Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien - ZAF
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ABSCHLUSSBERICHT Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien Forschungsvorhaben Online-Radikalisierung ZAF Zentrum für Analyse und Forschung
ZAF Zentrum für Analyse und Forschung Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien Abschlussbericht
Vorwort Sehr geehrte Leserinnen und Leser, radikaler Positionen zu verlagern, ohne dass dies so wahrgenommen oder unmittelbar mit spezifi- bei der vorliegenden Publikation handelt es sich schen Ideologien assoziiert wird. Mainstreaming um den Abschlussbericht eines Forschungspro- kann zur Verringerung von Reaktanz gegenüber jektes zum Thema „Online-Radikalisierung“, das extremistischen Ideologien, Akteuren oder Prak- vom Zentrum für Analyse und Forschung (ZAF) tiken führen und sie können sich somit stärker in beim Bundesamt für Verfassungsschutz an die der Mitte der Gesellschaft verankern. Das maß- Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU nahmenbezogene Protestgeschehen rund um die München) vergeben wurde. Covid-19-Pandemie hat deutlich gemacht, wel- che Rolle soziale Medien, innerhalb der Kommu- Das ZAF ist eine im Aufbau befindliche For- nikationsstrategien extremistischer Akteure spie- schungsstelle, die sich mit einem interdiszipli- len und welche Bedeutung die Rezeption dort nären Ansatz mit allen phänomenologischen verbreiteter Narrative in individuellen Radikali- Themenbereichen des Verfassungsschutzes be- sierungsprozessen haben kann. schäftigt. Um die Grundlagenforschung in rele- vanten Forschungsbereichen zu stärken, vergibt Im Rahmen des Projektes liefern die Forschen- das ZAF Projektmittel an Wissenschaftlerinnen den der LMU München basierend auf einer sys- und Wissenschaftler, die zu aktuellen Fragestel- tematischen Literaturanalyse erste Ansätze zur lungen der Extremismus- bzw. Radikalisierungs- Entwicklung einer theoretischen Konzeptualisie- forschung arbeiten. rung und strategischem Operationalisierung von strategischen Mainstreaming. In einer anschlie- Die Forschungstätigkeit des ZAF ist Grundsätzen ßenden empirischen Betrachtung wird am Bei- verpflichtet, die in einem verbindlichen Ethikko- spiel der Telegram-Kommunikation der Coro- dex niedergelegt sind. Im Rahmen von Projekt- namaßnahmenprotestbewegung unter anderem ausschreibungen werden durch das ZAF lediglich diskutiert, inwieweit durch strategisches Main- Themenstellungen vorgegeben. Die Entwick- streaming eine Brücke zwischen radikalen lung konkreter Forschungsfragen sowie der For- bzw. extremistischen Milieus und der breiten schungsmethodik obliegt, wie auch in diesem Bevölkerung entstehen kann und welche Fall, vollständig den Forschenden. Narrative und Strategien dabei überwiegend genutzt werden. Der vorliegende Bericht befasst sich mit dem As- pekt des strategischen Mainstreamings: Hier wird Zentrum für Analyse und Forschung versucht, den öffentlichen Diskurs in Richtung am Bundesamt für Verfassungsschutz
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Kapitel 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kapitel 2 Die Rolle sozialer Medien in extremistischer Kommunikation: Opportunitätsstrukturen, (Online-)Radikalisierung & Mainstreaming . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Kapitel 3 Das Mainstreaming radikaler Positionen mithilfe digitaler Technologien – ein systematischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
7 Kapitel 4 Zwischen Mainstream-Öffentlichkeit und radikaleren Milieus? Die Rolle und Verortung der COVID-19-Maßnahmenprotest-Bewegung Querdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Kapitel 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Kapitel 6 Limitationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Kapitel 7 Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Zusammen- fassung • In der heutigen vernetzten Welt müssen digitale letztlich eine Akzeptanz von zuvor abgelehnten Umgebungen zentral berücksichtigt werden, um Aussagen, Veränderung von Normen und Ver- Radikalisierung und die Verbreitung extremisti- schiebung der Grenzen des Sagbaren in Rich- schen Gedankenguts zu verstehen. tung des Extremen erfolgen. • Das Internet kann Radikalisierungsprozesse • Es wird angenommen, dass vier Konzepte mit durch drei unterschiedliche Opportunitäts- einem strategischen Mainstreaming einherge- strukturen beschleunigen: (1) das jeweilige An- hen: (1) Themensetzung, (2) Desinformation, (3) gebot und die Gestaltungsmöglichkeiten; (2) Elitenfeindlichkeit und Verschwörungsnarrative den erleichterten Informationszugang, der die sowie (4) kognitive und technisch bedingte Ver- Nachfrage vereinfacht; (3) dynamische Interak- zerrungen. tionsmuster und technische Architekturen, die potenziell mobilisierende und radikalisierende • Die Ergebnisse der vorliegenden systematischen Kommunikation ermöglichen. Literaturanalyse zeigen, dass sich bisher weni- ge Studien empirisch mit Mainstreaming aus- • Zunehmend wird im Online-Kontext darüber einandergesetzt haben. Aus der Literaturanalyse diskutiert, dass radikale Akteure Mainstreaming wurden zwölf Mainstreaming-Faktoren abge- nutzen, um ihre Ideen in die Mitte der Gesell- leitet. Sieben davon manifestieren sich auf der schaft zu tragen und damit ein möglichst brei- Ebene der Inhalte und Kommunikation, zwei be- tes Feld an Personen für ihre Ideen zu erreichen. ziehen sich auf die Inhaltspositionierung durch Beim strategischen Mainstreaming wird ver- radikale Akteure und weitere drei beziehen sich sucht, den öffentlichen Diskurs in Richtung ra- auf den Transfer zu Kommunikationsumfeldern dikaler Positionen zu verlagern, ohne dass dies der breiten Masse. so wahrgenommen oder unmittelbar mit spezi- fischen Ideologien assoziiert wird. • Für den empirischen Teil dieses Berichtes wer- den fünf Mainstreaming-Faktoren, die sich in- • Mainstreaming kann zur Verringerung von Re- haltlich manifestieren (humoristische Dar- aktanz gegenüber extremistischen Ideologien, stellungsformen, visuelle Kommunikation, Akteuren oder Praktiken führen. Zudem werden populistische Kommunikation, Viktimisierung, extremistische Akteure darüber weniger offen- extremistische und alternative Nachrichtenan- sichtlich mit den Ideologien in Verbindung ge- bieter) und verwandte Konzepte (Desinformati- bracht und wirken harmloser sowie stärker in on, Verschwörungsnarrative, kognitive Verzer- der Mitte der Gesellschaft verankert. So kann rungen) in der Telegram-Kommunikation von
