Leseprobe Das Paradies meines Nachbarn Roman
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Leseprobe Nava Ebrahimi Das Paradies meines Nachbarn Roman »Ein umwerfender Roman über Söhne und ihre Mütter, die Opfer der Liebe und über die Verantwortung, etwas aus seinem Leben zu machen. Nava Ebrahimi ist nicht nur eine der spannendsten Stimmen der deutschen Literatur, sie verdient auch international den Durchbruch.« Angela Wittmann, Brigitte Bestellen Sie mit einem Klick für 20,00 € Seiten: 224 Erscheinungstermin: 24. Februar 2020 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de
Inhalte Buch lesen Mehr zum Autor Zum Buch Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2021 »Salam, hier schreibt Ali-Reza. Ich kannte ihre Mutter gut und verfüge über einen Brief, den ich Ihnen überreichen soll. Es ist wichtig. Für Sie mindestens so sehr wie für mich.« Ali Najjar glaubt, seine Vergangenheit weit hinter sich gelassen zu haben. Er ist längst in Deutschland angekommen, als Produktdesigner erfolgreich. Der Iran, Teheran, seine Familie sind für ihn eine fremde Welt. Dann erreicht ihn die Nachricht eines Unbekannten. Und alles, woran er bislang festgehalten hat, gerät ins Wanken. Autor Nava Ebrahimi Nava Ebrahimi, 1978 in Teheran geboren, zählt zu den aufregendsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Sie erhielt 2021 den Ingeborg-Bachmann- Preis. Für ihren ersten Roman »Sechzehn Wörter« wurde sie bereits mit dem Österreichischen Buchpreis, Kategorie Debüt, sowie dem Morgenstern-Preis ausgezeichnet. Nava Ebrahimi studierte Journalismus und Volkswirtschaftslehre in Köln und arbeitete als Redakteurin bei der Financial Times Deutschland sowie der Kölner Stadtrevue. Sie war Finalistin des Open Mike und Teilnehmerin an
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Für Matthias 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 5 10.03.20 12:21
»Ich bin derjenige, der keinen Stellvertreter finden kann.« Emmanuel Levinas 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 7 10.03.20 12:21
Ali-Reza schaltete den Fernseher aus und las die Nach- richt noch einmal. Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Ihre Mutter ist vor vier Wochen, am 5. No vember, in einer Klinik in Täbris verstorben. Sie wurde auch in Täbris beigesetzt. Die Organisation, die die Klinik betreibt, übernahm die Kosten für das Begräbnis. Eine neue Nachricht ploppte auf. Mein Beileid. Und noch eine. Gott sei ihr gnädig. Wieso schrieb sein – wie waren sie eigentlich verwandt? – Großcousin das, weshalb verwendete er ausgerechnet diese Floskel, woher wusste er, dass seine Mutter Gottes Gnade besonders bedurfte? Ali-Reza legte die Hände auf die Räder seines Rollstuhls, saß ganz still da und atmete tief ein. Seine Bauchdecke hob und senkte sich. Er mochte das Gefühl beim Einatmen, eine warme Kugel im Bauch zu haben. Die An- spannung fiel ab und er fragte sich, was er empfand, jetzt da er wusste, dass seine Mutter nicht mehr lebte. Er begann, jeden Winkel seines Seelenlebens abzutasten. Er fand keine auffällige Stelle, keinen Spalt, keinen aufgerauten Fleck. Da waren Narben, ja, aber die stammten von lange verheilten Verletzungen. Neu war diese Traurigkeit, die ganz langsam wie ein dunkles Tuch auf sein Gemüt herabsank und alles bedeckte. Sie galt weniger seinem eigenen Schicksal als viel- mehr dem seiner Mutter, dem Lauf der Geschichte, der eine unbedarfte Frau, die weder lesen noch schreiben gelernt hatte und mit vierzehn Jahren verheiratet worden war, in ein gieriges Monster verwandelt hatte. Er hegte keinen Groll mehr. Er hatte sich von ihr gelöst. 9 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 9 10.03.20 12:21
