Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF

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Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
ABSCHLUSSBERICHT

Mainstreaming
und Radikalisierung
in sozialen Medien
Forschungsvorhaben Online-Radikalisierung

                                            ZAF
                                            Zentrum für
                                            Analyse und Forschung
Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
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ZAF
                           Zentrum für
                           Analyse und Forschung

Mainstreaming und Radikalisierung
in sozialen Medien
Abschlussbericht
Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
Vorwort

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,                  radikaler Positionen zu verlagern, ohne dass dies
                                                    so wahrgenommen oder unmittelbar mit spezifi-
bei der vorliegenden Publikation handelt es sich    schen Ideologien assoziiert wird. Mainstreaming
um den Abschlussbericht eines Forschungspro-        kann zur Verringerung von Reaktanz gegenüber
jektes zum Thema „Online-Radikalisierung“, das      extremistischen Ideologien, Akteuren oder Prak-
vom Zentrum für Analyse und Forschung (ZAF)         tiken führen und sie können sich somit stärker in
beim Bundesamt für Verfassungsschutz an die         der Mitte der Gesellschaft verankern. Das maß-
Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU         nahmenbezogene Protestgeschehen rund um die
München) vergeben wurde.                            Covid-19-Pandemie hat deutlich gemacht, wel-
                                                    che Rolle soziale Medien, innerhalb der Kommu-
Das ZAF ist eine im Aufbau befindliche For-         nikationsstrategien extremistischer Akteure spie-
schungsstelle, die sich mit einem interdiszipli-    len und welche Bedeutung die Rezeption dort
nären Ansatz mit allen phänomenologischen           verbreiteter Narrative in individuellen Radikali-
Themenbereichen des Verfassungsschutzes be-         sierungsprozessen haben kann.
schäftigt. Um die Grundlagenforschung in rele-
vanten Forschungsbereichen zu stärken, vergibt      Im Rahmen des Projektes liefern die Forschen-
das ZAF Projektmittel an Wissenschaftlerinnen       den der LMU München basierend auf einer sys-
und Wissenschaftler, die zu aktuellen Fragestel-    tematischen Literaturanalyse erste Ansätze zur
lungen der Extremismus- bzw. Radikalisierungs-      Entwicklung einer theoretischen Konzeptualisie-
forschung arbeiten.                                 rung und strategischem Operationalisierung von
                                                    strategischen Mainstreaming. In einer anschlie-
Die Forschungstätigkeit des ZAF ist Grundsätzen     ßenden empirischen Betrachtung wird am Bei-
verpflichtet, die in einem verbindlichen Ethikko-   spiel der Telegram-Kommunikation der Coro-
dex niedergelegt sind. Im Rahmen von Projekt-       namaßnahmenprotestbewegung unter anderem
ausschreibungen werden durch das ZAF lediglich      diskutiert, inwieweit durch strategisches Main-
Themenstellungen vorgegeben. Die Entwick-           streaming eine Brücke zwischen radikalen
lung konkreter Forschungsfragen sowie der For-      bzw. extremistischen Milieus und der breiten
schungsmethodik obliegt, wie auch in diesem         Bevölkerung entstehen kann und welche
Fall, vollständig den Forschenden.                  Narrative und Strategien dabei überwiegend
                                                    genutzt werden.
Der vorliegende Bericht befasst sich mit dem As-
pekt des strategischen Mainstreamings: Hier wird                Zentrum für Analyse und Forschung
versucht, den öffentlichen Diskurs in Richtung                 am Bundesamt für Verfassungsschutz
Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
Inhalt

Vorwort  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 5

Inhalt .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 6

Zusammenfassung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 8

Kapitel 1
Einleitung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 11

Kapitel 2
Die Rolle sozialer Medien in extremistischer Kommunikation:
Opportunitätsstrukturen, (Online-)Radikalisierung & Mainstreaming .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 14

Kapitel 3
Das Mainstreaming radikaler Positionen mithilfe
digitaler Technologien – ein systematischer Überblick .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 17
Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
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Kapitel 4
Zwischen Mainstream-Öffentlichkeit und radikaleren Milieus? Die Rolle
und Verortung der COVID-19-Maßnahmenprotest-Bewegung Querdenken .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 28

Kapitel 5
Fazit .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 56

Kapitel 6
Limitationen .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 62

Kapitel 7
Conclusio  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 64

Literaturverzeichnis  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 66

Abbildungsverzeichnis .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 76

Tabellenverzeichnis .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 77
Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
Zusammen-
     fassung

• In der heutigen vernetzten Welt müssen digitale      letztlich eine Akzeptanz von zuvor abgelehnten
  Umgebungen zentral berücksichtigt werden, um         Aussagen, Veränderung von Normen und Ver-
  Radikalisierung und die Verbreitung extremisti-      schiebung der Grenzen des Sagbaren in Rich-
  schen Gedankenguts zu verstehen.                     tung des Extremen erfolgen.

