Vom Broadcasting zum Personal Casting. Muss das Radio jetzt neu erfunden werden?
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http://www.mediaculture-online.de Autor: Steinmetz, Rüdiger. Titel: Vom Broadcasting zum Personal Casting. Muss das Radio jetzt neu erfunden werden? Herausforderungen und Chancen durch Digitalisierung, Personalisierung und Ubiquität der Kommunikation. Quelle: In: Föllmer, Golo/ Thiermann, Sven: Relating Radio – Communities. Aesthetics. Access. Beiträge zur Zukunft des Radios. Leipzig 2006, S. 82-92. Verlag: Spector Books. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Rüdiger Steinmetz Vom Broadcasting zum Personal Casting. Muss das Radio jetzt neu erfunden werden? Herausforderungen und Chancen durch Digitalisierung, Personalisierung und Ubiquität der Kommunikation. Radio ist ein „altes Medium“, besser: ein seit 1923 etabliertes, klassisches Medium. Seit Ende der 1920er Jahre bis heute ist es ein integraler Bestandteil unseres Alltags. Es erlebte einschneidende Veränderungen und Erweiterungen von Programm, Übertragungsqualität und Nutzung durch • die Schallplatte ab Mitte der 20er Jahre • die magnetische Aufzeichnungstechnik (auf breiterer Basis nach 1945) - UKW ab etwa 1950 • das Kofferradio in den 50ern • die Stereophonie und den Kassettenrecorder seit Anfang der 60er Jahre - Servicewellen seit Anfang der 70er Jahre - die CD seit Anfang der 80er • das Duale Rundfunksystem seit 1984 (BRD) bzw. 1990 (D) • die EBU-Entscheidung 1996 für DAB als europäischem Digitalradio Standard • Live-Streaming und Download von Programmen seit Ende der 90er Jahre 1
http://www.mediaculture-online.de • das Podcasting seit 2004 • das „Handy-TV“ (mit Radioprogrammen) seit 31. Mai 2006 Das politisch initiierte Szenario für den Umstieg vom guten, alten analogen Radio auf die digitale Rundfunk-Verbreitung sah zunächst das Jahr 2010 vor; nun wird es wohl 2015 oder später werden. Überholt werden derart langfristig angelegte und umfangreiche Szenarien durch immer neue technische Trends und durch die gegenwärtig intensiv beschleunigte Veränderung unserer Kommunikationsgewohnheiten. Podcasting gibt den Vorschein einer auf individuelle, personale und interaktive Gestaltung von Kommunikationsmenüs ausgerichteten künftigen Medienkultur. Es markiert einen Einschnitt in die seit 1923 gewachsene Welt des Rundfunks: weg vom Broadcasting, hin zum Personal Casting. Die Zeit der „Gemeinschafts-Dusche“ Rundfunk geht zu Ende. Nach dem Personal Computer - seit den frühen 80er Jahren - und dem Personal Telephone („Handy“) - seit den frühen 90er Jahren - nun auch das personalisierte Rundfunk-Machen und Programm-Zusammenstellen. Gewohnheiten verändern sich und gewohnte Begriffe lösen sich auf, müssen neu definiert oder neu kreiert werden. Hinter diesen Veränderungen stehende Innovationen beziehen sich auf • die Produktion: z.B. die Ablösung analoger Studio- und Reportertechnik durch digitale; Bandmaschinen, Spulen- und Kassetten-Recorder durch Fest-(Platten)-Speicher • das Software-Produkt: das, was bisher als „Programm“ bezeichnet wird: ein einseitig vom "Sender" gestaltetes, kontinuierlich fließendes Programm für eine mehr oder minder große Masse; vom Allround-Programm („für jeden etwas“) über Zielgruppen- Programme hin zu Sparten- und Formatprogrammen und schließlich zu individuellen, zweiseitigen Kommunikations- oder einseitigen, individuellen Abrufangeboten; Vielfalt und Kleinteiligkeit der Angebote • das Hardware-Produkt: die Hybridisierung solcher Geräte, die bisher jeweils einem Medium zugeordnet waren • die Übertragung: digital sowohl über terrestrische Rundfunk-Sender als auch über Satelliten, durchs Kabel und durch ICT-Netze1 synchrone und/oder asynchrone Übertragung/Abruf • die Rezeption: Individualität der Nutzungsformen und -zeiten 1 ITC = Information and Comunnications Technology 2
