Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom und andere FMR1-assoziierte Syndrome

 
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medizinische genetik 2021; 33(1): 65–73

Stellungnahmen und Leitlinien

Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e. V.
Berufsverband Deutscher Humangenetiker e. V.

Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik:
Fragiles-X-Syndrom und andere FMR1-assoziierte
Syndrome
https://doi.org/10.1515/medgen-2021-2059                                     Fragiles-X-Syndrom (FXS)
                                                                             Das FXS ist die häufigste monogen vererbte Form geisti-
Das Fragile-X Syndrom (FXS, OMIM 300624), u. a. auch                         ger Behinderung. Die charakteristischen Symptome des
nach seinen Erstbeschreibern als Martin-Bell Syndrom be-                     FXS sind kognitive Entwicklungsstörungen sowie soma-
kannt, ist eine neuronale Entwicklungsstörung. Diese Form                    tische Auffälligkeiten (große Ohren, langes schmales Ge-
einer X-chromosomalen geistigen Behinderung tritt bei                        sicht, vorspringende Stirn, vorspringendes eckiges Kinn,
etwa einem unter 4000 Jungen und etwa einem unter                            hoher Gaumen, postpubertäre Makroorchidie, Mitralklap-
6000 Mädchen auf. Das Fragile-X assoziierte Tremor/Ata-                      penprolaps, Sehstörungen) ferner Entwicklungs- und Ver-
                                                                             haltensmerkmale (verzögerte Sprachentwicklung, Impul-
xie Syndrom (FXTAS, OMIM 300623) indessen ist eine neu-
                                                                             sivität, Hyperaktivität, soziale Scheu, Aufmerksamkeits-
rodegenerative Erkrankung bei Vorliegen einer Prämuta-
                                                                             defizit, autistoide Zeichen, Krampfanfälle, Hypersensitivi-
tion. Die Fragile-X assoziierte prämature Ovarialinsuffi-
                                                                             tät, schnelles repetitives Sprechen, Perseveration, Schlaf-
zienz (FXPOI, OMIM 311360) beschreibt eine Störung in
                                                                             störungen). Die Bandbreite des kognitiven Entwicklungs-
den Ovarien. Etwa 2 % der Frauen mit prämaturer Ova-
                                                                             rückstandes reicht von Lernschwierigkeiten bis zu schwer-
rialinsuffizienz haben eine FMR1-Prämutation. Diese drei
                                                                             gradiger geistiger Behinderung. Jungen sind generell stär-
FMR1-assoziierten Syndrome werden durch Veränderun-
                                                                             ker beeinträchtigt als Mädchen, wobei unter den Mädchen
gen in dem Gen FMR1 (OMIM 309550) verursacht, haben
                                                                             nur eine Minderheit keine klinischen Auffälligkeiten zei-
aber unterschiedliche pathophysiologische Ursachen.
                                                                             gen.

Einleitung und Definitionen                                                  Fragile-X assoziierte Tremor/Ataxie Syndrom
                                                                             (FXTAS)
Die Bezeichnung „Fragiles-X“ leitet sich ab von einer spe-
zifischen chromosomalen fragilen Stelle (FRAXA), an der                      Das FXTAS ist eine spätmanifestierende neurodegenerati-
das X-Chromosom zu mikroskopisch erkennbaren Chro-                           ve Störung bei Trägern eines prämutierten FMR1-Gens. Bei
matidveränderungen neigt, wenn Zellen von Betroffenen                        FMR1-Allelen im Prämutationsbereich ist die Transkripti-
ex vivo unter bestimmten Bedingungen vermehrt wer-                           onsrate häufig mehrfach erhöht. Die pathophysiologische
den. Die zugrundeliegende molekulare Veränderung be-                         Ursache des neuronalen Zelluntergangs ist wahrschein-
trifft das X-chromosomale Gen FMR1 (fragile X mental re-                     lich auf eine Toxizität der überexprimierten FMR1-mRNA
                                                                             zurückzuführen. Die zelluläre RNA-Menge steigt mit zu-
tardation 1). Dieses enthält in der nichttranslatierten Re-
                                                                             nehmender Länge des prämutierten Repeats und fällt zum
gion (5’UTR) des ersten Exons einen variablen repetitiven
                                                                             Ende des Prämutationsbereiches hin wieder ab. Bei voll-
Abschnitt mit tandemartig wiederholten CGG-Tripletts,
                                                                             mutierten CGG-Repeats (>200 Tripletts), die ausnahmswei-
der als CGG-Repeat bezeichnet wird. Unauffällige FMR1-
                                                                             se unmethyliert und transkriptionsaktiv bleiben, ist die
Allele enthalten in unserer Population häufig 29 oder 30
                                                                             Transkriptionsrate in der Regel nicht hoch genug, um neu-
Tripletts. Die Abfolge reiner CGGs ist typischerweise an et-
                                                                             rotoxisch zu wirken.
wa jeder 10. Position durch ein AGG unterbrochen.
                                                                                  Etwa 80 % aller Betroffenen haben einen Intensions-
Korrespondenzadresse: Dieter Gläser, Genetikum, Wegenerstr. 15,              tremor und/oder eine Gangataxie, meistens jedoch beide
D-89231 Neu-Ulm, Deutschland                                                 Symptome [1]. Weitere mögliche Krankheitsmerkmale sind

