
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