Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
consensus report Wien Klin Wochenschr https://doi.org/10.1007/s00508-021-01974-0 Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien Susanne Rabady · Johann Altenberger · Markus Brose · Doris-Maria Denk-Linnert · Elisabeth Fertl · Florian Götzinger · Maria de la Cruz Gomez Pellin · Benedikt Hofbaur · Kathryn Hoffmann · Renate Hoffmann-Dorninger · Rembert Koczulla · Oliver Lammel · Bernd Lamprecht · Judith Löffler-Ragg · Christian A. Müller · Stefanie Poggenburg · Hans Rittmannsberger · Paul Sator · Volker Strenger · Karin Vonbank · Johannes Wancata · Thomas Weber · Jörg Weber · Günter Weiss · Maria Wendler · Ralf-Harun Zwick Angenommen: 19. Oktober 2021 © Der/die Autor(en) 2021 Dr. S. Rabady () · Dr. M. Brose · M. Wendler Prim. PD Dr. B. Lamprecht Department Allgemeine Gesundheitsstudien, Klinik für Lungenheilkunde, Kepler Universitätsklinikum, Kompetenzzentrum für Allgemein- und Linz, Österreich Familienmedizin, Karl Landsteiner Privatuniversität ao. Univ. Prof. Dr. J. Löffler-Ragg für Gesundheitswissenschaften, Dr. Universitätsklinik für Innere Medizin II, Innsbruck, Karl-Dorrek-Straße 30, 3500 Krems, Österreich Österreich susanne.rabady@kl.ac.at Assoc. Prof. PD Dr. C. A. Müller Prim. PD Dr. J. Altenberger Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Pensionsversicherungsanstalt, Rehabilitationszentrum Medizinische Universität Wien, Wien, Österreich Großgmain, Großgmain, Österreich Dr. S. Poggenburg Univ. Prof. Dr. D.-M. Denk-Linnert Ordination Dr. Stephanie Poggenburg, Hart bei Graz, Klinische Abteilung Phoniatrie-Logopädie, Österreich Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Medizinische Universität Wien, Wien, Österreich Univ. Prof. Dr. H. Rittmannsberger Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, Prim. Univ. Prof. Dr. E. Fertl Pyhrn-Eisenwurzen-Klinikum, Steyr, Österreich Neurologische Abteilung, Klinik Landstraße, Wiener Gesundheitsverbund, Wien, Österreich Univ. Prof. Dr. P. Sator Dermatologische Abteilung, Klinik Hietzing, Wiener Dr. F. Götzinger Gesundheitsverbund, Wien, Österreich Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde, Klinik Ottakring, Wiener Gesundheitsverbund, Wien, Österreich Assoz. Prof. PD Dr. V. Strenger Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Lic-Med. M. de la Cruz Gomez Pellin Medizinische Universität Graz, Graz, Österreich Unit Versorgungsforschung in der Primärversorgung, Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien, Dr. K. Vonbank Wien, Österreich Klinische Abteilung für Pulmologie, Universitätsklinik für Innere Medizin II, Medizinische Universität Wien, Wien, Dr. B. Hofbaur Österreich Praxis Dr. Hofbaur, Arbesbach, Österreich Univ. Prof. Dr. J. Wancata assoc. Prof. PD Dr. K. Hoffmann, MPH, MD Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Medizinische Unit Health Services Research and Telemedicine in Primary Universität Wien, Wien, Österreich Care, Department of Preventive- and Social Medicine, Center for Public Health, Medical University of Vienna, PD Dr. T. Weber Wien, Österreich Abteilung für Innere Medizin 2 (Kardiologie, Praxis Dr. Hoffmann-Dorninger, Wien, Österreich Intensivmedizin), Klinikum Wels-Grieskirchen, Wels, Österreich Prof. Dr. R. Koczulla Abteilung für Pneumologische Rehabilitation, Philipps Prim. Univ.-Prof. Dr. J. Weber Universität Marburg, Marburg, Deutschland Klinikum Klagenfurt, Feschnigstraße 11, 9020 Klagenfurt, Österreich Dr. O. Lammel Praxis Dr Oliver Lammel, Ramsau am Dachstein, Österreich K Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien
consensus report Zusammenfassung Die vorliegende Leitlinie S1 fasst Beteiligte Fachgesellschaften den Stand der Kenntnis zu Long COVID zum Zeit- punkt des Redaktionsschlusses zusammen. Aufgund Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Fa- der starken Dynamik der Wissensentwicklung ver- milienmedizin (ÖGAM) (federführend) steht sie sich als „living guideline“. Der Schwer- Österreichische Gesellschaft für Pneumologie punkt liegt auf der praktischen Anwendbarkeit auf (ÖGP) der Ebene der hausärztlichen Primärversorgung, die Österreichische kardiologische Gesellschaft (ÖKG) als geeignete Stelle für den Erstzutritt und für die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Ju- primäre Betreuung und Behandlung verstanden wird. gendheilkunde (ÖGKJ) Die Leitlinie gibt Empfehlungen zur Differenzialdia- Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) gnostik der häufigsten Symptome, die in der Folge Österreichische Gesellschaft für Hals-Nasen-Oh- einer Infektion mit SARS-CoV-2 auftreten können, zu renheilkunde, Kopf- und Halschirurgie (ÖGHNO) therapeutischen Optionen, zu Patient:innenführung Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie, Psy- und -betreuung, sowie zu Wiedereingliederung in chotherapie und Psychosomatik (ÖGPP) den Alltag, und die Rehabilitation. Entsprechend des Österreichische Gesellschaft für Infektionskrank- Krankheitsbildes ist die Leitlinie in einem interdiszi- heiten und Tropenmedizin (OEGIT) plinären Prozess entstanden und gibt Empfehlungen zu Schnittstellen und Kooperationsmöglichkeiten. Schlüsselwörter Long COVID · Primary care · 1. Einführung Diagnostics · Treatment · Rehabilitation · COVID- sequelae · Post infection syndrome Viele Patient:innen benötigen lange Zeit für die Ge- nesung nach COVID-19. Die Symptome reichen von Guideline S1: Long COVID: Diagnostics and einer geringfügigen Leistungsminderung bis zu hö- treatment strategies hergradigen Einschränkungen sowie persistierenden Krankheitsymptomen. Die Symptome können nach Summary This guideline comprises the state of sci- derzeitiger Kenntnis sowohl nach schweren als auch ence at the time of the editorial deadline. In view of nach milden und moderaten Verläufen auftreten. Sie the high turnover of knowledge the guideline is de- bestehen über einige Wochen bis viele Monate. Die signed as a living guideline. The main objective was Beschwerden können persistierend sein, rezidivie- to provide a tool for the use in primary care, being rend, undulierend, oder neu aufgetreten [1–3]. considered well suited as a first point of entry and for Diese Leitlinie befasst sich mit Long COVID nach the provision of care. The guideline gives recommen- milden bis moderaten Verläufen (inkl. hospitalisier- dations on the differential diagnosis of symptoms fol- ten Patient:innen), jedoch nicht mit Folgeschäden lowing SARS-CoV-2 infection, on their therapeutic op- und Erkrankungen nach intensivmedizinischer Be- tions, as well as for guidance and care of the patients handlung. concerned. It also offers advice concerning