Er war einst mit einer fürsorglichen Mutter aufgewachsen – in seiner Erinnerung sah er sie immer etwas glattstreichen, Wachstücher, Teig, Haar –, aber spätestens seit seinem vier- zehnten Lebensjahr hatte sie aufgehört zu existieren. So wie er. Kamran, sein Physiotherapeut, hatte ihm kürzlich erklärt, dass sich der menschliche Körper wegen der Zellerneuerung alle sieben Jahre komplett wandelt, also war niemand mehr derjenige, der er sieben Jahre zuvor gewesen war. Kam- ran hatte ihm die wissenschaftliche Erklärung dafür gelie- fert, was Ali-Reza nun empfand: Vier Wochen zuvor war in Täbris eine für ihn fremde Person gestorben. Ihre Hand war schon sehr lange nicht mehr die gewesen, die seine Wange kurz vor dem Einschlafen gestreichelt hatte. Und seine Wange war schon sehr lange nicht mehr die gewesen, die die Zärtlichkeit empfangen hatte. 10 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 10 10.03.20 12:21
In der Schnitzelhütte, beim Mittagessen mit einem Kollegen, hörte Sina den Namen das erste Mal. Nein, das stimmte nicht, er hatte ihn schon vorher aufgeschnappt, aber nie Lust verspürt, sich nach dem Menschen zu erkundigen. »Wie, du kennst Ali Najjar nicht?«, rief Frank aus. Die Mutter am Nachbartisch begann, ihren Kinderwagen me- chanisch zu schaukeln, ohne von ihrem Smartphone aufzu- blicken. »Interessiert mich nicht«, sagte Sina. »Sollte es aber.« Frank tat sich gerne wichtig, und oft mit Erfolg. Für Sina ging in diesem Moment ein Scheinwerferlicht an, gerichtet auf einen Mann mit noch unscharfen Kontu- ren. Wobei es ihm später, rückblickend, vorkommen sollte, als wäre Ali Najjar mehr als Ereignis denn als Mensch in sein Leben getreten. Diesem Ereignis war ein anderes Ereignis vorausgegangen, das, so sinnlos wie zufällig, alles in Gang gesetzt hatte: Sinas Chef Thies war beim Marathonlauf in New York an Herz- versagen gestorben. Sein Tod kam für alle überraschend, na- türlich, in diesem Fall aber besonders überraschend für Sina und seine Kollegen. Die jüngeren Designer waren geschockt, beinah traumatisiert von der Erkenntnis, dass der Tod selbst vor ihrer Berufsgruppe nicht Halt machte. Dass auch ein gutaussehender, erfolgreicher Kreativchef Mitte vierzig, der stets die angesagtesten Sneaker trug und neuerdings auch 11 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 11 10.03.20 12:21
Milchbreiflecken auf der rechten Schulter hatte, einfach so wegsterben konnte. Zwischen den Sichtbetonwänden und Apple-Bildschirmen hatten sie vergessen oder tatsächlich nie realisiert, dass sie sich in einem Körper aus Knochen, Fleisch und Blut durch Raum und Zeit bewegten. Ihnen schien nicht bewusst zu sein, dass, wenn jemand ihnen die Bauchdecke aufschlitzte, Gedärme samt Inhalt sowie andere Innereien herausquellen würden. Mit ihrer cleanen skandi- navischen Mode, so glaubten sie, seien sie unverwundbar. Sina war achtunddreißig Jahre alt und hatte immerhin eine Leisten-OP hinter sich. Er verspürte leichte Schadenfreude darüber, dass der Tod wie ein Meteorit in die Mittzwanzigerwelt seiner Kollegen eingeschlagen war. Dass ihnen endlich etwas den Parkettbo- den ihrer Kindheit unter den Füßen weggezogen hatte. Sie nervten ihn gehörig, wie sie so frisch und jung – immer jün- ger! – von der Uni kamen, so voller Hoffnung, aber ohne einen Anflug von Demut. Statt demütig wirkten sie verängs- tigt, wenn sie einem am ersten Tag die Hand schüttelten, und schon das ging Sina gewaltig auf den Keks. Denn erfah- rungsgemäß schlug ihre Ängstlichkeit bald in Überheblich- keit um. Es brauchte nicht viel, hie und da ein Lob, dort ein zufriedener Kunde, und schnell glaubten die Trophy Kids, unersetzlich zu sein. Sina machte den Wendepunkt daran fest, dass sie ihre Kaffeetassen nicht mehr in die Spülma- schine stellten, sondern auf der Anrichte stehen ließen. Als einer der wenigen war er lange genug dabei, um zu wissen, dass auch Designer sterblich waren. Die aller- meisten zumindest. Dass sein Chef jetzt tot war, stimmte ihn noch nicht einmal sehr traurig. Er wahrte Vorgesetzten gegenüber grundsätzlich Distanz. Er hielt nicht viel von den 12 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 12 10.03.20 12:21