• Das Internet kann Radikalisierungsprozesse          • Es wird angenommen, dass vier Konzepte mit
  durch drei unterschiedliche Opportunitäts-            einem strategischen Mainstreaming einherge-
  strukturen beschleunigen: (1) das jeweilige An-       hen: (1) Themensetzung, (2) Desinformation, (3)
  gebot und die Gestaltungsmöglichkeiten; (2)           Elitenfeindlichkeit und Verschwörungsnarrative
  den erleichterten Informationszugang, der die         sowie (4) kognitive und technisch bedingte Ver-
  Nachfrage vereinfacht; (3) dynamische Interak-        zerrungen.
  tionsmuster und technische Architekturen, die
  potenziell mobilisierende und radikalisierende      • Die Ergebnisse der vorliegenden systematischen
  Kommunikation ermöglichen.                            Literaturanalyse zeigen, dass sich bisher weni-
                                                        ge Studien empirisch mit Mainstreaming aus-
• Zunehmend wird im Online-Kontext darüber              einandergesetzt haben. Aus der Literaturanalyse
  diskutiert, dass radikale Akteure Mainstreaming       wurden zwölf Mainstreaming-Faktoren abge-
  nutzen, um ihre Ideen in die Mitte der Gesell-        leitet. Sieben davon manifestieren sich auf der
  schaft zu tragen und damit ein möglichst brei-        Ebene der Inhalte und Kommunikation, zwei be-
  tes Feld an Personen für ihre Ideen zu erreichen.     ziehen sich auf die Inhaltspositionierung durch
  Beim strategischen Mainstreaming wird ver-            radikale Akteure und weitere drei beziehen sich
  sucht, den öffentlichen Diskurs in Richtung ra-       auf den Transfer zu Kommunikationsumfeldern
  dikaler Positionen zu verlagern, ohne dass dies       der breiten Masse.
  so wahrgenommen oder unmittelbar mit spezi-
  fischen Ideologien assoziiert wird.                 • Für den empirischen Teil dieses Berichtes wer-
                                                        den fünf Mainstreaming-Faktoren, die sich in-
• Mainstreaming kann zur Verringerung von Re-           haltlich manifestieren (humoristische Dar-
  aktanz gegenüber extremistischen Ideologien,          stellungsformen, visuelle Kommunikation,
  Akteuren oder Praktiken führen. Zudem werden          populistische Kommunikation, Viktimisierung,
  extremistische Akteure darüber weniger offen-         extremistische und alternative Nachrichtenan-
  sichtlich mit den Ideologien in Verbindung ge-        bieter) und verwandte Konzepte (Desinformati-
  bracht und wirken harmloser sowie stärker in          on, Verschwörungsnarrative, kognitive Verzer-
  der Mitte der Gesellschaft verankert. So kann         rungen) in der Telegram-Kommunikation von
Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
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 Nachrichten aus öffentlichen Querdenken-Ka-            innerhalb der präsentierten Inhalte weitgehend
 nälen seit April 2020 angewandt. Als Anwen-            unwiderlegt bleibt.
 dungsbeispiel wurde Querdenken gewählt, de-
 ren Online-Mobilisierung sich auf Telegram            • Es zeigt sich eine sehr hohe Prävalenz (79,7 %) an
 konzentrierte.                                          elitenfeindlichen Inhalten. Darin werden insbe-
                                                         sondere politische Akteure (die Regierung oder
• Basierend auf inhaltlichen oder akteursbezoge-         auch spezifische Politiker:innen), aber auch Me-
  nen Überschneidungen kann argumentiert wer-            dienakteure und Wissenschaftler:innen bzw.
  den, dass Querdenken als Brücke zwischen der           akademische Einrichtungen angefeindet.
  breiten Bevölkerung und radikaleren Milieus
  fungieren kann, was Querdenken sehr relevant         • Aufrufe zur Nutzung alternativer Nachrichten-
  für Mainstreaming-Strategien macht. Es wur-            medien haben im Zeitverlauf in der Querden-
  den drei empirische Teilstudien durchgeführt,          ken-Kommunikation auf Telegram nicht nur
  (1) eine quantitative, längsschnittliche Inhalts-      signifikant zugenommen, sondern in der Häu-
  analyse, (2) eine Analyse der erwähnten Hyper-         figkeit an Verlinkungen bereits Anfang 2021 in
  links in der Querdenken-Kommunikation, und             der breiten Masse etablierte Medienanbieter
  (3) eine (dynamische) Netzwerkanalyse zur Un-          überholt. Sie sind somit zur bedeutendsten In-
  tersuchung der Vernetzung und Interaktion von          formationsquelle auf Telegram aufgestiegen.
  Querdenken mit anderen Telegram-Kanälen.               Neben den alternativen Nachrichtenquellen
                                                         sind auch zwei traditionelle Nachrichtenmedi-
• Die Analysen zeigen, dass die Prävalenz von            en unter den meistgenutzten Medien: die Bild
  Merkmalen, die klassischerweise unmittelbar            Zeitung und die Welt, die anderen Studien zu-
  mit Rechtsaußen-Ideologie assoziiert sind, unter       folge mit höherem Grad an Emotionalisierung
  den reichweitenstärksten Beiträgen bei etwa drei       als andere traditionelle Medien über die COVID-
  Prozent liegt und damit sehr niedrig ist. Trotz-       19-Pandemie berichteten und so gegebenenfalls
  dem zeigt sich ein signifikanter Anstieg für den       auch als Brücke zu radikaleren bzw. extremeren
  allgemeinen Rechtsaußen-Tenor, aber auch für           Inhalten fungieren können.
  Exklusionismus und für Xenophobie, insbeson-
  dere innerhalb der ersten zwölf Monate der Pan-      • Es gibt einen Fokus auf visuelle Inhalte sowohl
  demie, gefolgt von einem leichten Rückgang im          innerhalb der untersuchten Beiträge als auch
  Jahr 2021. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch        bezüglich externer Verlinkungen: So verweisen
  für Rechtsaußen-Verschwörungsnarrative. Zwar           die meisten externen URLs auf Videoformate.
  weist beinah jeder dritte der analysierten Beiträ-     Dabei ist YouTube – mit auffallend großem Ab-
  ge Bezüge zu einem Verschwörungsnarrativ auf,          stand – die meistverlinkte Plattform.
  davon sind aber nur rund 18 Prozent ideologisch
  rechts zu verorten.                                  • Es finden teils intensive Interaktionen mit Ak-
                                                         teuren aus der Rechtsaußen-Szene statt. Dar-
• Ein großer Anteil der Beiträge (43,9 %) beinhaltet     unter finden sich Kanäle, die eindeutig Inhalte
  offensichtliche Falschinformationen. Dies ist im       rund um die rechtsextreme QAnon-Verschwö-
  aktuellen Kontext besonders besorgniserregend,         rungsideologie verbreiten. Solche Interaktionen
  da Falschinformation auf Telegram aufgrund             kommen aufgrund geteilter Anti-Eliten-Ansich-
  des nicht-partizipatorischen Charakters der Ka-        ten zustande.
  näle und der Tendenz zu ähnlichen Ansichten
Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
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• Innerhalb des Querdenken-Netzwerks ist die           • Aus der Literaturanalyse und den empirischen
  größte Community – wenig überraschend –                Teilstudien ergeben sich eine Reihe von For-
  Querdenken- und Protest-zentriert. Im Netz-            schungsdesiderata und Implikationen: Die Er-
  werk selbst befindet sich die Community jedoch,        gebnisse weisen auf inhaltlich implizite Bezüge
  obwohl das Sampling von Querdenken-Kanä-               zu Rechtsaußen-Positionen hin, was eine wei-
  len ausging, tendenziell am Rande des Gesamt-          terführende und vertiefende Analyse dieser und
  netzwerks. Das Zentrum bildet hingegen eine            weiterer Inhalte notwendig macht, um mög-
  Community, in der Rechtsaußen-Akteure zu               liche codierte Hinweise zu entschlüsseln. Des
  den wichtigsten Knotenpunkten zählen. Über             Weiteren zeigt sich eine hohe Bedeutung (au-
  diese Rechtsaußen-Akteure wird die Querden-            dio-)visueller Elemente, der man mit derzeiti-
  ken- und Protest-zentrierte Community zu zwei          gen Analysen noch nicht gerecht werden kann.
  größeren Verschwörungsclustern (ein deutsch-           Zudem basiert die vorliegende Untersuchung
  sprachiges sowie ein internationales) über-            ausschließlich auf Nachrichten aus öffentlich zu-
  brückt.                                                gänglichen Telegram-Kanälen. Andere (große)
                                                         Plattformen und nicht-öffentliche Fringe Com-
• Als Fazit kann festgehalten werden, dass in gewis-     munities werden durch die hier gewonnenen Er-
  sem Maß die Gefahr des Mainstreamings radika-          kenntnisse nicht abgedeckt. Dies liegt unter an-
  ler Ansichten besteht, insbesondere basierend          derem auch an den limitierten Datenzugängen
  auf identitätspolitischen Mainstreaming-Fakto-         für die Wissenschaft, die von insbesondere gro-
  ren. Emotionen, wie Angst und Wut können von           ßen Plattformen bewusst blockiert werden. Be-
  Protest- und Rechtsaußen-Akteuren instrumen-           sonders der Blick auf Plattformen, die eine breite
  talisiert werden, um Empfänglichkeit herzustel-        Masse der Bevölkerung ansprechen, könnte aber
  len und über diesen Mechanismus eliten- und            Mainstreaming-Strategien noch weiter verdeut-
  systemkritische Ansichten nachhaltig, etwa bei         lichen.
  skeptischen oder von den Maßnahmenentschei-
  dungen verängstigten Bürger:innen, zu kultivie-
  ren.
11