return to Bei Long-COVID handelt sich um ein multifakto- daily life and rehabilitation. Long COVID being a very rielles Krankheitsgeschehen, das nach Identifikation, variable condition, we chose an interdisciplinary ap- Behandlung und kontinuierlicher Betreuung durch proach. Generalist:innen verlangt – sinnvollerweise in haus- ärztlicher Funktion – und mitunter auch einer in- Keywords Long COVID · Primary care · Diagnostik · tensiven Einbindung von und Kooperation mit den Behandlung · Rehabilitation · COVID-Folgen · Spezialist:innen der relevanten Fachgebiete bedarf. Postinfektiöses Syndrom Multiprofessionelles und multidisziplinäres Zusam- menwirken entsprechend einem individualisierten Behandlungsplan sind essenziell. Eine Vereinheitlichung der Terminologie bzw. eine Klassifizierung ist bisher noch nicht erreicht. In vielen Publikationen werden unterschiedliche Folgen von COVID-19 unter dem Begriff „Long COVID“ gefasst [4]: Dazu zählen Folgen schwerer Akuterkrankung und deren Komplikationen, Verschlechterung vorbe- stehender Grundkrankheiten, fortbestehende Sym- ptome der Erkrankung selbst, bzw. nicht zuordenbare Univ. Prof. Dr. G. Weiss Folgebeschwerden aus nicht vollständig geklärten Univ.-Klinik für Innere Medizin II, Medizinische Pathomechanismen, neu aufgetretene Erkrankungen Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich [5–7]. Andere schränken den Begriff stärker auf dieje- Dr. R.-H. Zwick nigen Symptome ein, die klinisch dem Krankheitsbild Ambulante internistische Rehabilitation, Therme Wien Med, Wien, Österreich Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien K
consensus report Abb. 1 Prävalenzen nach Studien – Überblick Natio- nal Institute of Health Re- search bei COVID-19 zuordenbar [8] und nicht organisch- an SARS-CoV-2 von organisch-struktureller Ursa- strukturelle Folge schwerer Erkrankung [9] sind. chen In letzter Zeit wurden mehrere Vorschläge zur Klas- Empfehlungen zur Behandlung der zugeordneten sifizierung der Symptomatologie publiziert (zusam- Störungen und Beschwerden mengefasst und laufend aktualisiert im Evidence Re- Empfehlungen zu Betreuung und Coping view des NIHR – s. Kap. 4) [2]. Empfehlungen zur Vermeidung iatrogener Verstär- Klinisch ist die Differenzierung der präsentierten kung, sowie sekundärer Chronifizierung Symptome zwischen strukturellen Spätfolgen und Empfehlungen zu Rehabilitationsbedarf und -op- Symptomen im Rahmen des Long COVID-Syndroms tionen ebenfalls nicht einfach bzw. eine Koinzidenz möglich. Wesentlich zur Beurteilung der Bedeutung ist, dass 3. Aufbau in Studien, die Symptomverläufe untersucht haben, eine deutliche spontane Abnahme der Symptomatik Grundlagenwissen „Long COVID“ im Laufe der Zeit beobachtet wird [10]. – Definition und Bedeutung, Charakteristika – Pathomechanismen 2. Zielsetzung – Organsysteme: Auswirkungen von COVID-19 und organspezifische Folgen Empfehlungen für die Abklärung und Zuordnung Differenzialdiagnostik häufiger Symptome von Symptomen bzw. Erkrankungen in zeitlichem Behandlung, Begleitung, Betreuung Zusammenhang mit einer Infektion mit SARS-CoV- Nachsorge/Rehabilitation 2: – Ausschluss/Abklärung von Erkrankungen aus an- 4. Definition „Long COVID“ derer Ursache – Erkennen organisch-struktureller Ursachen als Es handelt sich um ein noch junges Krankheits- bzw. Folge der Erkrankung und/oder ihrer Komplikati- Beschwerdebild, dessen Einordnung sich in einem dy- onen namischen Stadium befindet. – Erkennen einer Verschlechterung vorbestehender „Long COVID“ wird als Synonym für das Vorhan- Grundkrankheiten im Gefolge von COVID-19 densein von Symptomen über 4 Wochen nach Erkran- – Abgrenzung anhaltender unspezifischer und kungsbeginn hinaus verwendet. Die folgende Termi- funktioneller Störungen nach Akuterkrankung nologie findet derzeit häufig Verwendung [8] – sie ori- entiert dabei sich am zeitlichen Verlauf: K Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien
consensus report Akuterkrankung COVID-19: Befunde und Sympto- genetische Faktoren diskutiert [5]. Für zuvor hospi- me von COVID-19 bis zu 4 Wochen talisierte und schwer erkrankte Personen dürfte die Anhaltende Symptome von COVID-19: 4–12 Wo- Wahrscheinlichkeit höher sein [13], was wenig über- chen raschend erscheint, da Organschäden vornehmlich Post-COVID Syndrom: Befunde und Symptome, die Folge schwerer Verläufe sind. Von manchen Autoren während oder nach einer Infektion mit SARS-Cov-2 werden als weitere Risikofaktoren für einen prolon- entstehen und zu den bei COVID-19 beobachteten gierten Krankheitsverlauf angenommen [10]: Symptomen passen, mehr als 12 Wochen bestehen Symptomzahl während der akuten Erkrankungs- und bei denen keine andere erkennbare Ursache phase [10, 14, 15] vorliegt Alter [10, 13] Ausgeprägte Fatigue während der Akuterkrankung Alternativ wird vorgeschlagen [11]: [14, 16] Akutes Post-COVID: 3–12 Wochen nach COVID-19: Symptome über die ersten 3 Wochen nach Erkran- Andere Autoren fanden keine Prädiktoren [6]. Auch kungsbeginn hinaus hier dürfte die hohe Varianz bei den untersuchten Ko- Chronisches Post-COVID: > 12 Wochen nach Beginn horten und Zeiträumen eine wesentliche Rolle spie- der Akuterkrankung len. Unterschiedliche prozentuelle Anteile an hospita- lisierten Patient:innen in den Samples führen zu Ver- Weitere in der Literatur verwendete Begriffe sind z. B. zerrungen, weil sich Risikofaktoren für schwere Ver- „post-acute sequelae of COVID-19“ (PASC), „Chronic läufe (wie Alter, Symptomzahl, etc.) in unterschiedli- COVID Syndrome“ (CCS) oder „COVID-19 long-hau- chem Maß in den Ergebnissen niederschlagen. ler“. Organische und auch funktionelle Störungen im Beschrieben ist eine Vielzahl von Symptomen aus Gefolge von Infektionskrankheiten sind keine für einer Reihe von Organsystemen, sowohl organischer SARS-CoV-2 spezifische Phänomene. Die Bedeutung als auch funktioneller Natur. Über die Pathophysio- von Long COVID für Gesellschaft und Gesundheits- logie funktioneller Störungen ist wenig bekannt, auch system liegt vor allem darin, dass während der Pan- hier werden unterschiedliche Mechanismen diskutiert demie eine große Zahl von Personen gleichzeitig (s. Kap. 7). erkrankt. Bis Anfang August 2021 haben rund 650.000 Menschen in Österreich die Infektion durchgemacht. 