Freundschaften, die in seinem Metier üblich waren und die sich darin manifestierten, dass man sich duzte, viel Zeit mit- einander verbrachte, während der Mahlzeiten Dinge aus sei- nem Leben preisgab, die man auch auf Facebook mit drei- tausend Leuten teilte, und gelegentlich bei Projekten und regelmäßig beim Tischfußball ein Team bildete. Zudem, dachte Sina, war Thies objektiv betrachtet eines schönen Todes gestorben. In den Schluchten von Manhat- tan, bejubelt von den Massen, mit einer Startnummer auf der Brust, als er sich einen langgehegten Traum erfüllte. Da- für musste man in Kauf nehmen, keine hundert zu werden. Lediglich für die Tochter seines Chefs, die noch ein Baby war, tat es ihm leid. Sie würde ohne leiblichen Vater, sogar ohne jegliche Erinnerungen an ihn groß werden. Sina wusste, was das bedeutete. Er besaß immerhin ein paar Erinnerungen an seinen eigenen Vater, nicht viele, dafür aber bleibende, und diese konnte er alle drei bis vier Jahre auffrischen, wenn die- ser in Deutschland war und er ihn auf einen Kaffee traf. Thies war gestorben, und nach einer dreiwöchigen Phase des Betretenseins, in der man bekundete, wie sehr er fehle, seine Kompetenz, aber natürlich auch er, als Mensch, erzähl- ten Sina zwei Kollegen unabhängig voneinander, dass ein neuer Kreativchef angeheuert habe. Er hatte noch darüber nachgedacht, ob er sich als Nachfolger in Stellung bringen sollte. Sein Alter und seine Berufserfahrung legten es nahe, aber er verspürte keine Lust auf mehr Verantwortung. Dass der Job nun bereits vergeben war, versetzte ihm zwar einen leichten Stich – ganz klammheimlich hatte er gehofft, der Vorstand würde ihm die Stelle anbieten. Die Erleichterung darüber, dass er sich nicht weiter mit der Frage auseinander- 13 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 13 10.03.20 12:21
setzen musste, wo er beruflich eigentlich hinwollte, über- wog jedoch. Und Katharina schien nicht einmal realisiert zu haben, dass Sina eine Aufstiegschance verpasst hatte. Sie arbeitete viel, klappte oft nach zwanzig Uhr noch den Lap- top auf, und wenn sie vorher beim Abendbrot zusammen- saßen, erzählte Anahita Geschichten aus der Schule. Ohne Punkt und Komma, er musste sie oft sogar daran erinnern zu essen. Ihr Mitteilungsbedürfnis war gerade enorm. »Im Ernst, du kennst Ali Najjar nicht?«, wiederholte Frank, noch immer ungläubig. Er stoppte die Gabel mit dem Stück Rindsschnitzel auf dem halben Weg vom Teller zum Mund. »›Scheiß auf Talent, Designer müssen bereit sein, für ihre Sache zu kämpfen.‹ Nie den Spruch gehört?« Sina zog die Augenbrauen zusammen, kaute unnötig lange auf seinem Bissen Schnitzel herum, tat, als müsse er überlegen. »Es gibt niemanden, der das letztes Jahr nicht retwee- tet hätte.« Frank legte mit einem Seufzer die Gabel ab und klopfte Sina an die Stirn: »Komm mal wieder raus aus dei- nem Schneckenhaus.« »Der, ja, jetzt weiß ich, wen du meinst. So Typen tauchen alle naselang auf und mischen« – mit Messer und Gabel setzte er Gänsefüßchen in die Luft – »die Szene auf. Und nach wenigen Jahren liegen sie dann mit Bauchansatz in ihrem Loungechair und kommen vor lauter Selbstgerech- tigkeit nicht mehr hoch. Keinen Bock auf so einen Typen.« »Der ist anders. Und er wird unser Chef. Googel ihn mal.« Sina googelte »Ali Najjar« direkt nach dem Mittagessen. Er sah die ersten Fotos. Er las »geboren in Teheran« auf 14 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 14 10.03.20 12:21