 Open Access. © 2021 Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e. V. und Berufsverband Deutscher Humangenetiker e. V., publiziert von De Gruyter.
            Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
66 | GfH/BVDH: Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom

vorzeitige Demenz, psychiatrische Störungen, periphere         Verdacht auf FXTAS oder FXPOI. Die Anlageträgerdia-
Neuropathie, Parkinsonismus und Dysautonomie (Impo-            gnostik in Familien mit Fragilem-X-Syndrom beinhaltet
tenz, Inkontinenz). Keines der genannten Merkmale ist          unvermeidbar einen prädiktiven FXTAS-Gentest. Entspre-
syndromspezifisch. Das FXTAS überschneidet sich signifi-       chend sind die Bestimmungen des Gendiagnostikgesetzes
kant mit dem cerebellären Subtyp der Multiplen Systema-        (GenDG) vor der Untersuchung zu beachten.
trophie (MSA-C) und mit den spätmanifestierenden Klein-             Beim Fragilen-X-Syndrom besteht eine Indikati-
hirnataxien. Das alleinige obligate Merkmal des FXTAS ist      on zur Absicherung der klinischen Verdachtsdiagnose
ein unmethyliertes, transkriptionsaktives FMR1-Gen mit         (Differentialdiagnostik) in der Regel bei allen Graden ei-
verlängertem CGG-Repeat.                                       ner kognitiven Beeinträchtigung, unabhängig davon, ob
      Das Risiko von Männern, an FXTAS infolge einer           die Familienvorgeschichte des (männlichen oder weibli-
FMR1-Prämutation zu erkranken ist altersabhängig. Es           chen) Patienten auf eine X-chromosomale Vererbung der
liegt bei 17 % (50–59 Jahre), 38 % (60–69 Jahre), 47 % (70–    Beeinträchtigung hinweist. Die Untersuchung ist auch
                                                               begründet, wenn keine der weiteren, beim Fragilen-X-
79 Jahre) und 75 % (≥80 Jahre) wobei der Tremor typischer-
                                                               Syndrom häufigen Merkmale offensichtlich sind. Eine In-
weise vor der Ataxie auftritt. Bei Prämutationsträgerinnen
                                                               dikation zur Anlageträgerdiagnostik ist bei allen poten-
tritt ein FXTAS viel seltener auf [2].
                                                               tiellen und vielen obligaten Überträgerinnen gegeben. Die
      Bei Jungen mit einer Prämutation wird im Ver-
                                                               Klärung, ob bei der Mutter eines betroffenen Kindes ein
gleich zur Allgemeinbevölkerung eine erhöhte Prävalenz
                                                               vollmutiertes oder prämutiertes FMR1-Gen oder bei der
von ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen beschrie-
                                                               Tochter eines männlichen Überträgers ein prämutiertes
ben [3].
                                                               Allel mit weniger oder mehr als 90 Tripletts vorliegt, ist von
                                                               Bedeutung für die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit,
                                                               mit der das Fragile-X-Syndrom bei einem (weiteren) Kind
Fragile-X assoziierte prämature                                auftritt (Tabelle 2). Bei klinisch unauffälligen Jungen und
Ovarialinsuffizienz (FXPOI)                                    Männern hat ein Gentest zur Klärung der Anlageträger-
                                                               schaft diesbezüglich keine Relevanz. Die pränatale Dia-
FXPOI ist das Auftreten von prämaturer Ovarialinsuffizi-       gnostik ist in der Regel nur bei Schwangeren angezeigt,
enz bei Frauen, insbesondere auch bei familiären Fällen.       deren Überträgerschaft (Vollmutation oder Prämutation)
Etwa 20 % aller Prämutationsträgerinnen entwickeln ei-         nachgewiesen ist. Bei einer Prämutation des Vaters ist eine
ne frühzeitige Ovarialinsuffizienz mit einer Menopause vor     vorgeburtliche Diagnostik nicht indiziert, da Söhne grund-
dem 40. Lebensjahr. Das Auftreten einer POI ist bei diesen     sätzlich das mütterliche X-Chromosom erben. Bei der Wei-
Frauen damit etwa 20x höher als im Bevölkerungsdurch-          tergabe des prämutierten Allels vom Vater an die Töchter
schnitt, das bei etwa 1 % liegt [4]. In ungefähr 14 % al-      wird es nicht zur Vollmutation expandieren. Die Töchter
ler familiären Fälle und etwa 2,5 % der sporadischen Fälle     können sich bei Erreichen der Einwilligungsfähigkeit auf
kann eine Prämutation bei den betroffenen Frauen nach-         eine Anlageträgerschaft testen lassen.
gewiesen werden. In der Regel zeigen die betroffenen Frau-          Eine Indikation zur differentialdiagnostischen Unter-
en einen hypergonadotropen Hypogonadismus mit den              suchung des FMR1-Gens zum Nachweis oder Ausschluss
entsprechend biochemisch nachgewiesenen veränderten            eines prämutierten CGG-Repeats besteht auch bei al-
Hormonparametern in Form eines erhöhten FSH-Spiegels.          len Männern und Frauen mit klinischen Zeichen eines
Die pathophysiologische Ursache scheint nach heutigem          FXTAS, insbesondere Intensionstremor, Parkinsonismus
Kenntnisstand ebenfalls eine Toxizität der überexprimier-      und/oder Gangataxie. Ein FMR1-Prämutationstest ist fer-
ten FMR1-mRNA zu sein, wobei die zellulären Mechanis-          ner angezeigt bei Frauen mit vorzeitiger Ovarialinsuffizi-
men noch unklar sind.                                          enz (POI) oder auffälliger Familienanamnese einer POI. Er-
                                                               höhte FSH-Spiegel und Menstruationsstörungen bei Frau-
                                                               en unter 40 Jahren sind Zeichen einer beginnenden POI
                                                               und somit eine Indikation zur Testung auf FXPOI.
Indikationen
Molekulargenetische Untersuchungen des FMR1-Gens               Molekulargenetische Ursachen
werden veranlasst zur Differentialdiagnostik, Anlageträ-
gerdiagnostik und zur Pränataldiagnostik des Fragilen-X-       Die bei weitem häufigste genetische Ursache des
Syndroms sowie zur Differentialdiagnostik bei klinischem       Fragilen-X-Syndroms ist ein inaktiviertes, aberrant me-
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Tab. 1: Genotyp-Phänotyp Beziehungen.