http://www.mediaculture-online.de Angesichts des Umfangs der-Investitionen ist es verführerisch, so manche Entwicklungsstufe zu überspringen („Leap-frogging“) und andere die kostspieligen Erfahrungen machen zu lassen, wie es zum Beispiel die irische Regulationsbehörde mit DAB erwägt (vgl. Shaw 2005, 12), oder einfach abzuwarten, wohin der digitale Hase läuft („Wait-and-see-approach“). Bei der Einführung neuer (Radio-)Technologien beobachten wir nämlich mehrere Paradoxa bzw. hybride Entwicklungen: 1. Innovationen sind um so tief greifender und - im ersten Moment - fortschrittlicher, je später sie erfolgen. Das hat die Erneuerung Ostdeutschlands nach der Wende in den letzten 15 Jahren gezeigt. 2. Zugleich benötigen Innovationen immer auch eine größere Anzahl an Versuchskaninchen („Early Adopters", „junge Wilde“, „Experimentelle"), und sie brauchen einen längeren zeitlichen Vorlauf. 3. Radio und Fernsehen waren in ihren Anfangsjahren (20er bzw. 30er/ 50er) reine Live- Medien. Live ist bis heute ein zentrales Kennzeichen des Radios.2 Dieser Live-Thrill, den der Hörer synchron mit tausenden oder Millionen anderen erlebt, soll jetzt ersetzt werden durch den Offline-, den Asynchron-, den Individual-“Thrill“ der „Me-Media“3, der sich aus der räumlichen und zeitlichen Atomisierung der Millionen Kommunikationsteilnehmer ergeben könnte. Das Live-Erlebnis aus der „Gemeinschafts-Dusche“ wird abgelöst durch personalisierte/ Nischen-Kommunikation mit einer quantitativ überschaubaren, aber weit (potentiell global) verstreuten Gruppe anderer Einzelner. 4. Der Live-Thrill wird in Verwirklichung der Brecht'schen Hoffnung auf einen zweiseitigen Kommunikations-Apparat eventuell ersetzt werden durch die Inhalts- und Programm- Kreation der vielen Kommunikationsteilnehmer, die als Masse und Individuum passiv und zugleich aktiv Beteiligte sind. 2 Neben der Realität-Abstraktion durch die Konzentration auf nur einen Sinneskanal: den Ton (McLuhan:“heißes Medium“) und die damit verbundene Künstlichkeit/künstlerische Gestaltungsmöglichkeit. 3 „Me-Media“ sind Geräte, deren Programme/ Inhalte den persönlichen, individuellen, spezifischen Bedürfnissen des Nutzers angepasst werden können. 3
http://www.mediaculture-online.de 5. Als fünftes ist ein medienökonomisches Paradox zu beobachten. Mit den neuen, individualisierten Medien kommt man heran an die Zielgruppen, aber weg von der Werbung aus der „Gemeinschafts-Dusche". Je individueller die mediale Erreichbarkeit wird, also je näher Werbung den Nutzer/Teilnehmer und spezifisch einzugrenzende Zielgruppen fokussieren kann, je mehr interaktive Möglichkeiten entstehen, desto mehr suchen die Werbetreibenden nach Alternativen zur bisherigen One-to-many-Werbung, die auf dem Rund-Funk-Prinzip beruht. Das wird, nicht ganz treffend, als Übergang vom „hard selling" zum „soft-selling“ bezeichnet. Es geht darum sicherzustellen, dass die mit der