9 Nachrichten aus öffentlichen Querdenken-Ka- innerhalb der präsentierten Inhalte weitgehend nälen seit April 2020 angewandt. Als Anwen- unwiderlegt bleibt. dungsbeispiel wurde Querdenken gewählt, de- ren Online-Mobilisierung sich auf Telegram • Es zeigt sich eine sehr hohe Prävalenz (79,7 %) an konzentrierte. elitenfeindlichen Inhalten. Darin werden insbe- sondere politische Akteure (die Regierung oder • Basierend auf inhaltlichen oder akteursbezoge- auch spezifische Politiker:innen), aber auch Me- nen Überschneidungen kann argumentiert wer- dienakteure und Wissenschaftler:innen bzw. den, dass Querdenken als Brücke zwischen der akademische Einrichtungen angefeindet. breiten Bevölkerung und radikaleren Milieus fungieren kann, was Querdenken sehr relevant • Aufrufe zur Nutzung alternativer Nachrichten- für Mainstreaming-Strategien macht. Es wur- medien haben im Zeitverlauf in der Querden- den drei empirische Teilstudien durchgeführt, ken-Kommunikation auf Telegram nicht nur (1) eine quantitative, längsschnittliche Inhalts- signifikant zugenommen, sondern in der Häu- analyse, (2) eine Analyse der erwähnten Hyper- figkeit an Verlinkungen bereits Anfang 2021 in links in der Querdenken-Kommunikation, und der breiten Masse etablierte Medienanbieter (3) eine (dynamische) Netzwerkanalyse zur Un- überholt. Sie sind somit zur bedeutendsten In- tersuchung der Vernetzung und Interaktion von formationsquelle auf Telegram aufgestiegen. Querdenken mit anderen Telegram-Kanälen. Neben den alternativen Nachrichtenquellen sind auch zwei traditionelle Nachrichtenmedi- • Die Analysen zeigen, dass die Prävalenz von en unter den meistgenutzten Medien: die Bild Merkmalen, die klassischerweise unmittelbar Zeitung und die Welt, die anderen Studien zu- mit Rechtsaußen-Ideologie assoziiert sind, unter folge mit höherem Grad an Emotionalisierung den reichweitenstärksten Beiträgen bei etwa drei als andere traditionelle Medien über die COVID- Prozent liegt und damit sehr niedrig ist. Trotz- 19-Pandemie berichteten und so gegebenenfalls dem zeigt sich ein signifikanter Anstieg für den auch als Brücke zu radikaleren bzw. extremeren allgemeinen Rechtsaußen-Tenor, aber auch für Inhalten fungieren können. Exklusionismus und für Xenophobie, insbeson- dere innerhalb der ersten zwölf Monate der Pan- • Es gibt einen Fokus auf visuelle Inhalte sowohl demie, gefolgt von einem leichten Rückgang im innerhalb der untersuchten Beiträge als auch Jahr 2021. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch bezüglich externer Verlinkungen: So verweisen für Rechtsaußen-Verschwörungsnarrative. Zwar die meisten externen URLs auf Videoformate. weist beinah jeder dritte der analysierten Beiträ- Dabei ist YouTube – mit auffallend großem Ab- ge Bezüge zu einem Verschwörungsnarrativ auf, stand – die meistverlinkte Plattform. davon sind aber nur rund 18 Prozent ideologisch rechts zu verorten. • Es finden teils intensive Interaktionen mit Ak- teuren aus der Rechtsaußen-Szene statt. Dar- • Ein großer Anteil der Beiträge (43,9 %) beinhaltet unter finden sich Kanäle, die eindeutig Inhalte offensichtliche Falschinformationen. Dies ist im rund um die rechtsextreme QAnon-Verschwö- aktuellen Kontext besonders besorgniserregend, rungsideologie verbreiten. Solche Interaktionen da Falschinformation auf Telegram aufgrund kommen aufgrund geteilter Anti-Eliten-Ansich- des nicht-partizipatorischen Charakters der Ka- ten zustande. näle und der Tendenz zu ähnlichen Ansichten
10 • Innerhalb des Querdenken-Netzwerks ist die • Aus der Literaturanalyse und den empirischen größte Community – wenig überraschend – Teilstudien ergeben sich eine Reihe von For- Querdenken- und Protest-zentriert. Im Netz- schungsdesiderata und Implikationen: Die Er- werk selbst befindet sich die Community jedoch, gebnisse weisen auf inhaltlich implizite Bezüge obwohl das Sampling von Querdenken-Kanä- zu Rechtsaußen-Positionen hin, was eine wei- len ausging, tendenziell am Rande des Gesamt- terführende und vertiefende Analyse dieser und netzwerks. Das Zentrum bildet hingegen eine weiterer Inhalte notwendig macht, um mög- Community, in der Rechtsaußen-Akteure zu liche codierte Hinweise zu entschlüsseln. Des den wichtigsten Knotenpunkten zählen. Über Weiteren zeigt sich eine hohe Bedeutung (au- diese Rechtsaußen-Akteure wird die Querden- dio-)visueller Elemente, der man mit derzeiti- ken- und Protest-zentrierte Community zu zwei gen Analysen noch nicht gerecht werden kann. größeren Verschwörungsclustern (ein deutsch- Zudem basiert die vorliegende Untersuchung sprachiges sowie ein internationales) über- ausschließlich auf Nachrichten aus öffentlich zu- brückt. gänglichen Telegram-Kanälen. Andere (große) Plattformen und nicht-öffentliche Fringe Com- • Als Fazit kann festgehalten werden, dass in gewis- munities werden durch die hier gewonnenen Er- sem Maß die Gefahr des Mainstreamings radika- kenntnisse nicht abgedeckt. Dies liegt unter an- ler Ansichten besteht, insbesondere basierend derem auch an den limitierten Datenzugängen auf identitätspolitischen Mainstreaming-Fakto- für die Wissenschaft, die von insbesondere gro- ren. Emotionen, wie Angst und Wut können von ßen Plattformen bewusst blockiert werden. Be- Protest- und Rechtsaußen-Akteuren instrumen- sonders der Blick auf Plattformen, die eine breite talisiert werden, um Empfänglichkeit herzustel- Masse der Bevölkerung ansprechen, könnte aber len und über diesen Mechanismus eliten- und Mainstreaming-Strategien noch weiter verdeut- systemkritische Ansichten nachhaltig, etwa bei lichen. skeptischen oder von den Maßnahmenentschei- dungen verängstigten Bürger:innen, zu kultivie- ren.
