Kreml startet riskante Rentenreform - Einleitung - Stiftung Wissenschaft und Politik
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NR. 35 JULI 2018 Einleitung Kreml startet riskante Rentenreform Die geplante Anhebung des Rentenalters lässt das Vertrauen in die russische Führung schwinden Janis Kluge Am 14. Juni verkündete Premierminister Dmitri Medwedjew, dass das Rentenalter in Russland schon ab 2019 schrittweise angehoben werden soll. Die russische Füh- rung will mit der Reform den Haushalt sanieren und das Wirtschaftswachstum an- kurbeln. Trotz der medialen Ablenkung durch die Fußball-WM formiert sich Protest gegen diese Maßnahme. Gewerkschaften, systemtreue Opposition und Alexei Nawalny planen Demonstrationen. Der Kreml inszeniert die unbeliebte Reform als ein Projekt der Regierung, mit dem Staatspräsident Putin nichts zu tun hat. Dennoch ist das Vertrauen in den Präsidenten geschrumpft. Eine deutliche gesellschaftliche Reaktion könnte die Abschwächung der Reform zur Folge haben. Zwar hat der Kreml viele In- strumente in der Hand, um die drohenden Proteste einzudämmen. Doch fehlen ihm die Mittel, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen. Am Tag der WM-Eröffnung kündigte Regie- wird am 19. Juli erwartet. Im Herbst 2018 rungschef Dmitri Medwedjew gleich zwei könnte die Reform verabschiedet und in unpopuläre Gesetzesentwürfe an. Das Ren- der Folge noch in diesem Jahr von Putin tenalter der Frauen soll von 55 auf 63 Jahre, unterzeichnet werden. Vor der Präsident- jenes der Männer von 60 auf 65 Jahre stei- schaftswahl war es für die russische Regie- gen. In einer Übergangsphase würde die rung noch tabu gewesen, die Anhebung Altersgrenze ab 2019 jährlich um sechs des Rentenalters öffentlich zu thematisie- Monate angehoben. Außerdem gab Med- ren, obwohl in Expertenkreisen schon lange wedjew bekannt, dass die Mehrwertsteuer darüber diskutiert wurde. Nun mahnte Anfang 2019 von bisher 18 Prozent auf 20 Dmitri Medwedjew zur Eile: Es bleibe keine Prozent heraufgesetzt werden soll. Damit Zeit mehr für theoretische Debatten. soll ein von Staatspräsident Putin zum Die Reform betrifft nicht alle Russen Amtsantritt im Mai 2018 verordnetes Inves- gleichermaßen. Für die zivilen Staatsdiener titionsprogramm finanziert werden. Med- hat eine analoge Anhebung des Renten- wedjew erklärte, dass die monatliche Rente alters auf 63 bzw. 65 Jahre bereits 2017 in Zukunft jedes Jahr um rund 1000 Rubel begonnen. Für Polizei, Sicherheitsdienste (14 Euro) steigen werde. Die erste Diskus- und Militär gelten eigene Regeln: Hier sion des Gesetzesentwurfes in der Duma haben die Bediensteten in den meisten
Fällen nach 20 Dienstjahren Anspruch auf Jahren als Folge der Rentenreform um eine Pension. Dieses Privileg bleibt in den einen halben Prozentpunkt höher ausfallen. Reformplänen unangetastet. Die Reform birgt aber auch wirtschaft- liche und soziale Risiken. Die Rentnerinnen übernehmen in Russland traditionell einen Entlastung von Haushalt und großen Teil der Kinderbetreuung. Entfällt Wirtschaft diese Unterstützung für die jungen Fami- lien, können weniger Mütter am Arbeits- Mit der Anhebung des Rentenalters hofft markt teilnehmen, was einem zusätzlichen der Kreml, das russische Rentensystem sta- Verlust junger Arbeitskräfte gleichkäme. bilisieren zu können. Im Jahr 2017 musste Örtlich kann die Rentenreform auch das Finanzministerium fast ein Viertel der einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verursa- föderalen Haushaltsmittel (4% des BIP) für chen. Ältere Russinnen und Russen haben die Unterstützung der Rentenkasse aus- mancherorts schon heute Schwierigkeiten, geben – Tendenz