Lehren aus der Situation im Juli in Baden-Württemberg
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Leitartikel PädNetzSInfo:2020/4 7 COVID -19 IN DER KITA: Lehren aus der Situation im Juli in Baden-Württemberg „H ilfe, mein Sohn hat Husten!“ So titelte der Spiegel am 15.6.2018 und beschrieb auf den Seiten 102–104, wie denn dies trifft auf jedes Kind möglicherweise zu. Mit „akuter Krank- heit“ meine ich spürbare Symptome des körpereigenen Kampfes Eltern ihren Nachwuchs mit jedem Wehwehchen in die Pra- gegen mikrobielles Fremdleben mit gleichzeitiger Schärfung des xen bringen und Kinderärzte in den Wahnsinn treiben[1]. eigenen Immunsystems. Der Mensch lernt nur, was er übt. Auch in der Immunologie. Kranke Kinder brauchen hierfür Zeit, Ruhe und ei- In Gesundheitskursen sollten Väter und Mütter lernen, wann ihr Kind nen sicheren, achtsamen und vertrauten Erwachsenen in der Nähe. so krank sei, dass es wirklich zum Doktor müsse. Denn, so die Ver- Denn wenn sie nach innen aktiv sind, können sie nicht gleichzeitig mutung im Artikel: Bei vielen Eltern habe das Vertrauen in die eigene nach außen aktiv sein und haben dann im Kindergarten nichts zu Urteilskraft stark abgenommen in den letzten 15 Jahren. Landauf, suchen. Nach einer Krankheit ist ein Tag krankheitsfreie Rekonva- landab erleben Mediziner, wie die leszenz erforderlich, bevor es Verantwortung für die Gesund- ins anstrengende Trainingslager heit des Nachwuchses delegiert zurückgeht. Alles andere ver- werde und wie mitmenschliche mehrt Stress und schwächt so Beratung im Verwandtenkreis das Immunsystem. Im Vergleich durch Dr.Google ersetzt werde, zum Job der Erwachsenen ist ja was für zusätzliche Verunsiche- auch die Wahrheit wichtig, dass rung sorge. Dies traf schon vor der Kindergarten (genauso wie zwei Jahren auf immer noch nicht später die Schule) für das Kind behobene Versorgungsengpässe da ist und nur der Erwachsene auch im hauskinderärztlichen Be- für den Job. Das ist ein feiner reich in der Fläche und führte zu Unterschied, der gerne zu Las- steigenden und überfordernden ten des Kindes vergessen wird Vorstellungen in den Notaufnah- und sich während einer Pande- men der Kliniken. mie freilich für alle relativiert. Wenn Husten und Schnupfen in Genauso stressen aber den Kitas umgehen, kämen man- unnötige Arztvorstellungen che Eltern mehrfach im Abstand oder das Ringen um Termine von wenigen Tagen und verlang- in den Praxen von nur auf ten Heilung. Nun dauern solche Der Kindergarten ist ein Trainingslager für das dem Papier überversorgten Erkrankungen aber eine Woche Gebieten. Es ist daher wichtig, und manchmal länger. Ein we- seelische wie für das leibliche Immunsystem. das immunologische Handeln sentliches Problem mit kranken der Kinder zu verstehen: Denn Kindern sei, dass inzwischen dies achtsam zu begleiten und meist beide Elternteile arbeiten wertzuschätzen ist zumeist viel und ihnen daher oft die Geduld hilfreicher als das behandeln fehle, eine Krankheit auszukurieren. Sie stünden unter großem Druck einer selbstlimitierenden Krankheit von außen. Wer dies gelernt ihrer Arbeitgeber. Die Gesellschaft müsse deutlicher freundlicher hat, wird unabhängiger vom Arzt und lebt stressfreier. Arztbesuche kranken Kindern gegenüber werden, denn diese gehören nach Hause. dienten aber schon vor CoVid-19 nicht mehr nur der Frage nach Be- Die Gesellschaft hat den Familien zwar dabei geholfen, das Famili- handlungsmöglichkeiten: Eltern brauchen ärztliche Atteste für den enleben arbeitsfreundlicher zu gestalten. Vergleichsweise weniger Arbeitgeber und für Kindergarten und Schule. Und anhand geltender wurde in der gleichen Zeit das Arbeitsleben familienfreundlicher. Zur Infektionsschutzgesetze gesundheitlich fortgebildete Erzieherinnen Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden Kinder heute früher als neigten schon immer oft mit bester Absicht dazu, das unerreichbare noch