Mentalisieren und Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) Mentalizing and Mentalization-Based Treatment (MBT)
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T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62) Thomas Bolm Mentalisieren und Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) Mentalizing and Mentalization-Based Treatment (MBT) Zusammenfassung Summary Die Förderung der Mentalisierungsfähigkeit ist Aufgabe The first part of this paper discusses the process of mentali- fast jeder Therapiemethode. Es geht um die Fähigkeit, in zation and its enhancement as an aim of most psychotherapy einer bindungsrelevanten Beziehung zu sein und gleichzeitig methods: How can a patient integrate being attached to some- Innen- und Außenwelt in einem bedeutungsvollen Zusam- one and experience the outer world in a meaningful context menhang zu erleben. Diese Aufgabenstellung wird im ersten with the inner world? Teil des Aufsatzes vorgestellt. The second part is focused on psychotherapy with the most Der zweite Teil widmet sich der Arbeit mit schwer bis seriously, i.e. structurally disturbed patients, most of them schwerst strukturell gestörten, meist traumatisierten Pati- traumatized, who cannot integrate an activated attachment enten. Bei ihnen schließen sich die Aktivierung des Bin- system and the capacity to mentalize. To enhance mentaliza- dungssystems und die Fähigkeit, gut zu mentalisieren, oft tion even in these patients, Bateman and Fonagy developed gegenseitig aus. Um bei dieser Klientel auf die Verbesserung a coherent therapy approach called MBT. Several settings of der Mentalisierungsfähigkeit zu fokussieren, haben Ba- MBT proved to be empirically effective. Modifications of and teman und Fonagy einen koherenten Therapieansatz, MBT, research on other indications are in preparation. entwickelt. Die MBT konnte inzwischen in verschiedenen Settings ihre sehr gute Wirksamkeit bei der Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen unter Beweis stellen, an Modifikationen und Wirknachweisen bei weiteren Indikati- onen wird gearbeitet. Schlüsselwörter Keywords Mentalisierung – Persönlichkeitsstörungen – Bindung – mentalizing – personality disorder – attachment – trauma – Trauma – evidenzbasierte Psychotherapie evidence-based psychotherapy n Einleitung symptomorientierten Behandlungstechnik Interpretationen, Expositionen, ungebremste Gruppeninteraktion, Symbole oder 1 Viele Therapien und Therapeuten versuchen implizit, die freies Fantasieren zu benutzen. Mentalisierungsfähigkeit ihrer Patienten zu verbessern, und Für die Behandlung schwerer struktureller Störungen haben bei unkomplizierten Problematiken gelingt es den meisten sich spezielle, auf die Mentalisierung fokussierende Modi- auch mit ihren speziellen Methoden und noch weit mehr mit fikationen der Behandlungsmethodik als sehr erfolgreich Hilfe allgemeiner Wirkfaktoren. Insofern wird das Mentalisie- herausgestellt, unter dem Namen Mentalization Based Treat- rungskonzept inzwischen von Therapeuten unterschiedlichster ment (MBT) von Bateman und Fonagy (2004) manualisiert Ausrichtung aufgegriffen. Sie erkennen aus ihrer eigenen the- veröffentlicht. Und auch für Menschen in heftigen, reaktiv oretischen Basis oder Behandlungstechnik zum Teil bekannte oder neurotisch bedingten Krisenzuständen können dieselben Inhalte wieder und bemerken den ergänzenden Charakter des Techniken genutzt werden. Mentalisierungsansatzes. Dieser Aufsatz widmet sich beiden Aspekten, dem Mentalisie- Wenn die Mentalisierungsfähigkeit häufig und stark be- rungskonzept im Allgemeinen und der MBT im Speziellen. einträchtigt ist wie bei schwer strukturell beeinträchtigten Borderline-Patienten, kommen jedoch viele dieser Metho- n Mentalisierung den schnell an ihre Grenzen. Es kann bei dieser Klientel sogar schädlich sein, entsprechend einer neurosen- oder rein Peter Fonagy und seine Arbeitsgruppe haben