Erkenntnisse aus einer Alkoholpause - Suchtberatung ags

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Erkenntnisse aus einer Alkoholpause - Suchtberatung ags
9.2.2021                                         Dry January – Erkenntnisse aus einer Alkoholpause | Tages-Anzeiger

                LEBEN

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                          Abo    Dry January

                         Erkenntnisse aus
                         einer Alkoholpause
                         Es hilft, nüchtern über den Rausch nachzudenken, um
                         herauszu nden, wie frei man selber eigentlich ist.
                         Denn Alkohol macht vor allem psychisch abhängig.

                                   Martin Burkhalter
                                   Publiziert: 01.02.2021, 11:27

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                        Man muss nüchtern über den Rausch nachdenken. So wie man sich auch
                        betrunken über die Nüchternheit Gedanken machen muss.
                        Foto: Getty Images/iStockphoto

                        Es gäbe viele Gründe, eine Weile auf Alkohol zu verzichten.
                        Doch nicht die Aussicht auf einen erholsameren Schlaf, eine
                        schönere Haut, eine gesündere Leber oder den
                        Gewichtsverlust von rund zweieinhalb Kilo war es, die
                        mich reizte, einen Monat abstinent zu leben. Sondern eine
                        simple Frage: Bin ich frei?

                        Vier Wochen sind eigentlich nicht genug, um
                        herauszufinden, ob man den eigenen Konsum selbst
                        bestimmt oder dem Alkohol ausgeliefert ist. Sechs Wochen
                        wären besser und zwölf sogar richtig gut.

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                        Und doch machten sich schon nach zehn Tagen einige
                        Veränderungen an mir bemerkbar. Die Gedanken schienen
                        klarer, die Gefühle weniger mysteriös, die allgemeine
                        Gefühlslage wurde stabiler (und ein bisschen langweilig
                        auch).

                        Damit einhergehend die erschreckende Erkenntnis, dass
                        die meisten Gebrechen, die Launen, die Wehwehchen auch
                        ohne Alkohol noch da sind. Nur dass jetzt die Ausrede fehlt.
                        Nicht der Wein vom gestrigen Abend trübt die Stimmung,
                        sondern einfach nur das Leben. Und dann stellte sich noch
                        eine nie gekannte oder längst vergessene
                        Entscheidungsfreudigkeit ein.

                         Ein geniales Medikament
                        All diese Wahrnehmungen führten unweigerlich zu einer
                        Frage: Wieso fühlt sich das Leben nach so kurzer Zeit ohne
                        Alkohol so anders an? Ruth Rihs, Suchtberaterin bei der
                        Berner Gesundheit, hat die Antwort darauf. Die Erklärung,
                        die sie vor ein paar Tagen über Zoom gab, ist so schlüssig
                        wie beunruhigend: «Alkohol ist schlicht eines der besten
                        und schnellsten Entspannungsmittel überhaupt», sagt sie.

                        Der Stoff, also Ethanol, entfaltet seine Wirkung schon im
                        Mund. Zunge, Zahnfleisch, Wangen und Rachen nehmen
                        ihn gierig auf. Auch im Magen wird ein Grossteil des
                        Alkohols förmlich aufgesogen und durch den Blutkreislauf
                        in fast alle Teile des Körpers gepumpt.

                        Das Gehirn reagiert sofort, schaltet runter, Konzentration
                        und Reaktion lassen umgehend nach. Gleichzeitig zündet es
                        ein wahres Feuerwerk aus Endorphinen. Ein euphorisches
                        Gefühl macht sich breit. Die Welt wird innert Minuten
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                        schön unkompliziert und aufregend zugleich. Entspannung
                        pur also. Perfekt.

                        Wäre da nicht die Toleranz. Das ist es auch, was ein
                        eigentlich «geniales Medikament», wie Ruth Rihs den
                        Alkohol auch nennt, zur Droge macht und zu einer harten
                        noch dazu: Wer über die Jahre ohne grosse Unterbrüche an
                        den gesellschaftlich üblichen Trinkritualen (Apéro,
                        Feierabendbier, Wein zur Pasta) teilnimmt, braucht mit der
                        Zeit automatisch immer mehr. Und mehr kann die
                        gewünschte Entspannung sehr bald in Trägheit
                        verwandeln, in Nachlässigkeit, in Verzettelung, in
                        Prokrastination.

