Musikstunde Mondsucht In wechselnder Beleuchtung (4) - Von Lydia Jeschke - SWR

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Musikstunde
Mondsucht
In wechselnder Beleuchtung (4)

Von Lydia Jeschke

Sendung:    18. Juli 2019
Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: 2019
SWR2 Musikstunde mit Lydia Jeschke
15. Juli – 19. Juli 2019
Mondsucht
In wechselnder Beleuchtung

Am Mikrofon ist Lydia Jeschke, die Sie zum vierten Teil dieser
Musikstunden-Reihe begrüßt: „Mondsucht – in wechselnder
Beleuchtung“ ist das Thema in dieser Woche.

Guter Mond?, lautet die Frage der heutigen Sendung. Es geht um den
Mond als Spiegel, und das lässt sich psychologisch verstehen,
weltanschaulich oder auch politisch.

Comedian Harmonists
Guter Mond, du gehst so stille
Comedian Harmonists
M0384944 011 Comedian Harmonists, 2‘59

Die Comedian Harmonists mit dem alten Volkslied „Guter Mond, du
gehst so stille“ – in einer dreistrophigen Misch-Version.

Denn bei ihrer Aufnahme in den frühen 1930er Jahren gab es bereits
zwei etablierte Fassungen des populären Liedes. Vermutlich aus dem
späten 18. Jahrhundert datiert eine erste Version mit vielen Strophen:
Der Singende klagt dem Mond sein Liebesleid und liefert nach und nach
auch die handfeste Begründung dafür: Die Angebetete ist schon
verheiratet. Nachdem verschiedene Volksliedsammlungen das Lied
entsprechend oder leicht abgewandelt abgedruckt hatten, nahm sich
Mitte des 19. Jahrhunderts ein poetisch ambitionierter Schulmeister der
allzu unmoralischen Angelegenheit an. Karl Enslin dichtete drei neue
Strophen, die nun ohne den Liebeskonflikt auskommen, stattdessen
christlich-erbaulich anmuten.

Dem folgen, wie die meisten Publikationen seither, auch die Comedian
Harmonists, allerdings nicht so ganz. Der Schmerz des unglücklich
Liebenden ist noch da – könnte aber, was zeitgeistig und politisch nicht
unlogisch wäre, auch ein allgemeiner Weltschmerz sein. Wir erfahren es
nicht, vielleicht, weil wir nicht so verschwiegen sind wie der Mond.
Was wir erfahren, ist, dass da jemand im Blick zum Mond seine eigene
Situation erkennt:
Der Mond ist ruhig und folgt gelassen seiner Bahn, der Mensch nicht.
Der Mond – und darum soll es in der heutigen Musikstunde gehen -
reflektiert eben nicht nur die Strahlen der Sonne, sondern oftmals auch
unsere Gefühle und Gedanken.

Zumindest, wenn die nicht zu ketzerisch sind – meint Kurt Tucholsky. In
seiner Version des Liedes aus dem Jahr 1920, also in der unruhigen Zeit
nach dem Ersten Weltkrieg, ist der gemütliche Mond klar auf der Seite
der Mächtigen und Selbstzufriedenen.

Gelassen schaut er allen politischen Ungerechtigkeiten und
Fehlleitungen zu, ohne einzugreifen. Sollte allerdings jemand kommen,
der etwas Ungewöhnliches forderte, zum Beispiel: das Militär
abzuschaffen – dann bliebe der konservative Mond vermutlich schockiert
stehen.
Hanns Eisler hat die Musik dazu (um)geschrieben.

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Kurt Tucholsky / Hanns Eisler
An den deutschen Mond
Ernst Busch und Orchester unter Walter Goehr
M0299842 016
(Berlin, Funkhaus Nalapastr. 1959), 3‘27

Ernst Busch sang „An den deutschen Mond“ von Kurt Tucholsky und
Hanns Eisler. Die Aufnahme mit einem nicht näher bezeichneten
Orchester unter der Leitung von Walter Goehr entstand 1959 im Berliner
Funkhaus der damaligen DDR.

Für Kapitalismuskritik oder antimilitaristische Friedensbemühungen
scheint der deutsche Mond hier nicht zu gebrauchen. „Gut“ ist er nur
noch im ironisch verzerrten Zitat.

