Vorlesung "Staatsrecht I" Nr. 6: Der Bundespräsident - Prof. Dr. Dagmar Richter INP PAN Warszawa - Universität ...
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Prof. Dr. Dagmar Richter INP PAN Warszawa Institut für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften d.richter@inp.pan.pl Universität des Saarlandes, WS 2014/15 Vorlesung „Staatsrecht I“ Nr. 6: Der Bundespräsident
Reichspräsident → vom Volk gewählt (Art. 41 WRV 1919)! → Oberbefehl über die Reichswehr (Art. 47 WRV); → Befugnis, Reichsgesetze der Volksabstimmung zu unterwerfen (Art. 73 WRV); → Befugnis, Reichstag aufzulösen (Art. 25 WRV); → Notverordnungsrecht (Art. 48 WRV). WRV installierte Präsidialsystem: Regierung ist nicht nur vom Parlament, sondern auch vom unmittelbar gewählten Präsidenten abhängig (↔ GG: parlamentarisches Regierungssystem: BReg ist nur vom BT abhängig). 2
Art. 54 GG (i.V.m. BPräsWahlG): Wahl durch Bundesversammlung (= oberstes Bundesorgan, i.d.R. alle 5 Jahre präsent); Einberufung durch BT-Präsident (Art. 54 IV 2 GG). Zusammensetzung: eine Hälfte aus (allen) BT-Abgeordneten, andere Hälfte aus den Ländern (Art. 54 III, VII GG). Länderhälfte: Wahl durch die Landtage aufgrund Verhältniswahl (Art. 54 III GG): zumeist LT-Abgeordnete, aber auch Repräsentanten der Zivilgesell- schaft. Größe der Kontingente der einzelnen Bundesländer hängt von Bevölke- rungszahl ab (§ 2 BPräsWahlG). Wahlgänge Nrn. 1 und 2: absolute Mehrheit erforderlich; Wahlgang Nr. 3: relative Mehrheit reicht (Art. 54 VI GG). Annahme der Wahl; Vereidigung vor BT und BR (Art. 56 GG). Keine direkte Wahl des BPräs durch das Volk! (Anders z.B. WRV, heutiges Österreich). 3
15. Bundesversammlung 2012 (Wahl von Joachim Gauck): → insgesamt 1.240 Mitglieder: 620 Bundestagsabgeordnete und 620 von den Landesparlamenten bestimmte Mitglieder. Die Bundesversammlung tritt im Plenarsaal des Bundestages zusammen (18.3.2012). © DBT/photothek 4
Wählbarkeits- Deutsche Staatsangehörigkeit, Wahlrecht zum BT, Voraussetzungen: 40. Lebensjahr vollendet (Art. 54 I 2 GG). Amtsdauer: 5 Jahre; einmalige Wiederwahl möglich (Art. 54 II GG). Protokoll. Rang: „Erster Mann“ im Staat. Vertreter des BPräs: BR- Präsident. Inkompatibilität: keine Parlamentsangehörigkeit, „Berufs- und Gewerbe- verbot“, keine Unternehmensleitung, kein Aufsichts- ratsmandat (Art. 55 GG). Siehe BVerfGE 89, 359 ff. – Herzog. Immunität: Art. 60 IV GG → Schutz vor Strafverfolgung. Präsidentenanklage: Einzige Möglichkeit vorzeitiger Absetzung! Art. 61 GG, §§ 49 ff. BVerfGG erfordern vorsätzliche Rechts- verletzung in amtlicher Funktion. 5
Allgemein: Repräsentationsfunktion nach innen und außen; Verkörperung der Einheit des Landes: Integrationsfunktion; Reservefunktion. Im Speziellen: „Staatsnotar“: Ausfertigung und Verkündung von Bundesgesetzen (Art. 82 GG) → Prüfungsrecht des BPräs? Ernennung und Entlassung von Amtsträgern (Art. 63 II 2, 64 I, 60 I GG) → Prüfungsrecht des BPräs? Auflösung des Bundestages (Art. 63 IV, 68 I GG) → Eigene Ermessensentscheidung. Wahlvorschlag BKanzler (Art. 63 I GG). Begnadigungsrecht (Art. 60 II, 96 V GG) → Justiziabilität? Völkerrechtliche Vertretung und Gesandtschaftsangelegenheiten (Art. 59 I GG); Ordensrecht des Bundes. Genehmigung der GO-BReg (Art. 65 S. 4 GG); Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 I GG); Erklärung des Verteidigungsfalles etc. (Art. 115a, h, l GG). 6
Reservefunktion: → BPräs tritt bei Funktionsschwächen im Zusammenwirken der anderen Staatsorgane bzw. in der Staatsleitung aus seiner primär repräsentativen Rolle heraus und übernimmt Reservefunktion. Im Einzelnen: Entscheidung, ob Minderheitskanzler oder BT-Auflösung (Art. 63 IV GG); Entscheidung, ob BT-Auflösung nach gescheiterter Vertrauensfrage (Art. 68 GG); Entscheidung über Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 I GG). Besonderheit: BPräs trifft hier eine eigene inhaltliche Entscheidung. 7