seit Beginn der Neunzigerjahre (Fonagy, 1991) entwicklungspsychologische, 1 Nur zur Vereinfachung verwende ich das Maskulinum. © 58 Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62) psychoanalytische, traumabezogene und neurobiologische werden können, der Als-ob-Modus, in dem Realitätsaspekte Erkenntnisse auf den Prüfstand der empirischen Säuglings-, bzw. Selbstanteile unverbunden nebeneinanderstehen, z. B. Kleinkind- und Psychotherapieforschung gestellt und mit der ausgeblendet werden, und der teleologische Modus, in dem Theory of Mind (ToM) zum Mentalisierungsansatz amalga- sich Konkretismus und Angewiesenheit auf unmittelbar wahr- miert (Fonagy, Jurist, Gergely & Target, 2002/2004). nehmbare Aktion des anderen zeigen. Diese drei Modi, die auf eine wenig oder teilweise vorhandene Mentalisierungsfunktion Mentalisieren bedeutet, dass Menschen explizit oder implizit schließen lassen, sind in der Regel Durchgangsstadien kind- eigenes Verhalten oder das anderer in einem bedeutungsvollen licher Entwicklung und werden im Erwachsenenalter immer Zusammenhang mit intentionalen mentalen (inneren) Zustän- wieder durch Reparationsmechanismen aufgelöst. den und Vorgängen erleben und verstehen können. Bei diesen intentionalen Zuständen handelt es sich z. B. um Gefühle, Ge- Tiefgreifende Störungen in der elterlichen Mentalisierungs-, danken, Bedürfnisse, Wünsche, Begründungen, Bedeutungen respektive Containing-Fähigkeit, z. B. bei traumatisierenden und ganz persönliche Lebenserfahrung. Lebensumständen, Übergriffen oder unbewältigten elterlichen Erfahrungen, können bei den Kindern zu einer lang anhal- Mentalisieren heißt auch, dass Menschen die Art und Weise tenden Anfälligkeit für die Überaktivierung des Bindungs- begreifen, wie sie und andere erleben und sich verhalten, systems unter Stressbedingungen führen. Darunter leidet das und dass Erleben und Verhalten situativen Einflüssen und Explorations- und psychische Integrationsvermögen. Die individuellen Mustern folgen. Weit entwickelte Mentalisie- gesunde Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit ist stark rungsfähigkeit ist gekoppelt mit einer Repräsentanz für diese beeinträchtigt. Dann können affektive Überflutung, Impuls- Prozesse zweiter Ordnung. kontrollverlust, Intrusionen, Dissoziationen, Psychosen oder hochgradige innere Leere entstehen. Statt einer gesunden Gute Mentalisierungsfähigkeit zeigt sich im Vermögen zum Identitätsentwicklung findet eine ständige Bedrohung des fantasievollen, klugen und vorausschauenden Umgang mit Kohärenzerlebens statt. Diese wiederum erfordert weitere dem Wechselspiel von Innen- und Außenwelt, Verstand und reparative Mechanismen, von denen sich etliche im Erwach- Gefühl, Geist und Körper, Impuls und Regulation, Anlage und senenalter als klinische Symptome schwerer Borderline- Erfahrung sowie mit Intention, Ziel und Ergebnis. Mentalisie- Persönlichkeitsstörungen wiederfinden (Bolm, 2009). ren ist somit fundamentaler Bestandteil menschlicher Identität. Als Referenz auf Winnicott (1973) nennt Fonagy (1995) diese Wie zuvor schon erwähnt, treten auch bei reaktiv bedingten Fähigkeit „playing with reality“, Spielen mit der Realität. oder neurotischen Krisenzuständen so starke Affektinten- sitäten auf, dass die Mentalisierungsfähigkeit stark beein- Wie entwickeln sich Mentalisierungsfähigkeit und Mentali- trächtigt ist. Fantasien bestimmen das Bild von der Realität, sierungsstörung? oder Realitäts- bzw. Selbstaspekte werden abgespalten. Wie Fonagy et al. (2002) den Stand empirischer Entwick- Jedoch sind die Reparationsmechanismen zur Überbrückung lungspsychologie zusammenfassen, üben Bindungs- und von Mentalisierungsbrüchen bei Neurotikern weit besser Umweltbeziehungen zu den primären Bezugspersonen erheb- entwickelt als bei schwer strukturell gestörten Menschen. liche Einflüsse auf das Gelingen der Strukturentwicklung aus. Die neurosenorientierte Behandlungstechnik