Künstlerisches Arbeiten in Japan - Japanisch-Deutsches ...

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Künstlerisches Arbeiten in Japan

                                                             Steffi JÜNGLING
                                                                       Künstlerin

Der Fremde bin ich selber.
(Aurel Schmidt)

Wenn Europäer oder US-Amerikaner die Welt bereisen, so stellt sich
bei vielen von ihnen ein Gefühl der Überlegenheit ein. Die fremden
Kulturen sind faszinierend, bereichernd, aber Lebensstandard
oder/und Entwicklungsmöglichkeiten scheinen den westlichen Län-
dern unterlegen zu sein.
      Japan stellt hier einen Gegenpol für den Westen dar, in dem
Europäer die eigenen Werte und Errungenschaften vor dem Hinter-
grund der anderen Kultur und Haltung anders erleben und hinterfra-
gen. Während Europäer, sei es als Tourist oder Geschäftsmann in
vielen Ländern die anderen als die Fremden empfindet (obwohl sie
selbst ja in diesem Moment die Fremden sind), wird einem gerade in
Japan bewusst, dass man fremd ist, anders, gaijin (ein Mensch aus
einem anderen Land) eben. Die kulturelle Selbst-Sicherheit wird nicht
selten verunsichert und lässt somit nicht nur das andere, sondern
auch, bzw. besonders die eigene Kultur, sowie Denkweise bewusster
wahrnehmen und entdecken.

Ich stehe auf dem Balkon meines Zimmers und schaue in die Tokioter Nacht hin-
aus, einer, der nicht bei sich ist. Mit dem Bei-mir-Sein habe ich hier große Schwie-
rigkeiten. Denn da ich von niemandem gesehen werde, verliere ich mich aus den
Augen.
„Ist es nicht das, was Du immer wolltest?“
  (Wolfgang Hermann: Das Japanische Fährtenbuch. Feldkirchh/Graz,
                                                                              2003)

Künstlerisches Arbeiten entwickelt häufig ein Eigenleben und man
kann zu Beginn des Prozesses nicht absehen, wie die Arbeiten, bzw.
Künstlerisches Arbeiten in Japan

eine Ausstellung am Ende aussehen werden. Dies gilt besonders in
einem Land wie Japan
     Mein ursprüngliches Arbeitsvorhaben war, mich mit den deut-
schen Fremdwörtern in der japanischen Sprache zu beschäftigen, wie
ich es zuvor bereits in England getan hatte. Viele japanische Wissen-
schaftler, Ärzte, Juristen haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts in
Europa studiert und gearbeitet. In ihrem Gepäck brachten sie nicht
nur Fachwissen und Fremdwörter mit, sondern auch Lieder. Und da
deutsche Komponisten und Lieder in Japan bis heute hoch angesehen
sind, traf ich während meines Japanaufenthaltes immer wieder auf
musikbegeisterte Japaner, die schließlich mein Interesse für deutsche
Lieder weckten.
     Melodien, wie etwa die von „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“,
„Summ summ summ, Bienchen summ herum“ sind in Japan sehr
bekannt; allerdings sind sie mit japanischen Texten versehen, die von
den deutschen abweichen und manchmal die Unterschiede der beiden
Kulturen wiederspiegeln.
     Zum Beispiel handelt die deutsche, wie die japanische Version
des Liedes „Wenn ich ein Vöglein wär“ von Sehnsucht, doch während
im deutschen Lied die Sehnsucht nach dem Liebsten direkt besungen
wird, hört man in der japanischen Version einen Nachtzug kommen
und vorüberziehen.
     Die Noten dieses Liedes habe ich am Fenster des Goethe Insti-
tuts ohne Text angebracht, so dass ein Deutscher (der Noten lesen
kann) beim Betrachten der Noten den deutschen Text, ein Japaner
aber den japanischen Text im Kopf hat.

