Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.

Die Seite wird erstellt Emil Rausch
 
WEITER LESEN
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
1

          Max Beckmann: Versuchung 1936-1937.
    Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.

                                        Geschrieben von Susanne Kienlechner
                                        Februar 2020
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
2

Abb.1. Max Beckmann (1886-1950). Versuchung (Versuchung des heiligen Antonius)1936-1937, Öl auf Leinwand,
Flügel je 215,5 x100cm. Mittelbild 200x170cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen. Sammlung Moderne Kunst in
der Pinakothek der Moderne. München. (Inn. Nr. 14486-14488). © VG Bild-Kunst, Bonn 2020.

                                               Von seinen „“Wahlverwandtschaften“ sagt er, dass darin kein Strich
                                            enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden 1,

                        Max Beckmanns Triptychon „Versuchung“.

   Das Triptychon „Versuchung“ entstand 1936 noch in Berlin. Die politischen Ereignisse nach 1933 hatten
den Maler und seine Frau Mathilde von Kaulbach, genannt Quappi, 1937 zur Emigration in die Niederlande
veranlasst, wobei dem Ehepaar mehrere Freunde, teils aus jüdischen Kreisen bei der Ausreise behilflich
waren.2 So gelang es dem Maler dieses Gemälde nach Amsterdam mitzunehmen, wo es der mit Beckmann
befreundete Sammler Stefan Lackner erwarb, der zu diesem Zeitpunkt Deutschland bereits verlassen hatte.3
Das Mittelbild wird beherrscht von der Figur eines jungen Künstlers, der in einer weiten halblangen roten
Hose, mit einem kurzärmeligen gelben Hemd, das von einem Gürtel umfasst wird, auf dem Boden mit
ausgestreckten Beinen und gefesselten Füssen vor seiner Staffelei sitzt. Seine Hände sind mit einer loseren
Kette verbunden. Die Leinwand ist blau und schwarz grundiert, aber bereits gerahmt, womit vermutlich
angedeutet wird, dass das so als vollendet gilt. Das ist insofern logisch, da der angekettete Künstler das
Gemälde nicht beenden kann. Direkt hinter ihm liegen ausgebreitet mehrere Schriftstücke. Vor ihm sitzt mit

1
 Johann Peter Eckermann, Goethes Gespräche mit Eckermann, Leipzig 1921, S. 520.
2
 Andrea Bambi und Felix Billeter, »Max Beckmann - von Berlin nach Amsterdam. Grundlagen für seine Emigration
und unterstützende Netzwerke in den Niederlanden«. In: Netzwerke des Exils, Burcu Dogramaci und Karin Wimmer
(Hg.), Berlin 2011, S. 397- 414.
3
 Max Beckmann. Exil in Amsterdam, hrsg. von der Pinakothek der Moderne, Ausst.-Kat., Pinakothek der
Moderne München, Ostfildern 2007, Nr. 1, S. 136 (Felix Billeter).
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
3

     Abb.2. Detail, (Versuchung Abb.1)                                  Abb.3. Willem Arondeus4

überkreuzten Beinen das Modell, eine junge Frau, die in einem kurzen gelben Oberhemd zwei weiße bereits
erschlaffte Tulpen in der rechten Hand hält und mit der anderen nachdenklich ihr Kinn stützt. Es scheint ihr
bewusst zu sein, dass ihre Aufgabe hier inzwischen sinnlos geworden ist. Sie ist halbnackt von gelben
Tüchern umhüllt. Links neben ihr sitzt eine Frau von grauschwarzer Hautfarbe buchstäblich in ihrem
Schatten. Ihr Kopf ist mit einem „semitischen Profil“ dargestellt, während ein großes zweites Gesicht auf
ihrem Oberkörper erkennbar ist. Es besteht aus einer mit Strichen angedeuteten Nase sowie mehreren Augen
und Brüsten. Eine düstere große Maske - ebenfalls in grau und schwarz -, dominiert unheilvoll den Raum.
Außer der Maske schauen alle drei Figuren verstört gespannt nach rechts, als würde Jemand gerade eintreten,
um sie zu erlösen oder das Unheil zu verschlimmern. Mit der grotesken Darstellung der schwarzen Figur
verweist der Maler wohl auf die Propagierung antisemitischer Judendarstellungen, die sich im Jahr 1936
immer bedrohlicher gestaltete.5 Der Künstler hat viel Ähnlichkeit mit dem niederländischen Maler und
Schriftsteller Willem Arondeus, genannt „Ticky“ (1894-1943).6 Seine Kleidung auf dem Gemälde scheint
den Trachten der Fischer in Urk nachempfunden zu sein, wo sich Arondeus seit Anfang der zwanziger Jahre
gerne aufhielt und zu den Einwohnern freundschaftliche Beziehungen unterhielt (Abb.3 und 4). Er bekannte
sich öffentlich zu seiner Homosexualität.7 Die Anregung für Max Beckmann zu dem Gemälde war der