11 Kapitel 1 Einleitung Radikalisierung und die Ausbildung extremisti- Mainstreaming. Mainstreaming beschreibt einen scher Gesinnungen sind in der heutigen digitalen Prozess, bei dem versucht wird, den öffentlichen Welt nicht ohne die Berücksichtigung des Inter- Diskurs in Richtung radikaler Positionen zu ver- nets und seiner Angebote zu fassen. Hasserfüllte lagern, ohne dass dies so wahrgenommen oder und extremistische Inhalte verbreiten sich online unmittelbar mit spezifischen Ideologien assozi- rasant und weitflächig, sodass in weiten Teilen iert wird (Feischmidt & Hervik, 2005; Hohner et des Internets und insbesondere in sozialen Me- al., 2022). Diese Strategie wird von radikalen und dien im großen Umfang radikale Ideologien, Be- extremistischen Akteuren bewusst angewandt, leidigungen und Hass gegen Minderheiten, aber um die eigene Agenda in die Mitte der Gesell- auch gegen Eliten wie etablierte Politiker:innen, schaft zu tragen, Thesen zugänglicher zu gestalten Wissenschaftler:innen und Journalist:innen zu und somit mehr Anhänger:innen für die eigenen finden sind. Daher überrascht es nicht, dass eine Anschauungen zu gewinnen. Sowohl die Einstel- Umfrage in Europa zeigt, dass fast 80 Prozent der lung zu unterschiedlichen Themen als auch spe- Befragten angeben, mindestens einmal im ver- zifische Formulierungen und Begriffe sollen zu- gangenen Jahr mit Inhalten konfrontiert wor- nehmend als Belange der Mitte wahrgenommen den zu sein, die zu Gewalttaten oder Rassismus werden, um unter anderem die Reaktanz gegen- und Fremdenfeindlichkeit aufrufen (Bécuwe et über radikalen Narrativen zu mindern. Main- al., 2018). Des Weiteren berichten 30 bis 65 Pro- streaming kann einen Rahmen eröffnen, in dem zent der Internetnutzer:innen, in verschiedenen extremistische Narrative leichter andocken und Studien aus unterschiedlichsten Ländern, bereits in dem so Radikalisierung begünstigt wird. Lang- mindestens einmal Zeug:in von Online-Hass ge- fristig kann dies (affektive) Polarisierung fördern worden zu sein (Bedrosova et al., 2022; Costello et und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt scha- al., 2016). Durch ein solches Umfeld von Inzivili- den (Reynolds, 2018). tät besteht die Gefahr, dass sich die Grenzen des Sagbaren verschieben und Diskurse in radikalere Obwohl Mainstreaming für die Entwicklung und Richtungen gelenkt werden. Verbreitung radikaler Narrativen und extremis- tischen Gedankenguts relevant zu sein scheint, Ein Aspekt, den sich radikale Akteure zunutze ist bislang noch weitgehend ungeklärt, welche machen, um ihre Ideen in die Mitte der Gesell- Faktoren Mainstreaming begünstigen. Der vor- schaft zu tragen und damit ein möglichst breites liegende Bericht hat daher das Ziel, das Konzept Feld an Personen für ihre Ideen zu erreichen, ist Mainstreaming in den Blick zu nehmen. In einem
12 ersten Schritt wird daher anhand einer systema- nal ist (Urman & Katz, 2022) und dass Rechtsau- tischen Literaturanalyse folgende Fragestellung ßen-Akteure rasch auf den Zug der Kritik unter untersucht: anderem an Regierung, Gesundheits- und Sicher- heitsbehörden für deren Umgang mit der Pande- FF1: Inwiefern und basierend auf welchen Pro- mie aufgesprungen sind, sowie rechte Narrative zessen bewegen sich extremistische Narrative zügig an dieses Thema anpassten, führte zu Be- von digitalen Randbereichen in die Mitte der fürchtungen, dass Rechtsaußen-Akteure die Pro- Online-Gesellschaft? testbewegung für sich vereinnahmen könnten (siehe z.B. Curley et al., 2022). Während Demons- Die systematische Auseinandersetzung mit dem trationen größtenteils friedlich abliefen, zeigte aktuellen Theorie- und Forschungsstand ermög- sich auch bei diesen Veranstaltungen eine gewisse licht die Entwicklung einer Konzeptualisierung Nähe zum Rechtsaußen-Milieu: Zahlreiche Medi- und anschließenden Operationalisierung von enberichte über Anti-Maßnahmen-Demonstrati- Mainstreaming. Die vorliegende Studie liefert onen organisiert von Querdenken meldeten, dass hierzu erste Ansätze, unter anderem durch die unter den Demonstrierenden auch Rechtsextre- Erarbeitung von zwölf Mainstreaming-Faktoren. mist:innen mitliefen und teils von den Teilneh- Um die praktische Relevanz dieser Faktoren und mer:innen Reichsflaggen mitgeführt wurden (z.B. damit ihre Anwendbarkeit zu prüfen, werden sie Deutschlandfunk, 2020; Virchow, 2022). im zweiten Projektteil empirisch angewandt. Die Überprüfung erfolgt durch eine umfangreiche Mainstreaming-Potenziale wurden daher anhand und vertiefte Betrachtung der Online-Kommuni- des Beispiels der Telegram-Kommunikation von kation des COVID-19-Protestgeschehens. Darun- Querdenken untersucht. Da Mainstreaming-Ten- ter ist ‚Querdenken‘ mittlerweile ein Pars pro Toto denzen einen langfristigen Charakter haben und für den Protest gegen die COVID-19-Bestimmun- sich nur subtil und graduell bemerkbar machen, gen geworden und schaffte es schnell, deutsch- wurde für die empirische Überprüfung der Main- landweit, aber auch in deutschsprachigen Nach- streaming-Faktoren ein längsschnittliches Design barländern Unterstützer:innen zu mobilisieren. gewählt. Der Untersuchungszeitraum für alle em- Die Kommunikation und Mobilisierung für bei- pirischen Teilstudien umfasst jeweils zwei Jahre, spielsweise Demonstrationen auf den Straßen er- von April 2020 bis April 2022. Mit diesem Vorge- folgte vor allem über die Online-Plattform Tele- hen soll im zweiten Teil dieses Berichts folgende gram (Holzer, 2021; Schulze et al., 2022a). Fragestellung beantwortet werden: Kritik und Diskussion über aktuelle (politische) FF2: Welche Narrative und welches Kom- Geschehnisse ist wichtig und zentral für das munikationsverhalten (inhaltliche Angebo- Funktionieren demokratischer Prozesse, sodass es te, Vernetzungstendenzen etc.) nutzt die CO- wünschenswert ist, dass sich Bürger:innen aktiv VID-19-Maßnahmen-Protestbewegung am öffentlichen Diskurs beteiligen und ihre Mei- Querdenken, um radikale bzw. extremistische nungen artikulieren. Dennoch kann Protestkom- Positionen in die breite Öffentlichkeit zu tra- munikation von manchen, radikalen Akteuren gen? auch zu ideologisierten Zwecken (Propaganda, Rekrutierung) (aus-)genutzt werden. Nicht zuletzt Auf Basis dieser Forschungsfrage wird diskutiert, die Tatsache, dass Telegram innerhalb der Rechts- ob Querdenken als Brücke zwischen der breiten außen-Szene ein beliebter Kommunikationska- Bevölkerung oder zumindest Segmenten dieser,
13 die den COVID-19-Maßnahmen ängstlich oder Bevor im Folgenden eingehender auf das Main- skeptisch gegenüberstehen, und radikaleren bzw. streaming radikaler Positionen eingegangen extremen Milieus fungieren kann. wird, wird zunächst in Kapitel 2 ein kurzer Über- blick über die Rolle des Internets für extremisti- Hierfür wurden drei methodische Schritte ag- sche Kommunikation gegeben. Dabei wird spe- gregiert: (1) Die inhaltliche Ebene wurde mithilfe ziell diskutiert, welche Opportunitätsstrukturen einer längsschnittlichen quantitativen Inhalts- für die Nutzung des Internets vonseiten extre- analyse untersucht. Dabei standen die Entwick- mistischer Akteure relevant sind, wie die breit lungen der Querdenken-Kommunikation auf Te- diskutierte Thematik rund um Online-Radikali- legram im Fokus. In Anlehnung an den ersten Teil sierung einzuordnen ist, und wo in dem Kontext des Berichts, der systematischen Literaturanaly- Mainstreaming zu verorten ist (siehe 2.). Das Kapi- se, wurden fünf der zwölf erarbeiteten Mainstrea- tel 3 widmet sich dem Konzept des strategischen ming-Faktoren, die sich inhaltlich manifestieren, Mainstreamings (siehe 3.1) sowie möglichen Ein- sowie drei Konzepte, die damit potenziell ver- flussfaktoren darauf (siehe 3.2), bevor das Vorge- knüpft sind, empirisch getestet. (2) Die Kommu- hen bei der systematischen Literaturanalyse (sie- nikationsumgebungen und -repertoires Querden- he 3.3) sowie ihre Ergebnisse (siehe 3.4) erläutert kens außerhalb Telegrams wurden anschließend und schließlich eingeordnet (siehe 3.5) werden. anhand einer URL-Analyse näher betrachtet. (3) Mit dem Kapitel 4 startet der zweite Projektteil, in Auch innerhalb Telegrams wurden die Kommuni- dem das Protestgeschehen rund um die COVID- kationsumgebungen zu anderen Telegram-Kanä- 19-Maßnahmen und damit verbundene Main- len untersucht. Eine Netzwerkanalyse mit tempo- streaming-Potenziale diskutiert (siehe 4.1.) und ralen Elementen erlaubt tiefergehende Einblicke schließlich empirisch anhand der drei Teilstudien in die strukturellen Merkmale, die die Vernetzun- geprüft werden (siehe 4.2 bis 4.4). Darauf folgt im gen und Interaktionen mit anderen Akteursar- Kapitel 5 ein Gesamtfazit über beide Projektteile, ten charakterisieren. Zudem wurden mithilfe von inklusive einer Zusammenfassung und Diskussi- Community Detection verdichtete Kommunika- on der relevantesten Befunde, eine Einordnung tionscluster identifiziert, die Hinweise auf (unter- der Aussagekraft anhand der Limitationen (siehe schiedliche) Arten an Gruppierungen innerhalb 6.) und eine kurze Conclusio (siehe 7.). dieses Netzwerks liefern.