     Kapitel 1

Einleitung
Radikalisierung und die Ausbildung extremisti-        Mainstreaming. Mainstreaming beschreibt einen
scher Gesinnungen sind in der heutigen digitalen      Prozess, bei dem versucht wird, den öffentlichen
Welt nicht ohne die Berücksichtigung des Inter-       Diskurs in Richtung radikaler Positionen zu ver-
nets und seiner Angebote zu fassen. Hasserfüllte      lagern, ohne dass dies so wahrgenommen oder
und extremistische Inhalte verbreiten sich online     unmittelbar mit spezifischen Ideologien assozi-
rasant und weitflächig, sodass in weiten Teilen       iert wird (Feischmidt & Hervik, 2005; Hohner et
des Internets und insbesondere in sozialen Me-        al., 2022). Diese Strategie wird von radikalen und
dien im großen Umfang radikale Ideologien, Be-        extremistischen Akteuren bewusst angewandt,
leidigungen und Hass gegen Minderheiten, aber         um die eigene Agenda in die Mitte der Gesell-
auch gegen Eliten wie etablierte Politiker:innen,     schaft zu tragen, Thesen zugänglicher zu gestalten
Wissenschaftler:innen und Journalist:innen zu         und somit mehr Anhänger:innen für die eigenen
finden sind. Daher überrascht es nicht, dass eine     Anschauungen zu gewinnen. Sowohl die Einstel-
Umfrage in Europa zeigt, dass fast 80 Prozent der     lung zu unterschiedlichen Themen als auch spe-
Befragten angeben, mindestens einmal im ver-          zifische Formulierungen und Begriffe sollen zu-
gangenen Jahr mit Inhalten konfrontiert wor-          nehmend als Belange der Mitte wahrgenommen
den zu sein, die zu Gewalttaten oder Rassismus        werden, um unter anderem die Reaktanz gegen-
und Fremdenfeindlichkeit aufrufen (Bécuwe et          über radikalen Narrativen zu mindern. Main-
al., 2018). Des Weiteren berichten 30 bis 65 Pro-     streaming kann einen Rahmen eröffnen, in dem
zent der Internetnutzer:innen, in verschiedenen       extremistische Narrative leichter andocken und
Studien aus unterschiedlichsten Ländern, bereits      in dem so Radikalisierung begünstigt wird. Lang-
mindestens einmal Zeug:in von Online-Hass ge-         fristig kann dies (affektive) Polarisierung fördern
worden zu sein (Bedrosova et al., 2022; Costello et   und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt scha-
al., 2016). Durch ein solches Umfeld von Inzivili-    den (Reynolds, 2018).
tät besteht die Gefahr, dass sich die Grenzen des
Sagbaren verschieben und Diskurse in radikalere       Obwohl Mainstreaming für die Entwicklung und
Richtungen gelenkt werden.                            Verbreitung radikaler Narrativen und extremis-
                                                      tischen Gedankenguts relevant zu sein scheint,
Ein Aspekt, den sich radikale Akteure zunutze         ist bislang noch weitgehend ungeklärt, welche
machen, um ihre Ideen in die Mitte der Gesell-        Faktoren Mainstreaming begünstigen. Der vor-
schaft zu tragen und damit ein möglichst breites      liegende Bericht hat daher das Ziel, das Konzept
Feld an Personen für ihre Ideen zu erreichen, ist     Mainstreaming in den Blick zu nehmen. In einem
12

ersten Schritt wird daher anhand einer systema-       nal ist (Urman & Katz, 2022) und dass Rechtsau-
tischen Literaturanalyse folgende Fragestellung       ßen-Akteure rasch auf den Zug der Kritik unter
untersucht:                                           anderem an Regierung, Gesundheits- und Sicher-
                                                      heitsbehörden für deren Umgang mit der Pande-
      FF1: Inwiefern und basierend auf welchen Pro-   mie aufgesprungen sind, sowie rechte Narrative
      zessen bewegen sich extremistische Narrative    zügig an dieses Thema anpassten, führte zu Be-
      von digitalen Randbereichen in die Mitte der    fürchtungen, dass Rechtsaußen-Akteure die Pro-
      Online-Gesellschaft?                            testbewegung für sich vereinnahmen könnten
                                                      (siehe z.B. Curley et al., 2022). Während Demons-
Die systematische Auseinandersetzung mit dem          trationen größtenteils friedlich abliefen, zeigte
aktuellen Theorie- und Forschungsstand ermög-         sich auch bei diesen Veranstaltungen eine gewisse
licht die Entwicklung einer Konzeptualisierung        Nähe zum Rechtsaußen-Milieu: Zahlreiche Medi-
und anschließenden Operationalisierung von            enberichte über Anti-Maßnahmen-Demonstrati-
Mainstreaming. Die vorliegende Studie liefert         onen organisiert von Querdenken meldeten, dass
hierzu erste Ansätze, unter anderem durch die         unter den Demonstrierenden auch Rechtsextre-
Erarbeitung von zwölf Mainstreaming-Faktoren.         mist:innen mitliefen und teils von den Teilneh-
Um die praktische Relevanz dieser Faktoren und        mer:innen Reichsflaggen mitgeführt wurden (z.B.
damit ihre Anwendbarkeit zu prüfen, werden sie        Deutschlandfunk, 2020; Virchow, 2022).
im zweiten Projektteil empirisch angewandt. Die
Überprüfung erfolgt durch eine umfangreiche           Mainstreaming-Potenziale wurden daher anhand
und vertiefte Betrachtung der Online-Kommuni-         des Beispiels der Telegram-Kommunikation von
kation des COVID-19-Protestgeschehens. Darun-         Querdenken untersucht. Da Mainstreaming-Ten-
ter ist ‚Querdenken‘ mittlerweile ein Pars pro Toto   denzen einen langfristigen Charakter haben und
für den Protest gegen die COVID-19-Bestimmun-         sich nur subtil und graduell bemerkbar machen,
gen geworden und schaffte es schnell, deutsch-        wurde für die empirische Überprüfung der Main-
landweit, aber auch in deutschsprachigen Nach-        streaming-Faktoren ein längsschnittliches Design
barländern Unterstützer:innen zu mobilisieren.        gewählt. Der Untersuchungszeitraum für alle em-
Die Kommunikation und Mobilisierung für bei-          pirischen Teilstudien umfasst jeweils zwei Jahre,
spielsweise Demonstrationen auf den Straßen er-       von April 2020 bis April 2022. Mit diesem Vorge-
folgte vor allem über die Online-Plattform Tele-      hen soll im zweiten Teil dieses Berichts folgende
gram (Holzer, 2021; Schulze et al., 2022a).           Fragestellung beantwortet werden:

Kritik und Diskussion über aktuelle (politische)          FF2: Welche Narrative und welches Kom-
Geschehnisse ist wichtig und zentral für das              munikationsverhalten (inhaltliche Angebo-
Funktionieren demokratischer Prozesse, sodass es          te, Vernetzungstendenzen etc.) nutzt die CO-
wünschenswert ist, dass sich Bürger:innen aktiv           VID-19-Maßnahmen-Protestbewegung
am öffentlichen Diskurs beteiligen und ihre Mei-          Querdenken, um radikale bzw. extremistische
nungen artikulieren. Dennoch kann Protestkom-             Positionen in die breite Öffentlichkeit zu tra-
munikation von manchen, radikalen Akteuren                gen?
auch zu ideologisierten Zwecken (Propaganda,
Rekrutierung) (aus-)genutzt werden. Nicht zuletzt     Auf Basis dieser Forschungsfrage wird diskutiert,
die Tatsache, dass Telegram innerhalb der Rechts-     ob Querdenken als Brücke zwischen der breiten
außen-Szene ein beliebter Kommunikationska-           Bevölkerung oder zumindest Segmenten dieser,
13

die den COVID-19-Maßnahmen ängstlich oder              Bevor im Folgenden eingehender auf das Main-
skeptisch gegenüberstehen, und radikaleren bzw.        streaming radikaler Positionen eingegangen
extremen Milieus fungieren kann.                       wird, wird zunächst in Kapitel 2 ein kurzer Über-
                                                       blick über die Rolle des Internets für extremisti-
Hierfür wurden drei methodische Schritte ag-           sche Kommunikation gegeben. Dabei wird spe-
gregiert: (1) Die inhaltliche Ebene wurde mithilfe     ziell diskutiert, welche Opportunitätsstrukturen
einer längsschnittlichen quantitativen Inhalts-        für die Nutzung des Internets vonseiten extre-
analyse untersucht. Dabei standen die Entwick-         mistischer Akteure relevant sind, wie die breit
lungen der Querdenken-Kommunikation auf Te-            diskutierte Thematik rund um Online-Radikali-
legram im Fokus. In Anlehnung an den ersten Teil       sierung einzuordnen ist, und wo in dem Kontext
des Berichts, der systematischen Literaturanaly-       Mainstreaming zu verorten ist (siehe 2.). Das Kapi-
se, wurden fünf der zwölf erarbeiteten Mainstrea-      tel 3 widmet sich dem Konzept des strategischen
ming-Faktoren, die sich inhaltlich manifestieren,      Mainstreamings (siehe 3.1) sowie möglichen Ein-
sowie drei Konzepte, die damit potenziell ver-         flussfaktoren darauf (siehe 3.2), bevor das Vorge-
knüpft sind, empirisch getestet. (2) Die Kommu-        hen bei der systematischen Literaturanalyse (sie-
nikationsumgebungen und -repertoires Querden-          he 3.3) sowie ihre Ergebnisse (siehe 3.4) erläutert
kens außerhalb Telegrams wurden anschließend           und schließlich eingeordnet (siehe 3.5) werden.
anhand einer URL-Analyse näher betrachtet. (3)         Mit dem Kapitel 4 startet der zweite Projektteil, in
Auch innerhalb Telegrams wurden die Kommuni-           dem das Protestgeschehen rund um die COVID-
kationsumgebungen zu anderen Telegram-Kanä-            19-Maßnahmen und damit verbundene Main-
len untersucht. Eine Netzwerkanalyse mit tempo-        streaming-Potenziale diskutiert (siehe 4.1.) und
ralen Elementen erlaubt tiefergehende Einblicke        schließlich empirisch anhand der drei Teilstudien
in die strukturellen Merkmale, die die Vernetzun-      geprüft werden (siehe 4.2 bis 4.4). Darauf folgt im
gen und Interaktionen mit anderen Akteursar-           Kapitel 5 ein Gesamtfazit über beide Projektteile,
ten charakterisieren. Zudem wurden mithilfe von        inklusive einer Zusammenfassung und Diskussi-
Community Detection verdichtete Kommunika-             on der relevantesten Befunde, eine Einordnung
tionscluster identifiziert, die Hinweise auf (unter-   der Aussagekraft anhand der Limitationen (siehe
schiedliche) Arten an Gruppierungen innerhalb          6.) und eine kurze Conclusio (siehe 7.).
dieses Netzwerks liefern.
Kapitel 2