5. Bedeutung Zieht man von dieser Zahl eine geschätzte Quote von etwa 20 % [17] permanent asymptomatischer Infizier- Eine Quantifizierung des Problems ist derzeit kaum ter ab und rechnet mit rund 10 % Prävalenz von Long möglich – die Angaben für die Häufigkeit von Long COVID nach Wochen – also mit einem der niedrigsten COVID in der derzeit verfügbaren Literatur schwan- Schätzwerte – so sind es mehr als 55.000 Personen ken zwischen 2,3 % [10] und 89 % [12]. in Österreich, die an anhaltenden Symptomen unter- Die meisten Studien haben ihre Daten an unter- schiedlicher Schweregrade leiden oder gelitten haben. schiedlichen Kollektiven erhoben (zuvor hospitali- In den allermeisten Fällen ist vor allem bei den sierte Personen, nicht-hospitalisierte und gemischte funktionellen Störungen mit Spontanheilungen nach Samples) und zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten einigen Wochen bis Monate zu rechnen. Cirulli be- (zwischen 3 Wochen und 9 Monaten – s. Abb. 1). Die richtet persistierende Symptome bei 36,1 % der Be- Datenerfassung erstreckte sich vielfach über lange troffenen nach 4 Wochen, aber nur mehr 14,6 % nach Zeiträume [2, 11], die Methodik der Erhebung (App, 12 Wochen [18]. Sudre findet einen ähnlichen Verlauf, Health Records, elektronische Surveys, Interviews) ist findet aber insgesamt niedrigere Zahlen [10]. Andere ebenfalls so unterschiedlich, dass Vergleiche kaum Autoren nennen keine exakten Zahlen, beschreiben möglich und Verzerrungen häufig sind. aber ähnliche Verläufe [9, 11]. Eine wesentliche Problematik ist die terminologi- Trotz der meist benignen Natur handelt es sich um sche Unschärfe. Zwischen organischen Folgen schwe- ein gesellschaftlich relevantes Problem. Zur Arbeits- rer Erkrankung inkl. Post Intensive Care-Syndrom, unfähigkeit ließ sich bisher nur eine Studie finden, und funktionellen Störungen auch als Folge milder welche bei hospitalisierten Personen mit COVID-19 und moderater Verläufe, wie sie auch als Folge ande- nach 48 Tagen eine Quote von 15 % Arbeitsunfähig- rer Infektionserkrankungen (z. B. EBV, CMV) bekannt keit fand [19]. sind wird selten eine klare Trennung vollzogen, trotz der völlig unterschiedlichen Ätiologie. 6. Symptomatik Einen Überblick über die Studienlage gibt die Gra- fik in Abb. 1. Die Symptomatik, der unter dem Begriff Long COVID Noch ist nicht genau bekannt, welche Personen zusammengefassten Erscheinungen, ist inter- und in- ein erhöhtes Risiko haben, anhaltende Symptome, traindividuell sehr variabel, der Schweregrad reicht die unter dem Begriff Long COVID zusammenge- von Störungen des Befindens bis zu massiver Ein- fasst sind, zu entwickeln. Unter anderen werden auch schränkung des alltäglichen Lebens. Ein Teil der Pa- Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien K
consensus report tient:innen erholt sich nach der Erkrankung über Wo- zumindest Virusbestandteilen sowie eine chronische chen bis Monate nicht, oder erfährt Rückfälle. Mög- (Hyper-/Auto-) Inflammation. lich sind persistierende Beschwerden ebenso wie ei- Wichtig erscheint hier zumindest eine Abgrenzung ne undulierende Symptomatik (bekannt als „Corona- zu: Coaster“). Bekannt ist auch ein Wieder- oder Neuauf- 1. Symptomen bedingt durch eine persistierende (chro- treten von Symptomen nach einem beschwerdefreien nische) Entzündung Intervall. 2. Folgen eines konkreten Organschadens (z. B. akute Eine Reihe relevanter struktureller Erkrankungen Lungen- oder Nierenschädigung) sowie plötzliche Todesfälle nach COVID-19 sind be- 3. unspezifischen Folgen der Hospitalisation und so- schrieben [9]. zialen Isolation (von ernährungsbedingter Anämie Entsprechend der diskutierten Pathomechanismen bis hin zum Muskelabbau). der Erkrankung sind auch deren mögliche Später- scheinungen sehr vielfältig und können ganz unter- Auch bedürfen alle in Folge geschilderten Symptome schiedliche Organsysteme betreffen. unabhängig von einer durchgemachten COVID-19 ei- Symptome und deren Häufigkeiten werden in der ner Klärung, wie in Kap. 10 beschrieben. Literatur ebenfalls äußerst unterschiedlich angegeben Sind eindeutige Erklärungen für residuale Sympto- und wurden in sehr unterschiedlichen Populationen me wie Fatigue nicht zu finden, dann können Ver- untersucht. änderungen des Stoffwechsels, des Hormonhaushalts, Weitgehende Einigkeit besteht dahingehend, dass gegen den eigenen Körper gerichtete Entzündungsbo- sich der Großteil der Betroffenen nach einigen Wo- tenstoffe und Veränderungen der Hirnfunktion even- chen bis Monaten vollständig erholt [10, 11, 18]. tuell einen Teil des Leidens erklären. Als häufigste Symptome finden sich in den meisten Eine verminderte Aktivität der Stresshormonachse Studien die Folgenden [11]: [24] könnte eine gewisse Erschöpfung erklären, denn Müdigkeit, eingeschränkte Leistungsfähigkeit, niedrige Stresshormon-Level können einerseits dazu Schwäche (unterschiedlicher Schweregrade, bis zu führen, dass Entzündungsreaktionen nicht gebremst Fatigue-Syndrom): in den meisten Studien führend werden und andererseits niedrigen Blutdruck und [11] Kreislaufbeschwerden verursachen. Anhaltender Verlust des Riech- und/oder Schmeck- Auch Entzündungsmediatoren spielen vermutlich vermögens eine Rolle. So waren im Blut von Menschen, die nach Atemnot (frühe Phase) einer Virusinfektion eine chronische Fatigue entwi- Insomnie (späte Phase) [11] ckeln, in der Akutphase Interleukin-6 und -10 stärker erhöht [25]. Im Körper könnte also noch immer eine Seltener: Entzündung schwelen. Brustschmerzen oder Brustenge Gegenwärtig wird unter anderem auch die Hypo- Husten these formuliert, pro-inflammatorische Zytokine (In- Arthralgien terferon Gamma, Interleukin 7) könnten in der post- Muskelschmerzen infektiösen Phase die Blut-Hirn-Schranke passieren Neuropathische Schmerzen bzw. und andere Sen- und autonome Dysfunktionen verursachen, die sich sibilitätsstörungen (u. a. Missempfindungen, Taub- in einer Dysregulation des Schlaf-/Wachrhythmus, ko- heit), beschrieben auch als „pins and needles and gnitiver Dysfunktion sowie Müdigkeit und Antriebslo- numbness“ sigkeit manifestieren können [26]. Eine weitere Hypothese lautet, dass ein Post- Weitere Symptome [8, 10, 20–23]: Kopfschmerzen, COVID-Syndrom mit einer chronischen subklinischen Schwindel, Orthostasereaktionen, persistierende Rhi- systemischen Entzündung (Inflammation) einherge- nitis, Sicca-Symptomatik, verminderter Appetit, Schwit- hen könnte, wie dies im Alterungsprozess (Aging) zen, intermittierende (sub-) febrile Körpertemperatur, beobachtbar ist. Dieses „Inflammaging“ hätte das Po- Durchfall, Haarausfall, Konzentrations- und Gedächt- tenzial, bestehende Komorbiditäten zu verschlechtern nisstörungen, Palpitationen und Herzrasen, depres- und altersabhängige Probleme deutlich zu verstärken sive Verstimmung, Hautausschläge. Mit möglichen [27]. weiteren noch nicht beschriebenen Symptomen ist Die als „Zytokinsturm“ bezeichnete schwere, syste- zu rechnen. mische Inflammation ist in allen Altersgruppen beob- achtbar, vielfach wurde bei Kindern eine schwere Mul- 7. Pathomechanismen – was ist bekannt tisystem-Inflammation mit Ähnlichkeiten zum Kawa- saki-Syndrom beschrieben. Hält eine Entzündungsre- Die konkrete Pathogenese des Long COVID-Syndroms aktion jedoch über lange Zeit an, so wird angenom- ist derzeit noch nicht geklärt, sie ist jedenfalls mul- men, dass dies zu zellulärer Seneszenz mit Hemmung tifaktoriell und wohl auch nicht bei allen Personen der Zellproliferation und Resistenz gegenüber Apop- ident. In Erwägung gezogene Auslöser sind langdau- tose führt [27]. ernde Gewebeschäden, eine Persistenz von Viren oder K Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien
