Leseprobe Das Paradies meines Nachbarn Roman

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Leseprobe Das Paradies meines Nachbarn Roman
Leseprobe

                                  Nava Ebrahimi
                                  Das Paradies meines
                                  Nachbarn
                                  Roman

                                  »Ein umwerfender Roman über Söhne und
                                  ihre Mütter, die Opfer der Liebe und über
                                  die Verantwortung, etwas aus seinem
                                  Leben zu machen. Nava Ebrahimi ist nicht
                                  nur eine der spannendsten Stimmen der
                                  deutschen Literatur, sie verdient auch
                                  international den Durchbruch.« Angela
                                  Wittmann, Brigitte

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Seiten: 224

Erscheinungstermin: 24. Februar 2020

              Mehr Informationen zum Buch gibt es auf
                    www.penguinrandomhouse.de
Leseprobe Das Paradies meines Nachbarn Roman
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Zum Buch
Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2021

»Salam, hier schreibt Ali-Reza. Ich kannte ihre Mutter gut und verfüge über einen
Brief, den ich Ihnen überreichen soll. Es ist wichtig. Für Sie mindestens so sehr wie
für mich.«
Ali Najjar glaubt, seine Vergangenheit weit hinter sich gelassen zu haben.
Er ist längst in Deutschland angekommen, als Produktdesigner erfolgreich.
Der Iran, Teheran, seine Familie sind für ihn eine fremde Welt. Dann
erreicht ihn die Nachricht eines Unbekannten. Und alles, woran er bislang
festgehalten hat, gerät ins Wanken.

                        Autor
                        Nava Ebrahimi
                        Nava Ebrahimi, 1978 in Teheran geboren, zählt zu
                        den aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen
                        Literatur. Sie erhielt 2021 den Ingeborg-Bachmann-
                        Preis. Für ihren ersten Roman »Sechzehn Wörter«
                        wurde sie bereits mit dem Österreichischen
                        Buchpreis, Kategorie Debüt, sowie dem
                        Morgenstern-Preis ausgezeichnet. Nava Ebrahimi
                        studierte Journalismus und Volkswirtschaftslehre in
                        Köln und arbeitete als Redakteurin bei der Financial
                        Times Deutschland sowie der Kölner Stadtrevue. Sie
                        war Finalistin des Open Mike und Teilnehmerin an
Nava Ebrahimi • Das Paradies meines Nachbarn

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Nava Ebrahimi

                                 Das Paradies
                                meines Nachbarn
                                                    Roman

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Für Matthias

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»Ich bin derjenige,
                                     der keinen Stellvertreter finden kann.«
                                                         Emmanuel Levinas

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Ali-Reza schaltete den Fernseher aus und las die Nach-
            richt noch einmal. Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen
            zu müssen, aber Ihre Mutter ist vor vier Wochen, am 5. No­
            vember, in einer Klinik in Täbris verstorben. Sie wurde auch
            in ­Täbris beigesetzt. Die Organisation, die die Klinik betreibt,
            übernahm die Kosten für das Begräbnis. Eine neue Nachricht
            ploppte auf. Mein Beileid. Und noch eine. Gott sei ihr gnädig.
               Wieso schrieb sein – wie waren sie eigentlich verwandt? –
            Großcousin das, weshalb verwendete er ausgerechnet diese
            Floskel, woher wusste er, dass seine Mutter Gottes Gnade
            besonders bedurfte? Ali-Reza legte die Hände auf die Räder
            seines Rollstuhls, saß ganz still da und atmete tief ein. Seine
            Bauchdecke hob und senkte sich. Er mochte das Gefühl beim
            Einatmen, eine warme Kugel im Bauch zu haben. Die An-
            spannung fiel ab und er fragte sich, was er empfand, jetzt da
            er wusste, dass seine Mutter nicht mehr lebte. Er begann,
            jeden Winkel seines Seelenlebens abzutasten. Er fand keine
            auffällige Stelle, keinen Spalt, keinen aufgerauten Fleck. Da
            waren Narben, ja, aber die stammten von lange verheilten
            Verletzungen. Neu war diese Traurigkeit, die ganz langsam
            wie ein dunkles Tuch auf sein Gemüt herabsank und alles
            bedeckte. Sie galt weniger seinem eigenen Schicksal als viel-
            mehr dem seiner Mutter, dem Lauf der Geschichte, der eine
            unbedarfte Frau, die weder lesen noch schreiben gelernt
            hatte und mit vierzehn Jahren verheiratet worden war, in ein
            gieriges Monster verwandelt hatte.
               Er hegte keinen Groll mehr. Er hatte sich von ihr gelöst.