Die Rolle sozialer Medien in extremistischer Kommunikation:
Opportunitätsstrukturen, (Online-)Radikalisierung & Mainstrea-
ming

Extremistische Akteure zählen zu den ‚early Ad-       lischsprachige oder multilinguale Kommuni-
optern‘ digitaler Technologien (Conway et al.,        kation) stehen Beiträge gegebenenfalls sogar
2019): Bereits früh wussten sie unterschiedli-        globalen Zielgruppen offen. So ist es durch das
che Anwendungen und technologische Entwick-           Internet möglich, dass radikale Gruppierun-
lungen rund um das Internet für sich zu nutzen.       gen für sich und ihre Botschaften einen enor-
Durch digitale Kommunikationsformen haben             men Reichweitenzuwachs erzielen. Weiterhin
sich neue Möglichkeiten für extremistische Kom-       bietet das Internet eine Vielzahl unterschiedli-
munikation aufgetan, von denen extremistische         cher Angebotspotenziale. Extremistische Akteu-
Akteure vielfach profitieren können.                  re haben in der Ansprache zahlreiche Inhalts-
                                                      und Gestaltungsmöglichkeiten, wodurch viele
Drei Opportunitätsstrukturen lassen sich unter-       Wege verfügbar sind, um ein möglichst großes
scheiden:                                             Publikum effektiv und effizient zu adressieren.
                                                      So kann auf unterschiedliche Inhaltsanforde-
1. Angebot: Durch sich stetig ausdifferenzierende     rungen eingegangen werden, beispielsweise auf
   und weiterentwickelnde digitalen Möglichkei-       Unterhaltung (z.B. durch humoristische Inhal-
   ten verändern sich auch die Angebotsstruktu-       te), Information (z.B. durch ideologiekonforme
   ren entsprechender Inhalte. Dies schließt zum      Medienangebote in Text-, Audio- oder Video-
   einen die Publikumsstrukturen, zum anderen         form) oder soziale Kontakte (z.B. durch soziale
   Angebotspotenziale ein. Im Vergleich zu Off-       Medien und Messenger).
   line-Kommunikation zeichnet sich Online-
   Kommunikation durch zentrale Unterschiede        2. Nachfrage: Das Internet beeinflusst nicht nur
   hinsichtlich Publikumsstrukturen aus: Online        das Angebot extremistischer Inhalte, sondern
   erhalten (extremistische) Akteure Zugang zu         hat auch Implikationen für die Nachfrage. Dies
   einer großen – im Vergleich zu reinen Offline-      schließt vor allem den vereinfachten Informati-
   Möglichkeiten massiv erweiterten – Menge an         onszugang ein: Das Internet erleichtert es sehr,
   potenziellen Adressat:innen: Mit entsprechen-       Inhalte und soziale Kontakte zugänglich zu ma-
   den Inhaltsadaptionen (beispielsweise eng-          chen. Menschen, die entweder nach Antworten,
15

  nach Gleichgesinnten oder nach sozialem An-              Im Kontext dieser drei Opportunitätsstruktu-
  schluss suchen, können online vergleichswei-             ren – Angebot, Nachfrage sowie Dynamiken und
  se unkompliziert mit radikalen oder extremis-            technische Architekturen – wurden und werden
  tischen Gruppierungen und ihren Inhalten in              zunehmend Befürchtungen geäußert, dass Radi-
  Kontakt kommen (Rieger et al., 2020). Zudem              kalisierung mit der Internetnutzung einhergehen
  ermöglichen digitale Medien in manchen Fäl-              kann. Radikalisierung beschreibt dabei „(1) einen
  len und basierend auf unterschiedlichen Me-              Prozess …, der (2) nicht von einem einzelnen Fak-
  chanismen eine sogenannte Selbstradikali-                tor, sondern von einer Kombination unterschied-
  sierung, bei der Radikalisierung vornehmlich             licher Faktoren determiniert wird, durch die (3)
  durch den Kontakt mit (zunehmend) extremen               eine schrittweise, graduelle Übernahme extre-
  Online-Beiträgen und entkoppelt von Gruppen              mistischer Ideologien erfolgt“ (Rothut et al., 2022,
  oder Offline-Kontakten stattfindet (Alfano et            S. 5). Online-Radikalisierung, im Speziellen, be-
  al., 2018).                                              schreibt den Radikalisierungsprozess, der primär
                                                           auf Nutzung des Internets und insbesondere sozi-
3. Dynamiken & technische Architekturen: Das               aler Medien zurückzuführen ist (US Department
   Internet zeichnet sich durch rhizomatische              of Justice, 2014). Noch kann nicht eindeutig be-
   Heterogenität aus: Es existieren unterschiedli-         stimmt werden, welche internetspezifischen Fak-
   che digitale Kommunikationsumgebungen, die              toren Radikalisierung fördern und welche Rolle
   nach unterschiedlichen, teils ganz eigenen Lo-          das Internet im Radikalisierungsgeschehen ge-
   giken funktionieren und sich mehr oder we-              nau einnimmt. Jedoch sind sich Radikalisierungs-
   niger gut für unterschiedliche Aspekte extre-           und Extremismusforscher:innen zunehmend da-
   mistischer Kommunikation eignen (siehe z.B.             hingehend einig, dass das Internet als Katalysator
   Frischlich et al., 2022; Schulze et al., 2022b). Ins-   für gesellschaftliche Dynamiken fungiert und
   besondere auf sozialen Medien können Emp-               somit, auch vor dem Hintergrund der drei ge-
   fehlungsalgorithmen dazu beitragen, dass die            nannten Opportunitätsstrukturen, Radikalisie-
   Suche nach Inhalten zu zunehmend einseiti-              rungsdynamiken beschleunigen kann (z.B. Ben-
   gen und unter Umständen (wie beispielsweise             ter & Cawi, 2021; Meleagrou-Hitchens et al., 2017).
   für die Plattform YouTube gezeigt; Whittaker            Trotzdem ist es wichtig, auch Offline-Dynamiken
   et al. 2021) zu radikaleren Inhalten und Anbie-         und vor allem Wechselwirkungen zwischen on-
   ter:innen führt. Zudem sehen sich gerade ext-           line und offline im Blick zu behalten. Eine strik-
   remistische Akteure auf sozialen Medien mit             te Abgrenzung von Offline- und Online-Radika-
   den Thematiken Regulierung und Abschottung              lisierung wird als ‚falsche Dichotomie‘ bezeichnet
   konfrontiert. Durch Regulierungen wird ver-             (z.B. Whittaker, 2022). Da Internetnutzung ein ha-
   sucht, auf großen öffentlichen Plattformen die          bitualisierter, fester Bestandteil der aktuellen Le-
   Verbreitung von expliziten und strafbaren In-           bensrealität ist, dürfen Offline- und Online-Ge-
   halten einzuschränken. Gleichzeitig gibt es eine        schehen nicht voneinander entkoppelt betrachtet
   Fülle von weitgehend unmoderierten Plattfor-            werden (Rothut et al., 2022).
   men, auf denen expliziter Hass und Hetze nach
   wie vor ungebremst verbreitet werden können.            Auf großen Plattformen, wie Facebook, Instagram
   Fringe Communities, die in ihrem Austausch              oder YouTube, können extremistische Akteure
   immer extremer und expliziter sind, können              Zugang zu einer großen Anzahl an Nutzer:innen
   gedeihen.                                               bekommen. Diese Plattformen ermöglichen es
                                                           ihnen, Reichweite zu generieren sowie neue An-
16