Ganz anders die Reflektionen einige Jahre später und einige tausend
Kilometer weiter westlich: Die amerikanische Hippie-Bewegung macht
auch den Mond zu einem der ihren. Im Musical „Hair“ tanzen und singen
die jungen Freiheitsliebenden gegen Zwang und Vorschriften und explizit
gegen das Militär und den aktuellen Vietnamkrieg. Mit dem Mond soll
das neue Zeitalter des Wassermanns und damit der Liebe und Freiheit
beginnen – er läutet es ein, sobald er im Siebten Hause steht. Ein guter
Mond, ein mutiger Mond.

In der bebildert-musikalischen Version von The Fifth Dimension aus dem
Mondlandungsjahr 1969 schweben die Musiker beim Singen auf einer
Art umgedrehter weiß-roter Pommes-Schale durchs Weltall.

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Galt MacDermot
„Aquarius“ aus Hair (1967)
The Fifth Dimension
M0417153 013 2’20

The Fifth Dimension mit „Aquarius“ von Galt MacDermot aus dem
Musical „Hair“ – in einer esoterisch-politischen Erwartungshaltung an
den Mond.

Mond und Utopie gehören hier zusammen.
Aber springen wir nochmals gut zehn Jahre weiter und erneut auf einen
anderen Kontinent. In Háruki Murákamis dreibändigem Erfolgsroman
„1Q84“ ist Tokio im Jahr 1984 aus der Bahn geraten. Den akustischen
und ersten Hinweis darauf bietet gleich zu Beginn die Sinfonietta von
Leos Janácek.

„Aus dem Radio eines Taxis ertönte das Klassikprogramm eines UKW-
Senders. Die Sinfonietta von Janacek. Nicht eben die passendste
musikalische Untermalung, um in einem Taxi im Stau festzustecken.“ So
beginnt der erste Teil des Romans. Janaceks Sinfonietta und die
Tatsache, dass die weibliche Hauptfigur sie zu ihrem eigenen Erstaunen
im Taxi sofort erkennt und einordnen kann, sind der erste und immer
wiederkehrende Hinweis darauf, dass mit der Welt etwas nicht mehr
ganz in Ordnung ist. Erst 350 Seiten später erscheint zum akustischen
auch ein optisches Zeichen dafür, dass die Welt so gar nicht mehr ist,
was sie war – und wohl auf eine Katastrophe zusteuert.

„Es dauerte einen Augenblick“, heißt es da bei einem nächtlichen
Spaziergang der Hauptfigur, „Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar

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wurde, was es war. Und auch, nachdem sie es entdeckt hatte, konnte sie
es kaum glauben. Sie traute ihren Augen nicht. Am Himmel standen zwei
Monde. Ein großer und ein kleiner. Nebeneinander. Der große war der
ihr vertraute gute alte Mond. Er war fast voll und gelb. Aber neben ihm
befand sich ein weiterer Mond, der ihr ganz und gar nicht vertraut war. Er
war ein wenig asymmetrisch und grünlich, wie von zartem Moos
überwachsen. Das war es, was sie sah. (…) Das Kinn in die Hände
geschmiegt, starrte Anomame die beiden Monde an. Irgendetwas
musste im Gange sein. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Entweder mit
der Welt stimmt etwas nicht oder mit mir, dachte, sie. Eins von beidem.
Liegt es am Topf oder am Deckel?“ (S. 348f.)

Leos Janacek
Sinfonietta für Orchester op. 60
Bamberger Symphoniker
Jonathan Nott,
1. Satz 2’13
M0399504 001

Jonathan Nott dirigierte die Bamberger Symphoniker (bzw. 11
Trompeten, 2 Tuben und Schlagzeuger) im ersten Satz der Sinfonietta
von Leos Janacek, „Militär-Sinfonietta“ hieß sie zunächst.

Haruki Murakami lässt die Zeichen für seine Dystopie erst durch die
Zeilen klingen, dann erscheinen sie optisch am Himmel: als
Doppelmond. Der ordnende Himmelskörper selbst ist also in
Unordnungskonstellation, er ist nicht mehr allein. Und es ist nicht zu viel
verraten von der verwicklelten Geschichte: solange der kleine grüne

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Doppelmond zu sehen ist, so lange ist das Unheil der Hauptfigur – oder
vielleicht der ganzen Welt - nicht abgewendet.

Murakami knüpft dabei an das intensive und rituelle Verhältnis zum
Mond an, das die Japaner in Kunst und Literatur dokumentieren.
Angeblich gibt es im Japanischen mehr Gedichte über den Mond als
über sonst irgendetwas Anderes. Nichtmal die Kirschblüten können da
mithalten.