4
  https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Willem_Arondeus_-_portrait_from_the_right_side.jpg
5
  Siehe hierzu die Rede von Josef Goebbels anlässlich des Reichsparteitages von 1935, als soeben die „Nürnberger
 Gesetze“ verkündet wurden. Helmut Heiber, Goebbels Reden, Bd.I, Düsseldorf 1971,S. VI, Nr. 27., S. XXI, 230-264.
6
  Zur Biographie von Willem Arondeus siehe Fuhrmeister / Kienlechner 2011: Christian Fuhrmeister und Susanne
Kienlechner, Max Beckmann und der Widerstand in den Niederlanden: Personenverzeichnis, in: Susanne Petri, Hans-
Werner Schmidt (Hrsg./Eds.): Max Beckmann. Von Angesicht zu Angesicht [Ausstellung im Museum der Bildenden
Künste Leipzig, 17.9.2011 bis 22.1.2012], Ostfildern 2011, S. 339-358, hier 430. Lutz van Dijk. Unter Mitarbeit von
Günter Grau. Mit einem Nachwort von Wolfgang Popp, Einsam war ich nie. Schwule unter dem Hakenkreuz, Berlin
2003; Marco Entrop, Onbekwaam in het compromis: Willem Arondeus; kunstenaar en verzetsstrijder , Amsterdam 1993;
Klaus Müller, »Het is zoo licht om in liefde van het leven to scheiden«. Willem Arondeus, homoseksueel verzetsleider«,
in: Klaus Müller und Judith Schuyf (Hrsg.), Het begint met nee zeggen. Biografieen rond verzet en homoseksualiteit
1940–1945, Amsterdam 2006, S. 59–92; Ders., Interview with Frieda Belinfante, United States Holocaust Memorial
Museum, May 31, 1994, RG- 50.030*0019 (http://collections.ushmm.org/artifact/image/h00/00/h0000032.pdf,
14.12.2010).
7
  Zur Verfolgung der Homosexuellen während des Nationalsozialismus siehe Burkhard Jellonek, Rüdiger Lauttmann
(Hrsg.), Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt, Paderborn 2002.
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
4

Roman von Gustave Flaubert Die Versuchung des heiligen Antonius.8 Es mag der Heilige Antonius sich
selbst die Ketten schwerster Kasteiung angelegt haben, so offenbart sich eine bittere Doppelbödigkeit der
Ironie Max Beckmanns: Willem Arondeus wurde hier symbolisch in Ketten gelegt in einer Zeit als die
Homosexualität noch verfolgt wurde und in Deutschland von den Nationalsozialisten besonders heftig, den
Reizen einer Frau wiederum hätte er vermutlich auch ohne Ketten widerstanden.

                    Abb.4. Willem Arondeus mit Fischern in dem Fischerort Urk, Juni 19279.

   Die beschriebenen Blätter hinter ihm auf dem Triptychon weisen vermutlich auf dessen schriftstellerische
Tätigkeit hin, der er sich nach 1933 zuwandte. Man kann die gemalten Buchstaben gut erkennen: Im Anfang
war das Wort. Es handelt sich um den Text am Anfang des Johannes-Evangeliums. Arondeus befasste sich
mit biblischen Themen während seines Aufenthaltes auf Urk.10 Er lebte zwischen 1936 und 1939 in
Amsterdam am Rokin, ein paar Häuser von Beckmann entfernt. In derselben Straße befand sich auch der mit
Arondeus bekannte Kunsthändler Carel van Lier, bei dem Beckmann 1938 eine Einzelausstellung hatte und
den er posthum portraitierte.11 Weiterhin befindet sich mehr links unter den Schriften das Wort „Saturn“.
Saturn als Planet der Künstler und als Gottheit der Melancholie, entspricht den Überlieferungen über