steigend. In Zeiten nied- Arbeit zu finden oder auch nur ihre Stelle riger Ölpreise ist das eine große Belastung. zu behalten, obwohl die offizielle Arbeits- Im russischen Umlagesystem stehen losigkeit im landesweiten Durchschnitt mit immer mehr Rentenempfänger immer 5,2 Prozent sehr gering ist. Sie können die weniger Beitragszahlern gegenüber. Dafür fehlenden jüngeren Arbeitskräfte nicht sind die historisch bedingten Schwankun- unmittelbar ersetzen, sondern erfüllen gen der Geburtenrate verantwortlich. Weil komplementäre Aufgaben. Die älteren Rus- schon seit einigen Jahren eine besonders sinnen und Russen wurden in der Sowjet- große Alterskohorte in Rente geht, ist die union ausgebildet, verfügen eher über Zahl der russischen Rentner seit 2010 von technisches Know-how und arbeiten häufi- 39,1 auf 43,5 Millionen angestiegen (30% ger in der stagnierenden Industrie oder der der russischen Bevölkerung). Gleichzeitig Landwirtschaft. Unter den jüngeren finden rückt nur eine sehr kleine Kohorte in den sich mehr Juristen, Wirtschaftswissen- Arbeitsmarkt nach. Die Zahl der Russinnen schaftler und Informatiker, die im wachsen- und Russen im arbeitsfähigen Alter ist in- den Dienstleistungssektor tätig sind. folgedessen in den letzten drei Jahren jähr- lich um rund 1 Million geschrumpft. Mit der Anhebung des Rentenalters soll verhin- Breite Mehrheit gegen Reform dert werden, dass die Lücke im Pensions- fonds in den 2020er Jahren weiter aufklafft. Einer aktuellen Umfrage russischer Mei- Die Wirtschaft soll zudem dank eines nungsforscher zufolge sprechen sich 92 größeren Arbeitsangebots von der Reform Prozent der Russinnen und Russen gegen profitieren. Die Unternehmen können den die Anhebung des Rentenalters aus. Mangel an jungen Arbeitskräften nur teil- Viele Russen befürchten materielle Ein- weise durch Produktivitätssteigerungen bußen. Die Reform wird den Lebensstan- ausgleichen. Zwar liegt die Nettozuwande- dard der älteren Arbeitnehmer spürbar rung nach Russland bei über 200 000 Per- senken und indirekt auch jüngere Familien sonen pro Jahr, allerdings arbeiten die treffen. Angesichts der niedrigen Lebens- Migrantinnen und Migranten zum größten erwartung stellt sich vor allem bei den rus- Teil in unqualifizierten Jobs. Auch mit sischen Männern die Frage der Generatio- der Anhebung des Rentenalters wird der nengerechtigkeit. Nur 57 von 100 Männern Arbeitskräftemangel nicht beseitigt, doch erreichen in Russland das neu gesetzte Ren- könnte eine längere Lebensarbeitszeit das tenalter von 65 Jahren. Insgesamt ist die Defizit bis 2030 rechnerisch um rund ein Lebenserwartung zwar auf 71,9 Jahre gestie- Drittel senken (von 3,8 Millionen auf 2,5 gen, doch liegt die Kennzahl für Männer Millionen). Laut Prognosen würde das rus- in einigen Regionen noch immer bei unter sische Wirtschaftswachstum in den 2020er 60 Jahren. SWP-Aktuell 35 Juli 2018 2
Zweitens hat das Rentenalter von 55 bzw. temtreue Oppositionsparteien und der 60 Jahren als soziale Errungenschaft der Oppositionelle Alexei Nawalny. Weil die Sowjetunion noch heute eine große sym- Reformpläne zu Beginn der Fußball-WM bolische Bedeutung in Russland. Das niedrige bekanntgegeben wurden, konnten die Rentenalter führte den Russen vor Augen, Bewohner der größten Städte nicht sofort dass es ihnen besser geht als ihren Nach- demonstrieren. In den Regionen mit WM- barn in den anderen Nachfolgestaaten der Spielorten wurde das Versammlungsrecht Sowjetunion. Außer Russland hat nur das bis zum 25. Juli 2018 stark eingeschränkt. demografisch sehr junge Usbekistan bis heu- Am 1. Juli 2018 fanden in 45 zumeist klei- te an der alten Rentenformel festgehalten. neren