Mentalisieren und Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) Mentalizing and Mentalization-Based Treatment (MBT)

Die Seite wird erstellt Leni Altmann
 
WEITER LESEN
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62)

Thomas Bolm

Mentalisieren und Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)
Mentalizing and Mentalization-Based Treatment (MBT)

 Zusammenfassung                                                Summary
 Die Förderung der Mentalisierungsfähigkeit ist Aufgabe         The first part of this paper discusses the process of mentali-
 fast jeder Therapiemethode. Es geht um die Fähigkeit, in       zation and its enhancement as an aim of most psychotherapy
 einer bindungsrelevanten Beziehung zu sein und gleichzeitig    methods: How can a patient integrate being attached to some-
 Innen- und Außenwelt in einem bedeutungsvollen Zusam-          one and experience the outer world in a meaningful context
 menhang zu erleben. Diese Aufgabenstellung wird im ersten      with the inner world?
 Teil des Aufsatzes vorgestellt.                                The second part is focused on psychotherapy with the most
 Der zweite Teil widmet sich der Arbeit mit schwer bis          seriously, i.e. structurally disturbed patients, most of them
 schwerst strukturell gestörten, meist traumatisierten Pati-    traumatized, who cannot integrate an activated attachment
 enten. Bei ihnen schließen sich die Aktivierung des Bin-       system and the capacity to mentalize. To enhance mentaliza-
 dungssystems und die Fähigkeit, gut zu mentalisieren, oft      tion even in these patients, Bateman and Fonagy developed
 gegenseitig aus. Um bei dieser Klientel auf die Verbesserung   a coherent therapy approach called MBT. Several settings of
 der Mentalisierungsfähigkeit zu fokussieren, haben Ba-         MBT proved to be empirically effective. Modifications of and
 teman und Fonagy einen koherenten Therapieansatz, MBT,         research on other indications are in preparation.
 entwickelt. Die MBT konnte inzwischen in verschiedenen
 Settings ihre sehr gute Wirksamkeit bei der Behandlung von
 Borderline-Persönlichkeitsstörungen unter Beweis stellen, an
 Modifikationen und Wirknachweisen bei weiteren Indikati-
 onen wird gearbeitet.

 Schlüsselwörter                                                Keywords
 Mentalisierung – Persönlichkeitsstörungen – Bindung –          mentalizing – personality disorder – attachment – trauma –
 Trauma – evidenzbasierte Psychotherapie                        evidence-based psychotherapy

n Einleitung                                                    symptomorientierten Behandlungstechnik Interpretationen,
                                                                Expositionen, ungebremste Gruppeninteraktion, Symbole oder
                                             1
Viele Therapien und Therapeuten versuchen implizit, die         freies Fantasieren zu benutzen.
Mentalisierungsfähigkeit ihrer Patienten zu verbessern, und     Für die Behandlung schwerer struktureller Störungen haben
bei unkomplizierten Problematiken gelingt es den meisten        sich spezielle, auf die Mentalisierung fokussierende Modi-
auch mit ihren speziellen Methoden und noch weit mehr mit       fikationen der Behandlungsmethodik als sehr erfolgreich
Hilfe allgemeiner Wirkfaktoren. Insofern wird das Mentalisie-   herausgestellt, unter dem Namen Mentalization Based Treat-
rungskonzept inzwischen von Therapeuten unterschiedlichster     ment (MBT) von Bateman und Fonagy (2004) manualisiert
Ausrichtung aufgegriffen. Sie erkennen aus ihrer eigenen the-   veröffentlicht. Und auch für Menschen in heftigen, reaktiv
oretischen Basis oder Behandlungstechnik zum Teil bekannte      oder neurotisch bedingten Krisenzuständen können dieselben
Inhalte wieder und bemerken den ergänzenden Charakter des       Techniken genutzt werden.
Mentalisierungsansatzes.                                        Dieser Aufsatz widmet sich beiden Aspekten, dem Mentalisie-
Wenn die Mentalisierungsfähigkeit häufig und stark be-          rungskonzept im Allgemeinen und der MBT im Speziellen.
einträchtigt ist wie bei schwer strukturell beeinträchtigten
Borderline-Patienten, kommen jedoch viele dieser Metho-         n Mentalisierung
den schnell an ihre Grenzen. Es kann bei dieser Klientel
sogar schädlich sein, entsprechend einer neurosen- oder rein    Peter Fonagy und seine Arbeitsgruppe haben seit Beginn der
                                                                Neunzigerjahre (Fonagy, 1991) entwicklungspsychologische,
1 Nur zur Vereinfachung verwende ich das Maskulinum.