kann auf diese Eltern können durch affektiv und inhaltlich eingestimmtes Fähigkeit vertrauen. In heftigen Krisensituationen können und intensitätsmodulierendes Spiegeln und durch Ermutigung aber Elemente der MBT helfen, die Mentalisierungsfähigkeit zur Exploration dem Kind dazu verhelfen, ein stabiles und schnell wiederherzustellen. kohärentes Selbst mit stabilen Repräsentanzen, ein stabiles Identitätsgefühl und innere Objektkonstanz zu entwickeln. n Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) Dann gelingt dem Heranwachsenden die Integration von Innen und Außen, Kognition und Emotion, Fantasie und Vernunft, Aufbauend auf den vorangegangenen theoretischen Be- Intention und Resultat einer Handlung. In der Sprache der merkungen, werden nun die Anwendungsaspekte der MBT Bindungstheorie ausgedrückt: Sicherheitserleben ermöglicht beschrieben, einer Methode, die speziell für die Behandlung die Deaktivierung des Angst- und die Aktivierung verschie- schwerster Persönlichkeitsstörungen, vor allem Borderline, dener Explorationssysteme, besonders derjenigen für Affekte entwickelt wurde und bei dieser Klientel sehr effektiv ist. und Beziehungen. Erst durch die Aktivierung dieser Explo- Die Evidenz hierfür wird in einem eigenen Abschnitt dar- rationssysteme können in späterem Lebensalter relativ fest gestellt. verwurzelte Erlebens- und Verhaltensmuster in Frage gestellt Die Besonderheiten dieser Zielgruppe von Patienten zei- werden und sich die Aufmerksamkeit auf Unbekanntes richten, gen sich in einer enorm schnellen Aktivierung des Angst- ohne darin wieder das Bekannte zu sehen. Das Fremde kann Subsystems im Bindungssystem, verbunden mit schneller integriert werden. Aushebelung der sowieso schon vermindert entwickelten Auf diese Weise entwickelt sich eine konstant hohe Resilienz Mentalisierungsfähigkeit. Die Folgen lassen sich am häufigen gegen auf die Dauer dysfunktionale Modi im Umgang mit Vorkommen der drei zuvor beschriebenen Störungen einer der Realität. Zu letzteren gehören der Äquivalenzmodus, integrierenden und reflektierenden Realitätswahrnehmung in dem Innenwelt und äußere Realität in ihrer Bedeutung ablesen, nämlich des Äquivalenz-, des Als-ob- und des tele- kognitiv nicht voneinander unterschieden und relativiert ologischen Modus. © Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München 59
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62) Jede Therapie für diese Klientel muss also darauf Antwor- wachsenden übergeordneten Lebens- und Beziehungsthemen. ten geben, wie sie die Gratwanderung von Aktivierung des Deshalb wird das Konflikterleben nicht forciert, sondern dem Bindungssystems durch die therapeutische Beziehung und Erforschen spontaner Kommunikations- und Mentalisierungs- Aufrechterhaltung bzw. Verbesserung der Mentalisierung brüche und deren „Reparatur“ ein sehr hoher Stellenwert erreichen will und kann. eingeräumt. Meist geschieht das ganz unspektakulär durch neugierige Fragen oder „mit leichter Hand“ ausgeführte Kon- MBT fokussiert explizit auf das Mentalisieren und die Ver- frontationen mit Realitätsaspekten. Das tiefe Unbewusste ist besserung der Mentalisierungsfähigkeit im Hier und Jetzt. Es nicht Gegenstand des gesprochenen Wortes, selbst wenn der geht darum, die Wechselwirkung zwischen beobachtbarer In- MBT-Therapeut innerlich einer psychoanalytischen Wahrneh- teraktion und dem mentalen Hintergrund eigenen und fremden mungshaltung folgt. Erlebens und Verhaltens kennen, interpretieren und einschät- zen zu lernen. Das geschieht unter dem Einfluss bindungsre- Die spontan auftretenden Brüche im Mentalisierungsprozess levanter (therapeutischer) Beziehungen. Es handelt sich also werden gezielt gesucht, exploriert und (nach-)bearbeitet. Ein um eine Feintitrierung der Aktivierung des Bindungssystems, besonders wichtiges Element der MBT ist die Suche des so dass die therapeutische Begegnung relevant ist, aber ohne Therapeuten nach eigenen Mentalisierungfehlern und die den Spielraum für das Wachsen der Mentalisierungsfähigkeit dazugehörige Gegenübertragungsanalyse. Das entspricht der zu beschneiden. psychodynamischen Tradition. Basisinterventionen zur Bearbeitung von Mentalisierungsbrü- Die Vorgehensweise in Einzel- und Gruppengesprächen ist chen werden in der MBT mit krisentauglichen Schlagworten psychodynamisch, also beziehungs- und interaktionsorientiert beschrieben: „Stop and stand!