Kapitel 2 Die Rolle sozialer Medien in extremistischer Kommunikation: Opportunitätsstrukturen, (Online-)Radikalisierung & Mainstrea- ming Extremistische Akteure zählen zu den ‚early Ad- lischsprachige oder multilinguale Kommuni- optern‘ digitaler Technologien (Conway et al., kation) stehen Beiträge gegebenenfalls sogar 2019): Bereits früh wussten sie unterschiedli- globalen Zielgruppen offen. So ist es durch das che Anwendungen und technologische Entwick- Internet möglich, dass radikale Gruppierun- lungen rund um das Internet für sich zu nutzen. gen für sich und ihre Botschaften einen enor- Durch digitale Kommunikationsformen haben men Reichweitenzuwachs erzielen. Weiterhin sich neue Möglichkeiten für extremistische Kom- bietet das Internet eine Vielzahl unterschiedli- munikation aufgetan, von denen extremistische cher Angebotspotenziale. Extremistische Akteu- Akteure vielfach profitieren können. re haben in der Ansprache zahlreiche Inhalts- und Gestaltungsmöglichkeiten, wodurch viele Drei Opportunitätsstrukturen lassen sich unter- Wege verfügbar sind, um ein möglichst großes scheiden: Publikum effektiv und effizient zu adressieren. So kann auf unterschiedliche Inhaltsanforde- 1. Angebot: Durch sich stetig ausdifferenzierende rungen eingegangen werden, beispielsweise auf und weiterentwickelnde digitalen Möglichkei- Unterhaltung (z.B. durch humoristische Inhal- ten verändern sich auch die Angebotsstruktu- te), Information (z.B. durch ideologiekonforme ren entsprechender Inhalte. Dies schließt zum Medienangebote in Text-, Audio- oder Video- einen die Publikumsstrukturen, zum anderen form) oder soziale Kontakte (z.B. durch soziale Angebotspotenziale ein. Im Vergleich zu Off- Medien und Messenger). line-Kommunikation zeichnet sich Online- Kommunikation durch zentrale Unterschiede 2. Nachfrage: Das Internet beeinflusst nicht nur hinsichtlich Publikumsstrukturen aus: Online das Angebot extremistischer Inhalte, sondern erhalten (extremistische) Akteure Zugang zu hat auch Implikationen für die Nachfrage. Dies einer großen – im Vergleich zu reinen Offline- schließt vor allem den vereinfachten Informati- Möglichkeiten massiv erweiterten – Menge an onszugang ein: Das Internet erleichtert es sehr, potenziellen Adressat:innen: Mit entsprechen- Inhalte und soziale Kontakte zugänglich zu ma- den Inhaltsadaptionen (beispielsweise eng- chen. Menschen, die entweder nach Antworten,
15 nach Gleichgesinnten oder nach sozialem An- Im Kontext dieser drei Opportunitätsstruktu- schluss suchen, können online vergleichswei- ren – Angebot, Nachfrage sowie Dynamiken und se unkompliziert mit radikalen oder extremis- technische Architekturen – wurden und werden tischen Gruppierungen und ihren Inhalten in zunehmend Befürchtungen geäußert, dass Radi- Kontakt kommen (Rieger et al., 2020). Zudem kalisierung mit der Internetnutzung einhergehen ermöglichen digitale Medien in manchen Fäl- kann. Radikalisierung beschreibt dabei „(1) einen len und basierend auf unterschiedlichen Me- Prozess …, der (2) nicht von einem einzelnen Fak- chanismen eine sogenannte Selbstradikali- tor, sondern von einer Kombination unterschied- sierung, bei der Radikalisierung vornehmlich licher Faktoren determiniert wird, durch die (3) durch den Kontakt mit (zunehmend) extremen eine schrittweise, graduelle Übernahme extre- Online-Beiträgen und entkoppelt von Gruppen mistischer Ideologien erfolgt“ (Rothut et al., 2022, oder Offline-Kontakten stattfindet (Alfano et S. 5). Online-Radikalisierung, im Speziellen, be- al., 2018). schreibt den Radikalisierungsprozess, der primär auf Nutzung des Internets und insbesondere sozi- 3. Dynamiken & technische Architekturen: Das aler Medien zurückzuführen ist (US Department Internet zeichnet sich durch rhizomatische of Justice, 2014). Noch kann nicht eindeutig be- Heterogenität aus: Es existieren unterschiedli- stimmt werden, welche internetspezifischen Fak- che digitale Kommunikationsumgebungen, die toren Radikalisierung fördern und welche Rolle nach unterschiedlichen, teils ganz eigenen Lo- das Internet im Radikalisierungsgeschehen ge- giken funktionieren und sich mehr oder we- nau einnimmt. Jedoch sind sich Radikalisierungs- niger gut für unterschiedliche Aspekte extre- und Extremismusforscher:innen zunehmend da- mistischer Kommunikation eignen (siehe z.B. hingehend einig, dass das Internet als Katalysator Frischlich et al., 2022; Schulze et al., 2022b). Ins- für gesellschaftliche Dynamiken fungiert und besondere auf sozialen Medien können Emp- somit, auch vor dem Hintergrund der drei ge- fehlungsalgorithmen dazu beitragen, dass die nannten Opportunitätsstrukturen, Radikalisie- Suche nach Inhalten zu zunehmend einseiti- rungsdynamiken beschleunigen kann (z.B. Ben- gen und unter Umständen (wie beispielsweise ter & Cawi, 2021; Meleagrou-Hitchens et al., 2017). für die Plattform YouTube gezeigt; Whittaker Trotzdem ist es wichtig, auch Offline-Dynamiken et al. 2021) zu radikaleren Inhalten und Anbie- und vor allem Wechselwirkungen zwischen on- ter:innen führt. Zudem sehen sich gerade ext- line und offline im Blick zu behalten. Eine strik- remistische Akteure auf sozialen Medien mit te Abgrenzung von Offline- und Online-Radika- den Thematiken Regulierung und Abschottung lisierung wird als ‚falsche Dichotomie‘ bezeichnet konfrontiert. Durch Regulierungen wird ver- (z.B. Whittaker, 2022). Da Internetnutzung ein ha- sucht, auf großen öffentlichen Plattformen die bitualisierter, fester Bestandteil der aktuellen Le- Verbreitung von expliziten und strafbaren In- bensrealität ist, dürfen Offline- und Online-Ge- halten einzuschränken. Gleichzeitig gibt es eine schehen nicht voneinander entkoppelt betrachtet Fülle von weitgehend unmoderierten Plattfor- werden (Rothut et al., 2022). men, auf denen expliziter Hass und Hetze nach wie vor ungebremst verbreitet werden können. Auf großen Plattformen, wie Facebook, Instagram Fringe Communities, die in ihrem Austausch oder YouTube, können extremistische Akteure immer extremer und expliziter sind, können Zugang zu einer großen Anzahl an Nutzer:innen gedeihen. bekommen. Diese Plattformen ermöglichen es ihnen, Reichweite zu generieren sowie neue An-