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Er war einst mit einer fürsorglichen Mutter aufgewachsen –
               in seiner Erinnerung sah er sie immer etwas glattstreichen,
               Wachstücher, Teig, Haar –, aber spätestens seit seinem vier-
               zehnten Lebensjahr hatte sie aufgehört zu existieren. So wie
               er.

               Kamran, sein Physiotherapeut, hatte ihm kürzlich erklärt,
               dass sich der menschliche Körper wegen der Zellerneuerung
               alle sieben Jahre komplett wandelt, also war niemand mehr
               derjenige, der er sieben Jahre zuvor gewesen war. Kam-
               ran hatte ihm die wissenschaftliche Erklärung dafür gelie-
               fert, was Ali-Reza nun empfand: Vier Wochen zuvor war in
               ­Täbris eine für ihn fremde Person gestorben. Ihre Hand war
                schon sehr lange nicht mehr die gewesen, die seine Wange
                kurz vor dem Einschlafen gestreichelt hatte. Und seine
                Wange war schon sehr lange nicht mehr die gewesen, die
                die Zärtlichkeit empfangen hatte.

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In der Schnitzelhütte, beim Mittagessen mit einem
            Kollegen, hörte Sina den Namen das erste Mal. Nein, das
            stimmte nicht, er hatte ihn schon vorher aufgeschnappt, aber
            nie Lust verspürt, sich nach dem Menschen zu erkundigen.
               »Wie, du kennst Ali Najjar nicht?«, rief Frank aus. Die
            Mutter am Nachbartisch begann, ihren Kinderwagen me-
            chanisch zu schaukeln, ohne von ihrem Smartphone aufzu-
            blicken.
               »Interessiert mich nicht«, sagte Sina.
               »Sollte es aber.«
               Frank tat sich gerne wichtig, und oft mit Erfolg.
               Für Sina ging in diesem Moment ein Scheinwerferlicht
            an, gerichtet auf einen Mann mit noch unscharfen Kontu-
            ren. Wobei es ihm später, rückblickend, vorkommen sollte,
            als wäre Ali Najjar mehr als Ereignis denn als Mensch in
            sein Leben getreten.

            Diesem Ereignis war ein anderes Ereignis vorausgegangen,
            das, so sinnlos wie zufällig, alles in Gang gesetzt hatte: Sinas
            Chef Thies war beim Marathonlauf in New York an Herz-
            versagen gestorben. Sein Tod kam für alle überraschend, na-
            türlich, in diesem Fall aber besonders überraschend für Sina
            und seine Kollegen. Die jüngeren Designer waren geschockt,
            beinah traumatisiert von der Erkenntnis, dass der Tod selbst
            vor ihrer Berufsgruppe nicht Halt machte. Dass auch ein
            gutaussehender, erfolgreicher Kreativchef Mitte vierzig, der
            stets die angesagtesten Sneaker trug und neuerdings auch