hänger:innen bzw. Symphatisant:innen zu rek-            Dabei ist die Zuordnung einzelner Plattformen
rutieren und zu mobilisieren (Rothut et al., 2022).     zu diesen beiden grob vereinfachten Arten (gro-
Auf großen Plattformen kann das Mainstreaming           ße soziale Medienplattformen und kleinere, un-
radikaler Positionen vorangetrieben werden, in-         moderierte Plattformen) nicht (immer) eindeu-
dem das aktive Einbringen ideologisch motivier-         tig. Vielmehr kann es auch Überlappungen geben,
ter Narrative in den öffentlichen Diskurs ermög-        beispielsweise für bestimmte themenspezifische
licht wird – solange die verbreiteten Inhalte nicht     Kreise, für die sich mit der Zeit eine Plattform als
zu explizit und extrem formuliert werden. Dies          die zentrale Netzwerkseite entwickelt, oder die
könnte nämlich zum einen abschreckend wir-              Rolle einer Plattform kann sich von Zeit zu Zeit
ken, zum anderen auch Betreiber großer Platt-           verlagern vor dem Hintergrund der hohen Dyna-
formen auf die Akteure aufmerksam machen und            mik der (Weiter-)Entwicklung des Internets. Ra-
schließlich Inhalts- oder Accountsperrungen (De-        dikale und extremistische Akteure verfolgen die-
platforming) zur Folge haben.                           se Entwicklungen und passen ihre Strategien zur
                                                        Verbreitung der eigenen Ideologie kontinuierlich
Deplatforming zwingt extremistische Akteure             an. Innerhalb der letzten Jahre wurde hierbei un-
dazu, ihre Kommunikationsaktivitäten auf klei-          ter anderem erkannt, dass als zu extrem wahrge-
nere (Nischen-)Plattformen auszuweichen, auf            nommene Ansichten und Selbstdarstellung zum
denen Inhaltsmoderation nicht oder nur in sehr          Teil abschreckend wirken und entsprechend Re-
geringem Maß stattfindet (Schulze, 2021). Dies hat      krutierungs- und Mobilisierungsbemühungen
auch Reichweitenverluste zur Folge: Durch das           behindern können. Bemüht wird hier gerne die
Deplatforming von großen Plattformen bricht in          Frosch-Metapher, die besagt, dass ein Frosch, der
der Regel ein gewisser Stamm an Follower:innen          in kochend heißes Wasser geworfen wird, instink-
und so ein potenzieller Einflussbereich – zumin-        tiv fliehen möchte, während er in sich langsam er-
dest auf eine breitere Öffentlichkeit – weg. Ein Teil   hitzendem Wasser sitzen bleibt. Eine Strategie, die
der engeren Unterstützer:innen folgt den Akteu-         diesen kontinuierlichen Verschiebungsprozess
ren jedoch auch auf kleinere, unmoderierte Platt-       beschreibt, wird als Mainstreaming bezeichnet.
formen (Rogers, 2020). Dies weckt Befürchtun-
gen einer (weiteren) Radikalisierung sowohl der
Kommunikator:innen selbst, die sich nun explizit
und ungefiltert äußern können, als auch der Rezi-
pient:innen, die wiederum viel explizitere Inhalte
präsentiert bekommen.
17

      Kapitel 3

Das Mainstreaming radikaler Positionen mithilfe digitaler Tech-
nologien – ein systematischer Überblick

3.1     Strategisches Mainstreaming                     Ebene, zum Beispiel durch die Etablierung von
                                                        Marken, Veranstaltungen oder ganz allgemein ei-
Extremistische Akteure versuchen fortlaufend,           nes Lebensstils, der mit (ehemaligen) Randgrup-
ihre ideologische Position in der Mitte der Gesell-     penbewegungen assoziiert wird, sie als ‚hip‘ oder
schaft zu verankern und dort Unterstützung da-          ‚cool‘ erscheinen lässt und so ihre Ideologie ver-
für zu finden. Der Prozess, mit dem sie dieses Ziel     schleiert (Miller-Idriss, 2018).
erreichen (wollen), wird Mainstreaming genannt.
In westlichen Ländern wurde insbesondere bei            Mainstreaming-Prozesse können auf gesell-
Rechtsaußen-Akteuren beobachtet, dass sie ver-          schaftlichen Veränderungen beruhen und so-
suchen, ihre Ideologie in der Gesellschaft zu eta-      mit ungewollt dazu führen, dass radikale Ideen in
blieren und die politische Mitte (weiter) in Rich-      die Mitte der Gesellschaft getragen werden. Ext-
tung ihrer Position zu verschieben (Cammaerts,          remistische Akteure können jedoch auch gezielt
2018). Gleichzeitig erfolgt auch eine gezielte (visu-   Strategien anwenden, die Mainstreaming-Prozes-
elle) Annäherung von Rechtsaußen-Akteuren an            se vorantreiben sollen. Diskussionen in Rechtsau-
den Mainstream: Weg vom klar erkennbaren, als           ßen-Kreisen (z.B. in alternativen Medien oder von
provokant auftretenden Skinhead, hin zu einem           rechtsextremen Kernpersonal) über die Auswei-
gängigen und modernen Erscheinungsbild (Mil-            tung des ‚Overton-Fensters‘ unterstreichen eine
ler-Idriss, 2018).                                      gewisse strategische Absicht. Der Begriff ‚Over-
                                                        ton-Fenster‘ steht für Ideen und diskursive Prak-
Mudde (2019) zufolge zeichnet sich die heutige          tiken, die sich innerhalb eines von der Gesell-
Rechtsaußen-Szene durch einen gewissen Main-            schaft akzeptierten Rahmens bewegen (Wright,
stream-Charakter aus, der sich auf unterschied-         2019). Wenn Rechtsaußen-Akteure davon spre-
lichen Ebenen manifestieren kann: (1) Auf der           chen, dieses Fenster erweitern zu wollen, kann
diskursiven Ebene, beispielsweise in der Fähigkeit      man daher davon ausgehen, dass sie danach stre-
Themen zu setzen, die mit der Agenda radikaler          ben, ihren Einfluss in der Mitte der Gesellschaft
Akteure verbunden sind (Mudde, 2019, S. 20f.). (2)      zu stärken und strategisch darauf abzielen, dort
Auf einer eher strukturellen Ebene, in Bezug auf        ihre Ideen zu etablieren.
Wahlerfolge extremer Parteien und Politiker:in-
nen (Mondon, 2022). Und (3) auf (sub-)kultureller
18