russischen Städten abseits der WM- Drittens widerspricht die Reform einem Spielorte gleichwohl Demonstrationen statt, alten, aber eindeutigen Versprechen des von denen aber nur wenige mehr als 1000 Kremls. Im Jahr 2005 stellte Staatspräsident Teilnehmer anzogen. Wladimir Putin unmissverständlich klar, Dass die russischen Gewerkschaften un- dass es unter ihm eine Anhebung des Ren- mittelbar nach der Ankündigung am aktiv- tenalters nicht geben werde. Später bekräf- sten gegen die Reform mobilmachten, war tigte er diese Garantie wiederholt. Sein Ver- zunächst überraschend. Der größte rus- sprechen ist in Videoausschnitten festgehal- sische Gewerkschaftsbund, die Föderation ten, die aktuell im russischen Internet kur- Unabhängiger Gewerkschaften Russlands, sieren. Wladimir Putin ließ über seinen hat in der Vergangenheit die Partei Einiges Sprecher mitteilen, dass er an der Entwick- Russland und Wladimir Putin unterstützt. lung des Gesetzesentwurfes zur Renten- Trotz seiner rund 25 Millionen Mitglieder reform nicht beteiligt sei. Dessen ungeach- spielte er politisch keine eigenständige Rolle. tet sind in Umfragen die Werte für das Ver- Insofern ist kaum vorstellbar, dass die trauen in den russischen Präsidenten auf Gewerkschaften sich bei der Rentenreform ein Tief gefallen, das es seit Dezember 2011 zu einem ernstzunehmenden Gegenspieler nicht mehr gegeben hat. des Kremls entwickeln. Vielmehr bieten ihre Proteste der russischen Führung Umfrage: Vertrauen in Wladimir die Möglichkeit, den Unmut des Volkes Putin, 2006–2018 (in % der Befragten) in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Dass kremlnahe Akteure das Protest- potential vereinnahmen, steht vor allem den Absichten des Oppositionellen Alexei Nawalny entgegen, der ebenfalls für Pro- teste gegen die Rentenreform mobilisieren will. Nawalny hat 2017 bewiesen, dass er mittels eines großen Netzwerks von Frei- willigen landesweite Proteste organisieren kann. Die Demonstrationen zogen sehr Quelle: Meinungsforschungsinstitut WCIOM, viele junge Russen an. Durch die Organisa- . tion von Protesten gegen die Rentenreform kann Nawalny darauf hoffen, auch in an- deren Milieus bekannter zu werden. Der Konkurrenz um den Protest Oppositionelle hat sein vor allem gegen die Korruption gerichtetes politisches Pro- Schon in den ersten Tagen nach Medwe- gramm im letzten Jahr mit sozialpopulis- djews Ankündigung wurden in ganz Russ- tischen Forderungen angereichert. Bisher land Dutzende Demonstrationen gegen hatte Nawalny allerdings wenig Erfolg mit die Rentenreform angemeldet. Hinter den dem Bemühen, soziale Proteste in seine geplanten Protestaktionen stehen die rus- Bewegung zu integrieren. Zum einen ist sischen Gewerkschaften, größtenteils sys- die Nähe zu Nawalny für die Organisatoren SWP-Aktuell 35 Juli 2018 3
anderer Proteste gefährlich, weil sie stär- den staatlichen Wohlfahrtsfonds könnte kere staatliche Repressionen nach sich der Kreml die Mehrausgaben so lange finan- zieht. Zum anderen kommt in vielen sozia- zieren, bis Putins aktuelle Amtszeit im Jahr len Protesten eher die Hoffnung auf Ein- 2024 endet. mischung des Kreml zum Ausdruck als die Forderung nach politischem Wandel. Ausblick Umgang mit Sozialprotesten Seit Mitte der 2000er Jahre wurden in Russ- land keine unpopulären Reformen mehr © Stiftung Wissenschaft Die Zahl sozialer Proteste in Russland ist durchgeführt. Eine stagnierende Wirtschaft und Politik, 2018 mit der Wirtschaftskrise 2015–2016 deut- und die demografische Entwicklung setzen Alle Rechte vorbehalten lich größer geworden. Häufige Anlässe den Kreml nun unter Druck. Der staatliche waren steigende Gebühren für