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Milchbreiflecken auf der rechten Schulter hatte, einfach so
               wegsterben konnte. Zwischen den Sichtbetonwänden und
               Apple-Bildschirmen hatten sie vergessen oder tatsächlich
               nie realisiert, dass sie sich in einem Körper aus Knochen,
               Fleisch und Blut durch Raum und Zeit bewegten. Ihnen
               schien nicht bewusst zu sein, dass, wenn jemand ihnen die
               Bauchdecke aufschlitzte, Gedärme samt Inhalt sowie andere
               Innereien herausquellen würden. Mit ihrer cleanen skandi-
               navischen Mode, so glaubten sie, seien sie unverwundbar.
                  Sina war achtunddreißig Jahre alt und hatte immerhin
               eine Leisten-OP hinter sich.
                  Er verspürte leichte Schadenfreude darüber, dass der Tod
               wie ein Meteorit in die Mittzwanzigerwelt seiner Kollegen
               eingeschlagen war. Dass ihnen endlich etwas den Parkettbo-
               den ihrer Kindheit unter den Füßen weggezogen hatte. Sie
               nervten ihn gehörig, wie sie so frisch und jung – immer jün-
               ger! – von der Uni kamen, so voller Hoffnung, aber ohne
               einen Anflug von Demut. Statt demütig wirkten sie verängs-
               tigt, wenn sie einem am ersten Tag die Hand schüttelten,
               und schon das ging Sina gewaltig auf den Keks. Denn erfah-
               rungsgemäß schlug ihre Ängstlichkeit bald in Überheblich-
               keit um. Es brauchte nicht viel, hie und da ein Lob, dort ein
               zufriedener Kunde, und schnell glaubten die Trophy Kids,
               unersetzlich zu sein. Sina machte den Wendepunkt daran
               fest, dass sie ihre Kaffeetassen nicht mehr in die Spülma-
               schine stellten, sondern auf der Anrichte stehen ließen.
                  Als einer der wenigen war er lange genug dabei, um
               zu wissen, dass auch Designer sterblich waren. Die aller-
               meisten zumindest. Dass sein Chef jetzt tot war, stimmte
               ihn noch nicht einmal sehr traurig. Er wahrte Vorgesetzten
               gegenüber grundsätzlich Distanz. Er hielt nicht viel von den

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Freundschaften, die in seinem Metier üblich waren und die
            sich darin manifestierten, dass man sich duzte, viel Zeit mit-
            einander verbrachte, während der Mahlzeiten Dinge aus sei-
            nem Leben preisgab, die man auch auf Facebook mit drei-
            tausend Leuten teilte, und gelegentlich bei Projekten und
            regelmäßig beim Tischfußball ein Team bildete.
               Zudem, dachte Sina, war Thies objektiv betrachtet eines
            schönen Todes gestorben. In den Schluchten von Manhat-
            tan, bejubelt von den Massen, mit einer Startnummer auf
            der Brust, als er sich einen langgehegten Traum erfüllte. Da-
            für musste man in Kauf nehmen, keine hundert zu werden.
            Lediglich für die Tochter seines Chefs, die noch ein Baby war,
            tat es ihm leid. Sie würde ohne leiblichen Vater, sogar ohne
            jegliche Erinnerungen an ihn groß werden. Sina wusste, was
            das bedeutete. Er besaß immerhin ein paar Erinnerungen an
            seinen eigenen Vater, nicht viele, dafür aber bleibende, und
            diese konnte er alle drei bis vier Jahre auffrischen, wenn die-
            ser in Deutschland war und er ihn auf einen Kaffee traf.

            Thies war gestorben, und nach einer dreiwöchigen Phase
            des Betretenseins, in der man bekundete, wie sehr er fehle,
            seine Kompetenz, aber natürlich auch er, als Mensch, erzähl-
            ten Sina zwei Kollegen unabhängig voneinander, dass ein
            neuer Kreativchef angeheuert habe. Er hatte noch darüber
            nachgedacht, ob er sich als Nachfolger in Stellung bringen
            sollte. Sein Alter und seine Berufserfahrung legten es nahe,
            aber er verspürte keine Lust auf mehr Verantwortung. Dass
            der Job nun bereits vergeben war, versetzte ihm zwar einen
            leichten Stich – ganz klammheimlich hatte er gehofft, der
            Vorstand würde ihm die Stelle anbieten. Die Erleichterung
            darüber, dass er sich nicht weiter mit der Frage auseinander-

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setzen musste, wo er beruflich eigentlich hinwollte, über-
               wog jedoch. Und Katharina schien nicht einmal realisiert zu
               haben, dass Sina eine Aufstiegschance verpasst hatte. Sie
               arbeitete viel, klappte oft nach zwanzig Uhr noch den Lap-
               top auf, und wenn sie vorher beim Abendbrot zusammen-
               saßen, erzählte Anahita Geschichten aus der Schule. Ohne
               Punkt und Komma, er musste sie oft sogar daran erinnern zu
               essen. Ihr Mitteilungsbedürfnis war gerade enorm.

