Evolution oder Velorution? - Velojournal
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schwerpunkt Evolution oder Velorution? Wie wird das Stadtvelo im Jahr 2020 aussehen? velojournal machte sich Gedanken dazu und liess Hersteller, einen Designer sowie eine Velomechanikerin in die Sterne blicken und eine Zukunftsvision für das Urbanbike entwickeln. Marius Graber und Auch wenn sich die Welt immer schneller dreht: Die nächsten Jahre werden deshalb mehr Velo- Pete Mijnssen (Text), In Anbetracht der Entwicklungen der letzten 25 Evolution als -Revolution bringen. Dennoch zei- Babette Maeder Jahre wagt niemand der Befragten so richtig daran gen die für velojournal skizzierten Visionen des (Illustrationen) zu glauben, dass das Velo bis ins Jahr 2020 kom- Industrial Designers Thomas Studer, der Velome- plett anders aussehen wird als heute. Vergleicht chanikerin Ursula Martig sowie der Velohersteller man die aktuellen Shimano-XT-Mountainbike- Philip Douglas, Butch Gaudy und Gallus Ko- Komponenten mit denjenigen vor 25 Jahren, wird menda einige interessante Schritte auf. Für die klar, dass die Mühlen der Veloindustrie langsam fünf Fachleute sind bis ins Jahr 2020 neue, inno- mahlen. Der einzige auffallende Unterschied sind vative Stadtvelokonzepte durchaus denkbar. Die die Scheibenbremsen. Aber auch ein Stadtvelo aus meisten gehen aber davon aus, dass es parallel den Achtzigerjahren gleicht von weitem betrach- dazu weiterhin Velos geben wird, die den heutigen tet einem aktuellen Modell. sehr ähnlich sind. Sie werden in Details verbes- Neuerungen im Velobereich haben es schwer, sich sert, in der Funktion vielleicht sogar reduzierter durchzusetzen. Die Velobranche ist zu sehr mit daherkommen. sich selber beschäftigt und hat nur bescheidene Mittel, um Innovationen voranzutreiben. Deshalb Leihvelos als Innovationsträger ist es zum Beispiel um die Federung am Stadtvelo Einen grossen Einfluss auf die Entwicklung zu- wieder ruhig geworden, obwohl diese den Kom- künftiger Stadtvelos – da sind sich die meisten fort stark verbessern könnte. Ob es am Kunden- von velojournal befragten Fachleute einig – haben bedürfnis liegt oder am Unvermögen der Indus- die Gratis-Leihvelos. Die «Velib»- oder «Bicing»- trie, darüber kann trefflich gestritten werden. Modelle in Städten wie Paris oder Barcelona sind | 1/2008 velojournal
mit grossem Erfolg lanciert worden und werden sich in vielen weiteren Städten etablieren. Genf will das «Velib»-Modell übernehmen, obwohl sich in der Deutschschweiz, namentlich in Bern und Zürich, seit über zehn Jahren eine erfolg- reiche Gratisvelo-Kultur zumindest während der Sommermonate etabliert hat. Gratis-Velos und die neuen Modelle unterscheiden sich allerdings bezüglich der Zielgruppen: In Paris und Barcelona sollen PendlerInnen zum Umsteigen animiert wer- den. Gallus Komenda kann sich vor dem Hinter- grund dieser Stadtvelo-Renaissance vorstellen, dass von den Gratis-Leihvelos ein Technik- und «GPS» Designtransfer stattfinden wird: Man wird von diesen Modellen lernen, denn sie müssen zuver- dem Velo nun eine zuverlässige, autarke Energie- lässig und praktisch unzerstörbar funktionieren. quelle zur Verfügung. So sind in der Zukunft per Zudem können grosse Mietveloflotten neue For- Knopfdruck fernbedienbare Schlösser denkbar, mensprachen und Designs etablieren, wie es sonst oder eine universell einsetzbare «Identity Card» Die städtische Velowelt wohl kaum möglich ist, wenn eine neue Ästhetik statt eines Schlüssels. Ebenfalls vorstellbar ist ein im Jahr 2020 in den um jeden einzelnen Kunden buhlen muss. Für fest installiertes GPS. Dieses wird nicht nur der Augen der Illustratorin. Philip Douglas ist es sogar denkbar, dass diese Orientierung