Genotyp*      Bezeichnung                      Phänotyp

5 bis 44      Normalbereich                    Normalpersonen
45 bis 54     Intermediärbereich (Grauzone)    Normalpersonen
55 bis ∼200   Prämutationsbereich              Normale männliche und weibliche Überträger des Fragilen-X-Syndroms. Männliche und
                                               weibliche FXTAS-Patienten. Etwa 10 % aller Frauen mit primärer Ovarialinsuffizienz
ab ∼200       Vollmutationsbereich             Männliche und weibliche Patienten mit Fragilem-X Syndrom** .
                                               Weibliche und männliche Überträger des Fragilen-X-Syndroms***
*
 Triplettzahl.
**
  Alle Männer und etwa 60 % aller Frauen mit aberrant methyliertem inaktiviertem FMR1-Gen.
***
    Alle Frauen mit voll expandiertem, aber nur auf dem inaktiven X Chromosom methylierten FMR1-Gen (normale Methylierung). Etwa 40 %
aller Frauen mit voll expandiertem und aberrant methyliertem FMR1-Gen (Methylierung auf dem aktiven X-Chromosom). Alle Männer mit voll
expandiertem aber unmethyliertem FMR1-Gen.

                                                                    Tab. 2: Risiko einer Vollmutation bei Kindern von Überträgerinnen
thyliertes FMR1-Gen, dessen CGG-Repeat über 200 Tri-
                                                                    (Daten aus Nolin et al. [5]).
pletts lang ist („Vollmutation“). Die Repeatexpansion al-
lein führt nicht zum Fragilen-X-Syndrom. Jedoch wird die            Länge des maternalen       Risiko (%)     Kinder mit Vollmutation/
DNA aufgrund der Länge des CGG-Repeats und des damit                            Repeats                                     alle Kinder
hohen GC-Gehalts aberrant gefaltet und dadurch in der Re-                          45–49                0                         0/98
gel methyliert. Hierbei handelt es sich um eine aberrante,                         50–54                0                        0/102
von der Repeatexpansion provozierte DNA-Modifikation.                              55–59              0,5                        1/197
                                                                                   60–64              1,7                        2/115
Die Methylierung erstreckt sich über den Promotor hinaus
                                                                                   65–69                7                         6/85
auf einen großen Abschnitt des X-Chromosoms und ist                                70–74               21                        18/84
mit einer Umstrukturierung des Chromatins verbunden.                               75–79               47                        47/99
Durch die Methylierung ist die Transkription des FMR1-                             80–84               62                        60/96
                                                                                   85–90               81                        34/42
Gens mehr oder weniger komplett inhibiert. Die Repeatex-
pansion (Mutation) und die Hypermethylierung (epige-
netische Modifikation) sind räumlich und zeitlich von-
einander getrennte Ereignisse (s. u.). Die pathophysiolo-
                                                                    Ovarialinsuffizienz (POI). Prämutierte CGG-Repeats kön-
gische Ursache des Fragilen-X-Syndroms ist ein Verlust
                                                                    nen eine Vorstufe der Vollmutation sein, die zum Fragilen-
des funktionellen Genproduktes (FMR1-Protein, FMRP).
                                                                    X-Syndrom führt (Tabelle 2).
Dieser kann auch durch andere FMR1-Mutationen verur-
                                                                         Viele Trägerinnen eines prämutierten FMR1-Allels er-
sacht sein. FMRP reguliert die Translation postsynapti-             ben dieses nicht von der Mutter, sondern von ihrem Va-
scher Proteine in Nervenzellen mit Glutamat-Rezeptoren              ter. Ein männlicher Überträger vererbt sein (prämutiertes)
und fördert den Aufbau stabiler neuronaler Netzwerke.               FMR1-Gen an jede Tochter, allerdings nie an einen chro-
     Das vollmutierte FMR1-Gen kommt bei betroffenen                mosomal unauffälligen Sohn, da das FMR1-Gen auf dem
männlichen Patienten und bei einem Teil der weiblichen              X-Chromosom liegt. Anders als bei den Kindern von Über-
Überträger vor (Tabelle 1). Es wird stets von der Mutter er-        trägerinnen tritt die Vollmutation bei den Töchtern männ-
erbt. Diese kann selbst Trägerin eines vollmutierten FMR1-          licher Überträger nicht auf. Sogar die Töchter von Männern
Gens sein. Meistens trägt sie jedoch ein Allel, dessen CGG-         mit vollmutiertem FMR1-Gen ererben nur ein prämutiertes
Repeat nur 55 bis ∼200 Tripletts aufweist. Eine Repeat-             Allel. Dies weist darauf hin, dass das FMRP im Rahmen
verlängerung dieser Größenordnung nennt man Prämu-                  der Spermatogenese benötigt wird und dass Vollmutatio-
tation. Der Begriff bezeichnet eine Veränderung des CGG-            nen bei Männern nur somatisch vorkommen. Die aberran-
Repeats, die keine Auswirkung auf die neuronale Entwick-            te epigenetische Modifikation und die Inaktivierung des
lung des Trägers hat. Solche FMR1-Allele werden tran-               vollmutierten FMR1-Gens erfolgt erst nach dessen Weiter-
skriptional überexprimiert. Sie können zu neurodegene-              gabe an die nächste Generation, und zwar in den ersten
rativen Veränderungen führen und ein FXTAS hervorru-                embryonalen Entwicklungswochen (1. Trimenon). Ein ma-
fen (s. u.). Frauen mit prämutiertem FMR1-Allel haben et-           ternal oder paternal ererbtes prämutiertes Allel kann auf-
wa zwanzigmal häufiger als andere Frauen eine primäre               grund der mitotischen Instabilität hinreichend langer un-
68 | GfH/BVDH: Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom

methylierter CGG-Repeats auch postzygotisch bis in den         Durchführung molekulargenetischer Untersuchungen des
Vollmutationsbereich expandieren. Allerdings kommt es          FMR1-Gens gehört die Kenntnis aller echten und artifiziel-
dann offensichtlich nicht mehr zu einer aberranten Methy-      len Resultate, die bei der Untersuchung unauffälliger und
lierung.                                                       betroffener männlicher und weiblicher Individuen auftre-
     Die Bezeichnung „Prämutation“ besagt nicht, dass          ten können. Der (fachlich qualifizierte) Laborleiter muss
das verlängerte Repeat zu irgendeinem zukünftigen Zeit-        mit dem Phänomen der X-Inaktivierung, der damit ver-
punkt weiter expandieren wird. Ob ein bestimmtes Allel         bundenen Methylierung des FMR1-Promotors vertraut sein
aus dem Prämutationsbereich zur Vollmutation expandie-         und die Methylierungsmuster kennen, die in untersuch-
ren kann, lässt sich erst dann sicher sagen, wenn es be-       ten Zellen (Leukozyten, Chorionzellen, Fruchtwasserzel-
reits an einen betroffenen Nachkommen weitergegeben            len) im Normalfall vorliegen. Er muss zwischen der nor-
wurde. Das kürzeste beobachtete Prämutationsallel, das         malen FMR1-Methylierung auf inaktiven X-Chromosomen
bei der Weitergabe an ein Kind vollständig mutierte, hat-      und der aberranten Methylierung vollmutierter Allele un-
te 56 CGGs [6]. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Über-        terscheiden können und ihm sollten die bei Trägerin-
trägerin ein prämutiertes Allel als Vollmutation weiter-       nen eines prämutierten oder vollmutierten FMR1-Gens
gibt, hängt von der Länge des prämutierten Repeats ab          zu beobachteten Abweichungen von einer zufälligen X-
(Tabelle 2). Auch bei einer mütterlichen Triplettzahl zwi-     Inaktivierung vertraut sein.
schen 100–200 und selbst bei Überträgerinnen mit vollmu-
tiertem FMR1-Allel kann ein Kind ausnahmsweise entge-
gen der Erwartung kein vollmutiertes sondern ein prämu-        Methoden zum Nachweis normaler und
tiertes Allel ererben und frei von Symptomen des Fragilen-     expandierter FMR1-Allele
X-Syndroms bleiben.
     CGG-Repeats mit 45 bis 54 Tripletts werden als            Ein zuverlässiges Verfahren zum direkten Nachweis und
Grauzonenallel (oder „intermediäres“ Allel) bezeichnet         zur Charakterisierung expandierter CGG-Repeats als „un-
(Tabelle 1). Bei einem Grauzonenallel ist eine Expansi-        auffällig“, „prämutiert“ oder „vollmutiert“ ist der genomi-
on zur Vollmutation in der unmittelbar folgenden Gene-         sche Southern-Blot. Mittlerweile werden aber auch sehr
ration noch nie beobachtet worden und demzufolge sehr          häufig effiziente PCR-basierte Nachweisverfahren ange-
unwahrscheinlich. Grauzone bedeutet, dass diese Repeats        wendet. Einige dieser Tests erfassen neben normalen auch
stabil oder instabil vererbt werden können. Etwa 10 %          prämutierte und vollmutierte FMR1-Allele. Allerdings sind
der Allele mit 45–49 CGG-Repeats werden instabil an die        die Ergebnisse bei Expansionen, die in der Regel als soma-
Folgegeneration weitergegeben, wobei eine Verlängerung         tisches Mosaik aus Zellen mit unterschiedlich stark expan-
von maximal mit 1–3 Tripletts zu erwarten ist. Bei Alle-       dierten oder kontrahierten CGG-Repeats bestehen, häufig
                                                               nicht deckungsgleich mit den Ergebnissen aus Southern-
len mit 50–54 CGG-Repeats zeigt etwa jedes vierte eine In-
                                                               Blot-Analysen. Dies kann zu falsch-negativen Interpreta-
stabilität und einige davon expandieren in der Folgege-
                                                               tionen führen, besonders dann, wenn auch Zellen mit ei-
neration zur Prämutation. Die mitotische Stabilität eines
                                                               nem normal großen Repeat enthalten sind, wobei dieses
CGG-Repeats wird auch durch die Anzahl und Position von
                                                               dann bevorzugt oder ausschließlich amplifiziert wird. Dies
AGG-Unterbrechungen bestimmt, die beim Gentest ermit-
                                                               sollte bei der PCR-basierten Diagnostik beachtet werden.
telt werden kann, um das potentielle Verhalten eines Grau-
zonenallels besser prognostizieren zu können. Dies findet
allerdings in der routinemäßigen Diagnostik in der Regel
                                                               Genomischer Southern-Blot
keine Anwendung.

                                                               Die für den Southern-Blot benötigte Menge an hoch-
                                                               molekularer genomischer DNA wird in der Regel aus 2
Anforderungen des Labors                                       bis 5 ml EDTA-Blut gewonnen. Die Methode der DNA-
                                                               Extraktion beeinflusst die Qualität der DNA, so dass
Die grundlegenden Anforderungen, die bei jeder moleku-         säulenbasierte Methoden sich häufig nicht dazu eignen.
largenetischen Untersuchung im Bereich der Humangene-          Der Southern-Blot ermöglicht den zuverlässigen Nach-
tik zu erfüllen sind, regelt insbesondere das Gendiagnos-      weis aller normalen, prämutierten und vollmutierten CGG-
tikgesetz, sowie die Richtlinie der Bundesärztekammer          Repeats sowie eine Bestimmung der Methylierung des
(RiliBÄK) und ggf. die Akkreditierungsnorm EN ISO15189.        FMR1-Promotors. Das seit 1990 zur direkten Genotypdia-
Zu den spezifischen fachkundlichen Voraussetzungen zur         gnostik beim Fragilen-X-Syndrom eingesetzte und vielfach
GfH/BVDH: Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom   | 69