Digitalisierung (v)erkaufte Personalisierung und Individualisierung von den Nutzern nicht so weit "missbraucht" wird, dass sie werbende Inhalte umgehen. Begriffe neu definieren: „Rundfunk“ & „Programm“ Wegen der grundlegenden Veränderung des Rundfunk-Dispositivs stehen Basis- Definitionen, etwa von „Programm“, „Sendung“, „Radio“ und „Rundfunk“ zur Disposition. Bis heute ist das Radioprogramm eine kontinuierliche, in abgegrenzten, weitgehend wiederkehrenden Strukturen von einem Sender einem massenhaften, dispersen Publikum synchron angebotene, von professionellen Kommunikatoren (Journalisten, Künstlern) gestaltete Abfolge akustischer Informationen (Sprechsprache, Musik, atmosphärische Töne), die über terrestrische Sender, per Kabel oder Satellit übermittelt wird. Diese Definition muss heute und in Zukunft ergänzt werden um folgende, durch neue Technologien hinzukommende Aspekte: • diskontinuierliche, asynchrone Angebote mit der Möglichkeit zur p2p und On-demand- Kommunikation • sowohl professionelle als auch professionalisierte Amateur-Kommunikatoren • nicht nur akustische, sondern auch Text- und (Bewegt-)Bild-Informationen • Übermittlung auch über Telekommunikations-(ICT-) und IP-Netzwerke Inhaltlich findet eine Erweiterung und Modularisierung von "Programm"-Angeboten, Service-Elementen und des Feedbacks (der p2p-Kommunikation) statt. Wenn die Nutzung flexibler, also personalisierter wird, dann werden „Programme“ sowohl synchron als auch asynchron angeboten werden müssen; es werden mindestens Feed-Back-, aber 4
http://www.mediaculture-online.de weit mehr noch als bisher echte Beteiligungsmöglichkeiten der Nutzer geschaffen werden müssen. Und wenn sich dadurch Nutzer-Profile ändern, d.h. also Nutzermassen noch stärker als bisher in verschiedene Zielgruppen zerfallen und atomisiert werden, müssen sich auch die Macher-Profile ändern und erweitern - sicher um den bisher text- und foto- orientierten Online-Journalismus, aber um noch viel mehr, z.B. • wird es eine neue Arbeitsteilung zwischen Redakteur/Journalist und Techniker geben • wird ein mehr-mediales Arbeiten gang und gäbe sein, das durch einfache Software bedienerfreundlicher wird als bisher • werden dieselben Inhalte für verschiedene Zielgruppen in verschiedenen medialen Formaten aufbereiten werden müssen • werden spezielle, "neue" Inhalte den verschiedenen Formaten gemäß kreiert werden • wird Software-Expertenschaft noch stärker als bisher erwartet werden Diese neuen Macher-Profile werden zur Veränderung der bisherigen Arbeitsteilung und der Hierarchien führen. Ob aus passiven, massenhaften Hörern („Couch Potatoes“) in Zukunft relevante Mengen an aktiven, individuellen Teilnehmern am elektronischen und digitalen Kommunikationsprozess werden, ist schwer vorauszusagen. Das wird sich nicht von heute auf morgen ereignen, und es wird ein gemeinsamer Lern- und Adaptionsprozess von Anbietern und Teilnehmern sein. Ein Zwiespalt zwischen einer wachsenden Zahl an eher aktiven und den eher passiven Teilnehmern zeichnet sich ab. Der Grad der bereits erreichten Individualisierung der Kommunikation und ihr technologisch induziertes Zukunfts-Potenzial darf aber nicht unterschätzt werden. Das klassische Radio ist nach der Zeitung am stärksten von diesen Veränderungen betroffen. Nationale und internationale Studien zeigen nämlich mehr oder weniger deutlich, dass die alten Medien die junge