                         Psychische Abhängigkeit
                        Das sind schon erste Anzeichen einer Abhängigkeit. Und die
                        sind verbreiteter, als man gemeinhin meint. Denn, was oft
                        vergessen oder ignoriert wird: Alkohol macht vor allem
                        psychisch abhängig und nicht körperlich. Körperliche
                        Abhängigkeit aber ist, was alle aus den Filmen kennen:
                        zitternde Hände, zuckende Körper, die Flasche Wodka
                        unter der morgendlichen Dusche, das Bier zum Frühstück.

                        Von dieser Form der Sucht sind etwa 10 Prozent der
                        Bevölkerung betroffen, dafür trinken diese 10 Prozent die
                        Hälfte des gesamten jährlichen Konsums. Und weitere rund
                        20 Prozent trinken gar keinen Alkohol.

                        Der Rest, also zwei Drittel der Gesellschaft, bewegt sich
                        irgendwo zwischen moderatem und missbrauchendem
                        Konsum. Das zeigt auch ein Blick auf den erweiterten
                        Bekanntenkreis. Nicht alle, aber viele trinken etwas mehr,
                        als sie gerne möchten. Sie sind also bereits in ein
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                        «belastendes Verhalten reingeschlittert», wie Ruth Rihs es
                        ausdrückt.

                        Dass der Umgang mit Alkohol in der Gesellschaft
                        tatsächlich nicht so entspannt ist, wie er sein sollte, zeigt
                        sich schon nur darin, wie vehement der eigene
                        Alkoholkonsum verteidigt wird und wie einige Leute schon
                        wegen des Dry January in Schnappatmung verfallen und
                        gleich einen importierten Gesundheitswahn grassieren
                        sehen.

                        Es stimmt: Zur Kultur des Alkohols gehört die Verdrängung
                        seiner Folgen. Bis heute gilt es als Zeichen der Stärke, viel
                        zu vertragen. Betrunkene lösen Befremden aus, ausser
                        wenn alle betrunken sind. Wer am Tisch nicht mittrinkt,
                        wirkt verdächtig.

                         Einen Umgang finden
                        Alkoholpausen sind unbeliebt und müssen immer erklärt
                        werden. Deshalb braucht es wohl Kampagnen wie den Dry
                        January. Denn sonst legt ein Grossteil der Leute erst eine
                        Pause ein, wenn eine Störung vorliegt, wie Ruth Rihs es
                        nennt. «Ein Unbehagen dem eigenen Verhalten gegenüber.
                        Berufliche oder familiäre Probleme.»

                        Es gehe nicht darum, zu dramatisieren, aber auch nicht zu
                        bagatellisieren. «Wir sind nun mal eine Suchtgesellschaft.
                        Jeder muss seinen eigenen Umgang mit den Verlockungen
                        finden», sagt Rihs. «Fragen Sie sich selber, was Sie wollen.»

                        Alkohol hat durchaus seine guten Seiten. Es scheint
                        tatsächlich kein besseres Entspannungsmittel zu geben. Er
                        macht die Arbeit vergessen. Er intensiviert Erlebnisse, er
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                        macht gesellig, aufgeschlossen, kreativ. Er hilft, nicht alles
                        so schrecklich ernst zu nehmen. Auch sich selbst nicht. Er
                        macht langweilige Pandemien erträglicher.

                        Ich habe in diesen vier Wochen gelernt, dass, wer nicht
                        gänzlich verzichten will, immer wieder neu verhandeln
                        muss. Man muss nüchtern über den Rausch nachdenken. So
                        wie man sich auch betrunken über die Nüchternheit
                        Gedanken machen muss. Ein massvoller Umgang will
                        gelernt sein – nicht nur mit dem Alkohol.

                        Eine Pause kann da helfen. Die Beizen sind übrigens immer
                        noch zu.

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                                                                   BZ - Us dr Box | EP45

                                                                   Die Feministin aus dem stock

                                                                                       00:00

                                                                                       1X

                                E45            Die Feministin aus dem stockkonservativen Städtchen

                                E44            Adoptierte Grosis und Whatsapp-Flucht

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                                E42            Können wir uns diesen Sommer wieder auf dem Gurten a

                                E41            Wolf, Wein und Wonderwoman

                         Publiziert: 01.02.2021, 11:27

                              Hilfe bei Alkoholproblemen

                                  Wer Schwierigkeiten im Umgang mit Alkohol hat, ndet
                                  auf der Homepage von Berner Gesundheit hilfreiche
                                  Tipps, Kontaktdaten von Anlaufstellen sowie eine Liste
                                  mit Beratungsangeboten. Die Stiftung im Auftrag der
                                  Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des
                                  Kantons Bern unterstützt Personen dabei, Rückfälle zu
                                  vermeiden, den Alkoholkonsum zu reduzieren oder
                                  alkoholfrei zu leben.

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