               »Im Ernst, du kennst Ali Najjar nicht?«, wiederholte Frank,
               noch immer ungläubig. Er stoppte die Gabel mit dem Stück
               Rindsschnitzel auf dem halben Weg vom Teller zum Mund.
               »›Scheiß auf Talent, Designer müssen bereit sein, für ihre
               Sache zu kämpfen.‹ Nie den Spruch gehört?«
                  Sina zog die Augenbrauen zusammen, kaute unnötig
               lange auf seinem Bissen Schnitzel herum, tat, als müsse er
               überlegen.
                  »Es gibt niemanden, der das letztes Jahr nicht retwee-
               tet hätte.« Frank legte mit einem Seufzer die Gabel ab und
               klopfte Sina an die Stirn: »Komm mal wieder raus aus dei-
               nem Schneckenhaus.«
                  »Der, ja, jetzt weiß ich, wen du meinst. So Typen tauchen
               alle naselang auf und mischen« – mit Messer und Gabel
               setzte er Gänsefüßchen in die Luft – »die Szene auf. Und
               nach wenigen Jahren liegen sie dann mit Bauchansatz in
               ihrem Loungechair und kommen vor lauter Selbstgerech-
               tigkeit nicht mehr hoch. Keinen Bock auf so einen Typen.«
                  »Der ist anders. Und er wird unser Chef. Googel ihn mal.«

               Sina googelte »Ali Najjar« direkt nach dem Mittagessen.
               Er sah die ersten Fotos. Er las »geboren in Teheran« auf

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Wiki­pedia und spürte sogleich das Schnitzel in der Magen­
            gegend, vielleicht auch etwas anderes, auf jeden Fall hatte
            es Gewicht. Er hatte ihn für einen Araber gehalten, weil ihr
            Reiseführer im Libanon genauso geheißen hatte. Und in sei-
            ner Branche war er noch nie auf einen Perser gestoßen. Sina
            rückte näher an den Monitor heran.
               Ali Najjar, Typ Yul Brynner, blickte ihm herausfordernd
            entgegen, einmal mit Zigarette zwischen den Fingern, einmal
            mit Füßen auf dem Tisch. Selbst im Eames-Chair »­ relaxend«,
            wie es in der Bildunterschrift eines Lifestyle-Blogs hieß,
            stierte er den Betrachter offensiv an. Sina scannte die Liste
            der Suchergebnisse. »Von der Front in den D  ­ esign-Olymp«
            lautete die Überschrift eines Artikels in einer großen Zeit-
            schrift. Er klickte weiter zu einem Interview in einem Archi-
            tekturmagazin und las:

            Sie haben nach drei Monaten die Leitung der wichtigen
            Arbeits­gruppe Design & Vision im Verband Deutscher Indus­
            trie Designer abgegeben. Weshalb?
               Ali Najjar: Weil ich keine Angst habe. Das mögen die Deut­
            schen nicht. Aber wenn man im Krieg war, wenn man gesehen
            hat, wie es den besten Freund in tausend Stücke reißt, wovor
            soll man dann noch Angst haben?

            Reflexhaft schloss Sina die Seite. Er fürchtete sich jetzt
            schon.