Generation verlieren. Und diese junge Generation der bis 30- Jährigen wird mit ihren heute geprägten Medien-Gewohnheiten über Erfolg oder Misserfolg künftiger Medien-Szenarien durch Nutzung oder Nicht-Nutzung entscheiden. So zeigte bereits der UCLA Internet Report 2003 (UCLA Center for Communication Policy, 2003), dass unter den alten Medien allein das Musikhören über CD- und MP3- Player (und das Video-Spielen) in der Nutzung leicht angestiegen sind, nicht aber die Radio-Nutzung. Nationale Langzeitstudien weisen nach, dass der hohe Radiokonsum in 5
http://www.mediaculture-online.de Deutschland langsam, aber stetig rückläufig ist (van Eimeren/ Frees, 2005; ARD/ZDF- Studie 2005; Ridder/Engel 2005), und zwar im Wesentlichen unter intensiven Internetnutzern. Engel und Windgasse stellten 2005 fest, dass in drei sozialen Milieus („Experimentalisten", „Post-Materialisten“, „Moderne Performisten“), die sie isolierten, die Zeitungsnutzung extrem, die TV-Nutzung stark und die Radionutzung leicht zurückging. (Engel/Windgasse 2005, 450) Unsere eigene kulturvergleichende Langzeitstudie der Nutzung Neuer Medien durch junge Erwachsene zeigte in der letzten, sechsten Welle Folgendes: 1. In den USA/Penn State hört nur noch die Hälfte der Befragten Radio. Dies hat prognostisches Potential, wenn man die USA als mediale „Leitkultur" ansieht, was man leider auch aufgrund unserer Ergebnisse tun muss. 2. In der Hitliste der Mediennutzung ist das Internet bei den jungen Menschen mit dem Radio gleichgezogen. (Steinmetz/Davis/Bröge/Raman 2005, 18) Im Bevölkerungsdurchschnitt hinkt diese Entwicklung noch hinterher, aber nicht mehr lange. Das alles sollte alarmierend für Rundfunkanstalten (und Zeitungshäuser) sein. Gegenwärtige Zahlen der Media-Analyse (MA) müssen vor dem Hintergrund der Individualisierung, Autonomisierung und auch teilweisen Aktivisierung der Kommunikation gesehen werden, für die Pod- und Vodcasts die Zeichen der Zeit sind - persönlich wie die Zahnbürste und zugleich virtuell wie der Geist, der aus der Flasche entwich. Podcasting als Zeichen einer neuen Zeit der Kommunikation 1980 wirkten sie noch skurril, die ersten jungen Menschen, die sich in U- und S-Bahnen von ihren morgendlichen Mitfahrern per Kopfhörer und Walkman abschirmten; die Jogger, die sich über ihre Lauf-Bahnen quälten und sich dabei mit einem persönlich zusammengestellten Musik-Menü belohnten. Die Zeit der individualisierten Mediennutzung begann, und nicht nur der Nutzung, sondern auch der persönlichen Gestaltung des eigenen Medien-Menüs. PC, Laptop, CD-Player und -Brenner sind weitere Wegmarken in Richtung Abkoppelung von der synchronen Rundfunk- 6
http://www.mediaculture-online.de Massenkommunikation4 und in Richtung massenhafter, asynchroner Individualkommunikation. Heute sind die iPodder mit ihren Ohrknöpfen alltäglich. Podcasting und Vodcasting auf MP3-Playern und iPods markieren den Übergang in ein neues Zeitalter der Kommunikation, egal, ob der Hype von Dauer sein wird oder nicht; den Übergang in eine Medien-Zeit der Individualisierung, zugleich der massenhaften Verteilung und Vernetzung von Medieninhalten und eines erheblich erhöhten Aktivitäts- und Mediengestaltungspotentials der bisherigen passiven Mediennutzer. Stark angestiegene Speicherdichten, Daten-Komprimierung, Geräte-Miniaturisierung, Ausweitung der Übertragungs-Bandbreiten und -Geschwindigkeiten, weltweite