Musikstunde "Morge! Salli! Bonjour!" - Streifzüge durch's Dreiländereck (2) - Von Antonie v. Schönfeld - SWR

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Musikstunde
„Morge! Salli! Bonjour!“ – Streifzüge durch‘s
Dreiländereck (2)

Von Antonie v. Schönfeld

Sendung:    23. Juli 2019
Redaktion: Dr. Ulla Zierau
Produktion: 2019
SWR2 Musikstunde mit Antonie v. Schönfeld
22. Juli – 26. Juli 2019
„Morge! Salli! Bonjour!“ – Streifzüge durch‘s Dreiländereck

„Morge! Salli! Bonjour!“ (2)

ich bin AvS und begrüße Sie zur zweiten Etappe unserer Streifzüge
durch‘s Dreiländereck. Heute liegt die Betonung auf „Bonjour!“ – Von
Basel geht es Richtung Nordwesten auf die andere Seite des Rheins...
aber erst versuchen wir uns noch mal an der Definition dieser Region.

Das Gebiet des Dreiländerecks lässt sich auf unterschiedliche Weise
bestimmen. Es gibt keine eingezeichneten Linien oder klare Definitionen
dieser Gegend. Die Regio, wie das Gebiet hier genannt wird, hat etwas
sympathisch ‚Ungefähres‘.

Natürlich gibt es ganz pragmatische Ansätze. Im Großraum Basel
beispielsweise ist man sehr gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln
unterwegs: Mit dem „triregio“-Ticket kommen Sie in Deutschland bis
nach Schliengen im Markgräflerland und sogar bis hoch auf den
Feldberg und in Frankreich immerhin bis Muhlhouse. Das Offene, das
Miteinander wird in dieser Region inzwischen sehr geschätzt, lange
genug war es anders in der Geschichte. Jetzt wirbt man gerne mit
Slogans wie „grenzenlos im Dreiländereck“ oder „mein Dreiland“.
Eine andere Initiative der drei Länder ist mindestens so attraktiv, und
zwar der Museumspass: Für gut hundert Euro kann man ein Jahr lang
über 320 Museen, Schlösser, Burgen und Gärten in Deutschland,
Frankreich und in der Schweiz besuchen und obendrein bis zu fünf
Kinder mitnehmen! Muss man aber nicht.
Der Radius dieser internationalen Eintrittskarte reicht weit über die
eigentliche „Regio“ hinaus: von Basel bis nach Bern, in Frankreich bis
nach Besancon und sogar Nancy und Metz. Und bei uns kann man den
Museumspass auch noch in Stuttgart und weit über Karlsruhe und
Heidelberg hinaus nutzen - eine wirklich tolle Dreiländer-
Zusammenarbeit!

Wir werden damit heute ins Freilichtmuseum „Petite Camargue
Alsacienne“ gehen und ins „Musée d’etoffes“, das Museum für
Stoffdruck, in Mulhouse. Ein solcher „Pass“ kann Türen in andere Welten
und Zeiten öffnen:

Musik 1
Andrea Falconieri                        3´27
“Ciaconna”
Capella de la Torre
Ltg. Katharina Bäuml
M0412423 003 dhm/sony 88875141032, LC 0761

…und man könnte sich immer so weiter wiegen in diesem Spiel von
Variationen aus dem 17. Jahrhundert: Das war eine „Ciaconna“ von
Andrea Falconieri mit Katharina Bäuml und der Capella de la Torre.

Neben den eher pragmatischen Definitionen aus dem 21. Jahrhundert
gibt es noch ganz andere, viel ältere Ansätze, mit deren Hilfe sich das
Gebiet Dreiländereck beschreiben lässt: Den geographischen Raum
markieren in etwa drei Berge, die den gleichen Namen tragen: Der
Belchen im Schwarzwald, der Grand Ballon in den Vogesen und im
Schweizer Jura der Belchenflue. Wir sind hier in Mittelgebirgen, diese

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drei sind alle über 1000 Meter hoch. (Der Grand Ballon wird übrigens
noch flankiert von zwei weiteren Namensvettern, vom Petit Ballon und
vom Elsässer Belchen.)

Der Name „Belchen“, so eine Theorie, komme von „Belenos“, der
Strahlende – und damit sind wir bei den Kelten. Die haben diese Gegend
schon sehr früh besiedelt. Vermutlich waren diese Berge dem keltischen
Sonnengott gewidmet. Sicher ist, dass wir hier ein faszinierendes
astronomisches Phänomen beobachten können:
Jeweils mit Hilfe des Sonnenstandes lassen sich hier die Jahreszeiten
bestimmen. Wenn wir an den Tagen der Tag-und-Nacht-Gleiche, also
am 21. März oder am 23. September, auf dem Grand Ballon in den
Vogesen stehen, dann sehen wir frühmorgens die Sonne genau über
dem Belchen im Schwarzwald aufgehen. Umgekehrt können wir vom
Schwarzwald-Belchen aus an eben diesen Tagen sehen, wie die Sonne
im Westen hinter dem Grand Ballon untergeht.
Zur Wintersonnenwende am 21. Dezember steigt die Sonne dann hinter
dem Schweizer Belchenflue auf. Und so geht es weiter mit den
Bezugspunkten. Es gibt ein regelrechtes Wechselspiel: An den Tagen
der Tag-und-Nacht-Gleiche und an den Sonnwendtagen wirken die
Berge wie Fixpunkte im Sonnen-Kalendarium.
Den Kelten waren diese Beziehungen zwischen Tagen, Bergen und
Sonnenstand wohl bekannt und sie haben sich mit diesem Wissen im
Ablauf der Jahreszeiten orientieren können.