16 hänger:innen bzw. Symphatisant:innen zu rek- Dabei ist die Zuordnung einzelner Plattformen rutieren und zu mobilisieren (Rothut et al., 2022). zu diesen beiden grob vereinfachten Arten (gro- Auf großen Plattformen kann das Mainstreaming ße soziale Medienplattformen und kleinere, un- radikaler Positionen vorangetrieben werden, in- moderierte Plattformen) nicht (immer) eindeu- dem das aktive Einbringen ideologisch motivier- tig. Vielmehr kann es auch Überlappungen geben, ter Narrative in den öffentlichen Diskurs ermög- beispielsweise für bestimmte themenspezifische licht wird – solange die verbreiteten Inhalte nicht Kreise, für die sich mit der Zeit eine Plattform als zu explizit und extrem formuliert werden. Dies die zentrale Netzwerkseite entwickelt, oder die könnte nämlich zum einen abschreckend wir- Rolle einer Plattform kann sich von Zeit zu Zeit ken, zum anderen auch Betreiber großer Platt- verlagern vor dem Hintergrund der hohen Dyna- formen auf die Akteure aufmerksam machen und mik der (Weiter-)Entwicklung des Internets. Ra- schließlich Inhalts- oder Accountsperrungen (De- dikale und extremistische Akteure verfolgen die- platforming) zur Folge haben. se Entwicklungen und passen ihre Strategien zur Verbreitung der eigenen Ideologie kontinuierlich Deplatforming zwingt extremistische Akteure an. Innerhalb der letzten Jahre wurde hierbei un- dazu, ihre Kommunikationsaktivitäten auf klei- ter anderem erkannt, dass als zu extrem wahrge- nere (Nischen-)Plattformen auszuweichen, auf nommene Ansichten und Selbstdarstellung zum denen Inhaltsmoderation nicht oder nur in sehr Teil abschreckend wirken und entsprechend Re- geringem Maß stattfindet (Schulze, 2021). Dies hat krutierungs- und Mobilisierungsbemühungen auch Reichweitenverluste zur Folge: Durch das behindern können. Bemüht wird hier gerne die Deplatforming von großen Plattformen bricht in Frosch-Metapher, die besagt, dass ein Frosch, der der Regel ein gewisser Stamm an Follower:innen in kochend heißes Wasser geworfen wird, instink- und so ein potenzieller Einflussbereich – zumin- tiv fliehen möchte, während er in sich langsam er- dest auf eine breitere Öffentlichkeit – weg. Ein Teil hitzendem Wasser sitzen bleibt. Eine Strategie, die der engeren Unterstützer:innen folgt den Akteu- diesen kontinuierlichen Verschiebungsprozess ren jedoch auch auf kleinere, unmoderierte Platt- beschreibt, wird als Mainstreaming bezeichnet. formen (Rogers, 2020). Dies weckt Befürchtun- gen einer (weiteren) Radikalisierung sowohl der Kommunikator:innen selbst, die sich nun explizit und ungefiltert äußern können, als auch der Rezi- pient:innen, die wiederum viel explizitere Inhalte präsentiert bekommen.
17 Kapitel 3 Das Mainstreaming radikaler Positionen mithilfe digitaler Tech- nologien – ein systematischer Überblick 3.1 Strategisches Mainstreaming Ebene, zum Beispiel durch die Etablierung von Marken, Veranstaltungen oder ganz allgemein ei- Extremistische Akteure versuchen fortlaufend, nes Lebensstils, der mit (ehemaligen) Randgrup- ihre ideologische Position in der Mitte der Gesell- penbewegungen assoziiert wird, sie als ‚hip‘ oder schaft zu verankern und dort Unterstützung da- ‚cool‘ erscheinen lässt und so ihre Ideologie ver- für zu finden. Der Prozess, mit dem sie dieses Ziel schleiert (Miller-Idriss, 2018). erreichen (wollen), wird Mainstreaming genannt. In westlichen Ländern wurde insbesondere bei Mainstreaming-Prozesse können auf gesell- Rechtsaußen-Akteuren beobachtet, dass sie ver- schaftlichen Veränderungen beruhen und so- suchen, ihre Ideologie in der Gesellschaft zu eta- mit ungewollt dazu führen, dass radikale Ideen in blieren und die politische Mitte (weiter) in Rich- die Mitte der Gesellschaft getragen werden. Ext- tung ihrer Position zu verschieben (Cammaerts, remistische Akteure können jedoch auch gezielt 2018). Gleichzeitig erfolgt auch eine gezielte (visu- Strategien anwenden, die Mainstreaming-Prozes- elle) Annäherung von Rechtsaußen-Akteuren an se vorantreiben sollen. Diskussionen in Rechtsau- den Mainstream: Weg vom klar erkennbaren, als ßen-Kreisen (z.B. in alternativen Medien oder von provokant auftretenden Skinhead, hin zu einem rechtsextremen Kernpersonal) über die Auswei- gängigen und modernen Erscheinungsbild (Mil- tung des ‚Overton-Fensters‘ unterstreichen eine ler-Idriss, 2018). gewisse strategische Absicht. Der Begriff ‚Over- ton-Fenster‘ steht für Ideen und diskursive Prak- Mudde (2019) zufolge zeichnet sich die heutige tiken, die sich innerhalb eines von der Gesell- Rechtsaußen-Szene durch einen gewissen Main- schaft akzeptierten Rahmens bewegen (Wright, stream-Charakter aus, der sich auf unterschied- 2019). Wenn Rechtsaußen-Akteure davon spre- lichen Ebenen manifestieren kann: (1) Auf der chen, dieses Fenster erweitern zu wollen, kann diskursiven Ebene, beispielsweise in der Fähigkeit man daher davon ausgehen, dass sie danach stre- Themen zu setzen, die mit der Agenda radikaler ben, ihren Einfluss in der Mitte der Gesellschaft Akteure verbunden sind (Mudde, 2019, S. 20f.). (2) zu stärken und strategisch darauf abzielen, dort Auf einer eher strukturellen Ebene, in Bezug auf ihre Ideen zu etablieren. Wahlerfolge extremer Parteien und Politiker:in- nen (Mondon, 2022). Und (3) auf (sub-)kultureller