                                                                                                       ©
58                                                          Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62)

psychoanalytische, traumabezogene und neurobiologische            werden können, der Als-ob-Modus, in dem Realitätsaspekte
Erkenntnisse auf den Prüfstand der empirischen Säuglings-,        bzw. Selbstanteile unverbunden nebeneinanderstehen, z. B.
Kleinkind- und Psychotherapieforschung gestellt und mit der       ausgeblendet werden, und der teleologische Modus, in dem
Theory of Mind (ToM) zum Mentalisierungsansatz amalga-            sich Konkretismus und Angewiesenheit auf unmittelbar wahr-
miert (Fonagy, Jurist, Gergely & Target, 2002/2004).              nehmbare Aktion des anderen zeigen. Diese drei Modi, die auf
                                                                  eine wenig oder teilweise vorhandene Mentalisierungsfunktion
Mentalisieren bedeutet, dass Menschen explizit oder implizit      schließen lassen, sind in der Regel Durchgangsstadien kind-
eigenes Verhalten oder das anderer in einem bedeutungsvollen      licher Entwicklung und werden im Erwachsenenalter immer
Zusammenhang mit intentionalen mentalen (inneren) Zustän-         wieder durch Reparationsmechanismen aufgelöst.
den und Vorgängen erleben und verstehen können. Bei diesen
intentionalen Zuständen handelt es sich z. B. um Gefühle, Ge-     Tiefgreifende Störungen in der elterlichen Mentalisierungs-,
danken, Bedürfnisse, Wünsche, Begründungen, Bedeutungen           respektive Containing-Fähigkeit, z. B. bei traumatisierenden
und ganz persönliche Lebenserfahrung.                             Lebensumständen, Übergriffen oder unbewältigten elterlichen
                                                                  Erfahrungen, können bei den Kindern zu einer lang anhal-
Mentalisieren heißt auch, dass Menschen die Art und Weise         tenden Anfälligkeit für die Überaktivierung des Bindungs-
begreifen, wie sie und andere erleben und sich verhalten,         systems unter Stressbedingungen führen. Darunter leidet das
und dass Erleben und Verhalten situativen Einflüssen und          Explorations- und psychische Integrationsvermögen. Die
individuellen Mustern folgen. Weit entwickelte Mentalisie-        gesunde Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit ist stark
rungsfähigkeit ist gekoppelt mit einer Repräsentanz für diese     beeinträchtigt. Dann können affektive Überflutung, Impuls-
Prozesse zweiter Ordnung.                                         kontrollverlust, Intrusionen, Dissoziationen, Psychosen oder
                                                                  hochgradige innere Leere entstehen. Statt einer gesunden
Gute Mentalisierungsfähigkeit zeigt sich im Vermögen zum          Identitätsentwicklung findet eine ständige Bedrohung des
fantasievollen, klugen und vorausschauenden Umgang mit            Kohärenzerlebens statt. Diese wiederum erfordert weitere
dem Wechselspiel von Innen- und Außenwelt, Verstand und           reparative Mechanismen, von denen sich etliche im Erwach-
Gefühl, Geist und Körper, Impuls und Regulation, Anlage und       senenalter als klinische Symptome schwerer Borderline-
Erfahrung sowie mit Intention, Ziel und Ergebnis. Mentalisie-     Persönlichkeitsstörungen wiederfinden (Bolm, 2009).
ren ist somit fundamentaler Bestandteil menschlicher Identität.