consensus report 7.1. Chronische Entzündung 7.3. Spezielle Aspekte Analog zu Autoimmunerkrankungen wird bei Perso- 7.3.1. Pathophysiologie der COVID-19 Riechstörung nen mit längeren Beschwerden nach COVID-19 ei- Da die olfaktorischen Rezeptorneurone selbst kaum ne Dominanz des weiblichen Geschlechtes beobach- ACE-Rezeptoren besitzen, scheint die COVID-19 be- tet und eine T- und B-Zell-Dysregulation (-dysfunk- dingte Riechstörung durch eine virusvermittelte Schä- tion) in der Pathophysiologie von Long COVID ange- digung der Stützzellen der Riechschleimhaut zu ent- nommen [27]. Diskutiert wird, dass das SARS-CoV-2 stehen, wodurch die oft nur kurzfristige Störung zu in Antigen-präsentierenden Zellen eine „bystander- erklären wäre [48]. Eine schwerwiegendere Infektion Aktivierung“ von T-Zellen gegen Autoantigene aus- könnte aber auch die bestehenden Riechnervenzel- lösen könnte [28]. Mögliche alternative oder weitere len irreversibel schädigen. Dadurch braucht die Rege- Ursache für eine Hyperinflammation könnten Verän- neration des Riechvermögens, die von den Basalzel- derungen der Mikrobiota des Gastrointestinaltraktes len der Riechschleimhaut ausgeht, zumindest mehre- [29] bzw. eine Dysbiose [30, 31] sein. re Monate. Auch eine Schädigung von Riechzentren Neben einer T-Zell-vermittelten Autoimmunität im Gehirn (z. B. Bulbus olfactorius) sind denkbar, je- finden sich auch Beobachtungen von anti-Phospho- doch als weniger wahrscheinlich anzunehmen [49]. lipid-Autoantikörper [32] ebenso wie Auto-Antikörper Die COVID-19 bedingte Riechstörung entsteht durch gegen Zellkerne, Neutrophile, Interferone oder Ci- eine Schädigung der Stützzellen der Riechschleim- trullinpeptide. Derzeit wissen wir nur, dass solche haut. Autoantikörper in der Pathogenese unterschiedlicher Bei Schädigung der Riechnervenzellen kommt es zu Autoimmunerkrankungen (SLE, rheumatoide Arthri- einer langfristigen, evtl. dauerhaften Störung. tis, Sjögren-Syndrom, usw.) eine Rolle spielen [33, Eine zentrale Schädigung (z. B. Bulbus olfactorius) 34]. Bei schwerer Erkrankung findet sich regelmäßig gilt als weniger wahrscheinlich. eine Lymphopenie [35]. Für einen solchen T- bzw. B-Zellmangel wurde auch ein Zusammenhang mit 8. Organsysteme – Übersicht: Leitsymptome und einem persistierenden Virusshedding nachgewiesen Krankheitsbilder [36, 37]. Untersuchungen zeigen eine im Median gut 50 Tage persistierende Lymphopenie. Erhöhte CRP- 8.1. Pneumologie/Infektiologie bzw. D-Dimer-Werte finden sich solchen Studien zu- folge bei 7,3 %, bzw. 9,5 % der „Genesenen“ bzw. nach 8.1.1. Pneumologische Leitsymptome im Abklingen der Akutphase [38, 39]. Allerdings liegen Zusammenhang mit Long COVID auch Untersuchungen vor, die keine typischen bzw. Dyspnoe (s. a. Abschn. 10.4./12.4.1.) verlässlichen Veränderungen von Laborparametern Dyspnoe im Rahmen von Long COVID äußert sich nachweisen [40]. vor allem als Kurzatmigkeit bei Belastung, und Viele Intensivpatienten verzeichnen bereits be- findet sich häufiger nach schwerem Verlauf (nach kannte, als „Post Intensive Care Syndrome“ (PICS) 3 Monaten noch in ca. 40 %) [50], aber auch nach bezeichnete, Beschwerden. PICS manifestiert sich nicht-hospitalisiertem Verlauf (in ca. 10 %) [10]. Ei- dabei durch physische, psychische und kognitive Ein- ne milde Dyspnoe über einige Wochen nach der schränkungen, die sich in einem relevanten Ausmaß Akuterkrankung wird häufig berichtet. Wenn diese nicht vollständig zurückbilden [41]. aber nach der Infektion akut neu aufgetreten, zu- nehmend, oder mehr als nur milde ist, wenn sie den 7.2. Persistenz von Viren bzw. Virusbestandteilen Alltag einschränkt, oder mit weiteren Symptomen einhergeht, erfolgt die differenzialdiagnostische Ab- Eine Viruspersistenz für mehrere Monate war nach- klärung weisbar [42–44]. Dies trifft offensichtlich besonders auf Personen mit Immundefekten zu [45]. Andere Un- tersuchungen belegen ein Virusshedding im Respirati- Husten (s. a. Abschn. 10.5.) onstrakt oder Gastrointestinaltrakt für bis zu vier Mo- Husten nach akuter Erkrankung findet sich häufig, naten, wobei Betroffene eine gewisse Immunaktivie- z. B. noch in 17 % nach 3 Monaten [50]. Bei persis- rung erfahren, aber nicht zwangsläufig unter Sympto- tierendem Husten ist leitliniengemäß eine Abgren- men leiden müssen [46, 47]. zung zu nicht pneumologischen Hustenursachen zu empfehlen, bzw. die weiterführende Diagnostik wie bei jedem anderen Husten. Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien K
consensus report Fieber Ein regelmäßiges Screening nach Mikroembolien ist Rezidiverende Infektionen: Sekundäre bakterielle, in der Routine nicht empfohlen. virale oder fungale Infektionen nach COVID v. a. nach SARS-CoV2 assoziierter Lungeninfektion Das Ausmaß einer persistierenden Immunsuppres- Lungenfibrosen Ob und wie oft es zu einer progres- sion und einer dadurch bedingten erhöhten Infek- siven Fibrosierung der Lunge kommt ist bis dato un- tionsanfälligkeit (wie bei Masern) ist für COVID-19 klar [55]. Bei Befunden, die für einen progressiven in- noch nicht ausreichend untersucht terstitiellen Prozess sprechen, sollte eine weitere Ab- klärung mittels Bronchoskopie mit BAL und Biopsie folgen – entsprechend den Empfehlungen zur Diag- Thorakale Schmerzen (s. a. Abschn. 