8
    Siehe Christiane Zeiller, Max Beckmann, München 2018, S. 41-42.
9
  https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Willem_Arondeus_met_Urkers.jpg
10
   Entrop 1993, S. 17. Sein erster großer Auftrag von der Israelitischen Gemeinde in Rotterdam war ein Wandgemälde
    für das neue Stadthaus, das er zwischen 1922 und 1923 fertigstellte. Arondeus entwarf eine biblische Szene aus dem
    Alten Testament mit dem Propheten Zacharia: Unter das Gemälde malte er in grünen goldumrandeten Buchstaben
    den dazugehörigen Text. Siehe hierzu die Besprechung in: A.O., De Zacharia van Willem Arondeus, in: Elsevier´s
    Geillustreerd Maandschrift, Jg. 34, Deel 67, 1924 January Juli, S. 149 – 150, Tafel XXX.
11
   Zur Biographie Carel van Lier siehe Fuhrmeister /Kienlechner 2011, S.350.
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
5

                                      Abb.4a. Detail, (Versuchung Abb.1)

Arondeus: der Tenor in seinen Schriften – sei es Tagebuchaufzeichnungen oder Briefe, war oft
ausgesprochen „melancholisch“ begleitet von Selbstzweifel und Machtlosigkeit gegenüber der
„Gesellschaft“.12 Bedrücktheit, Unfreiheit, Zerrissenheit und Ratlosigkeit in der kleinen Atelierwelt sind
unverkennbar.

   Im rechten Flügel wird eine Frau mit einem „semitischen Profil“, dass der schwarzen Frau auf dem
Mittelbild ähnelt, von einem siegesbewusst im Stechschritt schreitenden jungen Hotelangestellten, wie ein
Hund an einer Leine geführt. Sie trägt ein gelbes Mieder und die Leine ist nicht am Hals befestigt, sondern
schnürt ihr den Mund zu, damit sie schweigt, während der Hotel Boy die Krone, das Symbol der Macht, auf
dem Präsentierteller vor sich herträgt. Auf seinem Käppi sind die Buchstaben PINSKI zu erkennen, womit
Beckmann vermutlich auf das Berliner Restaurant „Kempinski“ deutet. 1937 wurden sämtliche
Restaurantbetriebe des Unternehmens Kempinski, die auch den spektakulären Berliner Vergnügungspalast
am Potsdamer Platz Haus Vaterland besaßen, arisiert.13 Eine maskierte Figur mit einem großen Vogelkopf
steht in einem Boot rechts im Bild. Neben ihm sitzt eine Dame angekettet in einem halboffenen Käfig, in
dem der Vogel vielleicht bisher eingesperrt war. Sie trägt ein grünes Kleid und als Kopfbedeckung einen
schwarzen Schleier. Auf ihrem Schoss hält sie ein kindlich gemaltes Hündchen, das wie ein kleiner Fuchs
ausgefallen ist. Sie ist wohl bewusst „unsittlich“ dargestellt um die Diffamierungen und Demütigungen, die
mit ihrer Gefangenschaft einhergehen, trotzig zu steigern und dabei noch wirksamer zu dramatisieren. Selbst
das Hündchen ist nicht das gutmütige Haustier, sondern als ein Fuchs dargestellt, eine berühmte
Symbolgestalt aus dem Tierreich von zweideutigem Ruf.

    Man könnte die Dargestellte mit der mit Max Beckmann bekannten jüdischen Kindergärtnerin Elsbet
Flora Götz (1901-1944) identifizieren (Abb.6), die 1924 von ihm porträtiert wurde (Abb. 5). Nach der
Machtergreifung musste sie ihren Kindergarten schließen und wurde Hundezüchterin, aber auch das wurde
ihr nach kurzer Zeit verwehrt.14 Am 19. Juli 1942 wurde sie mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert.
Elsbet wurde am 19. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet, während ihre Mutter Dorothea überlebte.15

12
   Tagebucheintrag vom 22. August 1928, zitiert in Entrop 1993, S. 51. Kessler erkennt in der Mittelpunktfigur des
     Triptychons einen „melancholischen“ Künstler. Charles S. Kessler, Max Beckmann´s Triptychs, Cambridge
     Massachusetts, 1970, S. 25-36, hier S. 28 - 29.
13
   Nur ein Teil der Familie konnte sich durch Emigration retten, viele wurden umgebracht. Zum Restaurant Kempinski
     siehe Hans Erman, Bei Kempinski; aus der Chronik einer Weltstadt, Berlin 1956.
14
   Am 1. April 1935 erfolgte das Zulassungsverbot für jüdische Tierärzte. Georg Möllers, Jüdische Tierärzte im
Deutschen Reich von 1918 bis 1945, Hannover 2002, S. 48. https://d-nb.info/968571565/34
15
   Siehe Namen Orte Biographien, Elsbet Flora Götz, Hamburg, Agnesstrasse 55. Ihre Tante Agnes Friederike Götz, geb.
     Falk wurde ebenfalls am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 11.6.1944 starb:
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
6