Vernetzung machten es möglich. Und natürlich war ein Motiv das unendlich und unentwirrbar verflochtene Zusammenspiel von Kult-Bedarf auf der einen und Kult-Kreation in der Kommunikation auf der anderen Seite. In einer Mischung aus dem propagierten neuen Kulturideal der Ubiquität (Allgegenwärtigkeit), Personalisierung bzw. Individualisierung und Flexibilität hinsichtlich der Mediennutzung und den tatsächlichen Bedürfnissen einer immer mobileren Gesellschaft trat seit Sommer 2004 Podcasting auf den Plan. Dieses hybride Kommunikations-Prinzip reiht sich ein in die Geschichte portabler Geräte, die teilweise in der Jugendkultur begannen und dann in den allgemeinen Medienalltag diffundierten. Flexibilität und Mobilität prägten und prägen die gegenwärtige und die künftige Medien- Teilnehmer-Generation. Sie wird sich souverän auf den verschiedenen Plattformen bewegen. Ein höheres Aktivitätsniveau bei der Gestaltung des persönlichen Medienprogramms wird damit verbunden sein, ebenso wie eine Ausweitung der hierfür anstelle anderer, nicht-virtueller Aktivitäten aufgewendeten Zeit: ein aktiv gestalteter Konsum. Das vom Rundfunk wesentlich geprägte „Zeitgespräch der Gesellschaft“ (Emil Dovifat) wird noch mehr als schon bisher zum Selbstgespräch und zum Dialog der vernetzten Einzelnen werden. Seit 2004 dreht sich das Innovations-Karussell im digitalen Rundfunk- und ICT-Bereich noch schneller. Wir befinden uns inmitten einer medialen Übergangsphase zur massenhaften, kommerzialisierten Individualkommunikation, in der noch vieles unklar ist, 4 Broadcasting = breit streuen/ aussenden; „one-to-many“ 7
http://www.mediaculture-online.de in der technische Standards gegen harte Konkurrenz durchzusetzen sind, in der langfristig gemeinsame Plattformen und vor allem aber Inhalte zu finden sind, in der Pilotprojekte gestartet und über optimistische Visionen artikuliert werden. Prognosen schnurren da zu PR zusammen, die Verbreitung exponentiell wachsender Nutzerzahlen bei Weblogs und Pod-/Vodcasts wird zu einem den Trend verstärkenden Markting-Instrument. Pod-/Vodcasting ist das Erstellen und - per individuellem, automatisiertem Abonnement -Verteilen von Audio- und Videodateien, die von Amateuren oder Profis gestaltete Radio- bzw. Videobeiträge enthalten und von den Nutzern zu persönlich gestalteten Programmen aggregiert und zu beliebiger Zeit, also nicht zeitgleich mit der „Ausstrahlung“ (dem Hochladen), auf einem persönlichen Rechner oder persönlichen, portablen Endgerät (z.B. iPod) rezipiert werden. Der Begriff „Podcasting“ lebt von der akustischen Nähe zum englischen Wort „Broadcasting“ und zum Namen des weit verbreiteten MP3-/MP4-Players iPod. Seit September 2004 erfreut sich Podcasting zunehmender Beliebtheit im Internet. Es existieren Podcasts zu allen Themenbereichen, hoch aktuellen wie auch zeitlosen. Man unterscheidet zwischen drei Herkunfts-Typen: von unabhängigen, privaten (Grassroots-)Autoren, von professionellen Produzenten (z.B. ARD, DLF, DW, BBC etc.) und aus PR-Abteilungen, z.B. BMW. Sie sind zwischen einer und 60 Minuten lang; Beiträge bis maximal 20 Minuten werden als sinnvoll angesehen, weil Podcasts "Zwischendurch-Häppchen" sind, die auf dem Weg zur/von der Arbeit, beim Einkaufen, Freizeitsport etc. konsumiert werden. Intervalle des Erscheinens liegen zwischen mehrmals täglich (z.B. Financial Times Deutschland) und - meist bei den Unabhängigen - einmal wöchentlich. In der Erscheinungsfrequenz und der sich daraus ergebenden Serialität liegt auch das Unterscheidungskriterium zum "normalen" Datei-Download sporadisch und unregelmäßig erscheinender Audio- bzw. Videobeiträge einerseits und zum synchronen Streaming andererseits. Verwandt ist die Pod-/Vodcast-Szene mit der Weblog-Szene; alles basiert auf dem RSS-Dateiformat5. Einen Podcast kann jeder Autor herstellen und veröffentlichen, der eine (möglichst breitbandige) Internetverbindung, einen PC mit Soundkarte und entsprechender Software benutzt. Beim Podcasting kann der bisher passive Hörer zum Macher werden und damit Bertolt Brechts visionäre Forderung aus seiner so genannten "Radiotheorie" von 1932 erfüllen: 5 RSS: Real simple syndication = wirklich einfache Verteilung 8
http://www.mediaculture-online.de das Radio in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. (vgl. Brecht 1972 [1932])6. Und das tun Millionen7 vor allem junge, recht gut (aus-) gebildete Männer weltweit. Für Jugendliche und Erwachsene bis Mitte 30 ist die Beherrschung von Download- und Audio-/Video-Produktionssoftware inzwischen integraler Bestandteil des Alltags. Aus passiven Medienkonsumenten werden immer mehr aktive Gestalter. Nie wird die Zahl der aktiven Gestalter die der passiven Konsumenten überwiegen, aber es handelt sich inzwischen um weit mehr als eine „Quantite negligeable“, und dies führt zu einem stark veränderten Medienverständnis auf breiter Basis. Das massenhaft vervielfältigte Brecht'sche Kommunikations-Potenzial ergibt sich aus der inzwischen sehr niedrigen Hürde für den Einstieg in die digitale Produktion und Veröffentlichung. Dieses Potenzial kann „Agendas setten“, unterdrückten Informationen, aber auch wilden Gerüchten, die persönlichen und ökonomischen Schaden anrichten, öffentliche Resonanz verschaffen; es kann Unterdrückten und Minoritäten ein Artikulationsorgan geben; es kann Bildung vermitteln. Podcasting ist ein Hybrid in vielerlei Hinsicht. So ist es sowohl ein Underground- (Grassroots-) als auch ein Mainstream-Medienkanal. Eine von Dennis Mocigemba (Mocigemba 2006) entwickelte, noch sehr vorläufige Typologie solcher Mentalitäten, die hinter der Pod-/Vodcasting-Produktion stecken, möchte ich in abgewandelter und erweiterter Form unterscheiden in: 1. Den „Explorer“: Er will die neue Technologie durch Spielen ausprobieren; Form und Inhalt der Pod-/Vodcasts entstehen, durchs Experiment. Der Explorer hat Interesse am Networking, an Kommunikation mit anderen Podcastern. 2. Die „(Möchtegern-)Persönlichkeit“, die den Podcast als Bühne für das eigene Rollenspiel nutzt und keine oder kaum ökonomische Interessen hat; Imitation von klassischen Programmformaten und/oder Selbstdarstellung als DJ bzw. Video-Künstler. 6 Im Übrigen diagnostizierte Brecht Anfang der 1930er Jahre dem Radio, was heute so mancher Kritiker neuen Kommunikationstechnologien vorhält: „Nicht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit“ - was man dem Podcasting wohl nicht vorwerfen kann. 7 Die kursierenden Zahlen schwanken erheblich und sind letztlich nicht verifizierbar. 9