dienen, sondern sorgt auch dafür, kaum demolierbaren, schweren, «fahrenden Wer- dass das Velo jederzeit geortet werden kann, was besäulen» den Markt für Billigvelos in den Städ- es Dieben erschwert, unbemerkt ein Fahrrad zu ten praktisch komplett einbrechen lassen. entwenden oder wegzuschaffen. Möglich ist auch, dass sich der elektrische Hilfs- Kompakt bis faltbar antrieb auf breiter Front durchsetzten wird. Als Möglich ist auch, dass die Faltbarkeit in Zukunft fest installiertes oder optionales System, das bei zu den Grundfunktionen eines Stadtvelos gehören Bedarf einfach angekoppelt werden kann. Viel- wird. So lässt sich das Gefährt in den immer enger leicht auch in Form von kleinen, leichten, unauf- werdenden innerstädtischen Verhältnissen ein- fälligen Motoren, welche nur bei starken Stei- facher verstauen. Zudem wird die Kombination gungen eingesetzt werden. Das mag alles noch mit anderen Verkehrsmitteln vereinfacht. Aller- sehr utopisch klingen, bedenkt man allerdings, dings bleibt die Frage im Raum stehen, ob gerade wie schnell und fast flächendeckend sich beim Fo- die Betreiber der öffentlichen Verkehrsmittel an- toapparat die Elektronik durchgesetzt hat (Auto- gesichts der zu bewältigenden Pendlerflut gewillt fokus und Digitalisierung), so liegt ein ähnliches sind, mehr Stauraum für (Kompakt-)Velos zur Szenario beim Fahrrad durchaus im Bereich des Verfügung zu stellen. Einige Visionäre teilen die Möglichen. Auffassung, dass die Stadtvelos der Zukunft auf kleinen 20-Zoll-Rädern fahren werden. Damit Welche Stadt für die neuen Velos? sind sie kompakter und brauchen weniger Platz. Neben allen einleuchtenden Faktoren, die uns das So folgt das Velo dem allgemeinen Trend zur zu- Velofahren angenehmer machen werden, stellt nehmenden Miniaturisierung. sich die Frage nach der Umgebung, in der die neuen Velos fahren sollen und in der sich die Bordelektronik selbstverständlich Menschen in naher Zukunft bewegen werden. Die Die befragten VelokennerInnen sind sich einig, Veloförderung der letzten dreissig Jahre ist – bei dass die Elektronik am Velo in Zukunft eine be- allen Erfolgen – auch eine mit Dornen gespickte deutendere Rolle spielen wird. Durch die Etablie- Geschichte: ein zähes Ringen mit dem Moloch rung des Nabendynamos und damit einhergehend Auto und vielerorts auch einer ignoranten ÖV- der endlich zuverlässig funktionierenden Lichtan- Lobby, die das Velo nicht beachtete. lage hat sich das Vertrauen der Velofahrenden in Die jüngste Entwicklung, ausgelöst durch einen die Fahrzeugelektronik verbessert. Zudem steht Veloboom in den Metropolen Paris und Lon- *Velorution, die. (Neologismus, gebildet aus den Ele- rution in Kellern, Hausgängen und Garagen. Wenn sich menten «Velo»[Fahrrad] und «Revolution»). Die V. bricht Hunderttausende dazu entschlössen, ihr Velo zu nutzen, in den westlichen Industrieländern dann aus, wenn die hätte dies Auswirkungen auf diverse Lebensbereiche. einmal gekauften und jetzt in Garagen, Kellern, Hausein- Tempo 30 innerorts wäre plötzlich die normalste Sache gängen und Hinterhöfen stehenden Velos auch wirklich der Welt, die Autos befänden sich in der Minderzahl, ihre benützt werden. Laut offiziellen Daten werden theore- Fahrer müssten sich entsprechend unterordnen, ängstli- tisch etwa gleich viele Velos wie Motorfahrzeuge benützt. che Radlerinnen überwänden ihre Angst, auf der Strasse Die Praxis sieht anders aus. Viele Velobesitzer fahren ihr zu fahren, und die Fussgänger hätten auf den Trottoirs Velo bloss ein- oder zweimal im Jahr. So schläft die Velo- ihre Ruhe. *(nach Dres Balmer)