Beckmann hat sie auf dem Triptychon erneut in ihrem grünen Kleid dargestellt nur ihre Brüste sind jetzt zu
sehen und ihre beiden Armreife sind inzwischen Handfesseln. Ihr Bruder Oswald Götz wollte das 1924 gemalte
Portrait seiner Schwester von Beckmann nicht erwerben, da es ihr nicht genug ähnelte.16 Auf der Fotografie sieht
sie tatsächlich ganz anders aus (Abb.4).

         Abb.5. Max Beckmann, Bildnis Elsbet Götz, 1924. Öl auf Leinwand, 95,5 x 35,8 cm. Die Lübecker
              Museen. Museum Behnhaus Drägerhaus. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

    http://stolpersteine-hamburg.de/index.php?&LANGUAGE=DE&MAIN_ID=7&p=62&BIO_ID=954.
16
  Oswald Götz war Assistent des damaligen Direktors am Städel, Georg Swarzenski in Frankfurt am Main. Biographie
Elsbet Flora Götz, Billeter/Zeiller 2011: Felix Billeter/Christiane Zeiller, Max Beckmann in Gesellschaft: ein Who is
Who: in: Susanne Petri, Hans-Werner Schmidt (Hrsg./Eds.): Max Beckmann. Von Angesicht zu Angesicht [Ausstellung
im Museum der Bildenden Künste Leipzig, 17.9.2011 bis 22.1.2012], Ostfildern 2011, S. 233-338, hier 261: ...Oswald
Götz wollte es jedoch aufgrund »mangelnder Ähnlichkeit« nicht erwerben. Trauer und Schicksal ihres Ausdrucks mögen
so gar nicht ihrem damaligen Wesen entsprochen und ihre Angehörigen irritiert haben. Beckmann hat sich jedoch hier
wie auch in anderen Beispielen seiner Bildniskunst als Meister darin erwiesen, auf den Grund der menschlichen Seele
zu blicken, ja sogar seherische Fähigkeiten in Bezug auf ihr tragisches Ende zu entwickeln.
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
7

           Abb.6. Elsbet Götz                                             Abb.7. Detail (Versuchung Abb.1)
Fotothek. Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München.

Abb.8. Detail, (Versuchung Abb.1)           Abb.9. Detail (Fuchs aus dem Gemälde von Titian „Flucht nach Ägypten“.
                                                    um 1506). The State Hermitage Museum. St. Petersburg.
                                             Photograph © The State Hermitage Museum. Photo by Vladimir Terebenin.

     Im linken Flügel beherrscht ebenfalls das Meer die Szene, ein Lieblingsmotiv des Malers.17 Die Seefahrt
sowie die Fischerei erforderte in den Niederlanden viele Arbeitskräfte, die durch die alten Verbindungen aus
den teils noch bestehenden Kolonialländern herangezogen wurden, daher wohl der dunkelhäutige Matrose
mit dem traurigen Gesichtsausdruck, der in seiner dienstbaren Rolle wohl als harmlos hier einzustufen ist

 Vgl. Max Beckmann: Menschen am Meer, Klaus Gallwitz [Hrsg.]. Eine Ausstellung des Bucerius-Kunst-Forums,
17