Wikipedia und spürte sogleich das Schnitzel in der Magen gegend, vielleicht auch etwas anderes, auf jeden Fall hatte es Gewicht. Er hatte ihn für einen Araber gehalten, weil ihr Reiseführer im Libanon genauso geheißen hatte. Und in sei- ner Branche war er noch nie auf einen Perser gestoßen. Sina rückte näher an den Monitor heran. Ali Najjar, Typ Yul Brynner, blickte ihm herausfordernd entgegen, einmal mit Zigarette zwischen den Fingern, einmal mit Füßen auf dem Tisch. Selbst im Eames-Chair » relaxend«, wie es in der Bildunterschrift eines Lifestyle-Blogs hieß, stierte er den Betrachter offensiv an. Sina scannte die Liste der Suchergebnisse. »Von der Front in den D esign-Olymp« lautete die Überschrift eines Artikels in einer großen Zeit- schrift. Er klickte weiter zu einem Interview in einem Archi- tekturmagazin und las: Sie haben nach drei Monaten die Leitung der wichtigen Arbeitsgruppe Design & Vision im Verband Deutscher Indus trie Designer abgegeben. Weshalb? Ali Najjar: Weil ich keine Angst habe. Das mögen die Deut schen nicht. Aber wenn man im Krieg war, wenn man gesehen hat, wie es den besten Freund in tausend Stücke reißt, wovor soll man dann noch Angst haben? Reflexhaft schloss Sina die Seite. Er fürchtete sich jetzt schon. 15 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 15 10.03.20 12:21
»Wie auf einer Kuhwiese fühle ich mich, wenn ich euch so ansehe. Jede Menge große Augen und Gehirne, die nichts als wiederkäuen. Dabei dachte ich, ich hätte ein Date mit dem Inhouse Design eines internationalen Toplabels. Moment, bin ich hier überhaupt richtig, lasst mich mal nachsehen … Ja, doch, stimmt, elf Uhr dreißig in der Big Bubble. Also die Topdesigner, das müsst wohl ihr sein. Aber meine simple Frage scheint euch ja echt schon heraus zufordern. Im Ernst: Was denkt ihr denn so angestrengt nach? Oder nein, ihr denkt nicht, ihr grübelt. ›Grübeln‹ ist genau das richtige Wort für das, was ihr tut. Klingt wie ›krümeln‹. Ihr krümelt euch jetzt alle so einen Scheiß zusammen. ›Was hat mich das letzte Mal begeistert? Ja, was? Ähm. Hm. Puh. Dass ich mein Tagesticket fürs Freibad zweimal verwenden konnte?‹ Ihr seid so ängstlich angestrengt. Eure Angst macht euch so eindimensional. So lesbar. Ihr müsstet euch mal sehen. Bücher für Erstleser sind eure Gesichter! Wovor habt ihr eigentlich Angst? Okay, braucht ihr mir nicht zu verraten. Also. Was hat euch das letzte Mal so richtig begeistert? Dann seid doch wenigstens ehrlich. Dann kommt viel- leicht etwas Interessantes dabei heraus. Oder wenigstens ein Lacher. Ich wette, ihr seid mit den Gedanken schon auf der dritten Metaebene. Ihr habt jede Antwort schon mehr- mals wiedergekäut. 16 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 16 10.03.20 12:21
›Der Film mit Matt Damon in der Hauptrolle war cool, aber Film ist zu naheliegend, ich brauche etwas, das nur mich begeistert haben kann, weil nur ich diesen einzigartig genialen Blick auf die Dinge habe. Die Anordnung der Topf- pflanzen auf der Blumenampel im Treppenhaus? Das hätte etwas Nerdiges. Noch besser wäre aber etwas Anti-Intellek- tuelles. Hm, krümel, krümel.‹ Ihr macht ein Gesicht wie eure Eltern im Italienurlaub, im Restaurant, krümelnd über der Speisekarte hockend. ›Nehme ich die Pizza Hawaii oder das Schnitzel?‹ Ihr werdet euer Leben lang weiter krümeln, wenn ihr nicht mal langsam in die Gänge kommt. Ihr speichelt eure Krü- mel ein und macht daraus faden Brei. Das ist eure M asche. Immer mehr Brei, alles pappt ihr irgendwie zusammen. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken an den ganzen Brei, den ihr in eurem breiigen Leben schon produziert habt. Gut, dass jetzt die Tür aufgeht, sonst ersticke ich gleich, und so spontan wie ihr seid, würdet ihr mir dabei zusehen, wie ich erst nach Luft ringe, und darüber nachkrümeln, was jetzt eine coole Reaktion wäre. Ah, endlich die Liste mit allen Kreativen, danke. ›Kreati- ven‹, ha! Benjamin B. Benecke, Industrial Design. Johanna Ehrmann, Market Research. Joelle Schummer, CMF-Design. Joelle. Noemi Puder. Hahaha! Du warst auf der Waldorf- schule, hundertpro. Kurzen Moment. Hallo? Jetzt passt es gerade gar nicht, ich bin in einem Mee- ting. Oder besser Meat-Ding, ich sitze lauter Fleischklum- pen gegenüber.« 17 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 17 10.03.20 12:21
… »Ganz schlechte Idee, glauben Sie mir.« … »Sie sind Pädagogin, lassen Sie sich was einfallen. Ich traue Ihnen zu, dass Sie es mit einem Fünfjährigen aufneh- men. Tschö.« … »Ne, bringt nichts, meine Ex geht nicht ran, wenn sie Ihre Nummer sieht. Tschö. Leute, ihr schaut ja immer noch so bekloppt drein. Ihr schaut so abgefuckt aus wie Vorstadtrapper bei ihren ersten Sozial stunden im Behindertenwohnheim. Aber Vorstadtrapper haben Spirit. Die haben eine Message. Davon könnt ihr nur träumen. Also, was hat euch zuletzt einen Kick gegeben? Wenigs- tens einen kleinen? Okay, die Frage ist euch zu langweilig, verstehe. Dann eine andere: Wer von euch hat gerade eine Affäre? Bitte die Hand heben! Wie, niemand? Statistisch gesehen müssten jetzt mindestens zwei Hände oben sein. Wirklich niemand? Leute, wie sollen wir denn zusammenarbeiten, wenn ihr so unehrlich seid? Wollt ihr ehrlich sein, wollt ihr Designer sein und etwas wagen oder wollt ihr nur Behübscher sein? Bekrümler?« Das ist reinste Zeitverschwendung hier. Am liebsten würde ich die gleich alle vor die Tür setzen. Fast alle. Die beiden da, die beiden Busenfreundinnen, die können ganz sicher ein packen. Blutarme Blondinnen mit bewegter Vergangenheit auf dem Ponyhof haben mich selten überrascht. Rapunzel hier 18 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 18 10.03.20 12:21
vorne, die kriegt eine Chance, aber nur, wenn sie nicht Noemi heißt. Ich fürchte nur, sie heißt Noemi, dann geht natürlich nix. Und bei dem Dunkelhaarigen hinten rechts bin ich mir noch nicht ganz sicher, ob er ein Loser ist. Der Dunkelhaa rige scheint mehr draufzuhaben als die anderen Pappnasen hier. Möglich, dass das nur an seinen Falten liegt. Wo ist die Liste … Sina Khoshbin, Senior Industriedesigner. Schau an. Wieso guckt der denn so genervt an die Decke? Er sollte sich lieber mal seine Locken stutzen. »Also, dann versuchen wir es noch einmal mit der ersten Frage: Was hat euch das letzte Mal begeistert? Ihr werdet es mir nicht glauben, aber das ist eine Spitzenfrage, wenn man eine Crew kennenlernen will. Was führt ihr für traurige Leben? Keine Affären, keine Begeisterung? Jetzt aber, ich habe nicht ewig Zeit. Schaltet eure Gedan- ken mal in den Schleudergang. Was hat euch begeistert? Die schwebenden Sideboards von Piffpaff? Veganes Physa- lis-Softeis auf dem Streetfood Market? Der Bildband über siamesische … Ah, na endlich, ja, du dahinten, du mit den Locken, ich höre?« ... Was kichern die denn so dumm. »Na also, wieso nicht gleich. Danke, auch ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Und jetzt geht mir aus den Augen.« ›Dass du unser neuer Kreativchef wirst‹. Der Arsch mit sei ner persischen Hakennase. 19 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 19 10.03.20 12:21