Als Referenz auf Winnicott (1973) nennt Fonagy (1995) diese       Wie zuvor schon erwähnt, treten auch bei reaktiv bedingten
Fähigkeit „playing with reality“, Spielen mit der Realität.       oder neurotischen Krisenzuständen so starke Affektinten-
                                                                  sitäten auf, dass die Mentalisierungsfähigkeit stark beein-
Wie entwickeln sich Mentalisierungsfähigkeit und Mentali-         trächtigt ist. Fantasien bestimmen das Bild von der Realität,
sierungsstörung?                                                  oder Realitäts- bzw. Selbstaspekte werden abgespalten.
Wie Fonagy et al. (2002) den Stand empirischer Entwick-           Jedoch sind die Reparationsmechanismen zur Überbrückung
lungspsychologie zusammenfassen, üben Bindungs- und               von Mentalisierungsbrüchen bei Neurotikern weit besser
Umweltbeziehungen zu den primären Bezugspersonen erheb-           entwickelt als bei schwer strukturell gestörten Menschen.
liche Einflüsse auf das Gelingen der Strukturentwicklung aus.     Die neurosenorientierte Behandlungstechnik kann auf diese
Eltern können durch affektiv und inhaltlich eingestimmtes         Fähigkeit vertrauen. In heftigen Krisensituationen können
und intensitätsmodulierendes Spiegeln und durch Ermutigung        aber Elemente der MBT helfen, die Mentalisierungsfähigkeit
zur Exploration dem Kind dazu verhelfen, ein stabiles und         schnell wiederherzustellen.
kohärentes Selbst mit stabilen Repräsentanzen, ein stabiles
Identitätsgefühl und innere Objektkonstanz zu entwickeln.         n Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)
Dann gelingt dem Heranwachsenden die Integration von Innen
und Außen, Kognition und Emotion, Fantasie und Vernunft,          Aufbauend auf den vorangegangenen theoretischen Be-
Intention und Resultat einer Handlung. In der Sprache der         merkungen, werden nun die Anwendungsaspekte der MBT
Bindungstheorie ausgedrückt: Sicherheitserleben ermöglicht        beschrieben, einer Methode, die speziell für die Behandlung
die Deaktivierung des Angst- und die Aktivierung verschie-        schwerster Persönlichkeitsstörungen, vor allem Borderline,
dener Explorationssysteme, besonders derjenigen für Affekte       entwickelt wurde und bei dieser Klientel sehr effektiv ist.
und Beziehungen. Erst durch die Aktivierung dieser Explo-         Die Evidenz hierfür wird in einem eigenen Abschnitt dar-
rationssysteme können in späterem Lebensalter relativ fest        gestellt.
verwurzelte Erlebens- und Verhaltensmuster in Frage gestellt      Die Besonderheiten dieser Zielgruppe von Patienten zei-
werden und sich die Aufmerksamkeit auf Unbekanntes richten,       gen sich in einer enorm schnellen Aktivierung des Angst-
ohne darin wieder das Bekannte zu sehen. Das Fremde kann          Subsystems im Bindungssystem, verbunden mit schneller
integriert werden.                                                Aushebelung der sowieso schon vermindert entwickelten
Auf diese Weise entwickelt sich eine konstant hohe Resilienz      Mentalisierungsfähigkeit. Die Folgen lassen sich am häufigen
gegen auf die Dauer dysfunktionale Modi im Umgang mit             Vorkommen der drei zuvor beschriebenen Störungen einer
der Realität. Zu letzteren gehören der Äquivalenzmodus,           integrierenden und reflektierenden Realitätswahrnehmung
in dem Innenwelt und äußere Realität in ihrer Bedeutung           ablesen, nämlich des Äquivalenz-, des Als-ob- und des tele-
kognitiv nicht voneinander unterschieden und relativiert          ologischen Modus.