In dem Volkslied gewordenen Stück Kojo no tsuki (der Mond über der
Ruine) von Rentaro Taki sinniert der Beobachter über Vergangenheit
und Gegenwart. Und auch hier geht es um Konstanz und Veränderung.
Der Mond bleibt immer gleich, die Welt verändert sich. Aber, fragt sich
der kritisch-melancholische Betrachter: Ist das Mondlicht wirklich noch
dasselbe wie früher? Hängt der Mond vielleicht da oben, um diese
Veränderungen zu reflektieren?

Es singt der Counter-Tenor Yoshikazu Mera. (Joschikásu Méra)

Rentaro Taki
Kojo no tsuki (der Mond über der Ruine) von Rentaro Taki mit Yoshikazu
Mera, Gesang und Natsuko Ushiyama Klavier, CD „Mother’s Songs“
Yoshikazu Mera – Japanese Popular Songs, tr. 21, 6‘18

Der gute alte Mond, er ist noch da, auch in Japan. Aber ganz eindeutig
ist er nicht. Manches bleibt sein Geheimnis. Auch Matthias Claudius hat
das gewusst.

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Matthias Claudius
Der Mond ist aufgegangen
Philharmonia Chor Stuttgart
Melodie von Johann Abraham Peter Schulz (1790)
Satz von Reger, Dir. Johannes Knecht mit Str. 1,3 und 7, 2‘33
M0437053 015

Der Philharmonia Chor Stuttgart unter der Leitung von Johannes Knecht
mit den Strophen 1,3 und 7 aus Matthias Claudius, „Abendlied“. Die
Melodie schrieb 1790 Johann Abraham Peter Schulz, den
mehrstimmigen Satz 110 Jahre später Max Reger.

„Sehr Ihr den Mond dort stehen, er ist nur halb zu sehen und ist doch
rund und schön…“ Einige Kultur- und Naturwissenschaftler haben
versucht, herauszufinden, was für einen Mond Claudius da im späten 18.
Jahrhundert gesehen und beschrieben hat – in welcher Phase war er,
um welche Tages- bzw. Nachtzeit genau handelt es sich?

Ist zufällig gerade Halbmond mit der Aussicht auf ein bald wieder volles
Erscheinungsbild? Über den Mond wusste das 18. Jahrhundert schon
recht viel, Mondkarten wurden veröffentlicht, astronomische
Berechnungen waren bekannt. Und am Beeindruckendsten ist als
hellstes Phänomen sicherlich damals wie heute der Vollmond.
Einleuchtend scheint daher, dass Claudius hier nicht von der halb
sichtbaren Scheibe spricht, also vom Halbmond, sondern vielmehr von
der halb sichtbaren Kugel, deren von der Erde abgewandte Seite wir nie
zu Gesicht bekommen, obwohl sie da ist.

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Neuere Forschungen benennen es noch genauer: Durch die elliptische
Umlaufbahn des Mondes um die Erde und seine leichte Neigung
gegenüber der ekliptischen Bahn sehen wir etwas mehr als die halbe
Kugel am Himmel. Aber doch nie hinter sie.

Entscheidend für Claudius ist aber wohl die daraus folgenden
humanpsychologische Erkenntnis: wir meinen, die Dinge ganz zu
erfassen, und sehen zugleich doch womöglich Wesentliches nicht. Der
Mond und unser Blick hinauf zu ihm spiegeln unser Dasein, auch das
Unzureichende daran. Oder ganz konkret: Seine verborgenen
Schattenseiten.

Die dunkle Seite des Mondes – im Januar 2019 gelang es einer
chinesischen Raumsonde erstmals, einige Bilder von ihr zur Erde zu
senden. Sie steht metaphorisch aber nach wie vor für das Unentdeckte;
des Himmelskörpers ebenso wie der menschlichen Seele. Pink Floyd
setzten Anfang der 1970er Jahre mit dem Album „The dark side of the
moon“ ein Soziopsychogramm in Musik. Das einstige Band-Mitglied Syd
Barrett und seine tragische Geschichte waren der Ausgangspunkt, die
Ausgangsfrage: Was kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben? Ist
es der Kommerz, die politische Lage, die verlorene Utopie nach ´68 und
der Hippie-Welt?

Mark Twain soll gesagt haben, dass jeder ein Mond ist, mit einer dunklen
Seite, die er niemandem zeigt („Every one is a moon, and has a dark
side which he never shows to anybody.“) In „Brain damage“ aus dem
Album „Dark side of the moon“ geht es um den „lunatic“, den
Wahnsinnigen, der immer näher rückt, bis klar wird: er sich längst im
eigenen Kopf eingerichtet.