“, „Stop – listen – look!“, „Stop und relativ arm an thematischen und strukturellen Vorgaben. – rewind – explore!“ Die therapeutische Beziehung kann und soll nicht sämtliche Probleme des Patienten in der Übertragung widerspiegeln, aber Borderline-Patienten aus dem schweren bis schwersten sie ist der zentrale Ausgangspunkt für deren Bearbeitung. Spektrum können unter der vollen emotionalen Wucht eines Themas nicht mehr mentalisieren. Mentalisieren benötigt Es gibt einige entscheidende methodische Unterschiede zu eine optimal fein abgestimmte affektive Intensität, die weder bisherigen psychodynamischen Methoden, die in der Folge motional noch kognitiv überfordert, aber auch nicht durch den Gemeinsamkeiten gegenübergestellt werden: zu viel Schonung eine produktive Auseinandersetzung mit Entwicklungsproblemen verhindert. Um dies zu erreichen, Der Rahmen der Therapie erfüllt sowohl für Patienten wie auch muss der Therapeut keine Angst vor flexibler therapeutischer für Therapeuten die Funktion der sicheren Basis, auf der sich Rollenübernahme sowie strukturierender und regulierender der therapeutische Spiel- und Entwicklungsraum entfalten Eigenaktivität zeigen. Es geht um eine quasi elterlich regu- kann. Zum Sicherheit gebenden Rahmen gehören eine gute lierende und containende Aktivität für ein mentalisierungs- Aufklärung über die Vorgehensweise und Aufgaben aller an förderliches Klima von Sicherheit, Anregung, Irritation und der Therapie Beteiligten, ein gemeinsam gefundener Fokus Freiheit. und Konzepte für den Umgang mit Rahmenverletzungen, typischen Therapiegefährdungen, Krisen und Notfällen. Die MBT-Interventionstechnik geht vom Bekannten, Be- Im Unterschied zu anderen Borderline-Behandlungsmethoden wussten, Offensichtlichen aus, zum Beispiel einer sichtbaren wird aber wenig vertraglich geregelt, es zählt mehr die Inten- Interaktion, Mimik, Gestik oder einer bewussten Kognition. tion des Patienten. Auf diese Weise werden auch Patienten Dies ist der Ausgangspunkt, von dem aus sich langsam auch erreicht, die über lange Zeit noch keine festen Vereinbarungen unbewusstere Schichten der Psyche erschließen, immer im einhalten können. Wechselspiel mit der Schaffung oder Wiederherstellung einer sicheren zwischenmenschlichen Basis im therapeutischen Die MBT geht davon aus, dass in einer Art dialektischem Kontakt. Prozess immer wieder genug Sicherheitserleben zwischen dem Patienten und dem Therapeuten und in der Gruppe mit den Patienten, die noch nicht oder vorübergehend nicht menta- anderen Gruppenmitgliedern hergestellt werden muss, damit lisieren können, erleben die Postulierung von „objektiven“ sich therapeutische Bearbeitungsräume für Unbekanntes, Wahrheiten über Mentales (etwas zugespitzt z. B.: „Sie sind Irritierendes oder Beängstigendes öffnen können. So formu- neidisch!; eigentlich meinen Sie damit ...; tief in Ihrem Inne- liert trifft dies auf alle psychodynamischen und viele anderen ren/Unbewussten wollen Sie in Wahrheit ...; Ihre unbewussten Therapiemethoden zu. Aggressionen führen zur Zerstörung dieser Therapie!“ und Die MBT trägt jedoch dem Umstand Rechnung, dass das selbst noch „Könnte es sein, dass Sie ...