Mit strategischem Mainstreaming versuchen ex-             in Verbindung gebracht, sondern umfasst auch
tremistische Akteure bewusst, möglichst breite            die Abweichung von etablierten diskursiven Kon-
Unterstützung zu erhalten oder sich in den öf-            ventionen, die zu einer Veränderung von Normen
fentlichen Diskurs einzumischen. Strategisches            und letztlich zu einer Verschiebung in Richtung
Mainstreaming beschreibt also einen Prozess, bei          des Extremen führt (Wodak, 2020a). Somit kann
dem extremistische Akteure darauf abzielen, den           die Normalisierung extremistischer Praktiken
öffentlichen Diskurs lautlos in Richtung radika-          und Ideen auch ein Ergebnis von Mainstreaming-
lerer Positionen zu verschieben, ohne dass diese          Prozessen sein.
Veränderung wahrgenommen wird (Hohner et
al., 2022, S. 308). Diese Definition schließt ein, dass   3.2    Mögliche Einflussfaktoren auf Main-
strategisches Mainstreaming eine gewisse Subti-                  streaming-Prozesse
lität und Implizitheit beinhaltet sowie langfristig
und prozesshaft angelegt ist.                             Grundlegend für Mainstreaming-Prozesse ist
                                                          die (strategische) Themensetzung, wodurch über-
Ein Ergebnis von Mainstreaming kann erstens,              haupt erst ideologisch gerahmte und relevan-
die Verringerung der Reaktanz gegenüber extre-            te Themen in die gesellschaftliche Mitte getra-
mistischen Ideologien, Akteuren oder Praktiken            gen werden. Sind ideologisch gerahmte Themen
sein. Da die Akklimatisierung mit extremistischen         in den öffentlichen Diskurs eingebracht, so kön-
Aussagen als ein wesentlicher Schritt in Radikali-        nen unterschiedliche Inhalts- und Präsentations-
sierungsprozessen gilt (Munn, 2019), kann Main-           formate auf bestimmte kognitive Prozesse, Ein-
streaming zur Radikalisierung einiger (anfälli-           stellungen oder (unbewusste) Verzerrungen der
ger) Personen beitragen, indem es diesen Schritt          Denkmuster auf Seiten der Empfänger:innen sto-
unterstützt (Marwick et al., 2022) und somit den          ßen, durch die diese gegebenenfalls leichter ando-
Rahmen für Radikalisierung öffnen kann. Zwei-             cken können. Da persuasive Botschaften effekti-
tens kann Mainstreaming dazu führen, dass ext-            ver sind, wenn sie auf die Interessen und Belange
remistische Akteure, die intensiv für ihre Ansich-        des Zielpublikums zugeschnitten sind (Hirsh et
ten einstehen, nicht (mehr) mit der Ideologie in          al., 2012), kann das (kommunikative) Einbezie-
Verbindung gebracht werden, was wiederum mit              hen von Mechanismen, die an die Empfänglich-
einer weiteren Verankerung dieser Akteure in der          keit einer Person appellieren, Mainstreaming so
Mitte der Gesellschaft verbunden ist (Kallis, 2013).      beschleunigen, dass empfängliche Personen in
Auf diese Weise können sie von Teilen der Öffent-         Richtung des Standpunkts des:der Kommunika-
lichkeit als harmloser wahrgenommen werden,               tor:in gelenkt werden.
als sie tatsächlich sind, und so an Glaubwürdigkeit
für sich selbst und die von ihnen artikulierten An-       Mehrere Faktoren können die Anfälligkeit der
sichten gewinnen. Drittens kann Normalisierung            Empfänger:innen für radikales Gedankengut ver-
eine Folge von Mainstreaming-Prozessen sein.              stärken: Zum Beispiel können extremistische Ak-
Der Begriff Normalisierung ist dem Begriff des            teure gezielt ideologisch gefärbte, falsche oder
Mainstreamings sehr verwandt und wird häufig              irreführende Informationen (das heißt: Desinfor-
auch synonym verwendet. Diese synonyme Ver-               mation) einsetzen, um ihre Ideologie zu verbrei-
wendung ist jedoch eher eine Folge der begriff-           ten (Marwick & Lewis, 2017). Die Verbreitung von
lichen Unschärfe von Mainstreaming. Normali-              Desinformation kann somit ein relevanter Aspekt
sierung wird nicht nur mit der Enttabuisierung            in Mainstreaming-Prozessen sein, auch weil viele
zuvor nicht akzeptierter Aussagen oder Ansichten          verschiedene kognitive und sozio-affektive Fak-
19

toren die Übernahme falscher Überzeugungen             dass Elitenfeindlichkeit und Verschwörungsnar-
beeinflussen können (Ecker et al., 2022).              rative für Mainstream-Zwecke Relevanz besitzen,
                                                       weil sie häufig niederschwellig und implizit aus-
Weiterhin kann die Vermittlung dichotomer              gedrückt werden und Emotionalisierung (z.B. das
Weltanschauungsmuster (sogenanntes ‚Schub-             Auslösen von Angst und Unsicherheit) eine zent-
ladendenken‘) an potenziell vorherrschende,            rale Rolle einnehmen kann (Ekman, 2022).
oft unbewusste Denkmuster von Rezipient:in-
nen andocken. Dichotome Weltbilder beinhal-            Außerdem können Verzerrungen mit Mainstrea-
ten die simplifizierte Einteilung der Welt in Grup-    ming zusammenhängen. Einerseits können dies
pen von guten (in der Regel die Eigengruppe und        kognitive Verzerrungen sein, das heißt unbewus-
ihre Handlungen, auch Ingroup genannt) und             ste, automatisch ablaufende Informationsver-
schlechten Menschen oder Aktivitäten (Fremd-           arbeitungsmuster, die zu einer verzerrten Wahr-
gruppen, auch Outgroups genannt). Dieses Denk-         nehmung von Inhalten beitragen. Diese werden
muster hilft, die Umwelt zu vereinfachen und zu        in extremistischen Materialien absichtlich ausge-
strukturieren, weshalb Menschen (mehr oder we-         nutzt, um sie ansprechender erscheinen zu lassen
niger intensiv) automatisch und unbewusst zu           (Bouko et al., 2021). Die Ausnutzung kognitiver
einer solchen Denkweise neigen (Stangor et al.,        Verzerrungen kann unter bestimmten Umstän-
2022). Eine sehr strikte Version davon, die rigoro-    den die Empfänglichkeit der Rezipient:innen
se Unterteilung der Welt in ‚gut‘ und ‚böse‘ ohne      für extreme Inhalte beeinflussen (Naderer et al.,
Abstufungen dazwischen (auch als ‚dualistischer        2022). Andererseits können auch technologieba-
Rigorismus‘ bezeichnet), ist ein Merkmal, das alle     sierte Verzerrungen (z.B. Filterblasen, die durch
Extremismen gemein haben und das auf dicho-            Empfehlungssysteme erleichtert werden) bei ei-
tomen Weltanschauungen aufbaut (Pfahl-Traug-           nigen Plattformen zur Verbreitung radikaler In-
hber, 2010). Insbesondere für Anti-Elite-Framing       halte beitragen und zu einer verzerrten Wahrneh-
wurde ein hohes Persuasions- und Mobilisie-            mung der Mehrheitsmeinung führen (Whittaker
rungspotenzial gezeigt (Bos et al., 2020). Vor allem   et al., 2021).
Personen, die zu gruppenbezogener Menschen-
feindlichkeit (also zu feindseligen Einstellungen      3.3     Methode: Systematische Literaturana-
gegenüber Minderheiten) neigen, können für an-                 lyse
ti-elitäres Framing empfänglich sein, was wieder-
um Einstellungen gruppenbezogener Menschen-            Um die Ergebnisse früherer empirischer Studien
feindlichkeit verstärken kann (Heiss & Matthes,        im Zusammenhang mit Mainstreaming zusam-
2020; Heitmeyer et al., 2020). Daher wird davon        menzutragen, zu aggregieren und zu strukturie-
ausgegangen, dass Elitenfeindlichkeit und Ver-         ren, wurde eine systematische Literaturanalyse
schwörungsnarrative       Mainstreaming-Prozesse       durchgeführt. Da es nur wenige Forschungsar-
fördern können. Verschwörungsnarrative stützen         beiten gibt, die ihren Fokus auf Mainstreaming-
sich üblicherweise auf die Wahrnehmung einer           Prozesse legen, ist es sinnvoll, das Blickfeld zu er-
‚mächtigen‘ Gruppe an elitären Verschwörer:in-         weitern. Die vier mit Mainstreaming potenziell
nen und vermitteln damit ebenfalls dichotome           zusammenhängenden Konzepte, (1) Themenset-
Weltbilder (Imhoff & Lamberty, 2018). Verschwö-        zung, (2) Desinformation, (3) Elitenfeindlichkeit
rungsnarrative sind sehr flexibel und können           und Verschwörungsnarrative sowie (4) kogniti-
schnell an sich ändernde Umstände und Ereig-           ve und technisch bedingte Verzerrungen, die im
nisse angepasst werden. Daraus lässt sich ableiten,    vorangegangenen Abschnitt erörtert wurden,
20

