Leidenschaftlichkeit und Komplexität. Oder: Harry und Meghan haben geheiratet.
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Leidenschaftlichkeit und Komplexität. Oder: Harry und Meghan haben geheiratet. Predigt am Pfingstmontag, 21. Mai 2018, in der Petruskirche zu Gerlingen Haben Sie am Samstag zufällig, oder auch nicht zufällig, die Trauung von Prinz Harry und Meghan Markle angeschaut, in der St. Georgs-Kapelle von Schloss Windsor? Ich habe mir das nicht entgehen lassen. Zusammen mit meiner Frau saß ich vor dem Fernseher. Ein faszinierendes Schauspiel, sofern man einen Gottesdienst als ein Schauspiel bezeichnen darf. Faszinierend war für mich schon das Kirchengebäude: die Kapelle gilt nicht umsonst als eines der Hauptwerke der englischen Spätgotik. Gar zu gerne möchte ich mir diese Kapelle einmal im Original ansehen: Das wunderbare Fächergewölbe, die schönen Glasfenster, das Chorgestühl, die Flaggen der aktuellen Mitglieder des Hosenbandordens, die im Kirchenschiff hängen. Meine Frau möchte ich da natürlich mitnehmen, vielleicht schaffen wir es ja einmal. Faszinierend ist freilich nicht nur die Architektur dieser Kapelle. Faszinierend ist ihre Geschichte und ihr Status: Diese Kapelle ist die Eigenkirche der britischen Monarchen. Zahlreiche königliche Hochzeiten haben dort schon stattgefunden, viele Kinder der Royals sind dort getauft worden. Und eine große Zahl englischer Könige und Königinnen wurde hier beigesetzt. Auch Queen Elizabeth wird voraussichtlich in dieser Kapelle ihre letzte Ruhestätte finden. Eine königliche Familienkapelle. Zugleich ist St. George’s Chapel aber auch die Kapelle des Hosenbandordens, des exklusivsten und höchsten Ritterordens des Vereinigten Königreiches. Ein hochkomplexer Ort, ein Ort voller Bedeutungen. Hochkomplex und voller Bedeutungen ist auch unser heutiger Predigttext, Eph. 4, 11-16: 11 Und er selbst gab den Heiligen die einen als Apostel, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer, 12 damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden, 13 bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Menschen, zum vollen Maß der Fülle Christi,
14 damit wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen durch das trügerische Würfeln der Menschen, mit dem sie uns arglistig verführen. 15 Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus. 16 Von ihm aus gestaltet der ganze Leib sein Wachstum, sodass er sich selbst aufbaut in der Liebe – der Leib, der zusammengefügt und gefestigt ist durch jede Verbindung, die mit der Kraft nährt, die jedem Glied zugemessen ist. Wenn ich solch einen Text lese, dann geht es mir so, wie wenn ich eine jener hochkomplexen und bedeutungsvollen alten Kirchen betrete: Ich weiß da oft gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. So vieles ruft da nach meiner Aufmerksamkeit. So vieles gab es da vorgestern zu sehen bei der Trauung: Das Brautpaar natürlich: Harry in seiner feschen Uniform, Meghan in ihrem so schlichten wie schönen weißen Kleid. Dann natürlich die Royals: Queen Elizabeth, Prinz Philipp, Charles und Camilla und alle die anderen. Dann die eine Frau, die immer wieder gezeigt wurde – ah ja, das war Meghans Mutter, der Vater konnte ja nicht dabei sein. Dann die ganzen Promis im Publikum (sagt man wirklich „Publikum“ bei einem Gottesdienst?): George und Amal Clooney, David und Victoria Beckham, Elton John und David Furnish. Man kam aus dem Schauen kaum heraus. Allein schon die Hüte der Damen waren wunderbar anzusehen. Und dann die Predigt. Sie wurde gehalten von Michael Curry, dem Vorsitzenden Bischof der amerikanischen Episkopalkirche, einer Kirche, die als besonders fortschrittlich gilt. Diese Predigt war bemerkenswert: Voller Leidenschaft – und konzentriert auf nur einen Gedanken: Die Kraft, die Macht, das Feuer der Liebe. In den Kommentaren im Internet und in den Zeitungen meinten manche hinterher, Curry habe mit seiner Predigt Harry und Meghan die Show gestohlen. Immerhin war es der ausdrückliche Wunsch der beiden, dass er die Predigt halten solle. Was war so bemerkenswert an dieser Predigt? Carolin Emcke schreibt auf Twitter: „Das nenn ich ne Predigt!“ Und eine andere Userin schrieb: „So sollten mal die evangelischen Pfarrer auch predigen! Leidenschaftlich und nicht langweilig!“ Jemand anderes schrieb: „Musste über die amüsierten Gesichter der Royals lachen. Die Predigt war lustig, inhaltlich etwas wirr, aber das war nebensächlich.“