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Pink Floyd
Brain damage aus „The dark side of the moon“
Pink Floyd
M0302669 001 3’46

„And if the band you’re in start playing different tunes – I see you on the
dark side of the moon.“. Pink Floyds Blick in den Kopf eines
wahnsinnigen Musikers.

Unter den Malern hat sich vielleicht Caspar David Friedrich am
intensivsten mit dem Mond beschäftigt. Auf zahlreichen seiner Gemälde
taucht er auf – allerdings fast immer in Verbindung mit einem, der ihn
anschaut. Was zeigt mir der Mond, wenn ich zu ihm hinaufblicke? Was
erfahre ich über mich selbst? „Der Mond und ich“ heißt der dritte Satz im
zweiten Streichquartett von Pavel Haas. 1925 ist es entstanden und
insgesamt von Landschaftseindrücken aus Haas‘ mährischer Heimat
inspiriert. In diesem dritten Satz aber spiegelt die Naturerscheinung den
Betrachter zurück. Die Viola wendet sich an den Mond – und der Mond
antwortet in derselben Sprache. Ein Monolog in silbrigem Licht.

Pavel Haas
Streichquartett, Nr. 2, op. 7 „Von den Affenbergen“
3. Satz: „Der Mond und ich“
Petersen Quartett, 8‘00
M0471038 007

„Der Mond und ich“. Das Petersen Quartett spielte einen Ausschnitt aus
dem Streichquartett Nr. 2 op. 7 von Pavel Haas.

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Guter Mond? Der Mond ist offenbar nur so gut wie der, der ihn anschaut.
Das kann zu schmerzlicher Selbsterkenntnis führen. Bei Franz Schubert
ist sie Teil einer unheimlichen Szenerie, auch die dem Wahn nicht ganz
fern.

Franz Schubert
Der Doppelgänger
Christoph Prégadien, Andreas Staier (Hammerflügel)
M0247940 028 4‘00

Franz Schubert, „Der Doppelgänger“, hier gesungen von Christoph
Prégardien, am Hammerflügel begleitet von Andreas Staier.

Bisweilen nimmt der Mond die irdischen Dinge aber auch nicht so ernst.
Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ erlebt das im Abschnitt „Parodie“.

Arnold Schönberg
Pierrot lunaire, Parodie (Nr. 17)
M0410406 017 1’20

Kichert der Mond über uns? Was spiegelt er mir?
Um das herauszufinden, hilft vielleicht ein Selbstversuch. Rezitieren,
singen oder spielen Sie ein Lied für den Mond, wenn er einmal gut zu
sehen ist; vielleicht gibt es sogar Musiker in der Nähe, die mitmachen.

So wie der Hornist Horst Ziegler, der beim letzten Vollmond bereit war zu
einer spontanen gemeinsamen Baden-Badener Aufnahme von
Mondliedern.

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Hier: „Wanderers Nachtlied“ von Fanny Hensel.

Fanny Hensel
Wanderers Nachtlied
Horst Ziegler, Horn, LJ, Klavier
DIGAS SWR BW 2’30

So ein kleiner Selbstversuch, „an den Mond“ musiziert, kann auch dazu
führen, dass sich die Dinge etwas relativieren.

Vielleicht ist die Vermutung, dass der Mond über das menschliche
Streben leise kichert, die beste Vorlage für eine selbstironische Sicht.
Die scheint immer wieder mal durch, wenn in Bertold Brechts und Kurt
Weills Singspiel „Mahagonny“ die gefallenen Mädchen (oder, wie in
dieser Version: Jungs) den Mond von Alabama ansingen.

Ein Abschiedslied vom geordneten Leben – nur der Mond schaut zu.

Bert Brecht / Kurt Weill
Moon of Alabama
Theo Bleckmann
Fumio Yasuda
M0544201 012, 4‘00

Der Alabama Song in der klangmalerisch mondleuchtenden Version von
Theo Bleckmann und Fumio Yasuda.

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„Mondsucht – in wechselnder Beleuchtung“ ist das Thema der
Musikstunden diese Woche, heute ging es um den Mond als Spiegel.
Morgen folgt der letzte Teil, dann lautet die unbedingt noch fällige Mond-
Frage: „Waren wir dort – und wenn ja: wie viele?“ Bis dahin
verabschiedet sich Lydia Jeschke.

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