Art. 58 GG: „Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister. Dies gilt nicht für die Ernennung und Entlas- sung des Bundeskanzlers, die Auflösung des Bundestages gemäß Artikel 63 und das Ersuchen gemäß Artikel 69 Abs. 3.“ Grund: BT kann BPräs nicht wie BK zur Verantwortung ziehen. Mit Gegen- zeichnung übernimmt BK politische Verantwortung gegenüber Parlament. 8
Art. 58 GG: „Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister. Das gilt nicht für ...“ Begriffe: „Anordnungen“: Exekutivakte des BPräs mit Außenwirkung; „Verfügungen“: Akte mit Rechtswirkung gegenüber anderen Verfassungsorganen. Keine Anordnungen bzw. Verfügungen: Akte, die nicht auf Rechtsfolge gerichtet, z.B. Reden und Auslandsreisen (str.!); Unterlassungen, z.B. Weigerung des BPräs, Vertrag zu ratifizieren. „Gegenzeichnung“ (i.d.R. „Vorzeichnung“): Regierung bekundet, dass präsidiale Akte ihrem Willen entsprechen und sie die politische (parlamentarische) Verantwortung übernimmt. 9
Gegenzeichnungsfreie Handlungen: Bezeichnete Handlungen des Art. 58 S. 2 GG (Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers, Auflösung des BT gem. Art. 63 GG und Ersuchen um Geschäftsführung gem. Art. 69 III GG). Grund: Gegenzeichnungsfähige Regierung ist nicht mehr im Amt oder Gegenzeichnung macht keinen Sinn. Gibt es ungeschriebene gegenzeichnungsfreie Handlungen? H.M.: ja, im Einzelnen str.: Kanzlervorschlag (Art. 63 I, 115 h II GG); Einberufung des BT (Art. 39 III GG); Rücktritt des BPräs; Anrufung des BVerfG (Art. 93 I Nr. 1 GG). Allein aus der Reservefunktion folgt nicht schon die Gegenzeichnungs- freiheit! Bsp.: Art. 68 GG. 10
Beispielsfall: Russland lädt BPräs Gauck offiziell zu den Olympischen Spielen nach Sotschi ein. Dieser lehnt dankend ab und löst damit Verärgerung aus. Der Sprecher der BReg spricht von einer „rein privaten Entscheidung des Herrn Bundespräsidenten“. Durfte der BPräs absagen? 11
Zusammenhänge: Je enger „Anordnungen und Verfügungen“ interpretiert werden und je mehr gegenzeichnungsfreie Bereiche anerkannt werden, umso selbst- ständiger kann BPräs agieren. Je selbstständiger BPräs agiert, umso größer die Gefahr, in Bereiche der anderen Staatsorgane hineinzuregieren. Soweit Art. 58 GG nicht greift, ist BPräs kraft des Grundsatzes der Organtreue zur Rücksichtnahme auf andere Staatsorgane verpflichtet. Der Grundsatz der Organtreue modifiziert lediglich die Art und Weise der Kompetenzausübung, kann aber verfassungsrechtliche Kompe- tenzen weder erweitern noch verkürzen! 12
Fallbeispiel (BVerfG, 2 BvE 4/13, Urt. v. 10.6.2014): BPräs Gauck wurde im Aug. 2013 in einer Veranstaltung mit Berufsschülern in Berlin (Motto: „22.09.2013 – Deine Stimme zählt!“) auf die Aktivitäten der NPD angesprochen. Auf Fragen antwortete er u.A.: „… aber wir brauchen da Bürger, die auf die Straße gehen, die den Spinnern ihre Grenzen aufweisen und die sagen ‚bis hierher und nicht weiter‘. …“ „… Wir können die Partei verbieten, aber die Spinner und die Ideologen und die Fanatiker, die haben wir dann nicht aus der Welt geschafft. …“ Die NPD fühlt sich im Vorfeld der BT-Wahl im Recht auf Chancengleichheit der Parteien verletzt und erhebt Organklage (Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 63 ff. BVerfGG). Hat der BPräs das GG verletzt? 13