http://www.mediaculture-online.de 3. Den „Extrovertierten“ und „Spieler“: Er hat Lust an der Kommunikation und pflegt sie auf herausfordernde Art und Weise, quasi als Feldexperiment mit anderen; persönliches Amüsement und Unterhaltung stehen im Vordergrund. 4. Den „Revolutionär“: Er versteht das Podcasten als politische Aktion und Mission; hat romantische Veränderungs-Vorstellungen und pflegt intensive Kommunikation mit den Nutzern. 5. Den „Themen-Caster“, der den (nationalen, internationalen) Nachrichtenwert von Berichten bzw. persönlichen Beobachtungen von Ereignissen kennt und der deren Veröffentlichung für wichtig hält; beachtet weitgehend journalistische Standards und lässt sich von professionellen Medien (bewusst) als (Auslands-) „Korrespondent“ einsetzen. 6. Den (freien oder angestellten) „Journalisten“, der eine hohe Inhalts bzw. Themenorientierung besitzt, auf journalistische Standards achtet und der formatierte, serielle Programme herstellt. Kommunikation ist sein Job, der Podcast ein weiterer Vertriebskanal des bereits existierenden professionellen medialen Produkts bzw. Ergebnis der Nutzung der in dem Medienbetrieb ohnehin existierenden Programm und Archivressourcen. 7. Den "PR-Onliner": Der hat das Podcasting natürlich auch schon entdeckt, weil er die neue Form der Zielgruppen-Orientierung mit geringen Streuverlusten ausnutzen will, die Authentizität der Grassroots-Podcasts für seine Zwecke besonders wirksam findet, die journalistischen Gatekeeper umgehen kann, die Distribution fast kostenlos bekommt und vor allem, weil er "Issues Management" betreiben kann, also Issues (aufkommende Themen) identifizieren, gezielt beeinflussen oder sogar initiieren kann. Er kennt Chancen und Risiken dieser PR-Kur und bedient sich solcher Podcaster, die den Podcast-Stil authentisch verkörpern. Es setzen sich (international) quasi naturwüchsig neue Zielgruppen zusammen, und neue Teilnehmer-Segmente werden aktiv erschlossen. Podcasting ist gegenwärtig ein Kommunikationsbereich von großer sozialer Relevanz. Das muss nicht so bleiben bzw. es wird nicht so bleiben, wie wir von der Kommerzialisierung z.B. des Internets und von 10
http://www.mediaculture-online.de anderen Kommunikations-Innovationen wissen. Mitgliedsbeiträge/Kosten und Werbung gibt es entweder schon, oder sie sind absehbar. Podcasting ist eine Form des Bloggings. Es ist im traditionellen Verständnis kein Radio, weil es eben nicht synchron rund-gesendet sondern individuell und zeitlich versetzt abgerufen wird, und weil es nicht - nach bisherigem Verständnis - professionelle Macher sind, die die Inhalte kreieren. Aber Podcasting hat die junge Dynamik und »hybride Energie« (McLuhan) eines Cross-Mediums, das Massen- und Individual-Kommunikation, altes und neues Medium, Soft und Hardware, Amateure und Professionelle in ihrer Vereinzelung massenhaft miteinander verbindet. Podcasting ist ein Hybrid zwischen Radio und Internet. Während das Internetradio Radio blieb und nur das Internet an Stelle von terrestrischen Sendern, Kabelnetzen oder Satelliten als technisches Verteilmedium nutzte, ist Podcasting das Kind einer Vereinigung zwischen dem alten Medium Radio und dem neuen Medium Internet. Es nutzt die asynchronen, p2p-Vermittlungsmöglichkeiten des Internets und die Gestaltungsformen des Radios wie Magazin, Reportage, Hörspiel, Kommentar. Wie in anderen Grassroots- Bewegungen der Mediengeschichte steht am Anfang eine Euphorie- und Experimentierphase, und in dieser Phase befinden wir uns gegenwärtig. Wie immer bei (technischen) Innovationen kann man die Gleichzeitigkeit verschiedener archaischer und hypermoderner