werden daher miteinbezogen. Darüber hinaus              den vier verwandten Konzepten in Verbindung
konzentriert sich die Schlagwortsuche nach rele-        stehen (siehe Abbildung 1 für den Aufbau der sys-
vanten Studien nicht nur auf den Begriff ‚Main-         tematischen Literatursuche). Auf diese Weise wur-
streaming‘, sondern aufgrund der weitgehend             den fünf Suchanfragen (eine für jeden Bereich des
synonymen Verwendung (Krzyżanowski & Eks-               dritten Begriffsblocks) auf Basis einer booleschen
tröm, 2022) auch auf den Begriff ‚Normalisierung‘.      Suchstrategie konzipiert, die in vier Literaturda-
An dieser Stelle sollte einschränkend angemerkt         tenbanken, nämlich Web of Science Core Collec-
werden, dass zwar versucht wurde, die Beziehung         tion, Communication and Mass Media Complete
zwischen diesen beiden Begriffen auf theoreti-          (über EBSCO Host), ACM Digital Library und Goo-
scher Ebene abzugrenzen, indem Normalisierung           gle Scholar, verwendet wurde. Anschließend wur-
als mögliches Ergebnis von Mainstreaming-Pro-           den Titel, Schlagwörter und Zusammenfassungen
zessen hergeleitet wurde. Trotzdem sind aber auf-       der 4.001 resultierenden Treffer manuell auf Ein-
grund des Mangels an Abgrenzung und Diskussi-           schluss- (Veröffentlichungszeitraum: Januar 2000
on der beiden Konzepte in der wissenschaftlichen        bis März 2022, Peer-Review-Artikel) und Aus-
Literatur auch Studien einbezogen worden, die           schlusskriterien (theoretischer Artikel, Studien
den Prozess, der in diesem Bericht unter Main-          mit hauptsächlich methodischem oder Counter-/
streaming gefasst wird, in ihrer Bezeichnung als        Präventionsfokus) geprüft.
‚Normalisierung‘ beschreiben.
                                                        Auf diese Weise ergaben sich 143 relevante Stu-
Die Boolesche Schlagwortsuche kombinierte               dien, die mit Hilfe eines Kategorienschemas ein-
deutsche und englische Begriffe aus drei Berei-         gehend gesichtet und analysiert wurden. Quan-
chen: (1) Begriffe, die sich auf Radikalisierung, Ra-   titative Kategorien lieferten einen Überblick
dikalismus und Extremismus beziehen; (2) Begrif-        über das Forschungsfeld (z.B. verwendete Metho-
fe, die sich auf das Internet beziehen, weil davon      den, ideologische Perspektive); qualitative Kate-
auszugehen ist, dass das Internet ein wesentliches      gorien ermöglichten eine eingehende Untersu-
Mainstreaming-Umfeld darstellt (da das Inter-           chung der Argumente des Artikels in Bezug auf
net extremistischen Akteuren den Zugang zu ei-          Mainstreaming.
ner breiten Öffentlichkeit und die Einbringung
in diese Diskurse erleichtert); (3) Begriffe, die mit
dem Schwerpunktthema (Mainstreaming) oder
21

Abbildung 1
Aufbau der systematischen Literaturrecherche

3.4     Ergebnisse der systematischen Litera-        Da der Großteil der Forschung zu Online-Radi-
        turanalyse                                   kalisierung im Allgemeinen islamistische Radi-
                                                     kalisierung fokussiert (Rothut et al., 2022), un-
3.4.1   Überblick über das Forschungsfeld            terstreicht dieses Ergebnis, was theoretische
                                                     Arbeiten oder Monographien bereits zuvor na-
Zunächst wird ein kurzer Überblick über Stu-         hegelegt hatten (z.B. Akkerman et al., 2016; Cam-
dien im Kontext von Mainstreaming gegeben. Die       maerts, 2018): Mainstreaming scheint für die
meisten Studien (n = 81) in diesem Bereich befass-   Rechtsaußen-Szene besonders relevant zu sein –
ten sich mit Rechtsextremismus, 24 Arbeiten ga-      zumindest in westlichen Kulturen, in denen die
ben nicht an, welche Perspektive sie einnahmen,      mit der extremen Rechten assoziierten Forderun-
18 untersuchten Islamismus, 14 mehrere Extre-        gen den traditionellen Werten vieler (konservati-
mismen, und zwei untersuchten Linksextremis-         ver) Bürger:innen näher stehen (z.B. im Vergleich
mus (siehe Abbildung 2). Allerdings bezieht sich     zum Islamismus) (Conway, 2020).
fast kein Beitrag im Zusammenhang mit Islamis-
mus oder Linksextremismus direkt auf das Kon-
zept des Mainstreamings (siehe Farbschema in
Abbildung 2).
22

Abbildung 2
Im Kontext von Mainstreaming untersuchte Ideologien

Die meisten Studien konzentrierten sich auf den       Insgesamt wurde Mainstreaming hauptsächlich
Bereich zur Themensetzung (n = 72), aber nur we-      als theoretischer Ausgangspunkt oder als Argu-
nige von ihnen erwähnten Mainstreaming oder           ment, als Teil der Relevanz der Studien oder im
Normalisierung entweder im Fließtext (n = 12)         Zusammenhang mit den Implikationen der Stu-
oder etwas prominenter im Titel und/oder der          dien behandelt. Nur zwei Arbeiten (Ekman &
Kurzzusammenfassung zu Beginn sowie im wei-           Krzyżanowski, 2021; Klinger et al., 2022) bezogen
teren Fließtext (n = 9). In ähnlicher Weise spiel-    Mainstreaming in ihre methodologischen Über-
te Mainstreaming in den anderen verwandten            legungen ein.
Bereichen nur eine marginale Rolle (siehe Ab-
bildung 3).
23

Abbildung 3
Im Kontext von Mainstreaming behandelte Themenblöcke

           Anmerkung. 38 Studien wurden mehr als einem Themenblock zugeordnet.

3.4.2   Mainstreaming-Faktoren                                Sieben davon manifestieren sich auf der Ebene der
                                                              Inhalte und Kommunikation, zwei profitieren von
Anschließend wurden die qualitativen Katego-                  der Inhaltspositionierung durch radikale Akteure
rien näher analysiert, indem nach gemeinsamen                 und weitere drei beziehen sich auf den Transfer zu
Mustern in den verschiedenen Studien gesucht                  Kommunikationsumfeldern der breiten Masse. Die
wurde. Die Aussagen, Implikationen und Ergeb-                 Faktoren werden im Folgenden beschrieben.
nisse im Kontext von Mainstreaming wurden in-
duktiv zu insgesamt zwölf Mainstreaming-Fakto-
ren verdichtet.
24