10.6.) nostik von interstitiellen Lungenerkrankungen. Thorakale Beschwerden treten häufig bei Patient:in- nen noch Wochen nach akuter Infektion auf. Die Atemmuskelschwäche Die muskuloskelettale Betei- Ätiologie ist unklar, möglicherweise Folge der suszi- ligung bei Long COVID hat einen Gewichtsverlust und pierten autonomen Dysfunktion und Muskelschwä- somit einen Muskelverlust zur Folge. Damit verbun- che im Rahmen von Long COVID bzw. des Post- den kann eine Atemmuskelschwäche als Grundlage COVID-19 Syndroms. der Dyspnoe vorliegen (PImax < 80 mbar bei Männern, Beispielsweise gibt es bei physiotherapeutischen < 70 mbar bei Frauen). Untersuchungen Hinweise für eine Einschränkung der Zwerchfellmobilität sowie Hinweise auf eine Schlafassoziierte Störungen Einschlafstörungen soll- Muskelschwäche der Atemmuskulatur [51]. ten v. a. bei Fatigue abgefragt werden, da eine Schlaf- hygiene die Fatigue verbessern kann. Bei Durch- 8.1.2. Krankheitsbilder mit möglicher Assoziation zu schlafstörungen kann ein Schlafscreening oder eine Long COVID Polysomnographie erfolgen, um diese zuzuordnen Residuale Pneumonie Im Verlauf bis zu 100 Ta- [56]. ge nach COVID-19 Beginn bessern sich bei 2/3 der Patient:innen mit Viruspneumonie die CT-Auffäl- 8.1.3. Methoden der pneumologischen Abklärung ligkeiten deutlich und es zeigen sich nur geringe In Ruhe (Spirometrie, Bodyplethysmographie, Dif- Residuen (Milchglas und Retikulationen) [50]. Eine fusionskapazität, Blutgasanalyse, maximale inspi- fehlende Besserung bzw. Zeichen einer akuten oder ratorische Atemmuskelkraftmessung (MIP oder rezidivierenden Infektion bedürfen einer spezifischen PImax)) und Abklärung. Auch longitudinale Daten einer chinesi- unter Belastung (z. B. 1 Minute-Sit to Stand Test, schen Kohorte bis 6 Monate nach COVID-19 zeigen in 6-Minuten Gehtest, Spiro-/Ergometrie), 2/3 der Patient:innen eine deutliche Besserung (38 % komplette Resolution, geringe Residuen in 27 %), aber unter Berücksichtigung möglicher Vorerkrankungen in 35 % Fibrose-ähnliche Veränderungen, vor allem sollte bei nach ARDS, längerem Krankenhausaufenthalt und pathologischer Lungenfunktion (FVC, TLC) oder höherem Alter [52]. In der bisher einzigen publizierten pathologischem Blutgasbefund (SpO2 in Ruhe oder 12-Montasstudie einer weiteren chinesischen Kohor- Belastung) oder te verbleiben nach 12 Monaten in 24 % radiologische einer verminderten CO-Diffusionskapazität (DLCO) Veränderungen, vor allem bei jenen mit ausgeprägten eine Bildgebung mittels HRCT durchgeführt wer- Veränderungen während der Hospitalisation [53]. den. Bisherige Studien zeigen, dass eine einge- schränkte Diffusionskapazität (DLCO) in der Pulmonalembolie Trotz hoher Embolierate bei kri- COVID-19 Nachsorge von hospitalisierten Patien- tischem Verlauf auf der Intensivstation zeigen Nach- ten in ca. 25 % diagnostiziert wird [1, 50]. sorge-Studien klinisch eine geringe Inzidenz für Pul- monalembolien [1, 50]. Allerdings wurden das Vorlie- Weiterführende Bildgebung: Das häufigste bildgeben- gen von Embolien oder Mikroembolien hierbei nicht de Korrelat im HRCT nach einer Viruspneumonie systematisch untersucht. Die Frequenz, klinische Be- sind Milchglastrübungen und Konsolidierungen, ge- deutung und therapeutische Konsequenz von mög- folgt von linearen Verdichtungen, sowie in Einzelfällen licherweise noch bestehenden Mikroembolien (bzw. Traktionsbronchiektasen und lokalisierte fibrotische „Microvascular Injury“) ist noch nicht geklärt [54]. Zeichen [1, 50, 57]. Bei akuter Dyspnoe mit D-Dimer Erhöhung oder anhaltender Dyspnoe mit Belastungsdesaturation 8.2. Kardiologie oder Zeichen einer pulmonalen Hypertonie oder 8.2.1. Allgemeines nur geringen strukturellen Veränderungen (unver- hältnismäßig zur Dyspnoe) ist ein Angio-CT indi- Eine kardiale Beteiligung bei Long COVID ist nicht sel- ziert. ten. In einer Studie an 201 Personen mittleren Alters, die COVID-19 durchgemacht hatten (meist ohne Hos- K Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien
consensus report pitalisierung) und persistierende Symptome aufwie- Dieses wird häufig durch eine Virusinfektion ausgelöst sen, wurde etwa 4,5 Monate nach der Erkrankung ei- und passt gut in den Long COVID-Formenkreis. Einen ne Multi-Organ MR Untersuchung durchgeführt. Bei guten Hinweis gibt die Blutdruckmessung im Stehen 26 % der Patienten zeigten sich (meist milde) myokar- (auch bei Selbstmessungen!) und der Schellong-Test. diale Veränderungen: Myokarditis in 19 %, systolische Die Kipptischuntersuchung sichert die Diagnose, ist Dysfunktion in 9 % [58]. aber nur an wenigen Abteilungen durchführbar und Besonders bei kardialen Vorerkrankungen sind Ver- daher besonderen Fällen vorbehalten. schlechterungen nicht selten. Die Folgen dieser aku- Zur weiteren Differenzialdiagnostik s. Abschn. 10.9. ten kardialen Manifestationen können auch bei Long COVID eine Rolle spielen. Eine Aufzählung dieser 8.2.3. Weitere kardiale Krankheitsbilder im Akutereignisse findet sich weiter unten [59]. Zusammenhang mit COVID-19 Des Weiteren wurde gezeigt, dass kardiovaskuläre Mögliche kardiale Begleiterscheinungen der akuten Komplikationen innerhalb der ersten 6 Monate nach COVID-19, deren Auswirkungen auch bei Long COVID einer COVID-19 deutlich erhöht sind. Dabei scheint eine Rolle spielen können, sind umfangreich und um- die Inzidenz dieser direkt mit dem Schweregrad der fassen u. a. [59]: vorangegangenen Erkrankung assoziiert zu sein. Pa- Akute Perikarditis tient:innen, die während ihrer akuten Erkrankung Beschwerden ohne spezifische Ätiologie wie Palpi- hospitalisiert waren, haben ein doppelt so hohes tationen, Kreislauflabilität (s. a. Abschn. 10.8., 10.9.) Risiko im weiteren Verlauf auch eine kardiale Kompli- Akute Herzinsuffizienz bis zum Lungenödem kation zu entwickeln wie nicht Hospitalisierte. Hierbei Akutes Koronarsyndrom (NSTEMI, STEMI) ist insbesondere an venöse Thrombosen, ischämische Akute Stresskardiomyopathie Schlaganfälle, Myokardinfarkte, Lungenembolien und Akute Myokarditis auch das Auftreten einer Herzinsuffizienz zu denken Supraventrikuläre und ventrikuläre Arrhythmien (siehe dazu AWMF S1-Leitlinie – Post-COVID/Long- (am häufigsten Vorhofflimmern) COVID [60]). Akute rechtsventrikuläre Dysfunktion (nicht nur bei Lungenembolie) 8.2.2. Kardiologische Leitsymptome im Zusammenhang mit COVID-19 8.2.4. Methoden der kardiologischen Abklärung Dyspnoe und eingeschränkte Leistungsfähigkeit (s. a. Die physikalische Untersuchung dient der Erken- Abschn. 10.2., 10.4./12.2., 12.4.1.) In einer Long nung von Zeichen einer hydropischen Dekompen- COVID-Population wurde Dyspnoe von 43,4 % aller sation und umfasst auch die Blutdruckmessung. Patienten angegeben. Die Dyspnoe ist sehr unspezi- Mittels 12 Kanal-EKG werden Frequenz und Rhyth- fisch, jedoch eines der häufigsten Symptome in der mus sowie allfällige Rhythmusstörungen erfasst. Kardiologie. Wenn eine Herzinsuffizienz zugrunde Unspezifische Veränderungen können bereits auf liegt, wird anhand der NYHA-Klassifizierung in das eine Herzinsuffizienz oder eine KHK hinweisen. NYHA-Stadium I–IV eingeteilt [12]. Eine Laboruntersuchung zum Ausschluss anderer internistischer Ursachen für Dyspnoe soll bei (klini- Thorakale Schmerzen (s. a. Abschn. 