vor 10 Jahren in Gemeinschaftseinrichtungen gegeben, wäh- Ideal einer infektions- und ansteckungsfreien KiTa zu verfolgen und rend der Elternberuf selber weitgehend das größte Ehrenamt der glauben, dies den Eltern zu schulden, deren Kinder gerade gesund Republik geblieben ist: Viel Ehre, viel Amt. Doch so mancher Kinder- sind. Denn diese Eltern werfen ja immer wieder den anderen Eltern und Jugendarzt hat schon Träume von doppelter Erwerbstätigkeit vor, dass ihre Kinder sich an deren kranken Kindern immer wieder mit kleinen Kindern auf dem Boden deren Infektrealität in den ersten anstecken würden. So werden von ihnen viele in bester Absicht Kindergartenwintern zerschellen sehen. Schon vor CoVid-19. zum Arzt geschickt, schon um sozialen Unfrieden in der Einrichtung zu minimieren. Gelegentlich werden in einer Art Notwehr Atteste Eines jedoch wird immer so bleiben: Der Kindergarten ist ein verlangt, dass das Kind frei von allerhand ansteckenden Krankheiten Trainingslager für das seelische wie für das leibliche Immunsystem. sei. Dort müssen Kinder vordringlich lernen, sozialfähig zu werden. So- zialfähig ist, wer andere Menschen aushalten kann; immunologisch Aber letztlich gilt folgende Realität: Perfekt infektionsschützend bedeutet dies: Die Keime Anderer aushalten kann ohne immer gleich ist nur ein geschlossener Kindergarten. Dies konnte man eindrucks- mit eigener Krankheit zu reagieren. voll Mitte März 2020 beobachten: Die üblichen Atemwegsinfekte Mit Krankheit meine ich nicht: „Besiedelung mit Keimen“ (oder evt. betreffen im Februar jedes 5. Kind von 0–4 Jahren und diese Anzahl vermehrungsfähiger Virus-RNA) oder gar „Ansteckungsfähigkeit“, sank im Lockdown auf ein Allzeittief: Mitte Mai war nicht mehr jedes
8 PädNetzSInfo:2020/4 Leitartikel 10. Kindergartenkind wie sonst hiervon betroffen sondern nur noch Gesamtfallzahlen an den Anteil dieser Altersgruppe an der Gesamt- jedes 40. Im Februar ist normalerweise jedes 12. Kind mit einem bevölkerung langsam an, man konnte also zunehmend weniger akuten Atemwegsinfekt beim Arzt und im Mai jedes 30. Kind. 2020 davon sprechen, dass Kinder seltener Corona-positiv seien. Bei 76% war es im Mai nur noch jedes 200. wurden sogar die testbegründenden Symptome mit aufgeführt: 33% hatten gar kein „bedeutsames“ Symptom, 13% nur Fieber, 6% nur Und dann öffneten die Kindergärten unter Pandemiebedingungen Husten, 4% nur Schnupfen, 3% ein „allgemeines“ Symptom und 37% wieder und 1–2 Wochen später setzten sich die Infektketten wieder hatten Symptomkombinationen. 33% der gemeldeten Fälle wurden in Gang: Bei Schnupfen, Husten, Halsweh und Fieber schien das ab in einer Gemeinschaftseinrichtung betreut, unklar bleibt, ob sie sich Mitte März Versäumte nun nachgeholt zu werden und die Praxen dort angesteckt hatten. Wie viele der testpositiven Kinder ernster waren umgehend wieder voll. Im Hochsommer. Nun aber auch mit als gewöhnlich krank waren und wie viele sie ihrerseits angesteckt leicht- und leichtestkranken Kindern, die üblicherweise in der Kita hatten, bleibt bisher weiter unklar. Vielleicht werden die Klinikstatis- geblieben wären, weil sie tiken helfen, evt. ergänzt selbst gar nicht unter ihrem durch www.co-ki.de (wo Schnupfen und Begleit- niedergelassene Kinder- husten spürbar litten. Die und Jugendärzte weiterhin Eltern entschuldigten sich niederschwellig eigene oft und sagten, dass sie Erfahrungen zusammen- ja geschickt würden, denn führen können. Ein erster der Kindergarten wolle eine anekdotisch gefasster Zwi- Bescheinigung oder zumin- schenbericht erschien im dest eine Auskunft, dass Septemberheft des Kinder- es keine Symptome einer und Jugendarztes[4]). CoVid-19 Erkrankung seien. Kleinkinder eigneten sich Mit dem Attestwunsch ging also auch bei geöffneten oft auch ein Testwunsch Gemeinschaftseinrichtun- einher. Denn die Sympto- gen im Juli schlecht, primä- me einer möglichen CoVid- re Indexfälle