                                            ©
Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München                                                          59
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62)

Jede Therapie für diese Klientel muss also darauf Antwor-        wachsenden übergeordneten Lebens- und Beziehungsthemen.
ten geben, wie sie die Gratwanderung von Aktivierung des         Deshalb wird das Konflikterleben nicht forciert, sondern dem
Bindungssystems durch die therapeutische Beziehung und           Erforschen spontaner Kommunikations- und Mentalisierungs-
Aufrechterhaltung bzw. Verbesserung der Mentalisierung           brüche und deren „Reparatur“ ein sehr hoher Stellenwert
erreichen will und kann.                                         eingeräumt. Meist geschieht das ganz unspektakulär durch
                                                                 neugierige Fragen oder „mit leichter Hand“ ausgeführte Kon-
MBT fokussiert explizit auf das Mentalisieren und die Ver-       frontationen mit Realitätsaspekten. Das tiefe Unbewusste ist
besserung der Mentalisierungsfähigkeit im Hier und Jetzt. Es     nicht Gegenstand des gesprochenen Wortes, selbst wenn der
geht darum, die Wechselwirkung zwischen beobachtbarer In-        MBT-Therapeut innerlich einer psychoanalytischen Wahrneh-
teraktion und dem mentalen Hintergrund eigenen und fremden       mungshaltung folgt.
Erlebens und Verhaltens kennen, interpretieren und einschät-
zen zu lernen. Das geschieht unter dem Einfluss bindungsre-      Die spontan auftretenden Brüche im Mentalisierungsprozess
levanter (therapeutischer) Beziehungen. Es handelt sich also     werden gezielt gesucht, exploriert und (nach-)bearbeitet. Ein
um eine Feintitrierung der Aktivierung des Bindungssystems,      besonders wichtiges Element der MBT ist die Suche des
so dass die therapeutische Begegnung relevant ist, aber ohne     Therapeuten nach eigenen Mentalisierungfehlern und die
den Spielraum für das Wachsen der Mentalisierungsfähigkeit       dazugehörige Gegenübertragungsanalyse. Das entspricht der
zu beschneiden.                                                  psychodynamischen Tradition.
                                                                 Basisinterventionen zur Bearbeitung von Mentalisierungsbrü-
Die Vorgehensweise in Einzel- und Gruppengesprächen ist          chen werden in der MBT mit krisentauglichen Schlagworten
psychodynamisch, also beziehungs- und interaktionsorientiert     beschrieben: „Stop and stand!“, „Stop – listen – look!“, „Stop
und relativ arm an thematischen und strukturellen Vorgaben.      – rewind – explore!“
Die therapeutische Beziehung kann und soll nicht sämtliche
Probleme des Patienten in der Übertragung widerspiegeln, aber    Borderline-Patienten aus dem schweren bis schwersten
sie ist der zentrale Ausgangspunkt für deren Bearbeitung.        Spektrum können unter der vollen emotionalen Wucht eines
                                                                 Themas nicht mehr mentalisieren. Mentalisieren benötigt
Es gibt einige entscheidende methodische Unterschiede zu         eine optimal fein abgestimmte affektive Intensität, die weder
bisherigen psychodynamischen Methoden, die in der Folge          motional noch kognitiv überfordert, aber auch nicht durch
den Gemeinsamkeiten gegenübergestellt werden:                    zu viel Schonung eine produktive Auseinandersetzung mit
                                                                 Entwicklungsproblemen verhindert. Um dies zu erreichen,
Der Rahmen der Therapie erfüllt sowohl für Patienten wie auch    muss der Therapeut keine Angst vor flexibler therapeutischer
für Therapeuten die Funktion der sicheren Basis, auf der sich    Rollenübernahme sowie strukturierender und regulierender
der therapeutische Spiel- und Entwicklungsraum entfalten         Eigenaktivität zeigen. Es geht um eine quasi elterlich regu-
kann. Zum Sicherheit gebenden Rahmen gehören eine gute           lierende und containende Aktivität für ein mentalisierungs-
Aufklärung über die Vorgehensweise und Aufgaben aller an         förderliches Klima von Sicherheit, Anregung, Irritation und
der Therapie Beteiligten, ein gemeinsam gefundener Fokus         Freiheit.
und Konzepte für den Umgang mit Rahmenverletzungen,
typischen Therapiegefährdungen, Krisen und Notfällen.            Die MBT-Interventionstechnik geht vom Bekannten, Be-
Im Unterschied zu anderen Borderline-Behandlungsmethoden         wussten, Offensichtlichen aus, zum Beispiel einer sichtbaren
wird aber wenig vertraglich geregelt, es zählt mehr die Inten-   Interaktion, Mimik, Gestik oder einer bewussten Kognition.
tion des Patienten. Auf diese Weise werden auch Patienten        Dies ist der Ausgangspunkt, von dem aus sich langsam auch
erreicht, die über lange Zeit noch keine festen Vereinbarungen   unbewusstere Schichten der Psyche erschließen, immer im
einhalten können.                                                Wechselspiel mit der Schaffung oder Wiederherstellung einer
                                                                 sicheren zwischenmenschlichen Basis im therapeutischen
Die MBT geht davon aus, dass in einer Art dialektischem          Kontakt.
Prozess immer wieder genug Sicherheitserleben zwischen dem
Patienten und dem Therapeuten und in der Gruppe mit den          Patienten, die noch nicht oder vorübergehend nicht menta-
anderen Gruppenmitgliedern hergestellt werden muss, damit        lisieren können, erleben die Postulierung von „objektiven“
sich therapeutische Bearbeitungsräume für Unbekanntes,           Wahrheiten über Mentales (etwas zugespitzt z. B.: „Sie sind
Irritierendes oder Beängstigendes öffnen können. So formu-       neidisch!; eigentlich meinen Sie damit ...; tief in Ihrem Inne-
liert trifft dies auf alle psychodynamischen und viele anderen   ren/Unbewussten wollen Sie in Wahrheit ...; Ihre unbewussten
Therapiemethoden zu.                                             Aggressionen führen zur Zerstörung dieser Therapie!“ und
Die MBT trägt jedoch dem Umstand Rechnung, dass das              selbst noch „Könnte es sein, dass Sie ...“) als bedrängende
Sicherheitserleben bei sehr schweren Borderline-Störungen        Unterstellung, Theoretisieren oder Nicht-ernst-Nehmen der
enorm fragil ist und schon durch die Etablierung einer (gu-      eigenen Sichtweise, kurzum, als eine Mentalisierungsbremse.
ten) therapeutischen Beziehung härtesten Belastungstests         Die anstehenden Entwicklungsschritte sind intersubjektives
unterworfen wird. Ziel der MBT ist nicht die Reinszenierung      Verständnis und Anerkennung verschiedener Sichtweisen und
früherer Traumata in all ihrer Heftigkeit. Stattdessen geht es   Motive. Deshalb verzichten MBT-Therapeuten auf Streit um
um die Verlebendigung der aus dem jeweiligen Schicksal er-       die „richtige“ Sichtweise, die „wahren“ Motive oder die „ei-