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»Wie auf einer Kuhwiese fühle ich mich, wenn ich euch so
               ansehe. Jede Menge große Augen und Gehirne, die nichts als
               wiederkäuen. Dabei dachte ich, ich hätte ein Date mit dem
               Inhouse Design eines internationalen Toplabels. Moment,
               bin ich hier überhaupt richtig, lasst mich mal nachsehen …
               Ja, doch, stimmt, elf Uhr dreißig in der Big Bubble. Also die
               Topdesigner, das müsst wohl ihr sein.
                  Aber meine simple Frage scheint euch ja echt schon heraus­
               zufordern.
                  Im Ernst: Was denkt ihr denn so angestrengt nach? Oder
               nein, ihr denkt nicht, ihr grübelt. ›Grübeln‹ ist genau das
               richtige Wort für das, was ihr tut. Klingt wie ›krümeln‹. Ihr
               krümelt euch jetzt alle so einen Scheiß zusammen. ›Was
               hat mich das letzte Mal begeistert? Ja, was? Ähm. Hm. Puh.
               Dass ich mein Tagesticket fürs Freibad zweimal verwenden
               konnte?‹
                  Ihr seid so ängstlich angestrengt. Eure Angst macht euch
               so eindimensional. So lesbar. Ihr müsstet euch mal sehen.
               Bücher für Erstleser sind eure Gesichter! Wovor habt ihr
               eigentlich Angst?
                  Okay, braucht ihr mir nicht zu verraten.
                  Also. Was hat euch das letzte Mal so richtig begeistert?
                  Dann seid doch wenigstens ehrlich. Dann kommt viel-
               leicht etwas Interessantes dabei heraus. Oder wenigstens
               ein Lacher. Ich wette, ihr seid mit den Gedanken schon auf
               der dritten Metaebene. Ihr habt jede Antwort schon mehr-
               mals wiedergekäut.

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›Der Film mit Matt Damon in der Hauptrolle war cool,
            aber Film ist zu naheliegend, ich brauche etwas, das nur
            mich begeistert haben kann, weil nur ich diesen einzigartig
            genialen Blick auf die Dinge habe. Die Anordnung der Topf-
            pflanzen auf der Blumenampel im Treppenhaus? Das hätte
            etwas Nerdiges. Noch besser wäre aber etwas Anti-Intellek-
            tuelles. Hm, krümel, krümel.‹
               Ihr macht ein Gesicht wie eure Eltern im Italienurlaub, im
            Restaurant, krümelnd über der Speisekarte hockend.
               ›Nehme ich die Pizza Hawaii oder das Schnitzel?‹
               Ihr werdet euer Leben lang weiter krümeln, wenn ihr nicht
            mal langsam in die Gänge kommt. Ihr speichelt eure Krü-
            mel ein und macht daraus faden Brei. Das ist eure M  ­ asche.
            Immer mehr Brei, alles pappt ihr irgendwie zusammen. Mir
            wird ganz schlecht bei dem Gedanken an den ganzen Brei,
            den ihr in eurem breiigen Leben schon produziert habt. Gut,
            dass jetzt die Tür aufgeht, sonst ersticke ich gleich, und so
            spontan wie ihr seid, würdet ihr mir dabei zusehen, wie ich
            erst nach Luft ringe, und darüber nachkrümeln, was jetzt
            eine coole Reaktion wäre.
               Ah, endlich die Liste mit allen Kreativen, danke. ›Kreati-
            ven‹, ha! Benjamin B. Benecke, Industrial Design. Johanna
            Ehrmann, Market Research. Joelle Schummer, CMF-Design.
            Joelle. Noemi Puder. Hahaha! Du warst auf der Waldorf-
            schule, hundertpro.

            Kurzen Moment.

            Hallo? Jetzt passt es gerade gar nicht, ich bin in einem Mee-
            ting. Oder besser Meat-Ding, ich sitze lauter Fleischklum-
            pen gegenüber.«

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…
                  »Ganz schlechte Idee, glauben Sie mir.«
                  …
                  »Sie sind Pädagogin, lassen Sie sich was einfallen. Ich
               traue Ihnen zu, dass Sie es mit einem Fünfjährigen aufneh-
               men. Tschö.«
                  …

               »Ne, bringt nichts, meine Ex geht nicht ran, wenn sie Ihre
               Nummer sieht. Tschö.