nur über ihre 19-Erkrankung bei Kindern Symptomatik zu finden. unterscheiden sich in nichts Dies wird vermutlich auch von den üblichen Kinderin- schwierig bleiben, wenn fekten. Nun sind PCR-Tests man sie bei Symptomen immer Momentaufnahmen 10x im Winter abstreicht, und für Kinder unangenehm wie von Herrn Spahn in sei- durchführbar (wenn man es Perfekt infektionsschützend nem Dialog mit niederge- korrekt macht). Die nach ist nur ein geschlossener Kindergarten. lassenen Ärzten am 8.7.20 wie vor gültige Nationale ab (0:47) vorgeschlagen Teststrategie des RKI be- wurde[8]. sagt, dass jede Person mit Atemwegsinfektsymptomen jeden Schweregrades abgestrichen So hatten wir in Baden-Württemberg im Juli einen Monat Zeit, vor werden soll. Dies war ausdrücklich auch auf Kinder gemünzt und so den Ferien einen angemesseneren Umgang mit diesem Dilemma der wurde es amtlicherseits vom RKI über die Landesgesundheitsämter primären Fallfindung bei Kindern einzuüben und unseren Partnern und die Landesministerien an die Einrichtungen und über diese an die aus Pädagogik und Politik zu spiegeln, was im Winter bei Beibe- Eltern weitergegeben. Denn so hofft man, rasch CoVid-19-Indexfälle haltung der RKI-Strategie auf die Familien und die Gesellschaft zu finden, bevor sich das Virus unentdeckt weiterverbreiten kann. zukommt. Das RKI selber war in diesem Sommer auch nach Gesprä- chen mit dem BVKJ-Präsidenten Thomas Fischbach nicht bereit, Unberücksichtigt blieb herbei, dass Luftwegsinfekte insbesondere in die nationale Teststrategie ein modifizierendes Alterskriterium bei kleinen Kindern weitgehend normal sind, sie also nicht so spe- einzuführen. So gab es in Baden-Württemberg einen „Schnupfengip- zifisch auf eine CoVid-19-Infektion hinweisen wie bei einem Erwach- fel“ unter Beteiligung des Kultus- und Sozialministeriums noch vor senen. Oder statistisch-epidemiologisch ausgedrückt: Bei einem den Ferien[3], der das Vorgehen bei Abstrichen und der Abklärung Kind mit Atemwegssymptomen steigt die Vortestwahrscheinlichkeit von banalen Krankheiten glücklicherweise etwas praxisnäher regelte für ein positives Testergebnis durch solche Symptome sehr viel als die sich auf die RKI-Strategie berufende Kultusministerkonferenz geringer. Entsprechend gering war in diesen Zeiten sehr geringer kurz zuvor[2]. Dieses hilft uns derzeit weiter. Hintergrundinzidenz dann auch die Positivenrate der Testergebnisse bei kleinen Kindern. Dies alles kann man in der Corona KiTa Studie Der Herbst und Winter steht vor der Tür. Dieser wird in unseren des Deutschen Jugendinstitutes und des Robert-Koch-Institutes im Praxen und nicht nur da sehr herausfordernd (ich persönlich glaube: Julibericht sehen[6]. Zunächst waren im Juli 2020 doppelt so viele Weit herausfordernder als das Frühjahr). Die Hintergrundinzidenz Vorschulkinder wegen Luftwegsinfektsymptomen beim Arzt wie wird wieder steigen. Einen Lockdown wird man nicht wieder so ge- normalerweise in dieser Zeit, sie wurden 4x häufiger getestet als nerell beschließen und auch nicht mit Schließung von Kindergärten zu Hochzeiten der Pandemie im Frühjahr und gleichzeitig zwei- bis und Schulen beginnen wie im Frühjahr. Es wird vielmehr lauter kleine dreimal häufiger als Schulkinder und Jugendliche. Gleichzeitig fiel Lockdowns und Quaratänisierungen geben, über die wir durch unser die Positivenrate bei den Testergebnissen von 4% im März/April Engagement beim Testen mitbestimmen müssen. in dieser Altersgruppe auf deutlich unter 1% im Juli ab. Zugleich näherte sich die prozentuale Häufigkeit der Kinderfälle an den