Leitsätze zur Lösung: BPräs hat Aufgabe der Integration des Gemeinwesens, repräsentiert Staat und Volk nach innen und außen, verkörpert Einheit des Staates. Art und Weise der Erfüllung dieser Aufgabe entscheidet BPräs autonom → grundsätzlich weiter Gestaltungsspielraum. Grenzen: Bindung des BPräs an Verfassung und Gesetze (Art. 1 III, 20 III GG), hier an Prinzip der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 I GG, im Kontext von Wahlen i.V.m. Art. 38 I bzw. Art. 28 I GG). Aus „verfassungsrechtlichen Erwartungen an das Amt“ und „der gefestigten Verfassungstradition folgt Pflicht zur Wahrung „eine[r] gewisse[n] Distanz zu Zielen und Aktivitäten von politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen“. Damit ist nicht die Vorstellung eines „politisch indifferenten Amtswalters“ verbunden. Zulässig: zugespitzte Wortwahl, nicht mehr zulässig: „Schmähkritik“. Inwieweit Amtsinhaber sich am „Leitbild des neutralen Bundespräsidenten“ orientiert, unterliegt nicht gerichtlicher Überprüfung. Aber: Politische Parteien dürfen nicht rechtsschutzlos bleiben, soweit es ihr Recht auf Chancengleichheit betrifft. 14
Art. 59 Abs. 1 GG: Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten. → Satz 1: Grundregel; Sätze 2 und 3: spezielle Anwendungsfelder. → Sätze 2 und 3 sind als Spezialregelungen mit Beispielscharakter vorrangig anzuwenden; Satz 1 besitzt Auffangfunktion. Art. 58 GG: Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister. Dies gilt nicht für … 15
Art. 59 Abs. 1 GG: Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten. Art. 45 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung 1919: Der Reichspräsident vertritt das Reich völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Reichs Bündnisse und andere Verträge mit auswärtigen Mächten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten. Art. 11 Abs. 1 Reichsverfassung 1871: [1] Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen. 16
Regel: Im staatlichen Recht müssen Verbandskompetenz und Organkompetenz unterschieden werden! → Verbandskompetenz: Bund oder Länder zuständig? Art. 32 GG (allgemein). Art. 73 I 1 i.V.m. Art. 71 GG (Gesetzgebung); Art. 87 I GG (Verwaltung [„Auswärtiger Dienst“]). Organkompetenz: Welches Staatsorgan ist zuständig? Art. 59 I GG: Wer vertritt den Bund nach außen (im völkerrechtlichen Verkehr)? → Anwendung des Art. 59 I GG setzt Verbandskompetenz des Bundes voraus! Art. 59 II GG: Welche völkerrechtlichen Verträge bedürfen für Umsetzung in innerstaatliches Recht („Vollzug“) der Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften (BT und BR)? Spezialregelungen für die Übertragung von Hoheitsrechten: Art. 23 GG (Übertragung an Europäische Union; Sonderregeln, z.B. → BPräs vertritt nicht im EU-Rat!); Art. 24 GG (Übertragung in sonstigen Fällen). 17
Regel: Völkerrecht und Landesrecht regeln die völkerrechtliche Vertre- tungsmacht mit jeweils eigenen Normen → (1) Welche Anforderungen stellt das innerstaatliche Recht (z.B. Art. 58, 59 GG) für die Wahrnehmung „auswärtiger Gewalt“? (2) Was gilt nach Völkerrecht? Kann sich Deutschland gegenüber anderen Staaten auf grundgesetzliche Schranken berufen (z.B. „BPräs war nicht zuständig.“)? → nein (betr. Beispiel)! Siehe Art. 46 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge („Wiener Vertragsrechtskonvention“ [WVK] 1969): (1) Ein Staat kann sich nicht darauf berufen, dass seine Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, unter Verletzung einer Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts über die Zuständigkeit zum Abschluss von Verträgen ausgedrückt wurde und daher ungültig sei, sofern nicht die Verletzung offenkundig war und eine innerstaatliche Rechtsvorschrift von grundlegender Bedeutung betraf. (2) … Ist Völkerrecht aus staatsrechtlicher Sicht irrelevant? → nein: Es gilt der verfassungsrechtliche Grundsatz des völkerrechtsfreundlichen Verhaltens! Deutsches Recht ist möglichst so zu interpretieren, dass Völkerrechtsverstoß ausgeschlossen wird. 18