18 Mit strategischem Mainstreaming versuchen ex- in Verbindung gebracht, sondern umfasst auch tremistische Akteure bewusst, möglichst breite die Abweichung von etablierten diskursiven Kon- Unterstützung zu erhalten oder sich in den öf- ventionen, die zu einer Veränderung von Normen fentlichen Diskurs einzumischen. Strategisches und letztlich zu einer Verschiebung in Richtung Mainstreaming beschreibt also einen Prozess, bei des Extremen führt (Wodak, 2020a). Somit kann dem extremistische Akteure darauf abzielen, den die Normalisierung extremistischer Praktiken öffentlichen Diskurs lautlos in Richtung radika- und Ideen auch ein Ergebnis von Mainstreaming- lerer Positionen zu verschieben, ohne dass diese Prozessen sein. Veränderung wahrgenommen wird (Hohner et al., 2022, S. 308). Diese Definition schließt ein, dass 3.2 Mögliche Einflussfaktoren auf Main- strategisches Mainstreaming eine gewisse Subti- streaming-Prozesse lität und Implizitheit beinhaltet sowie langfristig und prozesshaft angelegt ist. Grundlegend für Mainstreaming-Prozesse ist die (strategische) Themensetzung, wodurch über- Ein Ergebnis von Mainstreaming kann erstens, haupt erst ideologisch gerahmte und relevan- die Verringerung der Reaktanz gegenüber extre- te Themen in die gesellschaftliche Mitte getra- mistischen Ideologien, Akteuren oder Praktiken gen werden. Sind ideologisch gerahmte Themen sein. Da die Akklimatisierung mit extremistischen in den öffentlichen Diskurs eingebracht, so kön- Aussagen als ein wesentlicher Schritt in Radikali- nen unterschiedliche Inhalts- und Präsentations- sierungsprozessen gilt (Munn, 2019), kann Main- formate auf bestimmte kognitive Prozesse, Ein- streaming zur Radikalisierung einiger (anfälli- stellungen oder (unbewusste) Verzerrungen der ger) Personen beitragen, indem es diesen Schritt Denkmuster auf Seiten der Empfänger:innen sto- unterstützt (Marwick et al., 2022) und somit den ßen, durch die diese gegebenenfalls leichter ando- Rahmen für Radikalisierung öffnen kann. Zwei- cken können. Da persuasive Botschaften effekti- tens kann Mainstreaming dazu führen, dass ext- ver sind, wenn sie auf die Interessen und Belange remistische Akteure, die intensiv für ihre Ansich- des Zielpublikums zugeschnitten sind (Hirsh et ten einstehen, nicht (mehr) mit der Ideologie in al., 2012), kann das (kommunikative) Einbezie- Verbindung gebracht werden, was wiederum mit hen von Mechanismen, die an die Empfänglich- einer weiteren Verankerung dieser Akteure in der keit einer Person appellieren, Mainstreaming so Mitte der Gesellschaft verbunden ist (Kallis, 2013). beschleunigen, dass empfängliche Personen in Auf diese Weise können sie von Teilen der Öffent- Richtung des Standpunkts des:der Kommunika- lichkeit als harmloser wahrgenommen werden, tor:in gelenkt werden. als sie tatsächlich sind, und so an Glaubwürdigkeit für sich selbst und die von ihnen artikulierten An- Mehrere Faktoren können die Anfälligkeit der sichten gewinnen. Drittens kann Normalisierung Empfänger:innen für radikales Gedankengut ver- eine Folge von Mainstreaming-Prozessen sein. stärken: Zum Beispiel können extremistische Ak- Der Begriff Normalisierung ist dem Begriff des teure gezielt ideologisch gefärbte, falsche oder Mainstreamings sehr verwandt und wird häufig irreführende Informationen (das heißt: Desinfor- auch synonym verwendet. Diese synonyme Ver- mation) einsetzen, um ihre Ideologie zu verbrei- wendung ist jedoch eher eine Folge der begriff- ten (Marwick & Lewis, 2017). Die Verbreitung von lichen Unschärfe von Mainstreaming. Normali- Desinformation kann somit ein relevanter Aspekt sierung wird nicht nur mit der Enttabuisierung in Mainstreaming-Prozessen sein, auch weil viele zuvor nicht akzeptierter Aussagen oder Ansichten verschiedene kognitive und sozio-affektive Fak-
19 toren die Übernahme falscher Überzeugungen dass Elitenfeindlichkeit und Verschwörungsnar- beeinflussen können (Ecker et al., 2022). rative für Mainstream-Zwecke Relevanz besitzen, weil sie häufig niederschwellig und implizit aus- Weiterhin kann die Vermittlung dichotomer gedrückt werden und Emotionalisierung (z.B. das Weltanschauungsmuster (sogenanntes ‚Schub- Auslösen von Angst und Unsicherheit) eine zent- ladendenken‘) an potenziell vorherrschende, rale Rolle einnehmen kann (Ekman, 2022). oft unbewusste Denkmuster von Rezipient:in- nen andocken. Dichotome Weltbilder beinhal- Außerdem können Verzerrungen mit Mainstrea- ten die simplifizierte Einteilung der Welt in Grup- ming zusammenhängen. Einerseits können dies pen von guten (in der Regel die Eigengruppe und kognitive Verzerrungen sein, das heißt unbewus- ihre Handlungen, auch Ingroup genannt) und ste, automatisch ablaufende Informationsver- schlechten Menschen oder Aktivitäten (Fremd- arbeitungsmuster, die zu einer verzerrten Wahr- gruppen, auch Outgroups genannt). Dieses Denk- nehmung von Inhalten beitragen. Diese werden muster hilft, die Umwelt zu vereinfachen und zu in extremistischen Materialien absichtlich ausge- strukturieren, weshalb Menschen (mehr oder we- nutzt, um sie ansprechender erscheinen zu lassen niger intensiv) automatisch und unbewusst zu (Bouko et al., 2021). Die Ausnutzung kognitiver einer solchen Denkweise neigen (Stangor et al., Verzerrungen kann unter bestimmten Umstän- 2022). Eine sehr strikte Version davon, die rigoro- den die Empfänglichkeit der Rezipient:innen se Unterteilung der Welt in ‚gut‘ und ‚böse‘ ohne für extreme Inhalte beeinflussen (Naderer et al., Abstufungen dazwischen (auch als ‚dualistischer 2022). Andererseits können auch technologieba- Rigorismus‘ bezeichnet), ist ein Merkmal, das alle sierte Verzerrungen (z.B. Filterblasen, die durch Extremismen gemein haben und das auf dicho- Empfehlungssysteme erleichtert werden) bei ei- tomen Weltanschauungen aufbaut (Pfahl-Traug- nigen Plattformen zur Verbreitung radikaler In- hber, 2010). Insbesondere für Anti-Elite-Framing halte beitragen und zu einer verzerrten Wahrneh- wurde ein hohes Persuasions- und Mobilisie- mung der Mehrheitsmeinung führen (Whittaker rungspotenzial gezeigt (Bos et al., 2020). Vor allem et al., 2021). Personen, die zu gruppenbezogener Menschen- feindlichkeit (also zu feindseligen Einstellungen 3.3 Methode: Systematische Literaturana- gegenüber Minderheiten) neigen, können für an- lyse ti-elitäres Framing empfänglich sein, was wieder- um Einstellungen gruppenbezogener Menschen- Um die Ergebnisse früherer empirischer Studien feindlichkeit verstärken kann (Heiss & Matthes, im Zusammenhang mit Mainstreaming zusam- 2020; Heitmeyer et al., 2020). Daher wird davon menzutragen, zu aggregieren und zu strukturie- ausgegangen, dass Elitenfeindlichkeit und Ver- ren, wurde eine systematische Literaturanalyse schwörungsnarrative Mainstreaming-Prozesse durchgeführt. Da es nur wenige Forschungsar- fördern können. Verschwörungsnarrative stützen beiten gibt, die ihren Fokus auf Mainstreaming- sich üblicherweise auf die Wahrnehmung einer Prozesse legen, ist es sinnvoll, das Blickfeld zu er- ‚mächtigen‘ Gruppe an elitären Verschwörer:in- weitern. Die vier mit Mainstreaming potenziell nen und vermitteln damit ebenfalls dichotome zusammenhängenden Konzepte, (1) Themenset- Weltbilder (Imhoff & Lamberty, 2018). Verschwö- zung, (2) Desinformation, (3) Elitenfeindlichkeit rungsnarrative sind sehr flexibel und können und Verschwörungsnarrative sowie (4) kogniti- schnell an sich ändernde Umstände und Ereig- ve und technisch bedingte Verzerrungen, die im nisse angepasst werden. Daraus lässt sich ableiten, vorangegangenen Abschnitt erörtert wurden,