                                                                                                        ©
60                                                          Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62)

gentlichen“ Bedeutungen. Denn sie wollen Patienten ja gerade       sollten Übertragungsmuster in Frage gestellt werden. Dadurch
dazu bringen, aus dieser nicht mentalisierenden Haltung, die       behält der Patient zunächst seine Entlastungsmöglichkeit
den Äquivalenzmodus kennzeichnet, herauszuwachsen.                 durch Externalisierung und kann später leichter anerkennen,
                                                                   dass seine Sichtweise nur eine unter vielen möglichen und an
Neugier und Fragen des Therapeuten ermuntern zum perma-            bestimmte individuelle Bedingungen gebunden ist (Mentali-
nenten Weiterdenken und Weiterforschen über subjektives            sierung der Übertragung).
Erleben, verschiedene Sichtweisen und Identität. Bedeutung
wird gemeinsam konstruiert. Die therapeutische Grundhaltung        Eine der größten Stärken der MBT ist die systematische Fein-
des Nichtwissens öffnet Räume für Patient, Gruppe und The-         abstimmung des Interventionsstils auf die im Kontakt schnell
rapeut zum gemeinsamen Erforschen von Realität.                    wechselnde Mentalisierungsfähigkeit. Patienten im Äquiva-
                                                                   lenzmodus benötigen Beruhigung und Deaktivierung des
Bei stark eingeschränkter Mentalisierungsfähigkeit sind die        Bindungssystems. Zu dieser Gruppe gehören auch Patienten
wirksamen Interventionen meist kurz und einfach verständ-          mit massiven dissoziativen Abwehrvorgängen, die sich im
lich. Die MBT bevorzugt alltagssprachliche Dialoge. Dem            Übergang zum Als-ob-Modus befinden, die innerliche Dyna-
fortgesetzten Austausch ohne lange Schweigepausen kommt            mik entspricht aber noch der Äquivalenz. Im Als-ob-Modus ist
ein hoher Wert zu. Ein längeres Abgleiten in Fantasien und         kognitive Exploration möglich, zur Vermeidung von Stillstand
Erinnerungen können Patienten mit eingeschränkter Menta-           geht es aber auch um Zugang zu Affekten und Fantasie. Ein
lisierungsfähigkeit nicht mit einer progressiven Erfahrung im      Zustand von konkretistischer Außenorientierung, bei dem
Hier und Jetzt verbinden.                                          allein das unmittelbar erfahrbare Verhalten oder Gegenständ-
                                                                   liches zählt und die mentale Welt ausgeblendet wird, sollte
Wenn dem Patienten das Erleben für ein eigenständiges Ge-          ebenso verlassen werden wie eine andauernde realitätsferne
genüber verloren geht, dann stellt sich der MBT-Therapeut          Verinnerlichung oder ein unproduktives Psychologisieren.
als präsente Person zur Verfügung, er teilt z. B. selektiv seine   Im reflektierenden Modus geht es um die Integration von
Gegenübertragung mit („Wenn Sie mich weiter so anschreien,         Affekt und Kognition, um Metakommunikation, Übertragung
dann kann ich nicht mehr gut nachdenken!“). Das ähnelt der         und unbewusste Motive. Jeder Schritt dieser stufenweisen
Vorgehensweise der psychoanalytisch-interaktionellen Me-           Interventionstechnik baut auf dem vorhergehenden auf. Bei
thode (Heigl-Evers & Heigl, 1979; Heigl-Evers & Ott, 1994;         Schwierigkeiten empfiehlt sich der Rückgriff auf den zuletzt