10.6.) Ca. 21,7 % schen oder anamnestischen) Hinweisen auf Herzin- der Patienten nach COVID-19 präsentieren sich mit suffizienz bereits die Bestimmung eines NTproBNP thorakaler Schmerzsymptomatik [59]. inkludieren. Ein NTproBNP Wert < 125 pg/ml schließt das Vorhandensein einer symptomatischen Herzin- Palpitationen Die Häufigkeit des Auftretens von suffizienz weitgehend aus [62]. Palpitationen bei Long COVID wurde bis dato noch Die Echokardiographie ist beweisend für die Diag- nicht beschrieben. Zur Abklärung dieser Beschwer- nostik von verschiedenen Formen der Herzinsuffi- den empfiehlt sich wie sonst auch die Durchführung zienz (HFpEF bis HFrEF), wegweisend für die Erfas- eines 12 Kanal-EKG, eines Holter-EKG sowie eine sung einer pulmonal-arteriellen Hypertension und Ergometrie. liefert Hinweise auf eine KHK (z. B. Narben nach ab- gelaufenem Herzinfarkt). Kreislauflabilität (s. a. Abschn. 10.8., 10.9./12.2., Belastungsergometrie – diese hat aufgrund der ge- 12.4.5.) Typische klinische Erscheinungsformen des ringen Sensitivität im diagnostischen Algorithmus Postural Tachykardia Syndroms (POTS) [61]: zur Abklärung einer koronaren Herzkrankheit mitt- Orthostaseintoleranz lerweile einen geringeren Stellenwert. Sie wird auf- Tachykardie bei Orthostase grund der guten Verfügbarkeit als Vorfelddiagnostik Palpitationen aber immer noch häufig eingesetzt. Sollte sich der Schwindelgefühl („dizziness“) Verdacht auf das Vorliegen einer koronaren Herz- Sehstörungen erkrankung erhärten, kommen je nach Höhe der Präsynkopen Vortestwahrscheinlichkeit weitere nicht invasive Belastungsintoleranz Untersuchungsmethoden (Myokardszintigraphie, Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien K
consensus report Stressechokardiographie, Koronar-CT) oder die Ko- von COVID-19 veröffentlicht [66]. Ob es postinfekti- ronarangiographie zur Anwendung. Im Rahmen ösen Morbus Parkinson – in Analogie zur Encephalitis von Long COVID ist die Objektivierung einer Leis- lethargica gibt, ist nicht belegt. Parainfektiöse im- tungseinschränkung ein Vorteil der Ergometrie. munologische Erkrankungen des Nervensystems wie Der nicht-invasive Gold-Standard für die Diagnose ADEM (Akute demyelinisierende Enzephalomyelitis) einer Myokarditis ist die Kernspintomographie, die und Guillain Barré Syndrom wurden beschrieben [67, in kleinen Fallserien nicht selten Myokarditis-typi- 68]. sche Veränderungen nach COVID-19 zeigte [59]. Kipptischuntersuchung bei orthostatischen Be- 8.3.3. Neurologische Krankheitsbilder im Rahmen von schwerden Long COVID Postinfektiöse Müdigkeit (s. a. Abschn. 10.1., 8.3. Neurologie Kap. 12) Die meist als „Fatigue“ bezeichnete post- infektiöse Müdigkeit ist eines der Schlüsselsymptome 8.3.1. Allgemeines von COVID-19 und tritt in der Akutphase bei bis zu SARS-CoV2 konnte in unterschiedlichen Strukturen 95 % der Erkrankten auf. Auch drei Monate nach der des Gehirnes nachgewiesen werden [63]. Die Viren Erkrankung klagten in einer Studie mehr als 80 % der verursachen nur sehr selten eine Enzephalitis [64]. Betroffenen über eine chronische Erschöpfung. Pa- Die Bedeutung dieser Befunde – insbesondere für thophysiologisch ist dieses Bild nicht gut verstanden. Langzeitfolgen – ist aktuell sowohl für die Struktur als Fatigue wurde auch nach leichten Krankheitsverläu- auch die Funktion des Gehirns unklar. Hier bedarf es fen berichtet. Eine postinfektiöse Müdigkeit bildet weiterer grundlagenwissenschaftlicher und klinischer sich dennoch meist spontan zurück. Eine kausa- Studien. le Therapie steht nicht zur Verfügung. Mehr dazu Bei einer prospektiven Dokumentation von spi- s. Abschn. 9.1. talspflichtigen COVID-19 Patient:innen aus New York wird berichtet, dass nur 13 % eine neue neurologi- Störungen der Hirnleistung („brain fog“) (s. a. sche Erkrankung zeigten, die auch vom Facharzt für Abschn. 10.7., Kap. 12) Fieber und Allgemeinerkran- Neurologie bestätigt wurde. Am häufigsten war hier kungen können zu einer beeinträchtigen Hirnfunkti- die Enzephalopathie als Folge der systemischen Ent- on in individuell unterschiedlichem Ausmaß führen. zündungsreaktion bei der SARS-Cov2-Infektion, die Konzentrationsschwäche, Antriebsminderung, redu- dem bekannten Krankheitsbild septischer Enzephalo- zierte Merkfähigkeit und Kopfschmerzen bis hin zum pathien entspricht [65]. Delir sind typische Manifestationen der akuten Phase. Über Folgen im Bereich von Neurologie und Psy- Wenn solche Beschwerden nach der Genesung persis- chiatrie berichtete fast jeder zweite Patient Müdig- tieren und die Grunderkrankung COVID-19 war, wird keit, Muskelschmerzen, Biorhythmusstörungen, Angst heute oft in der Literatur von „brain fog“ berichtet. oder Depression. Es zeigte sich in einigen Studien ei- Die Bewertung der wissenschaftlichen Evidenz ist in ne positive Korrelation von Schweregrad der COVID- diesem Bereich besonders schwierig, weil die Hirn- Erkrankung zu den Folgezuständen [1]. funktion komplex ist und zahlreichen Einflussfaktoren unterliegt. 8.3.2. Neurologische Leitsymptome von Long COVID Pathophysiologisch hat sich eine Gruppe aus Frei- Postinfektiöse Müdigkeit burg mittels FDG-PET-Untersuchung des Gehirns mit Hirnleistungsstörungen („brain fog“) dieser Frage auseinandergesetzt. Mit der [18F]Fluor- Konzentrationsstörung desoxyglucose-Positronenemmissions-Tomografie Gedächtnisstörung wurde in einem kleinen Patientenkollektiv eine Ver- Schlafstörungen minderung des Glukosestoffwechsels im Gehirn nach- Extremitätenschmerz (myalgisch, neuropathisch) gewiesen, die mit solchen kognitiven Defiziten asso- Sensibilitätsstörungen (u. a. Missempfindungen, ziiert ist [69]. Taubheit) Die Arbeitsgruppe publizierte bereits Ergebnisse ei- nes Follow-up von acht Patienten der Originalstudie. Eine Vielzahl anderer (u. a. Hyp- und Anosmie, Schwin- Im Verlauf kam es zu einer signifikanten Besserung del/Benommenheit, Depression, Angst), seltener (u. a. der kognitiven Defizite, wenngleich einige Betroffene Kopfschmerzen, autonome Dysfunktionen) und teil- auch sechs Monate nach der Akuterkrankung noch weise schlecht definierter (u. a. Fatigue) Symtome kein Normalniveau erreicht hatten. wurden berichtet. Ob die häufig und konsistent be- Die Symptomverbesserung ging mit einer weitge- richtete Fatigue mit dem schlecht definierten und henden Normalisierung des Hirnstoffwechsels einher. wissenschaftlich umstrittenen „Myalgic encephalo- Die kognitiven Beeinträchtigungen korrelierten also myelitis Syndrom“ (ME/CFS) ätiologisch verglichen mit dem Grad der Verminderung des Glukosemetabo- werden kann ist fraglich. Die DGN hat mit Jänner 2021 lismus, so dass dieser im Einzelfall als Biomarker für eine lebende S1-Leitlinie zur Beschreibung von neu- kognitive Post-COVID-Symptome herangezogen wer- rologischen Komplikationen para- und postinfektiös den könnte. K Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien
consensus report Gesicherte Therapien für Hirnleistungsstörungen der Genesung von der Allgemeinerkrankung nicht bei Long COVID existieren nicht. Von einer spon- mehr den vorherigen funktionellen Status. Dieses tanen Besserung ist auszugehen. Ob sich z. B. eine Zustandsbild ist seit Jahrzehnten bekannt und wird Alzheimerdemenz oder andere neurodegenerativen anamnestisch und klinisch diagnostiziert. Erkrankung als Folge einer COVID-19 manifestieren Klinische Manifestation subklinischer Gehirner- können, wird diskutiert und bedarf weiterer klini- krankungen durch COVID-19 (z. B. Mild Cognitive scher Studien. Bei Persistenz länger als 3 Monate ist Impairment) – Chronische und bis dato unerkann- eine fachärztliche Untersuchung durch Neurologen te und subklinische Vorschädigungen des Gehirns zu empfehlen. können durch eine akute Infektion funktionell de- kompensieren und nach Ausheilung des Infektes Schmerzen Myalgien (s. a. Abschn. 10.11./11.4.6.) sich klinisch „erstmanifestieren“. Dieses Zustands- Muskelschmerzen treten bei SARS-CoV2-Infektion bild bedarf einer fachärztlichen Abklärung nach oft im Akutstadium auf, können aber auch nachher state of the art. über Monate persistieren. Die Pathogenese ist nicht geklärt, die Differentialdiagnose ist umfangreich und 8.3.5. Methoden der neurologischen Abklärung wesentlich. Zur Klärung tragen vor allem die Anam- Fokussierter neurologischer Status (Motorik, Sensi- nese und der klinische Status bei, apparative Zusatz- bilität, kognitive Funktion) untersuchungen sind im Einzelfall sinnvoll. In einer Labor: zur gezielten (!) Differenzialdiagnostik ent- spanischen Case-Control Studie von hospitalisierten spr. Anamnese und Klinik, z. B. zur Identifikati- COVID-19 Patienten zeigte sich sieben Monate nach on entzündlicher Erkrankungen oder ursächlicher Krankheitsbeginn, dass das Auftreten von Myalgie bei Stoffwechselstörungen: CK, Differenzialblut- Hospitalisierung mit präexistenten muskuloskeletta- bild + Gerinnung, Blutsenkung (BSG) und CRP als len Beschwerden korrelierte. Weiters war Myalgie bei Hinweise auf Infekte sowie eine autoimmune Gene- Hospitalisierung ein Prädiktor für die längerfristige se, ggf. auch Myoglobin, Leberenzyme, Elektrolyten Persistenz von Muskelschmerzen. (Na, K, Ca). Zur Beurteilung der kognitiven Leistungsfähigkeit Neuropathische Schmerzen (s. a. Abschn. 10.11./ kann bereits in der Hausarztpraxis ein MMSE (Mi- 11.4.6.) Neuropathische Schmerzen werden nur nimental State Examination) oder MoCA (Montreal vereinzelt berichtet und sind insbesondere vom Mus- Cognitive Assessment) orientierend durchgeführt kelschmerz abzugrenzen. werden, ist aber für enzephalopatische Störungen nicht validiert. 8.3.4. Abgrenzung anderer Beschwerdebilder Weiterführende Untersuchungen z. B. zB. MRT, gegenüber Long COVID EMG/ENG, autonome Testbatterie/Kipptisch, Ge- Critical illness Neuromyopathie – prolongierte In- ruchstests, Neuropsychologische Untersuchung, tensivaufenthalte mit Multi-Organ-Versagen führen Schlaflabor, Neuropsychosomatik. zu einer nutritiv-toxisch bedingten Involution von Skelettmuskulatur und peripheren Nerven. Dieses Weitere Quellen: [1, 3, 70–77]. Zustandsbild ist seit Jahrzehnten bekannt und wird anamnestisch, klinisch und elektrophysiologisch 8.4. Hals-Nasen-Ohrenheilkunde diagnostiziert. Persistenz einer septisch-toxisch-metabolischen 8.4.1. Allgemeines Enzephalopathie nach ICU – Vor allem bei subkli- Nach COVID-19 zeigen Patient:innen signifikante Be- nischen zerebralen Vorschäden (z. B. Altersverände- einträchtigungen von Geruchssinn, Atmung, Stimme rungen des Gehirns) kann eine schwere Infektion und Schlucken, die in einer individualisierten Rehabi- mit ICU-Behandlungsbedarf durch Ausschüttung litation nach COVID-19 Berücksichtigung finden müs- von Entzündungsmediatoren, Toxinen und Neuro- sen und einer HNO-ärztlich/phoniatrischen Diagnos- transmitter-Imbalance zu einer prolongierten Auf- tik und logopädischen Therapie bedürfen. wachphase mit Delir und persistierenden kogniti- ven Einbußen führen. Dieses Zustandsbild ist seit 8.4.2. Leitsymptome und Krankheitsbilder im HNO- Jahrzehnten bekannt und wird anamnestisch, kli- Bereich mit Assoziation zu COVID-19 nisch und mithilfe anderer Zusatzuntersuchungen Riech- und Schmeckstörungen (s. a. Abschn. 10.3./ diagnostiziert. 12.4.4.) Riechstörungen stellen ein häufiges Symp- Verschlechterung vorbestehender neurologischer tom der Infektion mit SARS-Co-V2 dar [78]. 60–80 % Erkrankungen – Alle Erkrankungen des zentralen der Betroffenen klagen über einen Verlust des Riech- oder peripheren Nervensystems sowie der Ske- und Schmeckvermögens, oft nur vorübergehend für lettmuskulatur können sich durch eine schwere wenige Tage bis Wochen, eine Persistenz ist jedoch Allgemeinerkrankung passager oder auch dauer- auch über mehrere Monate möglich [79]. Die Riech- haft verschlechtern. Patient:innen erreichen nach störung wird aufgrund des plötzlichen Auftretens meist von den Patient:innen deutlich wahrgenom- Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien K
consensus report men. Die direkte Assoziation zu COVID-19 im Un- diese Erkrankung vorliegen (z. B. Nasenatmungsbe- terschied zu vorbestehenden Einschränkungen sollte hinderung, Druckgefühl im Gesicht, nasale Sekretion), gesichert sein. Untersuchungen des Langzeitverlaufs wird eine HNO-ärztliche Abklärung empfohlen. COVID-19 bedingter Riechstörungen zeigen, dass auch ein Riechverlust bis zu einem Jahr und darü- Stimm- und Schluckprobleme Oropharyngeale ber hinaus, vorkommen. Folglich kommt es bei den Dysphagien können u. a. nach Langzeitintubati- Betroffenen zu einer deutlichen Einschränkung der on, -beatmung, Tracheostomie sowie Intensivpfle- Lebensqualität und dem Wunsch nach Therapie der ge sowohl bei NON-COVID-19- als auch COVID-19- Beschwerden [80]. Patient:innen auftreten. Pathophysiologische liegen Besonders beeinträchtigend ist die Parosmie (Fehl- möglicherweise eine Koordinationsstörung zwischen riechen, die veränderte Wahrnehmung von Gerüchen, Atmung und Schlucken, Pharynxschwäche, ein in- die meist als unangenehm wahrgenommen werden). kompletter laryngealer Verschluss oder eine Critical Diese Form der Riechstörung tritt bei vielen Betroffe- Illness Polyneuropathie zugrunde. Ob eine COVID-19 nen mehrere Wochen bis Monate nach initialem Ver- spezifische, neurogene Dysphagie-Ätiologie vorliegt, lust des Riechvermögens auf, nachdem bereits ein Teil ist dzt. nicht zu differenzieren und Gegenstand von des Riechvermögens zurückgekehrt ist. Studien wei- Untersuchungen. Bei COVID-19 Patient:innen zusätz- sen darauf hin, dass dies als Zeichen der