“) als bedrängende Sicherheitserleben bei sehr schweren Borderline-Störungen Unterstellung, Theoretisieren oder Nicht-ernst-Nehmen der enorm fragil ist und schon durch die Etablierung einer (gu- eigenen Sichtweise, kurzum, als eine Mentalisierungsbremse. ten) therapeutischen Beziehung härtesten Belastungstests Die anstehenden Entwicklungsschritte sind intersubjektives unterworfen wird. Ziel der MBT ist nicht die Reinszenierung Verständnis und Anerkennung verschiedener Sichtweisen und früherer Traumata in all ihrer Heftigkeit. Stattdessen geht es Motive. Deshalb verzichten MBT-Therapeuten auf Streit um um die Verlebendigung der aus dem jeweiligen Schicksal er- die „richtige“ Sichtweise, die „wahren“ Motive oder die „ei- © 60 Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62) gentlichen“ Bedeutungen. Denn sie wollen Patienten ja gerade sollten Übertragungsmuster in Frage gestellt werden. Dadurch dazu bringen, aus dieser nicht mentalisierenden Haltung, die behält der Patient zunächst seine Entlastungsmöglichkeit den Äquivalenzmodus kennzeichnet, herauszuwachsen. durch Externalisierung und kann später leichter anerkennen, dass seine Sichtweise nur eine unter vielen möglichen und an Neugier und Fragen des Therapeuten ermuntern zum perma- bestimmte individuelle Bedingungen gebunden ist (Mentali- nenten Weiterdenken und Weiterforschen über subjektives sierung der Übertragung). Erleben, verschiedene Sichtweisen und Identität. Bedeutung wird gemeinsam konstruiert. Die therapeutische Grundhaltung Eine der größten Stärken der MBT ist die systematische Fein- des Nichtwissens öffnet Räume für Patient, Gruppe und The- abstimmung des Interventionsstils auf die im Kontakt schnell rapeut zum gemeinsamen Erforschen von Realität. wechselnde Mentalisierungsfähigkeit. Patienten im Äquiva- lenzmodus benötigen Beruhigung und Deaktivierung des Bei stark eingeschränkter Mentalisierungsfähigkeit sind die Bindungssystems. Zu dieser Gruppe gehören auch Patienten wirksamen Interventionen meist kurz und einfach verständ- mit massiven dissoziativen Abwehrvorgängen, die sich im lich. Die MBT bevorzugt alltagssprachliche Dialoge. Dem Übergang zum Als-ob-Modus befinden, die innerliche Dyna- fortgesetzten Austausch ohne lange Schweigepausen kommt mik entspricht aber noch der Äquivalenz. Im Als-ob-Modus ist ein hoher Wert zu. Ein längeres Abgleiten in Fantasien und kognitive Exploration möglich, zur Vermeidung von Stillstand Erinnerungen können Patienten mit eingeschränkter Menta- geht es aber auch um Zugang zu Affekten und Fantasie. Ein lisierungsfähigkeit nicht mit einer progressiven Erfahrung im Zustand von konkretistischer Außenorientierung, bei dem Hier und Jetzt verbinden. allein das unmittelbar erfahrbare Verhalten oder Gegenständ- liches zählt und die mentale Welt ausgeblendet wird, sollte Wenn dem Patienten das Erleben für ein eigenständiges Ge- ebenso verlassen werden wie eine andauernde realitätsferne genüber verloren geht, dann stellt sich der MBT-Therapeut Verinnerlichung oder ein unproduktives Psychologisieren. als präsente Person zur Verfügung, er teilt z. B. selektiv seine Im reflektierenden Modus geht es um die Integration von Gegenübertragung mit („Wenn Sie mich weiter so anschreien, Affekt und Kognition, um Metakommunikation, Übertragung dann kann ich nicht mehr gut nachdenken!“). Das ähnelt der und unbewusste Motive. Jeder Schritt dieser stufenweisen Vorgehensweise der psychoanalytisch-interaktionellen Me- Interventionstechnik baut auf dem vorhergehenden auf. Bei thode (Heigl-Evers & Heigl, 1979; Heigl-Evers & Ott, 1994; Schwierigkeiten empfiehlt sich der Rückgriff auf den zuletzt Streeck, 2007). Die Resonanz auf den Patienten sollte kontin- als sicher erlebten Zugang (Bolm, 2007, 2009). gent, also auf den inneren Zustand des Patienten eingestellt sein. Und sie sollte im Sinne der in der Einleitung referierten n Empirie entwicklungspsychologischen Erkenntnisse markiert gegeben werden, also mit einer leichten, aber für den Patienten noch Die mentalisierungsbasierte Therapie ist eine der erfolg- akzeptablen Verfremdung, wie sie durch das Containing des reichsten Behandlungen für schwere strukturelle, insbeson- Therapeuten