Streeck, 2007). Die Resonanz auf den Patienten sollte kontin-      als sicher erlebten Zugang (Bolm, 2007, 2009).
gent, also auf den inneren Zustand des Patienten eingestellt
sein. Und sie sollte im Sinne der in der Einleitung referierten    n Empirie
entwicklungspsychologischen Erkenntnisse markiert gegeben
werden, also mit einer leichten, aber für den Patienten noch       Die mentalisierungsbasierte Therapie ist eine der erfolg-
akzeptablen Verfremdung, wie sie durch das Containing des          reichsten Behandlungen für schwere strukturelle, insbeson-
Therapeuten geschieht.                                             dere Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Die manualisierte
                                                                   Methode (Bateman & Fonagy, 2004/2008a, 2006) verhilft
Wie in jeder psychodynamischen Behandlung hat das Durch-           Borderline-Patienten mit schwersten strukturellen Störungen
arbeiten der Übertragung in der MBT einen besonderen Stel-         und Komorbidität im tagesklinischen und ambulanten Set-
lenwert. Doch Patienten mit stark eingeschränkter Mentali-         ting zu deutlichen und nachhaltigen Verbesserungen auf der
sierungsfähigkeit können klassische Übertragungsdeutungen,         Symptomachse bei der Lebensqualität und bei der Integration
in denen unbewusste Motive mit dem bewussten Erleben und           in ihren Alltag – gegenüber einer sozialpsychiatrischen Ver-
Verhalten verknüpft werden, häufig nicht gut für sich nutzen.      gleichsbehandlung (Bateman & Fonagy, 1999, 2001, 2008,
Die MBT bereitet daher den Patienten explizit auf die Arbeit       2009). Die aufwendige Behandlung lohnt sich; die MBT
an der Übertragung vor: Wenn in der Eingangsanamnese               führt im Vergleich mit der Kontrollgruppe zu einer deut-
bestimmte dominante Übertragungsmuster deutlich werden,            lichen Senkung der Behandlungskosten (Bateman & Fonagy,
wird in der MBT explizit auf das wahrscheinliche Wiederauf-        2003). Die randomisiert-kontrolliert gezeigten beachtlichen
treten dieser Muster gegenüber Mitpatienten, Gruppe oder in        Behandlungserfolge führten zur Empfehlung der Cochrane
der Beziehung zum Therapeuten hingewiesen. Tritt dies ein,         Collaboration (Binks et al., 2006). Auch bei drei Monaten
dann werden diese „Übertragungsmarker“ zum Anlass für eine         vollstationärer Therapie zeigten sich unter kontrollierten
ausführliche Bearbeitung.                                          Untersuchungsbedingungen gute Erfolge (Bolm, Schöps, von
                                                                   Randow & Herzog, 2007).
Die Klärung und Benennung des vorrangigen Affekts und der
Auslöser im Hier und Jetzt sind in der MBT die ersten für den      n Perspektiven des Mentalisierungsfokus
Patienten bewusstseinsnahen Maßnahmen, um den Austausch
über das hochaffektive und therapeutisch zentrale Thema von        Die MBT wird zu therapeutischen Zwecken bisher hauptsäch-
Übertragung in Gang zu bringen. Projektive Zuschreibungen          lich bei Borderline-Patienten angewendet. Die im Hinblick
werden nicht zurückgewiesen, sondern validiert als momen-          auf Mentalisierungsaspekte interessanten Krankheitsbilder
tane Realität des Patienten. Erst wenn im therapeutischen          und entsprechenden Behandlungsindikationen umfassen aber
Kontakt genügend mentalisierende Kapazität erarbeitet ist,         ein viel weiteres Feld (Bolm, 2009), so zum Beispiel Krisen-