20 werden daher miteinbezogen. Darüber hinaus den vier verwandten Konzepten in Verbindung konzentriert sich die Schlagwortsuche nach rele- stehen (siehe Abbildung 1 für den Aufbau der sys- vanten Studien nicht nur auf den Begriff ‚Main- tematischen Literatursuche). Auf diese Weise wur- streaming‘, sondern aufgrund der weitgehend den fünf Suchanfragen (eine für jeden Bereich des synonymen Verwendung (Krzyżanowski & Eks- dritten Begriffsblocks) auf Basis einer booleschen tröm, 2022) auch auf den Begriff ‚Normalisierung‘. Suchstrategie konzipiert, die in vier Literaturda- An dieser Stelle sollte einschränkend angemerkt tenbanken, nämlich Web of Science Core Collec- werden, dass zwar versucht wurde, die Beziehung tion, Communication and Mass Media Complete zwischen diesen beiden Begriffen auf theoreti- (über EBSCO Host), ACM Digital Library und Goo- scher Ebene abzugrenzen, indem Normalisierung gle Scholar, verwendet wurde. Anschließend wur- als mögliches Ergebnis von Mainstreaming-Pro- den Titel, Schlagwörter und Zusammenfassungen zessen hergeleitet wurde. Trotzdem sind aber auf- der 4.001 resultierenden Treffer manuell auf Ein- grund des Mangels an Abgrenzung und Diskussi- schluss- (Veröffentlichungszeitraum: Januar 2000 on der beiden Konzepte in der wissenschaftlichen bis März 2022, Peer-Review-Artikel) und Aus- Literatur auch Studien einbezogen worden, die schlusskriterien (theoretischer Artikel, Studien den Prozess, der in diesem Bericht unter Main- mit hauptsächlich methodischem oder Counter-/ streaming gefasst wird, in ihrer Bezeichnung als Präventionsfokus) geprüft. ‚Normalisierung‘ beschreiben. Auf diese Weise ergaben sich 143 relevante Stu- Die Boolesche Schlagwortsuche kombinierte dien, die mit Hilfe eines Kategorienschemas ein- deutsche und englische Begriffe aus drei Berei- gehend gesichtet und analysiert wurden. Quan- chen: (1) Begriffe, die sich auf Radikalisierung, Ra- titative Kategorien lieferten einen Überblick dikalismus und Extremismus beziehen; (2) Begrif- über das Forschungsfeld (z.B. verwendete Metho- fe, die sich auf das Internet beziehen, weil davon den, ideologische Perspektive); qualitative Kate- auszugehen ist, dass das Internet ein wesentliches gorien ermöglichten eine eingehende Untersu- Mainstreaming-Umfeld darstellt (da das Inter- chung der Argumente des Artikels in Bezug auf net extremistischen Akteuren den Zugang zu ei- Mainstreaming. ner breiten Öffentlichkeit und die Einbringung in diese Diskurse erleichtert); (3) Begriffe, die mit dem Schwerpunktthema (Mainstreaming) oder
21 Abbildung 1 Aufbau der systematischen Literaturrecherche 3.4 Ergebnisse der systematischen Litera- Da der Großteil der Forschung zu Online-Radi- turanalyse kalisierung im Allgemeinen islamistische Radi- kalisierung fokussiert (Rothut et al., 2022), un- 3.4.1 Überblick über das Forschungsfeld terstreicht dieses Ergebnis, was theoretische Arbeiten oder Monographien bereits zuvor na- Zunächst wird ein kurzer Überblick über Stu- hegelegt hatten (z.B. Akkerman et al., 2016; Cam- dien im Kontext von Mainstreaming gegeben. Die maerts, 2018): Mainstreaming scheint für die meisten Studien (n = 81) in diesem Bereich befass- Rechtsaußen-Szene besonders relevant zu sein – ten sich mit Rechtsextremismus, 24 Arbeiten ga- zumindest in westlichen Kulturen, in denen die ben nicht an, welche Perspektive sie einnahmen, mit der extremen Rechten assoziierten Forderun- 18 untersuchten Islamismus, 14 mehrere Extre- gen den traditionellen Werten vieler (konservati- mismen, und zwei untersuchten Linksextremis- ver) Bürger:innen näher stehen (z.B. im Vergleich mus (siehe Abbildung 2). Allerdings bezieht sich zum Islamismus) (Conway, 2020). fast kein Beitrag im Zusammenhang mit Islamis- mus oder Linksextremismus direkt auf das Kon- zept des Mainstreamings (siehe Farbschema in Abbildung 2).
22 Abbildung 2 Im Kontext von Mainstreaming untersuchte Ideologien Die meisten Studien konzentrierten sich auf den Insgesamt wurde Mainstreaming hauptsächlich Bereich zur Themensetzung (n = 72), aber nur we- als theoretischer Ausgangspunkt oder als Argu- nige von ihnen erwähnten Mainstreaming oder ment, als Teil der Relevanz der Studien oder im Normalisierung entweder im Fließtext (n = 12) Zusammenhang mit den Implikationen der Stu- oder etwas prominenter im Titel und/oder der dien behandelt. Nur zwei Arbeiten (Ekman & Kurzzusammenfassung zu Beginn sowie im wei- Krzyżanowski, 2021; Klinger et al., 2022) bezogen teren Fließtext (n = 9). In ähnlicher Weise spiel- Mainstreaming in ihre methodologischen Über- te Mainstreaming in den anderen verwandten legungen ein. Bereichen nur eine marginale Rolle (siehe Ab- bildung 3).
23 Abbildung 3 Im Kontext von Mainstreaming behandelte Themenblöcke Anmerkung. 38 Studien wurden mehr als einem Themenblock zugeordnet. 3.4.2 Mainstreaming-Faktoren Sieben davon manifestieren sich auf der Ebene der Inhalte und Kommunikation, zwei profitieren von Anschließend wurden die qualitativen Katego- der Inhaltspositionierung durch radikale Akteure rien näher analysiert, indem nach gemeinsamen und weitere drei beziehen sich auf den Transfer zu Mustern in den verschiedenen Studien gesucht Kommunikationsumfeldern der breiten Masse. Die wurde. Die Aussagen, Implikationen und Ergeb- Faktoren werden im Folgenden beschrieben. nisse im Kontext von Mainstreaming wurden in- duktiv zu insgesamt zwölf Mainstreaming-Fakto- ren verdichtet.