Ali Najjar entliess am nächsten Tag alle, die er sofort entlassen konnte. Praktikanten und Angestellte in der Pro- bezeit. Dafür kamen zwei Designer aus seiner alten Agen- tur. Zumindest äußerlich und nach einigen Minuten Small- talk an der Kaffeemaschine wirkten diese nicht progressiver, nicht einmal mutiger oder wenigstens selbstbewusster, wie die Kollegen einhellig in der WhatsApp-Gruppe befanden. Sina ausgenommen, er stand nicht auf diese Art der Selbst- vergewisserung. Stattdessen starrte er die folgenden zwei Tage auf den Bildschirm und schraubte gelegentlich an dem Entwurf eines Smoothie-Makers herum, damit nicht allzu sehr auffiel, dass er nichts zustande brachte. Zwischendurch tat er so, als würde er sich intensiv mit dem Briefing ausei- nandersetzen. Dabei kannte er die Anforderungen auswen- dig: Smoothie-Maker für ernährungsbewusste Konsumen- ten, vornehmlich Frauen, die ihn sich zusätzlich zu einem gewöhnlichen Standmixer anschaffen sollten, daher sollte er deutlich von einem solchen zu unterscheiden sein und Asso- ziationen an eine schlanke Frauenfigur wecken. Doch alles, was Sina modellierte, hatte etwas Phallusartiges. Einmal blieb Ali Najjar mit einer Butterbrezel hinter ihm stehen und blickte auf seinen Bildschirm. Sinas Puls schoss in die Höhe. Ali Najjar stand so nah, er konnte ihn kauen hören. Um irgendetwas zu tun, drehte Sina sich auf dem Bürostuhl um. Er schaute zu seinem Chef hinauf, bereute sogleich, sich umgedreht zu haben, und bemühte sich, diese Position möglichst souverän auszuhalten. Ali Najjar biss von 20 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 20 10.03.20 12:21
der Brezel ab, kaute, betrachtete das Modell des Smoothie- Makers. Zog die Augenbrauen zusammen. Biss ab, kaute. Schluckte. Seine Lippen glänzten von der Butter. »Geil«, sagte er, »einfach nur geil.« Er deutete auf die an- gebissene Butterbrezel in seiner Hand. »Kenne ich aus Ber- lin gar nicht.« Ali Najjar ging weiter. Sinas Puls normalisierte sich. Er arbeitete seit fünfzehn Jahren in diesem Beruf und verfügte über eine gewisse Autorität. Hatte zumindest darüber ver- fügt. Er kannte seine Stärken, er lieferte zuverlässig durch- dachte Entwürfe ab und verlieh den Designs anderer den letzten, entscheidenden Schliff. Und ja, er kannte auch seine Schwächen, er war nicht der Typ für den großen Wurf. Aber so oft war der ja auch nicht gefragt. Wieso ließ er sich bloß dermaßen einschüchtern von diesem Kerl? Dabei empfand er ihn nicht einmal als Großkotz, wie die eine Hälfte seiner Kollegen in der WhatsApp-Gruppe. Aber noch weniger gehörte er zur anderen Hälfte, die sich darauf freute, dass ihnen endlich jemand etwas abverlangte. Am dritten Tag setzte Sina sich mittags in der Schnitzelhütte zu Ali Najjar an den Tisch. Er hatte es nicht abwenden können. Er war in den holzver- täfelten Gastraum mit der dunkelgrünen Auslegeware ge- treten, in dem sich seit dreißig Jahren nicht viel verändert hatte und der ihn jedes Mal in die Zeit der Alleinerziehen- den-Kuren mit seiner Mutter im Allgäu zurückversetzte. Bis er den ersten Kellner erblickte, den mit Vollbart und Anker- herz-Tattoo auf dem Unterarm. Da wusste er wieder, er be- fand sich in München, im Jahr 2016. Er ging durch den ers- ten in den zweiten Raum, um sich an seinen Stammplatz an 21 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 21 10.03.20 12:21
der Ecke zu setzen. Ali Najjar hatte den Tisch bereits belegt. Er telefonierte. Sina blieb abrupt stehen. In Ali Najjars Aura konnte er offenbar nicht eintreten, ohne kurz innezuhalten. Ali Naj- jar deutete mit dem Zeigefinger auf den freien Stuhl an sei- nem Tisch. »Hören Sie, mir fehlt die Zeit dazu. Und die Geduld so- wieso.« Ali Najjar schaute Sina an und verdrehte demons trativ die Augen. … »Mir fehlt die Zeit, ein Buch zu schreiben. Mir fehlt sogar die Zeit, jemandem ein Buch zu diktieren.« ... »Hören Sie, fliegen Sie in den Iran, dort laufen ganz viele ehemalige Kindersoldaten herum, und viele haben noch Krasseres erlebt. Schreiben Sie doch über die ein Buch. Die freuen sich.