A)      Inhalte und Kommunikation                      err, 2017; Hew, 2018). Wenn die zugrundeliegende
                                                       Ideologie verschleiert wird, kann es schwieriger
1)      Dog Whistling                                  sein, hasserfüllte Inhalte zu erkennen, und es ist
                                                       wahrscheinlicher, dass diese (unbeabsichtigt) wei-
Dog Whistling beschreibt den Einsatz spezifi-          terverbreitet werden.
scher, gruppeninterner Codes, um die beabsich-
tigte Bedeutung zu verschleiern (‚Codifizierung‘).     4)     Zielgruppenspezifische Ansprache
Mit Dog-Whistling können drei Absichten ver-
folgt werden: (1) Es stärkt die Identifikation in-     Zielgruppengerechte Ansprache erlaubt es den
nerhalb der Szene und damit den Gruppenzu-             Kommunikator:innen, einen vereinfachten Zu-
sammenhalt, (2) es dient der Sicherheit der sich       gang zu den gewünschten Kommunikationspart-
äußernden Akteure sowohl in rechtlicher Hin-           ner:innen zu bekommen. Beispielsweise werden
sicht als auch zum Schutz vor Deplatforming (Ro-       Frauen durch extremistische Organisationen stra-
gers, 2020) und (3) es erhöht die Bekanntheit radi-    tegisch eingesetzt, um einerseits andere Frauen
kaler Ansichten, während die zugrunde liegende         gezielt anzusprechen, aber auch, um andererseits
Ideologie aufgrund ihrer verschleierten, subtilen      deren harmlos wirkendes Erscheinungsbild in der
Natur unbemerkt bleiben kann (Åkerlund, 2021a;         Rekrutierung von Nutzer:innen sozialer Medien
Saul, 2018).                                           strategisch auszunutzen (Askanius, 2021c). Eben-
                                                       so erlaubt es die Präsenz auf sozialen Medien bzw.
2)      Humoristische Darstellungsformen               der Einsatz von Influencer:innen, an moderne
                                                       (jugendliche) Lebenswelten und Online-Kulturen
Humoristische und unterhaltende Darstellungs-          anzuknüpfen (Åkerlund, 2021b; Askanius, 2021c;
formen, beispielsweise in Memes, werden einge-         Baker, 2022).
setzt, um die eigentliche hasserfüllte Ideologie
so zu verschleiern, dass diese erst auf den zwei-      5)     Kalkulierte Provokation
ten Blick erkennbar ist. Darüber hinaus bieten sie
einen Unterhaltungsfaktor, der extremen Inhal-         Mithilfe von Grenzüberschreitungen und Provo-
ten eine harmlose Hülle verleihen kann und es          kationen versuchen radikale Akteure, nach und
den Rezipient:innen ermöglicht, diskriminieren-        nach das ‚Overton-Fenster‘ bzw. die Grenzen des
de Denkmuster spielerisch auszutesten, indem           Sagbaren und Legitimen zu erweitern (Camma-
sie ähnliche ‚Witze‘ nachstellen (Askanius, 2021a,     erts, 2020; Wodak, 2020b). Provokationen sind
2021b; Schwarzenegger & Wagner, 2018).                 oft kalkuliert, um nach und nach Aussagen ‚sag-
                                                       bar‘ zu machen, die vormals in öffentlichen Dis-
3)      Visuelle Kommunikationsformen                  kursen aufgrund geltender Normen nicht legitim
                                                       erschienen, und häufig folgt eine anschließende
Visualisierungen, die ideologische Inhalte vermit-     (Teil-)Revidierung des normabweichenden Ver-
teln, haben das Potenzial, (1) sich grenzüberschrei-   haltens (Wodak, 2020b).
tend zu verbreiten, da bzw. sofern die Sprache ir-
relevant wird, (2) zum öffentlichen Auftreten von      6)     Populistischer Kommunikationsstil
Hassorganisationen/-parteien unter Verwendung
von Logos beizutragen und (3) leichter und stär-       Die Definition von (Rechts-)Populismus, die die-
ker Emotionen zu vermitteln, die Aufmerksam-           sen als Kommunikationsstil auffasst, verknüpft
keit erregen und die Mobilisierung fördern (Do-        ihn mit drei charakteristischen Elementen: (1) die
25

Betonung einer positiv bewerteten Ingroup (‚das       Weltbilder (d. h. sowohl Anti-Establishment- als
Volk‘), (2) Anti-Elite-Haltung (Antagonismus auf      auch Anti-Outgroup-Einstellungen), aber auch
der vertikalen Ebene: die feindliche Gruppe wird      ein Gefühl von Angst verstärkt werden, indem po-
als mächtiger als die Ingroup angesehen) und (3)      pulistische Kommunikator:innen die Ingroup als
Anti-Outgroup-Haltung, insbesondere gegen-            bedroht darstellen (Heiss & Matthes, 2020). Dies
über Minderheiten (Antagonismus auf der hori-         wiederum bietet einen Zugang zu der vereinfach-
zontalen Ebene: die feindliche Gruppe wird als        ten, dichotomen Weltsicht, auf der Propaganda
auf derselben Ebene oder unter der Ingroup ste-       und extremistische Ideologien beruhen, und er-
hend angesehen) (Jagers & Walgrave, 2007; Reine-      leichtert die Übernahme dieser.
mann et al., 2016). Populismus, also die kommu-
nikative Bezugnahme auf diese drei Elemente,          B)     Inhaltspositionierung durch radikale
kann dichotome Weltanschauungen auf Seiten                   Akteure
der Rezipient:innen verstärken und so durch die
ständige Wiederholung ähnlicher Narrative Res-        8)     Demokratisch legitimierte Akteure als
sentiments gegen bestimmte Gruppen schüren                   ‚Booster‘ bzw. ‚Brücken‘
(Hatakka, 2017; Schwarzenegger & Wagner, 2018).
Darüber hinaus können populistische Kommuni-          Demokratisch legitimierte Akteure (z.B. durch er-
kationsstile den sogenannten Ingroup-Outgroup         folgreiche Wahlen) verleihen radikalen Inhalten
Bias auslösen (Hewstone et al., 2002). Demnach        zusätzliche öffentliche Wirkkraft. Die Legitimati-
hat die Betonung einer Ingroup, der positive Wer-     on der Akteure geht auf die Inhalte über. Zudem
te zugeschrieben werden, und Outgroups, denen         können sie leichter öffentliche Aufmerksam-
negative Werte zugewiesen werden, eine iden-          keit erlangen – sowohl von Bürger:innen direkt
titätsstiftende Wirkung, wodurch populistische        als auch von Medien (Klinger et al., 2022; Pytlas,
Kommunikation für einige Rezipient:innen be-          2019). Vor allem eine kognitive Verzerrung kann
sonders attraktiv ist.                                das Überzeugungspotenzial solcher Akteure stär-
                                                      ken: Dem Authority Bias (Milgram, 1963) zufolge
7)     Viktimisierung                                 neigen Menschen tendenziell dazu, Behauptun-
                                                      gen von Autoritäten, wie hochrangigen Politi-
Aufbauend auf dem populistischen Stil stellen         ker:innen, Ärzt:innen oder Wissenschaftler:innen,
Viktimisierungs- oder Opfererzählungen die In-        mehr Vertrauen zu schenken, und lassen sich da-
group als in einer Notsituation befindlich dar und    her leichter von ihnen beeinflussen.
vermitteln oder wecken starke Emotionen (Bou-
ko et al., 2021; Cammaerts, 2020). Emotionalisier-    9)     Extremistische und alternative Nach-
te Appelle schaffen ein Gefühl der Nähe zu den               richtenmedien
Mitgliedern der Ingroup und machen die Rezi-
pient:innen gleichzeitig für den:die Kommunika-       Sogenannte alternative Nachrichtenmedien (z.B.
tor:in leichter ansprechbar. Einerseits ist es ein-   PI-News, Compact) – häufig in Form von Websei-
facher, auf der Grundlage von Emotionalisierung       ten, zum Teil aber auch zusätzlich verfügbar als
erfolgreich zu mobilisieren – insbesondere durch      Printprodukt – werden eingesetzt mit dem Ziel,
Narrative von Gefährdung, die Angst, Wut und ein      aktuelles Nachrichtengeschehen im Sinne der ei-
Gefühl, man befände sich in einer Gefahrenlage,       genen Ideologie umzudeuten und so die Salienz
hervorrufen können (Marcks & Pawelz, 2022). An-       und Kultivierung radikaler Frames zu fördern
dererseits können dichotome Ingroup-Outgroup-         (Schulze, 2020). Eine beliebte Strategie, die zur
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