geschieht. dere Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Die manualisierte Methode (Bateman & Fonagy, 2004/2008a, 2006) verhilft Wie in jeder psychodynamischen Behandlung hat das Durch- Borderline-Patienten mit schwersten strukturellen Störungen arbeiten der Übertragung in der MBT einen besonderen Stel- und Komorbidität im tagesklinischen und ambulanten Set- lenwert. Doch Patienten mit stark eingeschränkter Mentali- ting zu deutlichen und nachhaltigen Verbesserungen auf der sierungsfähigkeit können klassische Übertragungsdeutungen, Symptomachse bei der Lebensqualität und bei der Integration in denen unbewusste Motive mit dem bewussten Erleben und in ihren Alltag – gegenüber einer sozialpsychiatrischen Ver- Verhalten verknüpft werden, häufig nicht gut für sich nutzen. gleichsbehandlung (Bateman & Fonagy, 1999, 2001, 2008, Die MBT bereitet daher den Patienten explizit auf die Arbeit 2009). Die aufwendige Behandlung lohnt sich; die MBT an der Übertragung vor: Wenn in der Eingangsanamnese führt im Vergleich mit der Kontrollgruppe zu einer deut- bestimmte dominante Übertragungsmuster deutlich werden, lichen Senkung der Behandlungskosten (Bateman & Fonagy, wird in der MBT explizit auf das wahrscheinliche Wiederauf- 2003). Die randomisiert-kontrolliert gezeigten beachtlichen treten dieser Muster gegenüber Mitpatienten, Gruppe oder in Behandlungserfolge führten zur Empfehlung der Cochrane der Beziehung zum Therapeuten hingewiesen. Tritt dies ein, Collaboration (Binks et al., 2006). Auch bei drei Monaten dann werden diese „Übertragungsmarker“ zum Anlass für eine vollstationärer Therapie zeigten sich unter kontrollierten ausführliche Bearbeitung. Untersuchungsbedingungen gute Erfolge (Bolm, Schöps, von Randow & Herzog, 2007). Die Klärung und Benennung des vorrangigen Affekts und der Auslöser im Hier und Jetzt sind in der MBT die ersten für den n Perspektiven des Mentalisierungsfokus Patienten bewusstseinsnahen Maßnahmen, um den Austausch über das hochaffektive und therapeutisch zentrale Thema von Die MBT wird zu therapeutischen Zwecken bisher hauptsäch- Übertragung in Gang zu bringen. Projektive Zuschreibungen lich bei Borderline-Patienten angewendet. Die im Hinblick werden nicht zurückgewiesen, sondern validiert als momen- auf Mentalisierungsaspekte interessanten Krankheitsbilder tane Realität des Patienten. Erst wenn im therapeutischen und entsprechenden Behandlungsindikationen umfassen aber Kontakt genügend mentalisierende Kapazität erarbeitet ist, ein viel weiteres Feld (Bolm, 2009), so zum Beispiel Krisen- © Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München 61
T. Bolm: Mentalisierungsbasierte Therapie MBT (S. 58 - S. 62) zustände bei Neurosen und Belastungsstörungen sowie die Bolm, T. (2009). Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) für Bor- Behandlung von Angst-, Zwangs-, affektiven und psychoso- derline-Persönlichkeitsstörung und chronifizierte Traumafolgen. matischen Beschwerden. Die große Aufmerksamkeit, die die Köln: Deutscher Ärzteverlag. Theory of Mind auf dem Gebiet der Psychosenbehandlung Bolm, T., Schöps, A., von Randow, C. & Herzog T. (2007). Mentaliza- bekommt, kann ebenfalls in mentalisierungsbasierte Thera- tion-Based Treatment hilft bei Borderline-Persönlichkeitsstörung piemethoden münden. Auf dem Feld der Kinder- und Jugend- – Erste vollstationäre empirische Ergebnisse. Abstract, DKPM- psychiatrie gibt es bereits etliche Aktivitäten, über die Sharp Jahrestagung, Nürnberg, 21.