schwerpunkt don, und nicht zuletzt die aktuelle Klimadiskus- sion, geben dem Velo jedoch einen neuen Stellen- wert. Dies bestätigt auch der bekannte Zukunftsforscher Matthias Horx, der in seinem aktuellen Trendreport konstatiert, das Velo sei der «erste evolutionäre Gewinner des Klimawan- dels». Er erwartet dabei, dass sich vor allem in den Städten in naher Zukunft eine vielfältige Kul- tur rund um das Fahrrad entwickeln werde. Diese Prognose unterlegt er unter anderem mit statisti- schen Angaben, laut denen seit 1998 nachweisbar weniger Autos auf den Hauptstrassen der globa- len Metropolen verkehrten. Wer die aktuelle Diskussion gerade in London und Paris verfolgt, weiss dennoch, dass diese opti- mistischen Töne noch lange keine Siegesfeier für die Rückkehr des Velos in die Städte ankündigen. Velofahren in der Stadt wird neben den unschlag- baren Faktoren Zeitgewinn und Praktikabilität meistens mit Stress und Abstellchaos in Verbin- 1| dung gebracht. Das neue Velo für die Stadt- «Dreirad» menschen von 2020 wird deshalb mehr als heute den nötigen Platz auf den Strassen, Parkplätzen sowie an den Schnittstellen mit dem öffentlichen Grundausstattung des Velos gehören. Dank des Verkehr benötigen. In den Köpfen der Menschen GPS kann ein entwendetes Velo jederzeit geortet sowieso. n werden, wodurch ein hoher Diebstahlschutz er- reicht wird. Die Schaltung funktioniert mit Hilfe der Informationen aus Herzfrequenz und GPS au- «Die intelligenten Velos kommen» tomatisch. In Zukunft ist eine sensible Bereifung 2| Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens wer- möglich, welche den Bodenuntergrund erkennen den in Zukunft nur noch Velos in die Innenstädte und sich drauf einstellen kann. Das Velo selber fahren dürfen. Daneben wird das Fahrrad beson- wird sehr wandlungsfähig sein und sich einfach ders bei älteren Menschen stark an Attraktivität vom sicheren Stadtfahrrad in ein schnelles Renn- gewinnen. Weil diese bis ins hohe Alter gesund velo umwandeln lassen. und mobil sein wollen, ist das Velo das geeignete Fortbewegungsmittel. Eine anpassungsfähige 1| Thomas Studer hat Industrie-Design studiert und seine Luftfederung sowie eine automatische Sitzpositi- Diplomarbeit zum Thema «Stadtvelo» gemacht. Nach onseinstellung sorgen für den nötigen Komfort. einem Abstecher zum Velohersteller Scott arbeitet er Ein Display mit Herzfrequenzmessung, GPS und zurzeit für Bodum. einer Übersicht der Verkehrssituation wird zur «Einfach und unpompös» «Faltrad» Beim Stadtvelo im Jahr 2020 lässt sich die Sitzpo- sition einfach zwischen gemütlich und sportlich wechseln. Die Fahrräder werden geschlossene Schaltsysteme haben, welche dank Systembau- weise nachträglich einfach auf mehr Gänge umge- rüstet werden können. Antrieb, Schaltung und Bremsen werden wartungs- und verschleissarm sein. Pneus müssen nie mehr gepumpt werden. Entweder gibt es bis dann breite und dennoch sehr leichte, schnelle Pneus, oder die Räder lassen sich einfach wechseln – je nachdem, ob eine ge- mütliche Stadtfahrt oder ein sportlicher Ausflug geplant ist. Das Veloschloss lässt sich per Knopf- druck fernbedienen, das zusätzliche Sicherungsseil verschwindet bei Nichtgebrauch in den Rahmen. Körbe, Taschen, Kindersitze oder Anhänger kön- nen einfach nach Bedarf angeklickt werden. Der unauffällige Gepäckträger lässt sich in eine grosse Ladefläche umwandeln. Solarzellen erzeugen tags- über Strom, welcher in der Nacht für das vollau- tomatische Licht gebraucht werden kann. 2| Ursula Martig ist seit über zwanzig Jahren mit Leib und Seele Velomechanikerin. In ihrem Laden Velove in Basel verkauft und repariert sie vornehmlich Stadtvelos. | 1/2008 velojournal