Ostfildern 2003.
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
8

und nicht als "bedrohlich" wegen seiner Farbe. Mit seinem kleinen einäugigen Begleiter, der in eine
Trompete bläst, als wollte er verzweifelt das ganze Elend in die Welt hinausschreien, rudert er zu der auf
einem Boot an einen Speer bereits gefesselten unglücklichen blonden Frau, die nur noch ihr rosa Unterhemd
trägt, auch sie gedemütigt mit entblößten Brüsten: zu ihren Füssen liegt ein gelbes Tuch, vielleicht das Kleid,
was man ihr entrissen hat. Ein Krieger oder eine Kriegerin steht vor ihr mit einem Schwert in der Hand,
während das kopfüber halb untergetauchte behinderte Wesen, dass aus einem Kopf mit vielen Augen und
Beinen besteht, bereits ihr Opfer ist.18 Hier macht Beckmann vermutlich erneut auf die Schwarzen und
Behinderten aufmerksam, die seit den 1935 erlassenen Gesetzen der Nationalsozialisten, die der
„Rassenhygiene“ dienen sollten, verfolgt wurden.
   Es fällt auf, dass Beckmann die Farbe Gelb für die Kleidungsstücke der meisten verfolgten Personen auf
dem Triptychon bevorzugte. Er könnte damit auf den sogenannten „gelben Fleck“ aus Stoff anspielen oder
das Tragen von gelben Kleidern, was bereits im Mittelalter zur Kennzeichnung von Juden gebräuchlich war.
Jedenfalls schrieb der nach Frankreich emigrierte Schriftsteller Leon Feuchtwanger 1936 in Paris das Werk
„Der gelbe Fleck“, dass eine Anklage gegen die im Jahr 1935 weit fortgeschrittene Judenverfolgung
darstellte.19 Beckmann hielt sich viel in Paris auf und hat sich für dieses Buch vermutlich interessiert.20

                           Beckmann´s Figur aus der „Temptation“

   Als das Triptychon „Versuchung“ 1938 in London in der Ausstellung »Twentieth Century German Art« in
den Burlington Galleries ausgestellt wurde,21 war der Maler zur Ausstellungseröffnung eingeladen um eine
Rede zu halten, die er mit einem vollmundigen, kräftigen Gedicht beendete22. Er sagte, dass eine seiner
Figuren, vielleicht eine aus der „Versuchung“ ihm eines Abends ein seltsames Lied sang, womit sie kundtat,
dass sie zu den Göttern zählte, die sich in einer gemeinsamen Welt des Selbstseins verstecken werden und
das auch so wollen. Wer war die Figur aus der „Temptation“ die Beckmann das „sonderbare“ Lied vorsang
und sich verstecken wollte oder „musste“?

                                 Das Lied aus der Temptation

Eine meiner Figuren vielleicht aus der „Temptation“ sang mir in einer Nacht dies sonderbare Lied:

Füllt aufs Neue eure Kürbisse mit Alkohol und gebt mir selbst den größten. Feierlich will ich euch die
großen Lichter, die Riesenkerzen anstecken. Jetzt in der Nacht. - In der tiefen schwarzen Nacht.

Wir spielen Verstecken, wir spielen Verstecken über tausend Meere. Wir Götter, wir Götter in Morgenröte,
um Mittag und in schwarzer Nacht.

18
   Vgl. zum linken Flügel des Triptychons Reinhard Spieler, Max Beckmann 1884-1950. Der Weg zum Mythos,
[Wiederauflage der Originalauflage von 1994] Köln 2011, S. 117-118: […] Auf der linken Tafel erinnert vor allem die
behelmte Heldenfigur, ein Zwitter aus griechischen und germanischen Sagen Gut, an Hitlers Propaganda: »Die
heutige neue Zeit arbeitet an einem neuen Menschentyp...Niemals war die Menschheit im Aussehen und in ihrer
Empfindung der Antike näher als heute...Ein leuchtend schöner Menschentyp wächst heran«, hatte Hitler in seiner Rede
zur Eröffnung der »Großen Kunstausstellung« 1937 verkündet. Gleichzeitig forderte er den Kampf dieses »leuchtend
schönen Menschentypus« gegen die »missgestalteten Krüppel und Kretins, Frauen, die nur Abscheu erregen können.
[...]
19
   Siehe hierzu aus dem „Reichsgesetzblatt“ vom 15. September 1935, das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes
 und der deutschen Ehre“ in: Der Gelbe Fleck. Die Ausrottung von 500 000 deutschen Juden. Mit einem Vorwort von
Lion Feuchtwanger, Paris 1936, S. 14 bis 15. Der Journalist Robert Weltsch schrieb in der Jüdischen Rundschau am 4.
April 1933: „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ Artikel „Kennzeichnung als Juden“, in: Enzyklopädie des
Holocaust 1998, S. 750.
20
   Zu den Aufenthalten in Paris von Max Beckmann siehe Tobia Bezzola und Cornelia Homburg, Max Beckmann und
 Paris: Matisse, Picasso, Braque, Léger, Rouault, Kat. Ausst. Zürich und St. Louis, Köln 1998.
21
   Siehe hierzu mit einer Abbildung des Ausstellungsraumes mit dem Triptychon „Versuchung“ Spieler 2011, S. 116.
22
    Rudolf Pillep, Max Beckmann. Die Realität der Träume in den Bildern. Aufsätze und Vorträge. Aus Tagebüchern,
Briefen, Gesprächen 1903-1950, Leipzig 1984, S. 134 – 142. Beckmanns Freund Stephan Lackner, begleitete
Beckmann nach London. Lackner 1984, S. 133 – 138, 133. Zu Max Beckmann als Schriftsteller siehe Sebastian
Karnatz, Eine Szene im Theater der Unendlichkeit: Max Beckmanns Dramen und ihre Bedeutung für seine Bildrhetorik,
Göttingen 2011.
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
9