24 A) Inhalte und Kommunikation err, 2017; Hew, 2018). Wenn die zugrundeliegende Ideologie verschleiert wird, kann es schwieriger 1) Dog Whistling sein, hasserfüllte Inhalte zu erkennen, und es ist wahrscheinlicher, dass diese (unbeabsichtigt) wei- Dog Whistling beschreibt den Einsatz spezifi- terverbreitet werden. scher, gruppeninterner Codes, um die beabsich- tigte Bedeutung zu verschleiern (‚Codifizierung‘). 4) Zielgruppenspezifische Ansprache Mit Dog-Whistling können drei Absichten ver- folgt werden: (1) Es stärkt die Identifikation in- Zielgruppengerechte Ansprache erlaubt es den nerhalb der Szene und damit den Gruppenzu- Kommunikator:innen, einen vereinfachten Zu- sammenhalt, (2) es dient der Sicherheit der sich gang zu den gewünschten Kommunikationspart- äußernden Akteure sowohl in rechtlicher Hin- ner:innen zu bekommen. Beispielsweise werden sicht als auch zum Schutz vor Deplatforming (Ro- Frauen durch extremistische Organisationen stra- gers, 2020) und (3) es erhöht die Bekanntheit radi- tegisch eingesetzt, um einerseits andere Frauen kaler Ansichten, während die zugrunde liegende gezielt anzusprechen, aber auch, um andererseits Ideologie aufgrund ihrer verschleierten, subtilen deren harmlos wirkendes Erscheinungsbild in der Natur unbemerkt bleiben kann (Åkerlund, 2021a; Rekrutierung von Nutzer:innen sozialer Medien Saul, 2018). strategisch auszunutzen (Askanius, 2021c). Eben- so erlaubt es die Präsenz auf sozialen Medien bzw. 2) Humoristische Darstellungsformen der Einsatz von Influencer:innen, an moderne (jugendliche) Lebenswelten und Online-Kulturen Humoristische und unterhaltende Darstellungs- anzuknüpfen (Åkerlund, 2021b; Askanius, 2021c; formen, beispielsweise in Memes, werden einge- Baker, 2022). setzt, um die eigentliche hasserfüllte Ideologie so zu verschleiern, dass diese erst auf den zwei- 5) Kalkulierte Provokation ten Blick erkennbar ist. Darüber hinaus bieten sie einen Unterhaltungsfaktor, der extremen Inhal- Mithilfe von Grenzüberschreitungen und Provo- ten eine harmlose Hülle verleihen kann und es kationen versuchen radikale Akteure, nach und den Rezipient:innen ermöglicht, diskriminieren- nach das ‚Overton-Fenster‘ bzw. die Grenzen des de Denkmuster spielerisch auszutesten, indem Sagbaren und Legitimen zu erweitern (Camma- sie ähnliche ‚Witze‘ nachstellen (Askanius, 2021a, erts, 2020; Wodak, 2020b). Provokationen sind 2021b; Schwarzenegger & Wagner, 2018). oft kalkuliert, um nach und nach Aussagen ‚sag- bar‘ zu machen, die vormals in öffentlichen Dis- 3) Visuelle Kommunikationsformen kursen aufgrund geltender Normen nicht legitim erschienen, und häufig folgt eine anschließende Visualisierungen, die ideologische Inhalte vermit- (Teil-)Revidierung des normabweichenden Ver- teln, haben das Potenzial, (1) sich grenzüberschrei- haltens (Wodak, 2020b). tend zu verbreiten, da bzw. sofern die Sprache ir- relevant wird, (2) zum öffentlichen Auftreten von 6) Populistischer Kommunikationsstil Hassorganisationen/-parteien unter Verwendung von Logos beizutragen und (3) leichter und stär- Die Definition von (Rechts-)Populismus, die die- ker Emotionen zu vermitteln, die Aufmerksam- sen als Kommunikationsstil auffasst, verknüpft keit erregen und die Mobilisierung fördern (Do- ihn mit drei charakteristischen Elementen: (1) die
25 Betonung einer positiv bewerteten Ingroup (‚das Weltbilder (d. h. sowohl Anti-Establishment- als Volk‘), (2) Anti-Elite-Haltung (Antagonismus auf auch Anti-Outgroup-Einstellungen), aber auch der vertikalen Ebene: die feindliche Gruppe wird ein Gefühl von Angst verstärkt werden, indem po- als mächtiger als die Ingroup angesehen) und (3) pulistische Kommunikator:innen die Ingroup als Anti-Outgroup-Haltung, insbesondere gegen- bedroht darstellen (Heiss & Matthes, 2020). Dies über Minderheiten (Antagonismus auf der hori- wiederum bietet einen Zugang zu der vereinfach- zontalen Ebene: die feindliche Gruppe wird als ten, dichotomen Weltsicht, auf der Propaganda auf derselben Ebene oder unter der Ingroup ste- und extremistische Ideologien beruhen, und er- hend angesehen) (Jagers & Walgrave, 2007; Reine- leichtert die Übernahme dieser. mann et al., 2016). Populismus, also die kommu- nikative Bezugnahme auf diese drei Elemente, B) Inhaltspositionierung durch radikale kann dichotome Weltanschauungen auf Seiten Akteure der Rezipient:innen verstärken und so durch die ständige Wiederholung ähnlicher Narrative Res- 8) Demokratisch legitimierte Akteure als sentiments gegen bestimmte Gruppen schüren ‚Booster‘ bzw. ‚Brücken‘ (Hatakka, 2017; Schwarzenegger & Wagner, 2018). Darüber hinaus können populistische Kommuni- Demokratisch legitimierte Akteure (z.B. durch er- kationsstile den sogenannten Ingroup-Outgroup folgreiche Wahlen) verleihen radikalen Inhalten Bias auslösen (Hewstone et al., 2002). Demnach zusätzliche öffentliche Wirkkraft. Die Legitimati- hat die Betonung einer Ingroup, der positive Wer- on der Akteure geht auf die Inhalte über. Zudem te zugeschrieben werden, und Outgroups, denen können sie leichter öffentliche Aufmerksam- negative Werte zugewiesen werden, eine iden- keit erlangen – sowohl von Bürger:innen direkt titätsstiftende Wirkung, wodurch populistische als auch von Medien (Klinger et al., 2022; Pytlas, Kommunikation für einige Rezipient:innen be- 2019). Vor allem eine kognitive Verzerrung kann sonders attraktiv ist. das Überzeugungspotenzial solcher Akteure stär- ken: Dem Authority Bias (Milgram, 1963) zufolge 7) Viktimisierung neigen Menschen tendenziell dazu, Behauptun- gen von Autoritäten, wie hochrangigen Politi- Aufbauend auf dem populistischen Stil stellen ker:innen, Ärzt:innen oder Wissenschaftler:innen, Viktimisierungs- oder Opfererzählungen die In- mehr Vertrauen zu schenken, und lassen sich da- group als in einer Notsituation befindlich dar und her leichter von ihnen beeinflussen. vermitteln oder wecken starke Emotionen (Bou- ko et al., 2021; Cammaerts, 2020). Emotionalisier- 9) Extremistische und alternative Nach- te Appelle schaffen ein Gefühl der Nähe zu den richtenmedien Mitgliedern der Ingroup und machen die Rezi- pient:innen gleichzeitig für den:die Kommunika- Sogenannte alternative Nachrichtenmedien (z.B. tor:in leichter ansprechbar. Einerseits ist es ein- PI-News, Compact) – häufig in Form von Websei- facher, auf der Grundlage von Emotionalisierung ten, zum Teil aber auch zusätzlich verfügbar als erfolgreich zu mobilisieren – insbesondere durch Printprodukt – werden eingesetzt mit dem Ziel, Narrative von Gefährdung, die Angst, Wut und ein aktuelles Nachrichtengeschehen im Sinne der ei- Gefühl, man befände sich in einer Gefahrenlage, genen Ideologie umzudeuten und so die Salienz hervorrufen können (Marcks & Pawelz, 2022). An- und Kultivierung radikaler Frames zu fördern dererseits können dichotome Ingroup-Outgroup- (Schulze, 2020). Eine beliebte Strategie, die zur
Sie können auch lesen