«Schwerpunkt» Auf www.velojournal.ch «Komplexe Technik und simple Look» daher, ganz schlicht in der Erscheinung, finden Sie die Visionen der Handhabung» und wird sich in seiner Einfachheit noch weiter- fünf Fachpersonen in Kompakte, leichte Velos sind fester Bestandteil entwickeln. ungekürzter Form. der urbanen Mobilitätskette. Diese modernen Das CityCycle könnte ein völlig neues, hochtech- Stadtvelos sind meist faltbar und finden in der nisches Dreirad sein. Die zwei unabhängig von- Garderobe oder hinter der Tür im Büro Platz. einander federnden Vorderräder führen zu einer Es werden kompakte 20-Zoll-Laufräder einge- völlig neuen Fahrsicherheit, gerade auch in setzt, welche einseitig aufgehängt sind und da- schwierigen Situationen. Das Velo «klebt» am durch sehr einfach umgerüstet werden können. Boden, bremst sicherer und braucht keinen Stän- Der Rahmen ist dank neuer Materialien steif, aber der. Bei Bedarf kann ein Regendach angebracht trotzdem vibrationsdämpfend. Die Oberfläche werden, Kindersitz und Körbli sind ins Design in- besteht teilweise aus Solarzellen, welche Energie tegriert. Der elektrische Zusatzantrieb gewährleis- für die elektrischen Funktionen bereitstellen. tet den notwendigen Aktionsradius. Die Bord Die Rahmen lassen sich mit wenigen Handgriffen elektronik sorgt für hohen Diebstahlschutz sowie auf die Ansprüche verschiedener Nutzer einstel- permanentes Licht und lässt sich mit den im Jahr len. Im Tretlager sitzt eine stufenlos regulierbare 2020 üblichen Gadgets kombinieren. Schaltung. Wartungsfreie Nabenbremsen werden elektronisch angesteuert. Die LED-Lichtanlage ist 4| Butch Gaudy, Velodesigner bei MTB Cycletech, ent- komplett im Rahmen integriert. Der Gepäckträ- wickelte in den letzten 25 Jahren etliche Klassiker, z.B. ger kann nach hinten gekippt und zum Veloan- das Tourenrad Papalagi oder den Stadtflitzer Oxymoron. hänger umfunktioniert werden. Dank einem neuen Schlauchsystem muss nicht mehr nachge- pumpt werden, und Plattfüsse sind Teil der Ver- «Kompakt-Bike» gangenheit! Ein elektronisches Schliesssystem ver- Die Velos werden kompakter, und viele Funkti- 3| riegelt Räder und Antrieb als Diebstahlschutz. onen werden besser integriert. Der Rahmen be- Vielleicht wird eines Tages auch die beim Treten kommt eine Unisex-Form, Gepäckträger, Kabel- erzeugte Energie in einem Akku gespeichert und schloss und Licht sind ins Rahmendesign über ein Stromkabel an den Elektromotor am integriert. Eine wettersichere Box wird den Ge- Hinterrad übertragen. Dieses System würde kom- päckträger ergänzen. Bereits 1996 erarbeitete plett neue Rahmenformen ermöglichen. Cresta eine Velostudie mit diesen Eigenschaften. Giant präsentierte auf den letztjährigen Herbst- 3| Philip Douglas, Geschäftsführer von simpel.ch, ver- messen mit «Citystorm» ein Modell, das diese treibt Stadtvelos über das Internet. Ideen umsetzt. Die Entwicklung geht in diese 4| Richtung weiter, und die Velos werden noch kom- pakter. Durch die kleineren 20-Zoll-Räder kommt «SimpliCitys und CityCycles» das Rad einfach mit ins Auto, in den ÖV oder ins Im Jahr 2020 wird es zwei Arten von Velos geben: Büro. In diesem Bereich ist uns Japan einen Schritt einerseits solche, die gleich aussehen wie gestern, voraus: Dort sind solche Velos bereits hochaktuell. andererseits moderne Dreiräder, die heute noch fehlen. SimpliCitys sind auf das Minimum redu- 5| Gallus Komenda leitete über dreissig Jahre die gleich- zierte Velos: zwei Räder, zwei Bremsen, zwei namige Velofabrik, welche die Cresta-Velos produziert. Gänge, alles integriert und im Rahmen verlegt, al- Vor fünf Jahren übergab er das Unternehmen an seine lenfalls ein Riemenantrieb und Halter fürs Handy Tochter. Komenda ist Verbandspräsident von velosuisse, 5| mit GPS und Licht. Das Velo kommt im «simplen dem nationalen Branchenverband. | 1/2008 velojournal
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