               Leute, ihr schaut ja immer noch so bekloppt drein. Ihr schaut
               so abgefuckt aus wie Vorstadtrapper bei ihren ersten Sozial­
               stunden im Behindertenwohnheim. Aber Vorstadtrapper
               haben Spirit. Die haben eine Message. Davon könnt ihr nur
               träumen.
                  Also, was hat euch zuletzt einen Kick gegeben? Wenigs-
               tens einen kleinen?
                  Okay, die Frage ist euch zu langweilig, verstehe. Dann
               eine andere: Wer von euch hat gerade eine Affäre? Bitte die
               Hand heben! Wie, niemand? Statistisch gesehen müssten
               jetzt mindestens zwei Hände oben sein. Wirklich niemand?
               Leute, wie sollen wir denn zusammenarbeiten, wenn ihr so
               unehrlich seid?
                  Wollt ihr ehrlich sein, wollt ihr Designer sein und etwas
               wagen oder wollt ihr nur Behübscher sein? Bekrümler?«
                  Das ist reinste Zeitverschwendung hier. Am liebsten würde
               ich die gleich alle vor die Tür setzen. Fast alle. Die beiden da,
               die beiden Busenfreundinnen, die können ganz sicher ein­
               packen. Blutarme Blondinnen mit bewegter Vergangenheit
               auf dem Ponyhof haben mich selten überrascht. Rapunzel hier

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vorne, die kriegt eine Chance, aber nur, wenn sie nicht ­Noemi
            heißt. Ich fürchte nur, sie heißt Noemi, dann geht natürlich
            nix. Und bei dem Dunkelhaarigen hinten rechts bin ich mir
            noch nicht ganz sicher, ob er ein Loser ist. Der Dunkelhaa­
            rige scheint mehr draufzuhaben als die anderen Pappnasen
            hier. Möglich, dass das nur an seinen Falten liegt. Wo ist die
            Liste … Sina Khoshbin, Senior Industriedesigner. Schau an.
            Wieso guckt der denn so genervt an die Decke? Er sollte sich
            lieber mal seine Locken stutzen.
               »Also, dann versuchen wir es noch einmal mit der ersten
            Frage: Was hat euch das letzte Mal begeistert? Ihr werdet es
            mir nicht glauben, aber das ist eine Spitzenfrage, wenn man
            eine Crew kennenlernen will.
               Was führt ihr für traurige Leben? Keine Affären, keine
            Begeis­terung?
               Jetzt aber, ich habe nicht ewig Zeit. Schaltet eure Gedan-
            ken mal in den Schleudergang. Was hat euch begeistert?
            Die schwebenden Sideboards von Piffpaff? Veganes Physa-
            lis-Softeis auf dem Streetfood Market? Der Bildband über
            siamesische … Ah, na endlich, ja, du dahinten, du mit den
            ­Locken, ich höre?«
               ...
               Was kichern die denn so dumm.
               »Na also, wieso nicht gleich.
               Danke, auch ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
               Und jetzt geht mir aus den Augen.«
               ›Dass du unser neuer Kreativchef wirst‹. Der Arsch mit sei­
             ner persischen Hakennase.

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Ali Najjar entliess am nächsten Tag alle, die er sofort
               entlassen konnte. Praktikanten und Angestellte in der Pro-
               bezeit. Dafür kamen zwei Designer aus seiner alten Agen-
               tur. Zumindest äußerlich und nach einigen Minuten Small-
               talk an der Kaffeemaschine wirkten diese nicht progressiver,
               nicht einmal mutiger oder wenigstens selbstbewusster, wie
               die Kollegen einhellig in der WhatsApp-Gruppe befanden.
               Sina ausgenommen, er stand nicht auf diese Art der Selbst-
               vergewisserung. Stattdessen starrte er die folgenden zwei
               Tage auf den Bildschirm und schraubte gelegentlich an dem
               Entwurf eines Smoothie-Makers herum, damit nicht allzu
               sehr auffiel, dass er nichts zustande brachte. Zwischendurch
               tat er so, als würde er sich intensiv mit dem Briefing ausei-
               nandersetzen. Dabei kannte er die Anforderungen auswen-
               dig: Smoothie-Maker für ernährungsbewusste Konsumen-
               ten, vornehmlich Frauen, die ihn sich zusätzlich zu einem
               gewöhnlichen Standmixer anschaffen sollten, daher sollte er
               deutlich von einem solchen zu unterscheiden sein und Asso-
               ziationen an eine schlanke Frauenfigur wecken. Doch alles,
               was Sina modellierte, hatte etwas Phallusartiges.
                  Einmal blieb Ali Najjar mit einer Butterbrezel hinter ihm
               stehen und blickte auf seinen Bildschirm. Sinas Puls schoss
               in die Höhe. Ali Najjar stand so nah, er konnte ihn kauen
               hören. Um irgendetwas zu tun, drehte Sina sich auf dem
               Büro­stuhl um. Er schaute zu seinem Chef hinauf, bereute
               sogleich, sich umgedreht zu haben, und bemühte sich, diese
               Position möglichst souverän auszuhalten. Ali Najjar biss von