« … »Mit Integration kenne ich mich nicht aus. Oder wirke ich etwa gut integriert?« Er lachte laut auf. Ein Backenzahn im Unterkiefer fehlte ihm. Seine Gesprächspartnerin lachte ebenfalls, Sina konnte es hören. ... »Machen Sie sich keine Hoffnungen. Sie sind schon die Dritte, der ich absage. Aber danke, fühle mich geehrt. Wie- dersehen.« Ali Najjar fixierte Sina, während er das Handy in der Hosen tasche verschwinden ließ. »Sina ist dein Name, richtig, Sina Khoshbin?« 22 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 22 10.03.20 12:21
Sina nickte. »Und Khoshbin – trifft das auf dich zu?« »Wenn es um uns selbst geht, sind wir doch alle unver- besserliche Optimisten«, sagte Sina. »Wie meinst du das?« »Wer bitte schätzt sein Scheidungs- oder Krebsrisiko rea- listisch ein?« Sina fühlte sich unwohl in der Rolle des weisen Mannes, aber er brauchte sie als Deckung. Ali Najjar nahm einen Schluck aus seinem Bierglas. »Und wenn es um andere geht, was bist du dann? Khoshbin oder Badbin?« Badbin. Sina hatte ein neues persisches Wort gelernt. »Pessimist natürlich.« Mit Mühe brachte er ein ironisches Lächeln zustande. »Zumindest, wenn ich so wie letzte Nacht schlecht geschlafen habe.« Der Kellner stellte einen Teller vor Ali Najjar ab, der unter dem Schnitzel fast verschwand, und ein Metallschälchen mit Salat. Sina bestellte das Gleiche. »So, dann siehst du für mich heute eher schwarz?« Nein, das tat er nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas auf dieser Welt gegen den Willen dieses Man- nes geschah. Ali Najjar teilte das Schnitzel in vier Stücke, stapelte drei aufeinander, und begann, das vierte in mundgerechte Hap- pen zu zerlegen. Dann nahm er die Gabel in die andere Hand und fing an zu essen. Sina schwieg und beobachtete ihn. Ali Najjars Hände waren in genau dem richtigen Maß knöchern. Seine Finger langgezogen, die Nägel gepflegt. Die Hände hatten offenbar bis vor kurzem noch Sonne abbekommen und dort, wo der 23 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 23 10.03.20 12:21
gebräunte, olivfarbene Hautton des Handrückens überging in den rosafarbenen Hautton der Handfläche, dort sah Sina länger hin. »Mein Vater ist Perser«, sagte er nach einer Weile. »Und, guter Typ?« Ali Najjar kaute energisch, aber nur wenige Male, bevor er die Bissen hinunterschluckte. Guter Typ? Was war das für eine Frage? Sina ärgerte sich. Die erste Runde hatte er gerade so überstanden, schon stand er wieder in der Ecke. »Ja oder nein? Darauf kommt es nämlich an, ob Perser oder nicht, ist total schnuppe.« »Sagen wir: cooler Typ.« Ali Najjar hielt inne, senkte den Kopf, kniff die Augen zusammen. »Also ein Arschloch.« »Nein, das nicht. Er ist …« Sina schaute aus dem Fenster, einem von zwei großen Stichbogenfenstern an der gegen- überliegenden Wand. Eine alte Dame ging draußen vorbei, sie hatte dieselbe Haarfarbe wie der Yorkshireterrier, den sie auf dem Arm hielt. »Meine Mutter und er, das war eine Schnapsidee.« »Keine Ahnung, wie viele von uns das Ergebnis reiflicher Überlegung sind.« Ali Najjar machte sich daran, das nächste Viertel Schnitzel zu zerkleinern und wechselte anschließend wieder die Hand, die die Gabel hielt. Wie Vater und Kind in einem, dachte Sina. Der fürsorg- liche Daddy schneidet klein, der brave Sohnemann isst auf. »Und, sprichst du Persisch?«, fragte Ali Najjar kauend. »Ja, ein wenig«, antwortete Sina. Er hatte mehrmals in sei- nem Leben angefangen, Persisch zu lernen, weil alle immer enttäuscht waren, wenn er die Frage »Sprichst du Persisch?« verneinte. Er war aber nie weit gekommen. Er hatte gerade 24 433_75869_Ebrahimi_Das-Paradies-meines-Nachbarn.indd 24 10.03.20 12:21
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