Regeneration lich beeinträchtigend ist potenziell die Bauchlagerung des Geruchssinns aufgefasst werden kann [81]. mit verminderter Zugangsmöglichkeit im Rahmen der oralen Hygiene und potenziell vermehrter bakterieller Andere Ursachen von Riechstörungen Ein vermin- Kolonisation der Mundhöhle mit denkbar erhöhtem dertes Riechvermögen kann prinzipiell auf zwei pa- Aspirationsrisiko. thophysiologische Mechanismen zurückgeführt wer- Die Früherkennung einer Dysphagie ist für ein ad- den. Zum einen kommt es bei konduktiven Riechstö- äquates Patient:innen-Management wesentlich. rungen (z. B. bei Nasenpolypen) zu einer verminder- Bei 27 % der Patient:innen mit milder bis mode- ten Zuleitung der Duftstoffe zur Riechschleimhaut im rater COVID-19 wurde eine Dysphonie beobachtet. oberen Bereich der Nase. Sie kann als Initialsymptom (19 %), nach Erkrankung Bei den sensori-neuralen Riechstörungen liegt die – selbst bei ursprünglich nicht hospitalisierten Pa- Ursache entweder in einer Funktionsstörung der tient:innen – oder im Rahmen von Long COVID auf- Riechsinneszellen oder in übergeordneten zentral- treten und zu verbalen Kommunikationsproblemen nervösen Strukturen entlang der Riechbahn. führen. Dysphonie nach COVID-19 kann einerseits Die COVID-19 bedingte Riechstörung fällt in die den obengenannten unspezifischen und den frag- zweite Gruppe, in die auch vor Beginn der COVID-19- lich COVID-19 spezifischen pathophysiologischen Pandemie andere Viren (z. B. Influenza-, Parainfluenza-, Mechanismen geschuldet sein (Intubationsschäden Rhinoviren) unter dem Begriff der post-infektiösen am Kehlkopf, Folgen der Langzeitintubation oder bzw. post-viralen Riechstörung zusammengefasst Störung der neurogenen Koordination). Überdies be- wurden [82]. stärkt eine fraglich höhere Expression von ACE 2 Ebenfalls in die Gruppe der sensori-neuralen bei COVID-19 die Hypothese von gesteigerten ent- Riechstörungen fallen die post-traumatischen Riech- zündlichen Prozessen der Stimmlippen („Corditis- störungen, der Riechverlust bei neurologischen oder Ätiologie“), wobei geschlechtsspezifische Unterschie- neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. M. Parkin- de diskutiert werden. Darüber hinaus wurden auch son, M. Alzheimer, Insult), bei medikamentös-toxi- paradoxe Stimmlippenbewegungen beobachtet. Au- schen Einflüssen, bei Tumoren der vorderen Schä- ßerdem kann eine Atemstörung nach COVID-19 auch delbasis, nach Chemo- oder Strahlentherapie, oder laryngeal bedingt sein. bei internistischen Erkrankungen (z. B. Leber-, Nie- Weitere Quellen: [83–93]. renerkrankungen). Selten besteht eine kongenitale Anosmie (isoliert oder im Rahmen des Kallmann- Hörstörungen Das Auftreten eines COVID-19 be- Syndroms). dingten Hörverlustes wurde in der Literatur anek- Sollte keine Ursache im Rahmen der HNO-Abklä- dotisch berichtet [94]. Ein zeitlicher Zusammenhang rung, neurologischen, internistischen und allgemein- sollte gegeben sein, der entweder am Höhepunkt der medizinischen Abklärung gefunden werden, liegt eine Erkrankung oder auch wenige Wochen nach der In- idiopathische Riechstörung vor (bis zu 15–20 % der Pa- fektion zu finden ist. Es kommt entweder zu einer tienten von Spezialambulanzen). Hier wird die Durch- Schädigung des Labyrinths (Hörschnecke und Bo- führung einer MRT-Untersuchung des Schädels emp- gengänge) durch die akute Infektion oder die nach- fohlen [82]. folgende Immunreaktionen. Neben der Hörstörung Als wichtige Differentialdiagnose jeder Riechstö- ist auf begleitende Symptome einer Labyrinthitis wie rung ist die Mischform einer sensori-neuralen und Schwindel und Tinnitus sowie Nystagmus zu achten. konduktiven Riechstörung in Form der chronischen Andere Ursachen der Hörstörung sind mittels oto- Rhinosinusitis mit und ohne Nasenpolypen in Be- skopischer Untersuchung (Cerumen, Otitis externa, tracht zu ziehen. Sollten anamnestisch Hinweise auf Otitis media) oder durch weitere Untersuchungen K Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien
consensus report Abb. 2 Patient:innen- information Riechtraining auszuschließen (z. B. akustisches Trauma, Schädel- Besonders bei anamnestischen Unklarheiten, ob ei- Hirn-Trauma, M. Meniere, Otosklerose, Presbyaku- ne wirkliche Schmeckstörung (auf süß, sauer, salzig, sis, medikamentös-toxische Ursachen, oder innere bitter, umami) oder eine Riechstörung vorliegt, hilft Erkrankungen wie Hypertonie, Diabetes mellitus). die Durchführung validierter Tests der olfaktorischen Bei unklarem Befund sollte eine retrocochleäre und/oder gustatorischen Sensitivität [99]. So klagen Ursachen der Hörstörung (z. B. Akustikusneurinom) die meisten Patient:innen mit Riechstörungen über ei- durch ein MRT des Schädels ausgeschlossen werden. ne damit einhergehende Störung des Feingeschmacks beim Essen und Trinken (durch das Fehlen der retro- 8.4.3. Methoden der Diagnostik im HNO-Bereich nasalen Geruchs-Wahrnehmung). Riechtests Im Rahmen des Managements der Be- troffenen hat sich gezeigt, dass die Durchführung von Riechtraining S. dazu Abb. 2 – Patient:inneninfor- Riechtests einen positiven Effekt aufweist, da dies mation zur Gestaltung des Riechtrainings. den Patient:innen vermittelt, dass die Beschwerden ernst genommen werden. Außerdem hat sich gezeigt, 8.5. Dermatologie dass die subjektive Selbsteinschätzung des Riechver- mögens oft nicht mit objektivierenden Testverfahren 8.5.1. Allgemeines übereinstimmt [95]. Hautveränderungen können Begleitsymptome von Es sind verschiedene Screening-Tests zur einfachen der COVID 19-Infektion sein, sowie bei vielen an- und schnellen Testung des Riechvermögens erhältlich deren Virusinfektionen. In der Literatur finden sich und auch für die Selbst-Testung geeignet [96]. Bei Not- derzeit zahlreiche Hypothesen bezüglich der patho- wendigkeit der ausführlichen Testung (z. B. für gut- physiologischen Mechanismen. Es gibt jedoch derzeit achterliche Fragestellungen) sollten aber idealerweise diesbezüglich keine sichere Evidenz. Weitere Studien Tests mehrerer olfaktorischer Dimensionen (Geruchs- sind daher diesbezüglich erforderlich. schwelle, Diskrimination, Identifikation) durchgeführt Die Inzidenz von Hautmanifestationen wurde auch werden [97, 98]. Nur so kann die individuelle Diagnose aufgrund methodischer Mängel der meisten Studien einer Anosmie (Verlust des Riechvermögens), Hypos- (Selektionsbias) überschätzt. mie (vermindertes Riechvermögen) oder Normosmie Es gibt in der Literatur zum Beispiel Berichte von (normales Riechvermögen) gestellt werden. COVID-19 assoziierten vesikulösen Exanthemen in Leitlinie S1: Long COVID: Differenzialdiagnostik und Behandlungsstrategien K
Sie können auch lesen