Noch ein Beitrag: „Fazit dieses Royalweddings: Wenn Kirchenleute so predigen [würden] wie Reverend Michael Curry, dann wären alle Kirchen proppenvoll. Bin immer noch etwas geflasht.“ Inhaltlich lässt sich die Predigt von Bischof Curry ziemlich kurz zusammenfassen: „Die Liebe ist eine Macht, eine große Macht. Und wenn die Liebe überall herrschen würde, dann wäre die Welt ein guter Ort. Die Liebe ist ein machtvolles Feuer. Man muss dieses Feuer zähmen, dann kann es ungeheuer viel bewirken.“ Das Ganze wurde dann garniert mit allerlei Beispielen und Zitaten. Nein, langweilig war das gewiss nicht. Aber wenn man das ständig hören würde? Wäre es einem dann doch nicht zu wenig? Wäre es einem nicht zu klischeehaft? Ein Freund von mir meinte auch, die Predigt sei für eine Hochzeitspredigt viel zu unpersönlich gewesen. Meine Lieben, wieso erzähle ich in meiner Predigt von der Predigt des bischöflichen Kollegen? Nun, ich meine, dass in dieser ganzen königlichen Hochzeitsfeier so etwas wie ein Grundproblem, eine Grundspannung des christlichen Glaubens zum Ausdruck kommt: Ist unser christlicher Glaube kompliziert und altehrwürdig und voller komplexer Bedeutungen? Oder ist er ganz schlicht und ganz einfach und ganz dynamisch und ganz leidenschaftlich? In dieser königlichen Hochzeitsfeier kam beides zusammen: Die Leidenschaftlichkeit des Predigers Curry – und der getragene liturgische Ernst, die Feierlichkeit, mit der dann der Erzbischof von Canterbury die eigentliche Trauung vollzog. Leidenschaft und Liturgie, Begeisterung und Besonnenheit, Altes und Neues, Tradition und Innovation: Jeweils beide Pole gehören zu unserem christlichen Glauben. Zurück zu unserem Predigttext: Mir scheint der sehr komplex zu sein. Man liest ihn und denkt: Irgendwie doch ziemlich kompliziert, irgendwie doch ein argumentativer Dschungel. Dann denkt man wieder: Jetzt nehme ich einfach die Machete und schlage alles weg, was meinen Blick nur verwirrt.
Das habe ich gestern abend an meinem Schreibtisch sitzend und über meiner Predigt brütend getan. Und ich will Ihnen das Ergebnis, das ich dabei für mich gewonnen habe, nicht verheimlichen. Ich behaupte also, dass sich der ganze komplizierte Text auf drei Aussagen reduzieren lässt: Erstens: Die Kirche ist ein lebendiger Leib, zu dem sehr unterschiedliche Glieder gehören: Schaut euch nur an: Erfreulich unterschiedlich! Zweitens: Diese unterschiedlichen Glieder sollen sich respektieren: Respektiert Euch! Drittens: Sie alle sollen wachsen und sich dabei steuern lassen durch das Haupt des Leibes, durch Christus. Und schließlich behaupte ich noch, dass der Text sein Zentrum hat in dem einen Vers, der da lautet wie folgt: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus.“ Brutale Methode, aber das Ergebnis ist vielleicht nicht völlig schlecht. Trotzdem: Es ist schon auch gut, dass wir die komplizierten Fassungen unseres Glaubens haben. Sonst würde alles auch sehr schnell banal und trivial und klischeehaft. "Wir müssen die Macht der Liebe entdecken, die heilende Kraft der Liebe. Und wenn wir das entdecken, dann werden wir aus dieser alten Welt eine neue machen können. Liebe ist der einzige Weg. Kein Kind wird mehr hungrig ins Bett gehen, wenn Liebe der Weg ist." So sprach Michael Curry. Ich könnte mir denken, dass der Erzbischof von Canterbury, als er diese Worte seines Kollegen hörte, innerlich zu sich selber gesagt hat: „Das hört sich sehr schön an, aber ganz so einfach ist es doch wieder nicht.“ Es ist gut, wenn es in der Kirche Leute gibt wie Bischof Michael Curry: leidenschaftlich, zuspitzend, vereinfachend. Aber es ist auch gut, wenn es Leute gibt wie den Erzbischof von Canterbury: traditionell, differenzierend, ausgestattet mit einem Sinn für Komplexität. Auf ganz herrliche Weise hat uns das die königliche Hochzeit am Samstag vorgeführt. Was gar nicht zusammenpasst, hat doch irgendwie zusammengepasst… Auch im Blick auf die Musik war das so:
Einerseits altenglische geistliche Chormusik, vorgetragen von einem Knabenchor; andererseits der schöne Schlager „Stand by me“, gesungen von einem gemischten Gospelchor… Irgendwie alles nicht ganz zusammenpassend, und dennoch hat es sich im Kontrast wunderbar ergänzt. Noch ein kurzer Schwenk zu uns und zu unserem Gottesdienst hier und heute: Es ist gut, wenn wir moderne und eingängige und schwungvolle Lieder singen. Aber es ist auch gut, wenn wir uns den gedanklichen Herausforderungen stellen, die die alten Lieder mit ihren zum Teil so schwierigen und sperrigen Texten an uns herantragen. Das Schlichte und Schwungvolle gehört zu unserem Glauben, aber auch das Komplexe und das etwas Schwerfällige. Im Übrigen ist auch das Alte oft ergreifend schlicht und das Neue herrlich komplex. Und Christus vermag auf vielerlei Weisen zu uns zu sprechen: Traditionell und modern, schlicht und komplex. Sein Geist ist nicht an eine einzige Form gebunden. Amen Dr. Martin Weeber
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