validierte Verfahren stellt weiterhin den „goldenen Stan-             Gen der entsprechende Abschnitt fehlt. In etwa 1–2 % der
dard“ dar. Zum Nachweis oder Ausschluss einer Expan-                  somatischen Mosaike findet sich neben mehreren expan-
sion des CGG-Repeats werden pro Test etwa 10 µg intak-                dierten Fragmenten auch ein Fragment normaler Größe.
te hochmolekulare genomische DNA komplett mit Re-                     Bei inkompletter Spaltung, die unbedingt zu vermeiden
striktionsenzymen gespalten, wobei neben Einzelspaltun-               ist, treten meistens sogenannte Geisterbanden auf, deren
gen mit EcoRI, HindIII oder PstI häufig Doppelspaltun-                Muster im Gegensatz zu den Banden expandierter CGG-
gen mit EcoRI oder HindIII plus einem methylierungssen-               Repeats typisch ist für das jeweilige Restriktionsenzym.
sitivem Enzym (EagI, BssHII, NruI) durchgeführt werden.
Die Auftrennung der Fragmente erfolgt in Agarosegelen in
Abwesenheit von Ethidiumbromid, da EtBr als interkalie-               PCR-Analyse des CGG-Repeats mit flankierenden Primern
render Farbstoff, speziell in dem GC-reichen Repeat, die              (CGG-PCR)
Laufeigenschaften der Moleküle im Gel verändert. Die Re-
striktionsfragmente des FMR1-Gens mit dem CGG-Repeat                  Eine zuverlässige Amplifikation des CGG-Repeats aus
werden durch Hybridisierung mit spezifischen Sonden                   genomischer DNA erfordert eine leistungsfähige DNA-
(z. B. StB12.31 oder Ox0.552 oder anderen äquivalenten                Polymerase und ein PCR-Protokoll, das die äußerst CG-
Sonden) detektiert. Bei methylierungssensitiver Restrikti-            reichen DNA-Moleküle effizient denaturieren und in allen
on kann bei weiblichen Personen das aktive und inakti-                Zyklen einzelsträngig halten kann.
ve X-Chromosom getrennt dargestellt werden. Bei der Dar-                   Seit ein paar Jahren werden kommerzielle PCR-Kits
stellung beider Normalfragmente beweist das keineswegs,               angeboten, mit denen prämutierte und vollmutierte CGG-
dass zwei verschiedene Normalallele vorliegen und kein                Repeats amplifiziert und zuverlässig nachgewiesen wer-
expandiertes Allel, sondern lediglich, dass zumindest ein             den können. Probleme können hierbei insbesondere bei
normales Allel in methylierter (inaktiver) und unmethy-               sehr heterogenen Mosaiken auftreten, da kürzere PCR-
lierter (aktiver) Form vorkommt. Für den Nachweis kleiner             Fragmente besser amplifiziert werden.
prämutierter und intermediärer Allele werden am besten                     In einigen Laboren werden auch in-house PCR-
Restriktionsenzyme gewählt, die kleinere Fragmente erge-              Protokolle zur Amplifikation des CGG-Repeats angewen-
ben (z. B. PstI), weil hier die Auflösung besser ist als 30           det. Mit diesen gelingt teilweise die Amplifikation von
bp (entsprechend 10 Tripletts). Hier kann die PCR-Analyse             Genfragmenten mit mehr als 100 CGG-Wiederholungen
bis auf ein Triplett genaue Ergebnisse liefern. Vollmutier-           und ihre Darstellung durch Sequenzgelelektrophorese un-
te FMR1-Allele liegen meistens nicht als Einzelbande, son-            ter Verwendung fluoreszenzmarkierter Primer. Nach Aus-
dern als ein Muster mehrerer Banden (somatisches Mo-                  wertung von Ringversuchen ist offensichtlich, dass die Re-
saik) vor und sind fast immer methyliert. Die Methylie-               peatlänge expandierter Allele nicht zuverlässig auf ein Tri-
                                                                      plett genau bestimmt werden kann. Die Ergebnisse ver-
rung betrifft alle oder nur einen Anteil der Fragmente
                                                                      schiedener Laboratorien weichen bis zu 10 % vom Refe-
(Methylierungsmosaik). Häufiger besteht ein Genotyp-
                                                                      renzwert ab. Die elektrophoretische Mobilität von DNA-
mosaik mit prämutiertem und vollmutiertem FMR1-Allel.
                                                                      Fragmenten mit einer CGG-Repeatsequenz unterscheidet
Bei manchen phänotypisch unauffälligen oder mit FX-
                                                                      sich deutlich von der herkömmlicher „size standards“
TAS betroffenen männlichen Überträgern/Patienten fin-
                                                                      gleicher Länge. Deshalb sollen bei der CGG-PCR zusätzlich
den sich überwiegend oder ausschließlich unmethylierte
                                                                      zur Test-DNA in erster Linie FMR1-Allele mit exakt bekann-
vollmutierte FMR1-Genfragmente, deren Hybridisierungs-
                                                                      ter Triplettzahl (z. B. 30, 40 und 50 CGGs) ko-amplifiziert
signal als breiter Schmier ausgeprägt ist, sich manchmal
                                                                      und mit aufgetrennt werden, die als Größenstandards die-
über den gesamten Bereich der Repeatlängen ausdehnt
                                                                      nen.
und bei erhöhtem Hybridisierungshintergrund nur schwer
erkannt wird. Diese Männer können FXTAS entwickeln,
zeigen aber keine klassischen Merkmale eines FXS und
                                                                      PCR durch das CGG-Repeat mit drei Primern
werden als high functioning males bezeichnet. Bei bis zu
                                                                      (Triple-PCR, T-PCR)
1 % aller männlichen Patienten detektieren die diagnosti-
schen Sonden kein Restriktionsfragment, weil dem FMR1-
                                                                      Bereits 1996 wurde von Warner et al. [7] eine Triple-PCR (T-
                                                                      PCR) Methode beschrieben, mit deren Hilfe expandierte
1 Ox1.9, Ox0.55 und Ox0.48 sind äquivalent zu StB12.3 bei EcoRI und   CAG-Repeat Sequenzen detektiert werden können, die für
HindIII-Spaltung.                                                     eine herkömmliche PCR-Amplifikation zu lang sind. Mo-
2 Ox0.48 ist äquivalent zu Ox0.55 bei PstI-Spaltung.                  difikationen der T-PCR werden auch bei der Untersuchung
70 | GfH/BVDH: Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom

des FMR1-Gens angewandt, insbesondere wenn ein Blot zu         nicht nur eine Vollmutation sondern auch eine Deletion
aufwendig ist oder nur eine minimale DNA-Menge zur Ver-        des FMR1-Promotors ausgeschlossen, denn alle diagnosti-
fügung steht. Die T-PCR kann zwar die Existenz eines ex-       schen FMR1-Gensonden detektieren Fragmente, die auch
pandierten, mit flankierenden Primern nicht amplifizier-       den Promotor und die Startstelle der Transkription enthal-
baren CGG-Repeats aufzeigen, eine Klassifizierung nach         ten. Eine solche Deletion ist die genetische Ursache bei bis
der Repeatlänge (Prämutation oder Vollmutation) ist aber       zu 1 % aller Fälle eines Fragilen-X-Syndroms. Bei Frauen
in der Regel nicht möglich.                                    und Mädchen kann eine Deletion in der Promotorregion
                                                               oft bei Doppelspaltung mit einem methylierungssensiti-
                                                               ven Enzym erkannt werden, weil nur selten genau die Hälf-
MS-PCR zum Nachweis methylierter FMR1-Allele                   te aller normalen X-Chromosomen inaktiviert ist. Ein mit-
                                                               tels Southern-Blot erhobenes normales Untersuchungser-
Methylierte Allele können durch eine Standard-PCR nicht        gebnis schließt ein Fragiles-X-Syndrom nicht aus, weil sel-
von unmethylierten Allelen unterschieden werden. Es be-        ten auftretende Punktmutationen im FMR1-Gen (weniger
steht jedoch die Möglichkeit durch Spaltung der genomi-        als 0,1 % aller Fälle) durch diese Methode nicht entdeckt
schen DNA mit methylierungssensitivem (MS) Restrikti-          werden. Auch sehr seltene Deletionen und Duplikationen,
onsenzym und anschließender PCR den Methylierungs-             die außerhalb der Restriktionsfragmente gelegen sein kön-
status zu ermitteln. Dieses Verfahren wird inzwischen          nen, werden nicht detektiert. Diese können aber in eini-
auch von kommerziellen Diagnostika-Firmen angeboten.           gen Fällen mit (methylierungssensitiver) MLPA (multiplex
Dazu wird die DNA mit einem methylierungsunabhängi-            ligation-dependent probe amplification) dargestellt wer-
gen Restriktionsenzym und parallel dazu mit einem me-          den. Wir gehen davon aus, dass in hochwertigen Southern-
thylierungssensitiven Restriktionsenzym geschnitten. Bei-      Blots, die frei sind von breit geschmierten Hintergrund-
de DNA werden in separater PCR mit verschiedenfarbi-           signalen, alle diagnostisch relevanten Genotyp-Mosaike
gen fluoreszenzmarkierten Primern amplifiziert, detektiert     entdeckt werden.
und quantifiziert.                                                  Eine andere Vorgehensweise beginnt mit einem PCR-
                                                               Screening. Das Resultat wird als „unauffällig“ befundet,
                                                               wenn (a) bei einem männlichen Patienten ein normales
                                                               CGG-Repeat detektiert wurde und (b) bei einer weiblichen
Vorgehensweisen bei der                                        Patientin zwei normale CGG-Repeats verschiedener Län-
Differentialdiagnostik des                                     ge nachgewiesen wurden. Ein Fragiles-X-Syndrom ist aber
                                                               nicht ausgeschlossen, weil – wie auch beim Southern-
Fragilen-X-Syndroms                                            Blot – nicht alle kausalen FMR1-Genveränderungen de-
                                                               tektiert werden. Ferner gibt es seltene diagnostisch rele-
Die differentialdiagnostische Fragestellung impliziert         vante somatische Mosaike, bei denen die PCR ein nor-
den Auftrag zum Nachweis oder Ausschluss der FMR1-             males Signal ergibt, wenn insgesamt nur wenige Molekü-
Vollmutation bei einem männlichen oder weiblichen Pa-          le eines normalen CGG-Repeats vorhanden sind. Wurde
tienten zur Überprüfung einer klinischen Verdachtsdia-         mit einer PCR-Methode, bei der vollmutierte Repeats im
gnose. Alle hierfür notwendigen Laborergebnisse können         Allgemeinen nicht detektiert werden, bei einem betroffe-
einem genomischen Southern-Blot entnommen werden.              nen Jungen kein Signal erhalten, sollte ein abschließen-
Empfohlen wird eine Doppelspaltung mit methylierungs-          der Befund erst dann erstellt werden, wenn das vermute-
sensitivem Enzym (z. B. EcoRI plus EagI oder EcoRI plus        te vollmutierte Allel oder dessen aberrante Methylierung
NruI) oder zwei Einzelspaltungen (z. B. EcoRI oder HindIII     explizit nachgewiesen wurde. Kann dieser Nachweis nicht
und PstI). Seit ein paar Jahren werden häufig auch effi-       erbracht werden, muss im Befundbrief auf die diagnos-
ziente PCR-basierte Nachweisverfahren angewendet, die          tische Unsicherheit dieses Ergebnisses hingewiesen wer-
in der Lage sind, neben normalen auch prämutierte und          den. Wurde bei einem Mädchen nur ein PCR-Signal erhal-
vollmutierte FMR1-Allele sicher zu erfassen                    ten, das von einem oder zwei gleich langen Repeats stam-
    Wurde bei einem betroffenen männlichen oder weibli-        men kann, muss ebenfalls ein adäquater Test zum Nach-
chen Probanden eine Vollmutation nachgewiesen, ist die         weis oder Ausschluss eines vollmutierten Allels erfolgen.
Diagnose eines Fragilen-X-Syndroms definitiv gesichert.
Entsprechendes gilt, wenn die Sonde bei einem Jungen
kein FMR1-Genfragment detektiert. Wurde bei einem Jun-
gen nur ein normal großes Fragment im Blot detektiert, ist
GfH/BVDH: Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom   | 71