-24.03.2007. (2006) eine Übersicht gibt. Auch forensische Behandler haben Fonagy, P. (1991). Thinking about thinking: some clinical and the- sich früh für die impulskontroll- und empathieverbessernde oretical considerations in the treatmant of a borderline patient. Wirkung der MBT interessiert. International Journal of Psychoanalysis, 72, 639-656. Wie an anderer Stelle dargelegt (Bolm, 2009), kann der Fonagy, P. (1995). Playing with reality: the development of psychic mentalisierungsbasierte Zugang zu Gruppenprozessen auch reality and its malfunction in borderline personalities. Internati- für Team- und Organisationsprozesse genutzt werden. In Or- onal Journal of Psychoanalysis, 76, 39-44. ganisationen und Politik verändert Mentalisierungsförderung Fonagy, P., Jurist, E., Gergely, G. & Target, M. (2004). Affektregu- die Kultur des Umgangs von Menschen miteinander. Das gilt lierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stutt- besonders für komplexe oder dramatische Situationen, die mit gart: Klett-Cotta. (2002). (Original veröffentlicht 2002: Affect affektiver Überflutung oder Funktionieren unter Abspaltung Regulation, Mentalization, and the Development of the Self. von Denken und Fühlen einhergehen und hohe Integrations- New York: Other Press). leistungen erfordern. Heigl-Evers, A. & Heigl, F. (1979). Interaktionelle Gruppenpsy- chotherapie. Eine gruppenpsychotherapeutische Methode nach dem Göttinger Modell. In A. Heigl-Evers & U. Streeck (Hrsg.), n Literatur Die Psychologie des 20. Jahrhunderts (Bd. VIII; S. 850-858). Bateman, A. & Fonagy, P. (1999). Effectiveness of partial hospita- Zürich: Kindler. lization in the treatment of borderline personality disorder: A Heigl-Evers, A. & Ott, J. (Hrsg.). (1994). Die psychoanalytisch- randomized controlled trial. American Journal of Psychiatry, interaktionelle Methode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 156, 1563-1569. Sharp, C. (2006). Mentalizing problems in childhood disorders. In Bateman, A. & Fonagy, P. (2001). 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Oxford, Winnicott, D.W. (1973). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett- New York: Oxford University Press. Cotta. (Original veröffentlicht 1971: Playing and Reality. Lon- Bateman, A. & Fonagy, P. (2008). 8-year follow-up of patients treated don: Routledge). for borderline personality disorder: mentalization-based treat- ment versus treatment as usual. American Journal of Psychiatry, n Korrespondenzadresse 165 (5), 631-638. Bateman, A. & Fonagy, P. (2008a). Psychotherapie der Borderline- Dr. med. Thomas Bolm Persönlichkeitsstörung. Ein mentalisierungsgestütztes Behand- Brinkveld / GGZ Altrecht | Oude Arnhemse Weg 260 lungskonzept. Gießen: Psychosozial-Verlag. (Original veröffent- NL-3705 BK Zeist licht 2004: Psychotherapy for Borderline Personality Disorder. www.altrecht.nl/brinkveld | T.Bolm@Altrecht.nl Mentalization-Based Treatment. Oxford, New York: Oxford University Press. n Autor Bateman, A. & Fonagy, P. (2009). Randomized Controlled Trial of outpatient Mentalization – Based Treatment versus Structured Dr. med. Thomas Bolm. Chefarzt des Behandlungszentrums Clinical Management for Boderline Personality Disorder. Am J Brinkveld, Zeist/Utrecht (Niederlande). Facharzt für Psy- Psychiatry 166:1355-1364 chosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Binks, C.A., Fenton, M., McCarthy, L., Lee, T., Adams, C.E. & Gruppentherapie. Mitglied und Gruppenlehranalytiker der Duggan, C. (2006). Psychological therapies for people with Sektion Analytische Gruppenpsychotherapie im DAGG, borderline personality disorder. The Cochrane Database of Sy- Dozent der Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der stematic Reviews, Issue 1. Psychoanalyse in Gruppen (Göttingen/Tiefenbrunn). Vorsitz Bolm, T. (2007). Mentalization-based Treatment (MBT). Eine wirk- der Arbeitsgruppe Persönlichkeitsstörungen beim DKPM. same Methode bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen und Seit 2004 Ersteinführung von MBT im deutschsprachigen chronifizierten Traumafolgeerkrankungen. Psychotherapie im Raum, zahlreiche Vorträge, Kurse und Veröffentlichungen zu Dialog (PiD), 4, 336-341. Mentalisierungsbasierter Therapie. © 62 Psychotherapie 15. Jahrg. 2010, Bd. 15, Heft 1 CIP-Medien, München
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