Ihr seht uns nicht – ihr könnt uns nicht sehen, doch seid ihr ich. Drum lachen wir so schön – in Morgenröte,
um Mittag und in schwarzer Nacht.

Sterne sind unsere Augen. Weltnebel unsere Bärte. Menschenseelen unser Herz. Wir verstecken uns, ihr seht
uns nicht, das wollen wir gerade – in Morgenröte, um Mittag und in schwarzer Nacht.

Ohne Ende, sind unsere Fackeln, silbern und glüh rot, purpurn, violett, grünblau und schwarz. Wir tragen
sie im Tanze über die Meere und Gebirge, über die Langeweile der Welt des Lebens. - Wir schlafen – und die
Gestirne kreisen im dumpfen Traum. Wir wachen und die Sonnen treten an zum Tanz über Bankiers und
Schafe, über Huren und Fürsten der Welt.

So ähnlich sang und sprach noch lange die Figur aus meiner "Temptation" zu mir, der sich gerade bemühte,
aus dem Quadrat der Hypotenuse eine bestimmte Konstellation der Hebriden zu den roten Giganten und der
Zentralsonne zu bestimmen.

   Meinte er mit der Figur Willem Arondeus? Willem Arondeus entwickelte sich nach der Deutschen Beset-
zung der Niederlande im Mai 1940 zu einem der heftigsten Gegner des Nationalsozialismus. Er gehörte zu
den Anstiftern einer bis heute berühmten Widerstandsaktion: die Sprengung am 27. März 1943 des Amster-
damer Einwohnermeldeamtes.23 Seine Gruppe wurde gefasst und Arondeus wurde mit ihnen am 1. Juli 1943
hingerichtet. Fühlte sich Beckmann dieser Götterwelt zugehörig, die sich mit derselben Hartnäckigkeit ver-
steckte wie er die Realität in seinen Bildern jedoch im Gegensatz zu ihm im Widerstand ihr Leben verloren?
Wer waren Beckmann´s Götter? Jedenfalls war er so von ihnen beeindruckt, dass er aus ihrem Mysterium
seine Bilder fabrizierte, ihre Verachtung fürchtete, als er das „neuerliche Geld“ von den beiden wohl promi-
nentesten Einkäufern für Hitlers Museum in Linz, Erhard Göpel und Wolfgang Gurlitt, „brauchte“, wie zum
Beispiel am 19. Oktober 1943:
           Besuch von G litt [unleserliche Buchstaben möglicherwiese Gurlitt] und P/öl l [möglicherweise Pökel, eines
           der vielen Synonyme die Beckmann für Göpel in seinen Tagebüchern verwendete] 24. - Trotzdem neuerliches
           Geld – nun ja, auch das brauche ich – aber wesentlicher ist die Stimme der Überzeugung. Leider machte die-
           selbe sich nicht absolut bemerkbar. - Sah meine Bilder in ferne Götter aufstrahlen in dunkler Nacht – aber –
           war ich das noch? - nein fern von mir , meines armen Ich´s kreisten sie als selbständige Wesen die höhnisch
           auf mich herabsahen, »das sind wir« und »Du n´exist plus« - o ho – Kampf der selbstgeborenen Götter gegen
           ihren Erfinder? - Nun auch das muß ich tragen – ob Ihr wollt oder nicht – bis jenseits der großen Wand – dann