Vorgehensweisen bei der                                        Vorgehensweise bei
Anlageträgerdiagnostik                                         FXTAS-Gendiagnostik
des Fragilen-X-Syndroms                                        Die molekulare Ursache des FXTAS beschränkt sich nach
                                                               derzeitigem Kenntnisstand auf Repeatexpansionen im
Bei einer Ratsuchenden ohne klinische Zeichen eines
                                                               Prämutationsbereich des FMR1-Gens, also auf 55 bis 200
Fragilen-X-Syndroms soll der Nachweis oder Ausschluss
                                                               CGG-Wiederholungen. Die diagnostische Fragestellung
eines prämutierten oder vollmutierten FMR1-Allels erfol-
                                                               und die Vorgehensweise entspricht somit im Prinzip der ei-
gen. Die Indikation für diese Untersuchung kann eine fa-
                                                               ner Anlageträgerdiagnostik beim Fragilen-X-Syndrom. Der
miliäre geistige Behinderung sein, ein bekanntes Fragiles-
                                                               Auftrag beinhaltet aber keinen Test auf ein unmethyliertes
X-Syndrom in der Familie, eine vorzeitige Ovarialinsuffizi-
                                                               CGG-Repeat mit der Länge eines vollmutierten Allels. Die
enz (POI) bei ihr oder in ihrer Familie oder ein FXTAS in
                                                               untersuchten Personen sind meistens betroffene Männer
der Familie sein.
                                                               und weniger häufig betroffene Frauen ab einen Alter von
     Die diagnostische Vorgehensweise einschließlich der
                                                               etwa 50 Jahren.
für die Ergebnisinterpretation geltenden Einschränkun-
                                                                    Wenn bei einem männlichen Probanden ein prämu-
gen entspricht der bei differentialdiagnostischen Frage-
                                                               tiertes FMR1-Repeat gefunden wurde, gilt die klinische
stellungen. Im Southern-Blot wird ein prämutiertes Frag-
                                                               Diagnose eines FXTAS als gesichert. Über diese Feststel-
ment nach EcoRI- oder HindIII-Einzelspaltung jedoch
                                                               lung hinaus muss bei der Ergebnisinterpretation festge-
nicht hinreichend zuverlässig von einem Normalfragment
                                                               stellt werden, dass der Patient ein Überträger des Fragilen-
unterschieden und nachgewiesen. Deshalb ist zusätzlich
                                                               X-Syndroms ist, der ein prämutiertes CGG-Repeat an alle
zur genaueren Abklärung der Länge des prämutierten
                                                               seine Töchter weitergibt, die somit obligate Überträgerin-
CGG-Repeats eine PCR-Analyse und / oder ein PstI-Blot zu
                                                               nen des Fragilen-X-Syndroms sind.
empfehlen.
                                                                    Abgesehen von der Anlageträgerdiagnostik in Famili-
     Im Bereich zwischen 55 und 90 Tripletts steigt mit
                                                               en mit Fragilem-X-Syndrom sind FXTAS-Gentests bei ge-
zunehmender Repeatlänge das Risiko einer Ratsuchen-
                                                               sunden Personen eher selten. Bei einem positiven Unter-
den, ein Kind mit vollmutiertem Allel zu bekommen
                                                               suchungsresultat stehen derzeit nur für Männer prädiktive
(Tabelle 2). Die meisten Prämutationen liegen in diesem
                                                               Informationen zur Verfügung, da die geringen Fallzahlen
Längenintervall und sind durch stabile PCR-Techniken oft
                                                               für Frauen noch keine sicheren Aussagen erlauben.
direkt nachweisbar.
     Prämutierte Allele mit mehr als 130 Tripletts zeigen
immer eine mehr oder weniger ausgeprägte mitotische In-
stabilität und erzeugen postzygotisch ein somatisches Mo-      Vorgehensweise bei der
saik mit sowohl größeren Allelen, deren Länge im Voll-
mutationsbereich liegen kann, als auch kürzeren Repeats,
                                                               Pränataldiagnostik und
deren Länge im Normalbereich liegen kann. Es ist zu be-        Präimplantationsdiagnostik
achten, dass postzygotisch in den Normalbereich verkürz-
te prämutierte Allele bei der PCR unter Umständen mit
                                                               des Fragilen-X-Syndroms
einem zweiten Normalallel verwechselt werden können.
                                                               Die Vollmutation des Fragilen-X-Syndroms ist pränatal
Im Zweifel sollte bei ungewöhnlichen Peakhöhen und un-
                                                               diagnostizierbar an DNA aus Chorionzotten oder kultivier-
gewöhnlichen Repeatlängen ein klärender Southern-Blot
                                                               ten bzw. nicht-kultivierten Fruchtwasserzellen bei männ-
erfolgen, da selbst leistungsstarke PCR-Analysen entspre-
                                                               lichen und weiblichen Feten. Die Indikation ist gegeben,
chende Mosaike möglicherweise nicht sicher detektieren.
                                                               wenn bei der Mutter ein FMR1-Allel mit vollmutiertem oder
     Der Befund eines prämutierten oder vollmutierten Al-
                                                               prämutiertem CGG-Repeat bekannt ist. Neben dem dia-
lels bei einer Überträgerin soll, falls aufgrund der indi-
                                                               gnostischen Test zur Beantwortung der Fragestellung ist
viduellen Situation der Ratsuchenden nicht unangemes-
                                                               zusätzlich eine maternale Kontamination der fetalen DNA-
sen, mit Informationen zur Pränataldiagnostik oder Prä-
                                                               Probe abzuklären. Ein Kontaminationstest ist mindestens
implantationsdiagnostik des Fragilen-X-Syndroms ergänzt
                                                               dann erforderlich, wenn der Fet einen weiblichen Chro-
werden.
                                                               mosomensatz hat und beide CGG-Repeats dem der beiden
                                                               maternalen Allele größenmäßig entsprechen oder ein nor-
                                                               males CGG-Repeat nachgewiesen wird, ohne dass das vä-
72 | GfH/BVDH: Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom

terliche Allel bekannt ist und der diagnostische Test größe-   Polkörperdiagnostik, kurz PKD, wo das Untersuchungs-
re Expansionen nicht erfasst. Eine direkte Untersuchung        material aus Polkörpern gewonnen wird und die Analyse
des CGG-Repeats kann mit einem Southern-Blot und/oder          bereits vor der Befruchtung erfolgt.
einer PCR-Analyse erfolgen. Dabei ist es durchaus hilfreich        Das FXS kann derzeit noch nicht durch einen nicht in-
mittels PCR-Analyse die Weitergabe des normalen mütter-        vasiven pränatalen Test (NIPT) detektiert werden.
lichen FMR1-Allels an das erwartete Kind zu überprüfen.
Bei weiblichem Fet ist auch die Untersuchung der DNA des
Vaters sinnvoll, dessen CGG-Repeat die gleiche Länge ha-
ben kann wie das normale maternale Allel.
                                                               Befund
     Das von den meisten Laboratorien zur molekulargene-
                                                               Ein Befundbericht mit wissenschaftlich fundierter hu-
tischen Pränataldiagnostik bevorzugte Gewebe sind frisch
                                                               mangenetischer Interpretation (Epikrise) ist wesentlicher
präparierte Chorionzotten. In der Plazenta weiblicher Fe-
                                                               Bestandteil der molekulargenetischen Diagnostik. Der Be-
ten ist die X-Inaktivierung normaler FMR1-Gene – anders
als in Leukozyten – nicht verknüpft mit einer Methylierung     richt soll klar, zielgerichtet, prägnant und akkurat sein.
des Promotors. Jede Methylierung des FMR1-Gens in Cho-         Er muss eine vollständige Befundinterpretation enthal-
rionzotten ist aberrant. Ein möglicher Nachteil von Chori-     ten, die an der diagnostischen Fragestellung des Einzelfal-
onzotten ist der relativ späte Zeitpunkt der aberranten Me-    les orientiert ist. Bei allen FMR1-assoziierten Syndromen
thylierung eines vollmutierten FMR1-Gens, wodurch Inter-       sind die entsprechenden Hintergrundinformationen not-
pretationsprobleme bei Anwendung eines methylierungs-          wendig. Sie müssen korrekt und aktuell sein, sollen sich
sensitiven Tests entstehen können. Gleichwohl ist die Be-      auf das zum Verständnis des Berichtes erforderliche Maß
fundinterpretation in dem nicht häufigen Fall eines un-        beschränken und nicht im Vordergrund des Berichtes ste-
methylierten vollmutierten FMR1-Gens, das im Prinzip mit       hen. Die insgesamt erforderlichen Inhalte eines Befundbe-
einer normalen intellektuellen Entwicklung vereinbar ist,      richts sind in diversen nationalen und europäischen Leit-
schwierig und sollte nicht ohne eine Überprüfung des Me-       linien und Richtlinien (z. B. RiLiBÄK, S2k-Leitlinie AWMF
thylierungsstatus nach Amniozentese erfolgen. Die präna-       078-015 Humangenetische Diagnostik und genetische Be-
tale Diagnostik des Fragilen-X-Syndroms aus Fruchtwas-         ratung, Claustres et al. [8], Biancalana et al. [9]) vorgege-
serzellen hat den Nachteil, dass ohne Kultivierung die ge-     ben.
ringe fetale DNA-Menge in der Regel nicht ausreichend für
eine Southern-Blot-Analyse ist und dass durch die Kultivie-    Interessenkonflikte: Die Erklärung zu potenziellen Inter-
rungszeit die Schwangerschaft in den meisten Fällen be-        essenkonflikten wurde nach den aktuellen Regeln der
reits weit fortgeschritten ist. Die aus der Amniozytenkul-     AWMF eingeholt. Bei dieser Leitlinie hat keiner der be-
tur gewonnene fetale DNA ist aufgrund des relativ hohen        teiligten Experten oder Autoren einen Interessenskonflikt,
Anteils abgestorbener Amniozyten immer in hohem Maße           der eine Konsequenz erforderlich gemacht hätte. Insofern
degradiert, so dass für den Blot deutlich mehr DNA ein-        gab es auch keine Enthaltungen bei der Bewertung der
gesetzt werden muss, um vergleichbare klare spezifische        Leitlinie. Die Angaben zu den Interessenkonflikten wur-
Hybridisierungssignale zu erhalten. Zum Ausschluss einer       den von Dr. med. Diana Mitter geprüft und freigegeben.
maternalen Kontamination des fetalen Untersuchungsma-
terials ist eine Analyse polymorpher Markern obligater Be-     Danksagung: Herrn Prof. Dr. Peter Steinbach, als bisheri-
standteil der Untersuchung.                                    ger Autor der Leitlinie zur Diagnostik des fra(X)-Syndroms.
     Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist seit eini-       Er hat die erste Version verfasst und weiterentwickelt, ba-
gen Jahren in Deutschland unter bestimmten gesetzlich          sierend auf langjährigen Erfahrungen aus Ringversuchen
festgelegten Voraussetzungen möglich. Für das Fragile-X-       des Berufsverbandes Deutscher Humangenetiker e. V. so-
Syndrom sind diese Bestimmungen anwendbar, so dass             wie des European Molecular Genetics Quality Network
diese Untersuchung in spezialisierten Zentren möglich ist.     (EMQN).
Im Wesentlichen beruht die Diagnostik der PID derzeit auf
einer indirekten Genotypanalyse, d. h. die verantwortliche     Kategorie: S1-Leitlinie
Expansion des CGG-Repeats wird in der Regel nicht di-          AWMF-Reg. Nr.: 078-007
rekt bestimmt. Dazu werden Repeat-flankierende Marker
untersucht, die in enger Kopplung mit dem CGG-Repeat           Verfahren zur Konsensbildung: Die Erstellung der voran-
stehen. Die Untersuchung erfolgt an genetischem Material       gegangenen Versionen dieser Leitlinien erfolgte unter Be-
aus Zellen von Blastomeren. Ein Sonderfall der PID ist die     teiligung folgender Institutionen und Personen:
GfH/BVDH: Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom     | 73

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ne Empfehlung, die final von den Vorständen der Fachge-                   Miller K, Oosterwijk C, Peterlin B, van Ravenswaaij-Arts
                                                                          C, Zimmermann U, Zuffardi O, Hastings RJ, Barton DE.
sellschaften verabschiedet wird.
                                                                          Recommendations for reporting results of diagnostic genetic
Geplante Aktualisierung: Oktober 2025                                     testing (biochemical, cytogenetic and molecular genetic). Eur J
                                                                          Hum Genet. 2014;22:160–70.
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