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der Brezel ab, kaute, betrachtete das Modell des Smoothie-
            Makers. Zog die Augenbrauen zusammen. Biss ab, kaute.
            Schluckte. Seine Lippen glänzten von der Butter.
               »Geil«, sagte er, »einfach nur geil.« Er deutete auf die an-
            gebissene Butterbrezel in seiner Hand. »Kenne ich aus Ber-
            lin gar nicht.«
               Ali Najjar ging weiter. Sinas Puls normalisierte sich. Er
            arbeitete seit fünfzehn Jahren in diesem Beruf und verfügte
            über eine gewisse Autorität. Hatte zumindest darüber ver-
            fügt. Er kannte seine Stärken, er lieferte zuverlässig durch-
            dachte Entwürfe ab und verlieh den Designs anderer den
            letzten, entscheidenden Schliff. Und ja, er kannte auch seine
            Schwächen, er war nicht der Typ für den großen Wurf. Aber
            so oft war der ja auch nicht gefragt. Wieso ließ er sich bloß
            dermaßen einschüchtern von diesem Kerl?
               Dabei empfand er ihn nicht einmal als Großkotz, wie die
            eine Hälfte seiner Kollegen in der WhatsApp-Gruppe. Aber
            noch weniger gehörte er zur anderen Hälfte, die sich darauf
            freute, dass ihnen endlich jemand etwas abverlangte.

            Am dritten Tag setzte Sina sich mittags in der Schnitzelhütte
            zu Ali Najjar an den Tisch.
               Er hatte es nicht abwenden können. Er war in den holzver-
            täfelten Gastraum mit der dunkelgrünen Auslegeware ge-
            treten, in dem sich seit dreißig Jahren nicht viel verändert
            hatte und der ihn jedes Mal in die Zeit der Alleinerziehen-
            den-Kuren mit seiner Mutter im Allgäu zurückversetzte. Bis
            er den ersten Kellner erblickte, den mit Vollbart und Anker-
            herz-Tattoo auf dem Unterarm. Da wusste er wieder, er be-
            fand sich in München, im Jahr 2016. Er ging durch den ers-
            ten in den zweiten Raum, um sich an seinen Stammplatz an

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der Ecke zu setzen. Ali Najjar hatte den Tisch bereits belegt.
               Er telefonierte.
                  Sina blieb abrupt stehen. In Ali Najjars Aura konnte er
               offenbar nicht eintreten, ohne kurz innezuhalten. Ali Naj-
               jar deutete mit dem Zeigefinger auf den freien Stuhl an sei-
               nem Tisch.

               »Hören Sie, mir fehlt die Zeit dazu. Und die Geduld so-
               wieso.« Ali Najjar schaute Sina an und verdrehte demons­
               trativ die Augen.
                  …
                  »Mir fehlt die Zeit, ein Buch zu schreiben. Mir fehlt sogar
               die Zeit, jemandem ein Buch zu diktieren.«
                  ...
                  »Hören Sie, fliegen Sie in den Iran, dort laufen ganz viele
               ehemalige Kindersoldaten herum, und viele haben noch
               Krasseres erlebt. Schreiben Sie doch über die ein Buch. Die
               freuen sich.«
                  …
                  »Mit Integration kenne ich mich nicht aus. Oder wirke
               ich etwa gut integriert?« Er lachte laut auf. Ein Backenzahn
               im Unterkiefer fehlte ihm. Seine Gesprächspartnerin lachte
               ebenfalls, Sina konnte es hören.
                  ...
                  »Machen Sie sich keine Hoffnungen. Sie sind schon die
               Dritte, der ich absage. Aber danke, fühle mich geehrt. Wie-
               dersehen.«