Entwicklungs-, Nutzungs- und Kenntnisstadien beobachten. Bei einer regional marginalen, weltweit aber schon beachtlichen Expertengruppe der „Early Adopters“ und „Experimentellen“ ist es ein bereits in den Alltag integriertes Medium. Aber bei den allermeisten Radiohörern ist es ein noch völlig unbekanntes Medium. Zu dieser Gleichzeitigkeit gehört auch, dass aus den Grassroots auf der Produktionsseite bereits kommerzielle Nutzungen erwachsen sind. So binden privat-kommerzielle Radios Sendungen zu Podcast-Packages für spezielle Zielgruppen zusammen; Sponsoren springen auf diesen Trend auf. Einige „poddige“ Geschäftsmodelle funktionieren schon. Auch in der Aus- und Weiterbildung eröffnet Podcasting neue Felder: von der betriebsinternen Information über mehr oder weniger professionelle Sprachkurse bis hin zu Vorlesungsreihen (eLearning), die Universitäten anbieten. Trotz allem: Das Radio muss nicht neu erfunden werden. Es wird sich selbst neu erfinden. Macher, Berufsprofile und Programme werden sich der vom Computer geprägten Zeit 11
http://www.mediaculture-online.de anpassen und sich von der analogen, ein-medialen Orientierung verabschieden müssen. Wie immer in der Mediengeschichte gaben technologische den Anstoß zu inhaltlichen, juristischen, organisatorischen, politischen Veränderungen. Journalistische, künstlerisch- radiophone Standards werden in dieser digitalen Wende nicht per se auf der Strecke bleiben. Im Gegenteil: Sie werden im Universum der privat und millionenfach generierten "Sendungen" und "Programme" die Leuchttürme sein und Orientierung bieten. Individualisierung und Personalisierung medialer Kommunikation werden aber das bisherige Paradigma der massenhaften, einseitigen und passiven Medienkommunikation sprengen und Platz schaffen für aktive Formen der zwei und mehrseitigen Kommunikation, die aus dem alten Paradigma erwachsen. Literatur: • Ala-Fossi, Marko 2005: Mapping the Technological Landscape of Radio. Where do we go next? First European Communication Conference, Amsterdam. • Brecht, Bertolt 1972 [1932]: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18, Frankfurt/Main, 127-134. • van Eimeren, B./Frees, B. 2005: Nach dem Boom. Größter Zuwachs in internetfernen Gruppen (ARD/ZDF-Online-Studie 2005), In: Media Perspektiven, 8/2005, 362-379. • Engel, B./Windgasse, T. 2005: Mediennutzung und Lebenswelten 2005, In: Media Perspektiven 9/2005, 449-464. • Lax, Stephen 2005: First European Communication Conference, Amsterdam. • Mocigemba, Dennis 2006: Warum sie selber senden. Eine Typologie von Sendemodi im Podcasting, In: kommunikation©gesellschaft, Jg. 7, Beitrag 3, http://www.soz.unifrankfurt.de/K.G/B3_2006_Mocigemba.pdf • Shaw, Helen 2005: The Digital Future of Radio. Broadcasters and Economics; Users and Content. First European Communication Conference, Amsterdam. • Ridder, C. M./Engel, B. 2005: Massenkommunikation 2005. Images und Funktionen der Massenmedien im Vergleich, In: Media Perspektiven 9/2005, 422-448. • Steinmetz, Rüdiger/Davis, Dennis/Bröge, Stephanie/Raman, Verena 2005: Trends in Young Adult Use of New Media in Germany, the US and New Zealand. First European Communication Conference (ECC) Amsterdam. November 24-26, 2005. • UCLA Center for Communication Policy 2003 (ed.): UCLA Internet Report - »Surveying the Digital Future«, Los Angeles. 12
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