                                             ©
Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München                                                          61
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62)

zustände bei Neurosen und Belastungsstörungen sowie die                     Bolm, T. (2009). Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) für Bor-
Behandlung von Angst-, Zwangs-, affektiven und psychoso-                        derline-Persönlichkeitsstörung und chronifizierte Traumafolgen.
matischen Beschwerden. Die große Aufmerksamkeit, die die                        Köln: Deutscher Ärzteverlag.
Theory of Mind auf dem Gebiet der Psychosenbehandlung                       Bolm, T., Schöps, A., von Randow, C. & Herzog T. (2007). Mentaliza-
bekommt, kann ebenfalls in mentalisierungsbasierte Thera-                       tion-Based Treatment hilft bei Borderline-Persönlichkeitsstörung
piemethoden münden. Auf dem Feld der Kinder- und Jugend-                        – Erste vollstationäre empirische Ergebnisse. Abstract, DKPM-
psychiatrie gibt es bereits etliche Aktivitäten, über die Sharp                 Jahrestagung, Nürnberg, 21.-24.03.2007.
(2006) eine Übersicht gibt. Auch forensische Behandler haben                Fonagy, P. (1991). Thinking about thinking: some clinical and the-
sich früh für die impulskontroll- und empathieverbessernde                      oretical considerations in the treatmant of a borderline patient.
Wirkung der MBT interessiert.                                                   International Journal of Psychoanalysis, 72, 639-656.
Wie an anderer Stelle dargelegt (Bolm, 2009), kann der                      Fonagy, P. (1995). Playing with reality: the development of psychic
mentalisierungsbasierte Zugang zu Gruppenprozessen auch                         reality and its malfunction in borderline personalities. Internati-
für Team- und Organisationsprozesse genutzt werden. In Or-                      onal Journal of Psychoanalysis, 76, 39-44.
ganisationen und Politik verändert Mentalisierungsförderung                 Fonagy, P., Jurist, E., Gergely, G. & Target, M. (2004). Affektregu-
die Kultur des Umgangs von Menschen miteinander. Das gilt                       lierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stutt-
besonders für komplexe oder dramatische Situationen, die mit                    gart: Klett-Cotta. (2002). (Original veröffentlicht 2002: Affect
affektiver Überflutung oder Funktionieren unter Abspaltung                      Regulation, Mentalization, and the Development of the Self.
von Denken und Fühlen einhergehen und hohe Integrations-                        New York: Other Press).
leistungen erfordern.                                                       Heigl-Evers, A. & Heigl, F. (1979). Interaktionelle Gruppenpsy-
                                                                                chotherapie. Eine gruppenpsychotherapeutische Methode nach
                                                                                dem Göttinger Modell. In A. Heigl-Evers & U. Streeck (Hrsg.),
n Literatur
                                                                                Die Psychologie des 20. Jahrhunderts (Bd. VIII; S. 850-858).
Bateman, A. & Fonagy, P. (1999). Effectiveness of partial hospita-              Zürich: Kindler.
    lization in the treatment of borderline personality disorder: A         Heigl-Evers, A. & Ott, J. (Hrsg.). (1994). Die psychoanalytisch-
    randomized controlled trial. American Journal of Psychiatry,                interaktionelle Methode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
    156, 1563-1569.                                                         Sharp, C. (2006). Mentalizing problems in childhood disorders. In
Bateman, A. & Fonagy, P. (2001). Treatment of borderline personality            P. Allen & P. Fonagy (Eds.), Handbook of Mentalization-Based