Völkerrechtlich → Art. 7 II WVK: „Kraft ihres Amtes werden, ohne ein Vollmacht vorlegen zu müssen, als Vertreter ihres Staates angesehen (a) Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister zur Vornahme aller sich auf den Abschluss eines Vertrags beziehenden Handlungen.“ Innerstaatlich → Art. 59 I GG erfährt Begrenzungen aus: Erfordernis der Gegenzeichnung (nur) bei „Anordnungen“ und „Verfügungen“ (Art. 58 GG); Kompetenzzuweisungen an andere Staatsorgane: Richtlinienkompetenz der BKanzlerin (Art. 65 I 1 GG) und Ressortzuständigkeit des Außenministers (Art. 65 I 2 GG); Pflicht zur Organtreue: Rücksichtnahme auf andere Staatsorgane im Interesse der optimalen Funktionsfähigkeit aller Organe und des Staatsganzen. Regel: Völkerrechtliche Handlungsmacht des BPräs (Art. 7 II WVK) reicht über innerstaatliche Befugnisse hinaus! Völkerrechtliche Bindung tritt u.U. auch bei verfassungswidrigem Handeln ein (Art. 46 WVK)! 19
Vertretungsmacht des BPräs ist beschränkt, denn Art. 59 I GG ist im Kontext der übrigen GG-Vorschriften zur auswärtigen Gewalt zu interpretieren (Stellung der BReg: Folie zuvor; Stellung von BT und BR: Art. 59 II GG; Stellung des BVerfG: Art. 93 GG). Demokratieprinzip verlagert inhaltliche Entscheidungsmacht auf BReg, denn: BReg unterliegt parlamentarischer Verantwortung (Art. 67 f. GG), BPräs nicht. Daraus folgt: Operative Funktion der auswärtigen Gewalt liegt bei BReg: BKanzlerin (Art. 65 I 1 GG) und Außenminister (Art. 65 I 2 GG) bestimmen primär den Inhalt der Außenpolitik (materielle Prärogative). Vgl. BVerfGE 68, 1, 85 f.; 90, 286, 358. BPräs verbleibt notarielle Funktion, er ist primär „Kundgabe-Organ“ (formelle Prärogative), kein „Vertreter“ i.S.v. § 164 BGB! Str.: Kann der BPräs die Mitwirkung unter Hinweis auf Verfassungs- oder Völkerrechtswidrigkeit versagen? → Vgl. Diskussion zu Art. 82 GG. 20
Was bedeutet „primäre“ inhaltliche Zuständigkeit der BReg – „primäre“ formelle/ notarielle Zuständigkeit des BPräs? BReg und BPräs sind auf Zusammenarbeit angewiesen: inhaltliche Prärogative der BReg sichert demokratische Verantwortung für die Außenpolitik; formelle Prärogative sichert einheitliches Auftreten Deutschlands nach außen. Aber: Keine trennscharfe Abgrenzung zwischen inhaltlicher Gestaltungsmacht (BReg) und bloßer Förmlichkeitsmacht (BPräs)! Denn: Delegation der Befugnisse von BPräs auf BReg möglich und üblich (s.u.)! BPräs bedarf nur für bestimmte Erklärungen (s.u.) der Genehmigung der BReg (Art. 58 GG) → Spielräume für inhaltliche Akzente seitens BPräs in den Grenzen der Organtreue. Regel: Der BPräs besitzt keine Kompetenz zur eigenständigen Gestaltung der Außenpolitik, beherrscht aber den formell-notariellen Bereich und besitzt gewisse Spielräume im inhaltlichen Bereich . 21
„Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich.“ Normzweck: → BPräs verkörpert Einheit des Staates nach außen. Deutschland spricht „mit einer Stimme“ gegenüber der Völkergemeinschaft. Begriffliches: → „Völkerrechtlich“: nicht nur rechtserhebliches, sondern jede Art hoheitlichen (staatsspezifischen) Handelns im völkerrechtlichen Verkehr, etwa: Anerkennung einer Regierung z.B. Anerkennung des Libyschen Übergangsrats 2011; Abgabe „politischer Erklärungen“ gegenüber anderen VR-Subjekten z.B. Erklärung zur NSA-Affäre: „…Die Bundeskanzlerin hat heute mit Präsident Obama telefoniert. Sie machte deutlich, dass sie solche Praktiken, …, unmissverständlich missbilligt und als völlig inakzeptabel ansieht. …“ (Presseerklärung BReg 23.10.13). BK gibt hier anstelle des BPräs Erklärung ab. Aber NICHT: Privatwirtschaftliches Handeln z.B. Kauf eines Grundstücks für Botschaftsbau (→ kein „hoheitliches“ Handeln; das kann auch jede Privatperson!). 22
„Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten.“ (Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG) „Verträge“: Alle völkerrechtlichen Übereinkünfte, durch die eine bestehende Rechtslage verändert wird, nicht nur „Verträge“! „Auswärtige Staaten“: Alle Völkerrechtssubjekte (z.B. Internationale Organisationen, Heiliger Stuhl, IKRK), nicht nur „Staaten“. „Er schließt …“ Problem: völkerrechtlicher Vertragsschluss ist mehrstufig (Art. 9-16 WVK). Heute h.M.: Dem BPräs vorbehalten ist die Vornahme aller auf den Abschluss des Vertrages gerichteter Erklärungen, insbes. der Ratifikation (→ völkerrechtlich verbindliche Erklärung, dass Deutschland den Vertrag als bindend anerkennt [Art. 14 WVK]). M.M.: Art. 59 I 2 GG umfasst nur die Kompetenz zur Vornahme der Ratifikation. Argument: Staatspraxis → BPräs ratifiziert (allenfalls), Annahme des Textes und Unterzeichnung i.d.R. durch Verhandlungsführer, Außenminister, BKanzlerin. Beachte: Auch bei Art. 59 I Satz 2 gilt Art. 58 GG (Gegenzeichnung)! 23
Élysée-Vertrag (D – F) vom 22.1.1963: 24
„Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten.“ (Art. 59 Abs. 1 Satz 2 GG) Staatspraxis: → Völkerrechtliche Verträge werden zumeist von Mitgliedern der BReg oder von hohen Beamten des AA unterzeichnet. Erklärung: • Der BPräs kann alle Befugnisse aus Art. 59 I GG delegieren, d.h. Abschluss- vollmacht erteilen. • Bevollmächtigung kann auch stillschweigend/ konkludent (etwa im Rahmen eingeübter Staatspraxis [“constitutional convention“]) erfolgen. • Bevollmächtigung bedarf der Gegenzeichnung (Art. 58 GG). Aber: Ersuchen des AA an BPräs, Vollmacht zu erteilen, gilt als Gegenzeichnung! • Da Art. 59 I GG dem BPräs die (formell-notarielle) Hauptverantwortung zuweist, kann er die Abschlussbefugnis zurückholen bzw. Delegation widerrufen. Regel: Trotz eingeübter Praktiken der Delegation hat die BReg keinen Anspruch auf Vornahme der „außenpolitischen Routinetätigkeit“ (a.A. Stern). 25
Art. 59 I Satz 3 GG: „Er be- glaubigt und empfängt die Gesandten.“ Botschafterin Kaja Tael (Est- land) und BPräs Joachim Gauck nach der Akkreditierung am 4.9.2012 (Foto: Bundespresse- amt). 26
„Er beglaubigt und empfängt die Gesandten.“ (Art. 59 Abs. 1 Satz 3 GG) „Gesandte“ : mindestens die ersten beiden „Gesandten-Klassen“ nach Art. 14 I lit. a und b Wiener Diplomatenübereinkommen (WÜD 1961), d.h. Missionschefs/-innen (Art. 14 I lit. a WÜD) und bestimmte weitere hohe Gesandte (Art. 14 I lit. b WÜD); Die „dritte Klasse“ (Art. 14 I lit. c WÜD) übernehmen BKanzleramt bzw. AA. Verfassungsrechtlicher Begriff „Gesandter“ ≠ völkerrechtlicher Begriff (vgl. Art. 14 WÜD)! „Beglaubigt“: Förmliche Erklärung gegenüber Empfangsstaat, dass bestimmte Person zur Vertretung befugt ist, d.h. Beglaubigungsschreiben des BPräs betreffend deutsches diplomatisches Personal zur Übergabe im Empfangsstaat. „Empfängt“: Empfang hochrangiger ausländischer Gesandter zur Entgegen- nahme deren Beglaubigungsschreibens (Akkreditierung). Achtung! Missionschefs/-innen bedürfen vor Überreichung des Beglaubigungs- schreibens im Empfangsstaat des Agrément (Art. 4 II WÜD). Agrément erteilt die BReg, BPräs erklärt es nach außen. 27
Fall: Die BReg bemüht sich seit Jahren, Deutsch als Amtssprache der EU wie- der stärker zu verankern. Bei einem Besuch des EU-Parlaments in Straß- burg schreibt der damalige BPräs Wulff 2010 in das Gästebuch: “Best wishes for the European Parliament for the future in the 21th century!“ Verletzte er damit das Grundgesetz? 28
Ist eine Norm wie Art. 59 I GG in einer Welt, in der sich die Unterschiede zwischen „innen“ und „außen“ zunehmend auflösen, die internationalisiert und europäisiert ist und in der nahezu alle Staatsorgane Außenkontakte pflegen („Pluralisierung des Außenauftritts“), noch sinnvoll? 29
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