23
     Siehe Fuhrmeister/Kienlechner 2011, S.430.
24
   Mathilde Quappi Beckmann vermerkte am 19. Oktober den Besuch von Göpel und Gurlitt und dass sie zu Lütjens
gingen: „Dienstag, 19. Oktober 1943:“Göpel und Gurlitt nachm. gekommen mit Tiger zu Lütjens“. In den 1965 von
Quappi und Erhard Göpel (Fischer Bücherei Frankfurt 1965) editierten Tagebüchern heisst es: „Besuch von G. [Erhard
Göpel] und Fr. [Wolfgang Frommel]“. Es ist eher wahrscheinlich, dass Göpel und Hildebrand Gurlitt gemeint waren,
die von Beckmann Bilder erwarben. Quappi notierte diesen Verkauf: Mittwoch, 20. Oktober 1943.“ ...Göpel u. Gurlitt
nochmal nachm. gekommen. Frau mit weisser Jack gekauft …“ Mathilde Beckmann Diaries, Archives of American Art,
Smithsonian Institution, Washington D.C., Eintrag vom 19. Oktober 1943. Originalabdruck in Max Beckmann. Exil in
Amsterdam, Ausst. Kat., Osterfilden 2007, S. 407, Abb. 101. Zu Erhard Göpel siehe Christian Fuhrmeister und
Susanne Kienlechner, Erhard Göpel im Nationalsozialismus - eine Skizze [München] : [Zentralinstitut für Kunstge-
schichte], 2018 http://digital.bib-bvb.de/view/bvb_single/single.jsp?dvs=1581848314190~563&locale=it_IT&VIE-
WER_URL=/view/bvb_single/single.jsp?&DELIVERY_RULE_ID=39&bfe=view/action/singleVie-
wer.do?dvs=&frameId=1&usePid1=true&usePid2=true Zu Hildebrand Gurlitt siehe Susane Ronald, Hitler’s art thief:
Hildebrand Gurlitt, the Nazis, and the looting of Europe’s treasures, New York: St. Martin’s Press, 2015; Andrea Ba-
resel-Brand, [Herausgeber] Bestandsaufnahme Gurlitt: "Entartete Kunst" - beschlagnahmt und verkauft, Kunstmuseum
Bern; der NS-Kunstraub und die Folgen, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Mün-
chen: Hirmer, 2018; zu Wolfgang Frommel und Max Beckmann siehe Billeter/Zeiller 2011, S.255-256, Fuhrmeis-
ter/Kienlechner 2011: Max Beckmann und der Widerstand in den Niederlanden. Überlegungen zu „Schauspieler“
1941/42, „Karneval“ (1942-43),“ Blindekuh“ (1944/45),“ Argonauten“ (1950), S. 38-52, hier 39-40.
Max Beckmann: Versuchung 1936-1937. Eine Analyse im Hinblick auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse.
10

          werde ich vielleicht ich selber sein und »tanzen den Tanz« der Götter – außerhalb meines Willens und außer-
          halb meiner Vorstellung – und doch ich selber. Denn klar sollte Euch nur sein, dass ich aus Eurem zügellosen
          Mysterium solchen Glanz fabriziere. O - sind wir es nicht?! 25
     Als die beiden noch am 13. September 1944 erschienen, bemerkte er diesmal klar und lakonisch:
          „Tragik Nichtverkaufen wollens. Gurlitt braune Bar. Abends Dick und Doof bei mir. Recht traurig.“ 26
     Wie sehr Beckmann das Versteckspiel und das Mysterium um seine Götter persönlich heilig waren und
     auch nach dem Krieg noch blieben, zeigt sich besonders deutlich in zwei Briefen an den Sohn Peter, als
     dieser im Begriff war zwei Reden von Beckmann zu veröffentlichen. Der Sohn hatte sie übersetzt und
     anscheinend mit seinen eigenen philosophischen Betrachtungen erläutern wollen, wobei der Vater ihn
     doch streng zurechtwies. Er bat darum an dem Mysterium der Götter nicht zu rühren und es mit Ehrfurcht
     zu behandeln27. So hat Beckmann immer wieder hier selbst den Riegel vorgeschoben, wenn er seine Bil-
     der interpretieren sollte, wobei er sich wünschte, dass man ihn versteht: im Februar 1938 schrieb er an
     seinen Händler Kurt Valentin, der für das Triptychon "Abfahrt" eine Erklärung:

          “Wenn’s die Menschen nicht von sich aus aus eigener innerer Mitproductivität verstehen können, hat es gar
          keinen Zweck die Sache zu zeigen. (…) Es kann nur zu Menschen sprechen, die bewußt oder unbewußt unge-
          fähr den gleichen metaphysischen Code in sich tragen.” 28