Leistungen Paternalismus lässt sich nicht wie bisher Das Aktuell gibt die Auf- von Stadtwerken oder ausbleibende Ge- finanzieren. Die Anhebung des Renten- fassung des Autors wieder. haltszahlungen von Unternehmen. Regio- alters weckt bei vielen Russen die Befürch- In der Online-Version dieser nale und föderale Behörden begegneten tung, dass der Staat sich seinen sozialen Publikation sind Verweise den Aktionen mit einer Mischung aus Verpflichtungen noch stärker entziehen auf SWP-Schriften und wich- Sabotage, Diskreditierung und Repressio- könnte. Dass der Kreml vor der Wahl zu der tige Quellen anklickbar. nen. In vielen Fällen wurden die Organisa- Reform schwieg, die nun innerhalb weniger SWP-Aktuells werden intern toren von Demonstrationen zu Haftstrafen Monate in Kraft treten soll, hat diese Ängste einem Begutachtungsverfah- verurteilt. Aber auch Dialogversuche und zusätzlich geschürt. ren, einem Faktencheck und punktuelles Entgegenkommen gehören Erst nach dem Ende der Fußball-WM einem Lektorat unterzogen. zum Repertoire, das der russische Staat wird sichtbar werden, wie viele Menschen Weitere Informationen nutzt, solange die Interessen der Elite nicht die Rentenreform auf die Straße treibt. An zur Qualitätssicherung der berührt sind. Fast alle sozialen Proteste blie- den ersten Protesten in kleineren Städten SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. ben bisher lokal und kurzlebig. Nur in sehr haben weniger Russen teilgenommen, als es swp-berlin.org/ueber-uns/ wenigen Fällen entwickelten sich dauer- die Umfragen vermuten ließen. Die nächste qualitaetssicherung/ hafte Protestbewegungen, etwa gegen ge- Möglichkeit, den Unmut an der Wahlurne sundheitsgefährdende Mülldeponien oder zum Ausdruck zu bringen, bietet der Ein- SWP die Einführung einer LKW-Maut. heitliche Wahltag im kommenden Herbst: Stiftung Wissenschaft und Politik Größere russlandweite Sozialproteste Am 9. September 2018 werden in 22 Regio- Deutsches Institut für gab es zuletzt 2005, als Vergünstigungen nen per Direktwahl neue Gouverneure ge- Internationale Politik und für Rentner – etwa die kostenlose Nutzung wählt. Auf föderaler Ebene wird erst bei den Sicherheit des Nahverkehrs – in Geldzahlungen um- Duma-Wahlen 2021 wieder abgestimmt. gewandelt werden sollten. Der Kreml hielt Die russische Führung kann bis dahin Ludwigkirchplatz 3–4 damals am unpopulären Reformplan fest, noch Zugeständnisse machen und den ver- 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 vermied aber in der Folge viele Jahre lang bleibenden Protesten mit der Macht der Fax +49 30 880 07-100 spürbare Einschnitte bei den Renten. Sollte staatlichen Medien und mit Repressionen www.swp-berlin.org die Anhebung des Rentenalters eine ähn- entgegengetreten. Die Stabilität des rus- swp@swp-berlin.org liche Protestwelle erzeugen, ist ein Ent- sischen Regimes ist durch den aktuellen gegenkommen des Kremls wahrscheinlich. Vertrauensverlust nicht unmittelbar be- ISSN 1611-6364 Putin könnte sich als Anwalt des Volkes droht. Allerdings dürfte die Reform für eine inszenieren, der den Technokraten in der stumme Unzufriedenheit in der Bevölke- Regierung die Stirn bietet, indem er längere rung sorgen. Nach einem verlorenen Jahr- Übergangszeiten oder ein niedrigeres Ziel- zehnt für die russische Wirtschaft fehlen alter fordert. Auch ein Verschieben der dem Kreml die Mittel, um das eingebüßte Reform wäre möglich, wenn auch für den Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Staatshaushalt mit Risiken behaftet. Über Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. SWP-Aktuell 35 Juli 2018 4
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