Leitartilkel PädNetzSInfo:2020/4 9 Nicht klar bekannt ist ja weiterhin, inwiefern auch kleine Literatur: Kinder andere anstecken. In Südkorea steckte ein unter 9-Jähri- ges Kind als primärer Indexfall nur ca. 5% seiner Haushaltskontakte 1 Koch J (2018) Hysterische Eltern: Hilfe, mein Sohn hat Husten! Spieg. an, bei einem Jugendlichen von 10–20 Jahren waren es 19%[5], über alle Altersgruppen hinweg 12%. Auch ein anderes Forschungsre- 2 Kultusministerkonferenz (2020) Corona-Pandemie: Rahmen für aktuali- sultat kann Familien mit kleinen Kindern Mut machen: Bei schotti- sierte Infektionsschutz und Hygienemaßnahmen. schen Health-Care-Workern sank das Risiko, selbst an CoVid-19 zu erkranken mit jedem Kind unter 10 Jahren im Haushalt[7]. Ein wenig 3 LandesGesundheitsAmt Baden-Württemberg, Ministerium für Soziales Unsicherheit bleibt, doch viele kompetente Stimmen werten die KiTa und Integration Baden-Württemberg (2020) Umgang mit Krankheits- unterdessen nicht mehr als Ort für Hotspots wie bei der Grippe oder und Erkältungssymptomen bei Kindern und Jugendlichen in Kinderta- vergleichbar mit Zusammenkünften Jugendlicher und Erwachsener geseinrichtungen, in Kindertagespflegestellen und in Schulen. in geschlossenen Räumen. Aber dort funktionieren die AHA-Regeln nicht, was wiederrum Sorgen macht. 4 Martin D, Reckert T, Jenetzky E et al (2020) CoViD-19 bei Kindern in Deutschland (www.co-ki.de) - Ein niedrigschwelliges Medlesystem der Die Testindikation selber ist gerade bei kleinen Kindern wahrschein- ambulanten Pädiatrie. Kinder- Jugendarzt 51:592–4 lich nicht in einem starren Algorithmus zu fassen sondern braucht idealerweise immer ein dialogisch zu erarbeitendes Urteil, das das 5 Park YJ, Choe YJ, Park O et al (2020) Contact Tracing during Corona- ganze Umfeld mit einbezieht. Nicht zuletzt das ist eine Herausforde- virus Disease Outbreak, South Korea. Emerg Infect Dis. https://doi. rung, die sich nicht zielführend an Abstrichstellen delegieren lässt. org/10.3201/eid2610.201315 Unabhängig davon wird man die Eltern dahingehend beraten müs- sen, dass die Schwelle zum daheim bleiben mit einem leichtsym- 6 Robert Koch-Institut, Deutsches Jugendinstitut (2020) Monatsberichte ptomatischen Kind diesen Winter einfach niedriger liegt als sonst. der Corona-KiTa-Studie. Ihnen muss man daher auch raten, sich Partnerfamilien zu suchen für gegenseitige Unterstützung, wenn auch die zusätzlich bereitge- 7 Wood R, Thomson EC, Galbraith R et al (2020) Sharing a household stellten fünf Kinderkrankengeldtage pro Elternteil verbraucht sind. with children and risk of COVID-19: a study of over 300,000 adults Schließlich gilt es, solidarisch vor allem den Teil der Bevölkerung zu living in healthcare worker households in Scotland. https://doi. schützen, von dem wir alle abstammen. org/10.1101/2020.09.21.20196428 Till Reckert 8 (2020) Zusammen gegen Corona live - Minister Jens Spahn im Ge- spräch: Corona und die niedergelassenen Ärzte. P.S.: Am 12.10.20 nach Verfassen dieses Aufsatzes brachte das RKI eine neue Teststrategie für in Gemeinschaftseinrichtungen Betreu- te heraus, die die hier geschilderten Punkte aufgreift, nach Alter differenziert und Spielraum für individuelle Urteile lässt. Diese ist insofern realitätsnäher und wurde darum vom bvkj begrüßt. KURZMELDUNG Neue Weiterbildungsordnung in Kraft S eit 01.07.2020 ist die neue Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Baden-Württemberg in Kraft. Eine Begrenzung der ambulanten Weiterbildung im Fach Kinder- und Jugendmedizin (bisher 24 Monate) ist in dieser nicht mehr vorgese- hen. Daher sind alle niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte in Baden-Württemberg gut beraten – sobald die Antragsformulare in den nächsten Wochen erhältlich sind – ihre Weiterbildungsberechti- gung auf die neu WBO umstellen zu lassen. Hintergrund ist, dass in der neuen Weiterbildungsordnung nur noch eine Zeit von sechs Monaten in der Intensivmedizin vorgeschrieben sind und es deshalb, wie aus gut unterrichteten Kreisen zu erfahren ist, keine stichhaltige Begründung gibt, warum einer Praxis eine Wei- terbildungszeit von bis zu 54 Monaten nach neuer WBO vorenthalten werden könnte. Ulrich Kuhn
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