    disorder with psychoanalytically oriented partial hospitalization: An       Treatment (pp. 101-12). Chichester: Wiley.
    18-month follow-up. American Journal of Psychiatry, 158, 36-42.         Streeck, U. (2002). Gestörte Verhältnisse – zur psychoanalytisch-
Bateman, A. & Fonagy, P. (2003). Health service utilisation costs for           interaktionellen Gruppentherapie von Patienten mit schweren
    borderline personality disorder patients treated with psychoanaly-          Persönlichkeitsstörungen. Persönlichkeitsstörungen, 2, 109-125.
    tically oriented partial hospitalisation versus general psychiatric     Streeck, U. (2007). Psychotherapie komplexer Persönlichkeits-
    care. American Journal of Psychiatry, 160, 169-171.                         störungen. Grundlagen der psychoanalytisch-interaktionellen
Bateman, A. & Fonagy, P. (2006). Mentalization-Based Treatment                  Methode. Stuttgart: Klett-Cotta.
    for Borderline Personality Disorder. A Practical Guide. Oxford,         Winnicott, D.W. (1973). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-
    New York: Oxford University Press.                                          Cotta. (Original veröffentlicht 1971: Playing and Reality. Lon-
Bateman, A. & Fonagy, P. (2008). 8-year follow-up of patients treated           don: Routledge).
    for borderline personality disorder: mentalization-based treat-
    ment versus treatment as usual. American Journal of Psychiatry,         n Korrespondenzadresse
    165 (5), 631-638.
Bateman, A. & Fonagy, P. (2008a). Psychotherapie der Borderline-            Dr. med. Thomas Bolm
    Persönlichkeitsstörung. Ein mentalisierungsgestütztes Behand-           Brinkveld / GGZ Altrecht | Oude Arnhemse Weg 260
    lungskonzept. Gießen: Psychosozial-Verlag. (Original veröffent-         NL-3705 BK Zeist
    licht 2004: Psychotherapy for Borderline Personality Disorder.          www.altrecht.nl/brinkveld | T.Bolm@Altrecht.nl
    Mentalization-Based Treatment. Oxford, New York: Oxford
    University Press.                                                       n Autor
Bateman, A. & Fonagy, P. (2009). Randomized Controlled Trial of
    outpatient Mentalization – Based Treatment versus Structured            Dr. med. Thomas Bolm. Chefarzt des Behandlungszentrums
    Clinical Management for Boderline Personality Disorder. Am J            Brinkveld, Zeist/Utrecht (Niederlande). Facharzt für Psy-
    Psychiatry 166:1355-1364                                                chosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie,
Binks, C.A., Fenton, M., McCarthy, L., Lee, T., Adams, C.E. &               Gruppentherapie. Mitglied und Gruppenlehranalytiker der
    Duggan, C. (2006). Psychological therapies for people with              Sektion Analytische Gruppenpsychotherapie im DAGG,
    borderline personality disorder. The Cochrane Database of Sy-           Dozent der Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der
    stematic Reviews, Issue 1.                                              Psychoanalyse in Gruppen (Göttingen/Tiefenbrunn). Vorsitz
Bolm, T. (2007). Mentalization-based Treatment (MBT). Eine wirk-            der Arbeitsgruppe Persönlichkeitsstörungen beim DKPM.
    same Methode bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen und                Seit 2004 Ersteinführung von MBT im deutschsprachigen
    chronifizierten Traumafolgeerkrankungen. Psychotherapie im              Raum, zahlreiche Vorträge, Kurse und Veröffentlichungen zu
    Dialog (PiD), 4, 336-341.                                               Mentalisierungsbasierter Therapie.

                                                                                                                        ©
62                                                                     Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München
Sie können auch lesen