               Ali Najjar fixierte Sina, während er das Handy in der Hosen­
               tasche verschwinden ließ. »Sina ist dein Name, richtig, Sina
               Khoshbin?«

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Sina nickte.
               »Und Khoshbin – trifft das auf dich zu?«
               »Wenn es um uns selbst geht, sind wir doch alle unver-
            besserliche Optimisten«, sagte Sina.
               »Wie meinst du das?«
               »Wer bitte schätzt sein Scheidungs- oder Krebsrisiko rea-
            listisch ein?« Sina fühlte sich unwohl in der Rolle des weisen
            Mannes, aber er brauchte sie als Deckung.
               Ali Najjar nahm einen Schluck aus seinem Bierglas. »Und
            wenn es um andere geht, was bist du dann? Khoshbin oder
            Badbin?«
               Badbin. Sina hatte ein neues persisches Wort gelernt.
            »Pessimist natürlich.« Mit Mühe brachte er ein ironisches
            Lächeln zustande. »Zumindest, wenn ich so wie letzte Nacht
            schlecht geschlafen habe.«
               Der Kellner stellte einen Teller vor Ali Najjar ab, der unter
            dem Schnitzel fast verschwand, und ein Metallschälchen mit
            Salat.
               Sina bestellte das Gleiche.
               »So, dann siehst du für mich heute eher schwarz?«
               Nein, das tat er nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass
            irgendetwas auf dieser Welt gegen den Willen dieses Man-
            nes geschah.
               Ali Najjar teilte das Schnitzel in vier Stücke, stapelte drei
            aufeinander, und begann, das vierte in mundgerechte Hap-
            pen zu zerlegen. Dann nahm er die Gabel in die andere Hand
            und fing an zu essen.
               Sina schwieg und beobachtete ihn. Ali Najjars Hände
            waren in genau dem richtigen Maß knöchern. Seine Finger
            langgezogen, die Nägel gepflegt. Die Hände hatten offenbar
            bis vor kurzem noch Sonne abbekommen und dort, wo der

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gebräunte, olivfarbene Hautton des Handrückens überging
               in den rosafarbenen Hautton der Handfläche, dort sah Sina
               länger hin.
                   »Mein Vater ist Perser«, sagte er nach einer Weile.
                   »Und, guter Typ?« Ali Najjar kaute energisch, aber nur
               wenige Male, bevor er die Bissen hinunterschluckte.
                   Guter Typ? Was war das für eine Frage? Sina ärgerte sich.
               Die erste Runde hatte er gerade so überstanden, schon stand
               er wieder in der Ecke.
                   »Ja oder nein? Darauf kommt es nämlich an, ob Perser
               oder nicht, ist total schnuppe.«
                   »Sagen wir: cooler Typ.«
                   Ali Najjar hielt inne, senkte den Kopf, kniff die Augen
               ­zusammen. »Also ein Arschloch.«
                   »Nein, das nicht. Er ist …« Sina schaute aus dem Fenster,
                einem von zwei großen Stichbogenfenstern an der gegen-
                überliegenden Wand. Eine alte Dame ging draußen vorbei,
                sie hatte dieselbe Haarfarbe wie der Yorkshireterrier, den
                sie auf dem Arm hielt. »Meine Mutter und er, das war eine
                Schnapsidee.«
                   »Keine Ahnung, wie viele von uns das Ergebnis reiflicher
                Überlegung sind.« Ali Najjar machte sich daran, das nächste
                Viertel Schnitzel zu zerkleinern und wechselte anschließend
                wieder die Hand, die die Gabel hielt.
                   Wie Vater und Kind in einem, dachte Sina. Der fürsorg-
                liche Daddy schneidet klein, der brave Sohnemann isst auf.
                   »Und, sprichst du Persisch?«, fragte Ali Najjar kauend.
                   »Ja, ein wenig«, antwortete Sina. Er hatte mehrmals in sei-
                nem Leben angefangen, Persisch zu lernen, weil alle immer
                enttäuscht waren, wenn er die Frage »Sprichst du Persisch?«
                verneinte. Er war aber nie weit gekommen. Er hatte gerade

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