Bei der Planung der Ausstellung in der Bibliothek des Goethe Instituts
Tōkyō wurde ich auf die Bücher aufmerksam, die aus unterschiedli-
chen Gründen aus der Bibliothek ausrangiert werden sollten und
beschloss, sie in ein poetisches „Transportmittel“ zu verwandeln.
     Bücher werden nach wie vor als wichtige Kulturgüter und -träger
angesehen; high und low culture scheinen sich heute mehr und mehr
anzunähern; die Zahl der jährlichen Publikationen steigt und die
Intervalle, in denen Bestseller aller Sparten veröffentlicht werden und
kurz darauf in Vergessenheit geraten, werden immer kürzer. Mit der
zunehmenden Wichtigkeit der Computer wurde zunächst erwartet,
dass Bücher an Wert verlieren. Doch ungeachtet des Inhalts blieb und
bleibt die Ehrfurcht vor dem Buch als Objekt interessanterweise
erhalten und: Bestimmte Dinge (wie etwa Seiten aus einem Band rei-

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Steffi JÜNGLING

ßen) tut man nicht, egal, ob es eine Band von Goethe oder von
Barbara Noack ist.
     Für die Installation in der Bibliothek des Goethe Instituts habe
ich das Buch als Objekt aus seiner gewohnten Nutzung gelöst und in
einen neuen Kontext eingebettet, um neue Sichtweisen zu vermitteln.
Die in den Büchern „gefangenen“ Seiten habe ich herausgetrennt, zu
unzähligen Papierfliegern gefaltet und in der Bibliothek als eine Art
Wolke installiert. Die Bandbreite der Bücher reichte von Atlanten
über Lexika zu Trivialliteratur. Als poetisch-visuelle Transportmittel
haben die Papierflieger in der Bibliothek zu Geistreisen eingeladen.
     An den Fenstern der Bibliothek wird diese Geistreise mit den
Noten des Liedes „Wenn ich ein Vöglein wär“ weiter geführt.

Noch während ich mit dieser Arbeit beschäftigt war, begann mich ein
anderes japanisches Phänomen zu interessieren: die Love Hotels. Für
Europäer sind diese Hotels eine seltsame Einrichtung, für die es in
Europa kaum eine Entsprechung gibt. Vielleicht hegen Europäer des-
wegen eine Art voyeuristisches Interesse an Love Hotels, weil sie ein
Symptom für die unterschiedlichen religiösen Grundhaltungen der
beiden Kulturen sind: In Europa ist Sexualität traditionell stark durch
die christliche Religion beeinflusst, reglementiert und mit Sünde ver-
bunden. In Japan ist sie eher mit Scham besetzt.
     Ein Love Hotel ist für Japaner in erster Linie eine praktische
Einrichtung, hervorgerufen durch Raumknappheit und, besonders in
den Städten, vielen Menschen auf sehr engem Raum. Im Rahmen der
Recherche erklärten viele Japaner, dass sie regelmäßig in Love Hotels
gingen, auch verheiratete Paare, die zuhause einen Babysitter bezahlen,
um ein paar Stunden ungestört sein zu können. Es geht dabei nicht
unbedingt nur um Sexualität, sondern vor allem um die Möglichkeit,
ungestört und wenn man möchte unerreichbar zu sein, da an der
Rezeption nicht einmal ein Pass vorgezeigt oder ein Formular unter-
schrieben werden muss.
     Mit dem Projekt „room4love“ wollte ich die Vorstellungskraft,
die ein Love-Hotel anzuregen vermag aufgreifen. Das Love-Hotel
Sunflower, Galerie ef in Asakusa und eine Webseite stellten die drei
Standbeine des Projektes dar. Für jedes Zimmer des Love Hotels
Sunflower habe ich einen kurzen Text geschrieben über Szenen, die
sich dort abspielen könnten. Die Texte lagen in den jeweiligen, wirkli-
chen Hotelzimmern des Love Hotels Sunflower aus und wurden
zusätzlich auf einer Webseite (www.room4love.com) veröffentlicht.

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Künstlerisches Arbeiten in Japan

     Die Galerie ef wurde in ein temporäres Love-Hotel-Zimmer
verwandelt, das einen zusätzlichen Zugang zu dem Projekt darstellte.
     Wie vielleicht zu erwarten löste dieses Projekt viele Diskussionen
aus und bot Gedankenanstöße.

Während die Arbeit im Goethe Institut eine direkte Weiterentwick-
lung meiner früheren künstlerischen Praxis war, bildet room4love den
Beginn einer neuen Arbeitsweise, in der nicht die eigentlichen Aus-
stellungsstücke im Vordergrund stehen, sondern der Dialog, den sie
anregen und ermöglichen.

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Steffi JÜNGLING

                  Photos Steffi Jüngling

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