Am Ende seiner Londoner Rede denkt Max Beckmann an „den großen alten Freund Henri Rousseau, der ihn
„den Göttern nähergebracht hatte:“29

„...Nun, ich war erwacht und träumte ein bisschen weiter. Immer wieder trat die Malerei als einzig mögliche
Realisation der Einbildungskraft vor meine Augen. Ich dachte an meinen großen alten Freund Henri
Rousseau, diesen Homer in der Portiersloge, dessen Urwaldträume mich manchmal den Göttern
nähergebracht hatten, und grüßte ihn ehrerbietig im Traum...“30

   Daraus könnte man schließen, dass die Idylle des „Traum“ von Rousseau, wo Raubtiere, schwarze und
weiße Menschen friedlich in einer paradiesischen Landschaft fern von jeder Art von Rassendiskriminierung
und Verfolgung nebeneinander existieren, Beckmann dazu inspirierten den Kontrast zur politischen
Wirklichkeit im Jahr 1938 auf dem Gemälde „Versuchung“ darzustellen (Abb.10-13.)

25
   Max Beckmann Personal Diaries, Archives of American Art, Smithsonian Institution, Washington D.C., Eintrag vom
19. Oktober 1943. Auf dem Originalabdruck kann man P el erkennen (vermutlich Pökel ein Synonym, das Beckmann z.
Beispiel am 29. Juni 1942 und am 14. Juli 1942 für Göpel anwendete. Max Beckmann Personal Diaries, Archives of
American Art, Smithsonian Institution, Washington D.C. Originalabbildung des Eintrags vom 19.Oktober 1943 in: Max
Beckmann. Exil in Amsterdam, Ausst. Kat., Ostfildern 2007, S. 407, Abb. 101. Bisher wurde in der Kunstgeschichte
bei der Interpretation dieses Passus auf Beckmanns Weltverständnis und seiner Beschäftigung mit der Philosophie zu-
rückgegriffen ohne einen namentlich konkreten Bezug zu Beckmanns schwieriger Lage im Zusammenhang mit seiner
Überlebensstrategie in Betracht zu ziehen, wobei er offensichtlich gegen seine innere Überzeugung handelte oder han-
deln musste. Zum Beispiel bezieht der Beckmann Experte Christian Lenz diesen Text unter anderem auf Beckmanns
Lektüre der Geheimlehre von Helena Petrowna Blavatzky und meint, dass man diesen Text nur so verstehen kann. Ibid.,
S. 68.
26
   Max Beckmann Personal Diaries, Archives of American Art, Smithsonian Institution, Washington D.C., Eintrag vom
13. September 1944. Siehe Andreas Rossmann, "Der Fall Gurlitt und Amerika - Private Geschäfte", Frankfurter Allge-
meine Zeitung, 2. Februar 2014. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/der-fall-gurlitt/der-fall-gurlitt-und-ame-
rika-private-geschaefte-12779060.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
27
   Max Beckmann, Briefe, (Klaus Gallwitz et al. Herausgeber) 1996. Briefe. Bd.III, 1993, Nr. 867, S. 212., Nr. 869, S.
    213f.
28
   Beckmann an Curt Valentin,11 Februar, 1938. Beckmann, Briefe, III: 29.
29
   Zu Max Beckmann und Henri Rousseau siehe Christoph Wagner, Selbstfindung durch Fremderfahrung: "mit
sieghaftem Kinn heftig deutsch". Max Beckmann im interkulturellen Dialog mit Henri Rousseau. In: Dewes, Eva
(Hrsg.): Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext (Vice versa; 1). Berlin 2008, pp.
567-593, S.582. http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/1117/
30
   Vollständige Rede im Internet: http://www.k-faktor.com/frankfurt/beckmann.htm
11

                   Abb.10. Henri Rousseau, der Traum. New York. Metropolitan Museum of Art31.

Abb.11. Detail, (Rousseau Abb.10)     Abb.12. Detail. /Versuchung Abb.1)          Abb.13. Detail, (Versuchung Abb.1)

31
     https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/16/Henri_Rousseau_005.jpg
12

    Abb.13. Detail, (Rousseau, Abb. 10)                Abb.14. Detail, (Versuchung, Abb.1)

Erschienen 2020 auf Art-Dok

URN: urn:nbn:de:bsz:16-artdok-67865
URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2020/6786
DOI: 10.11588/artdok.00006786
Sie können auch lesen