Auf dem Belchenflue im Schweizer Jura war ich noch nicht, die beiden
anderen Berge aber habe ich schon erwandert: Den Belchen im
Schwarzwald vom Wiedener Eck aus, an einem frühen Oktobermorgen,
den Grand Ballon von Thann aus, ebenfalls im Herbst, eine lange,

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lohnende, anstrengende Tour. Ich habe dann gleich droben im alten
Hotel übernachtet und ich erinnere mich, was für ein besonderes Gefühl
es war, in der Abenddämmerung da zu sitzen und Richtung
Schwarzwald-Belchen zu schauen. Und dahinter ging am nächsten
Morgen die Sonne auf.

Musik 2
Anonymus                                 2`55
Jack Latine
A Nocte Temporis
ALP 447, LC 0561

„Jack Latine“ – eine irische Weise, gespielt von der Flötistin Anna
Besson und dem Ensemble „A Nocte Temporis“.

Die drei Gebirgszüge rund um das Dreiländereck geben uns
Orientierung in dieser Region: Schwarzwald und Vogesen liegen etwa
parallel als Nord-Süd-Achse und der Schweizer Jura liegt wie ein Ost-
West-Riegel als Abschluss im Süden. Zwischen Jura und den Vogesen
ist allerdings noch eine Lücke, die Burgundische Pforte.
Als Kind hat mich der Name „Burgundische Pforte“ immer fasziniert. Das
klingt so geheimnisvoll. Allein „Pforte“ - und da soll das warme Wetter
herkommen, wenn nicht gar der Frühling persönlich. Tatsächlich wird
das milde Klima in dieser Region maßgeblich von diesem Durchgang
(zwischen Jura und Vogesen) ermöglicht: Hier zieht die mediterrane Luft
aus dem Rhonetal in den Oberrheingraben herauf, warme Winde. In
manchen Jahren blühen die Kirschen hier vier Wochen früher als in
Hamburg!

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Auf meiner Tour habe ich Reisebücher dabei und ich werde sie
zwischendrin bei der jeweiligen Etappe kurz vorstellen: Rund um Basel
und bis Mulhouse informieren Nicole Quint und Thomas Schneider in
ihrem Band „Basel lädt ins Dreiländereck“ in kurzen Kapiteln zu
einzelnen Zielen. Und die sind klug und teilweise unkonventionell
ausgewählt. Da wird auch die „Notschlafstelle“ in Basel besucht. „Soziale
Stadtrundgänge“ und „Mit anderen Augen“ ist dieses Kapitel
überschrieben und natürlich wird auch erzählt, was es mit den Basler
Läckerli auf sich hat (und wo es besonders leckere gibt).

Durch die Burgundische Pforte führen seit jeher Handelswege und mit
dem Handel fand auch ein kultureller Austausch statt - eine
geographische Gegebenheit als Voraussetzung für eine in jeder Hinsicht
fruchtbare Gegend.
Manchmal aber stürzt vom Jura wie ein Fallwind eine Schweizer Melodie
ins Tal. Der Klarinettist Florian Walser hat sie aufgegriffen, arrangiert und
ein Stück daraus gemacht und spielt es mit seinen Kollegen vom
Schweizer Oktett. Über die Einleitung schreibt er, sie erinnere an
„Schubert, Feidman oder Liebeskummer“...

Musik 3
arr./komp. Florian Walser               3´45
“Mazurka aus dem Jura”
Schweizer Oktett
MGB CD6187, LC

„Mazurka aus dem Jura“ arrangiert und komponiert von Florian Walser,
der sie hier mit dem Schweizer Oktett gespielt hat.

                                                                           6
Jura, Schwarzwald, Vogesen - wir zoomen jetzt ins Zentrum der Region.
An welchem Punkt begegnen sich diese drei Länder eigentlich genau?
Die Schnittstelle liegt mitten im Rhein, zwischen Basel, Weil am Rhein
und Hüningen oder Huningue am französischen Rheinufer. Weil der
Reisende diesen Punkt nicht gut erreichen kann hat man stellvertretend
eine Stelle am deutsch-schweizerischen Ufer ausgewählt. Im Jahr 1990
gab es einen Architekturwettbewerb und jetzt steht hier ein markantes
Gebäude, davor ein nüchterner Pylon aus Metall. Drei angedeutete
Flügel mit den jeweiligen Landeswappen weisen in die Richtung der drei
Länder.

Der Platz hat seinen eigenen Charme: Wir sind hier mitten im
Hafengebiet, aber Fluss geht immer. Man kann sich oben auf der spitz
zulaufenden Terrasse in die „Sandoase“ setzen und trinken, was zur
Tageszeit passt. Und die Basler Personenschifffahrt hat hier eine
Anlegestelle. Eine Runde mit dem „Rhytaxi“? Nein, selbst hinüber nach
Frankreich laufen! Die „Passerelle des Trois Pays“ liegt nur ein kleines
Stück flussabwärts. Diese Bogenbrücke schwingt sich leicht und elegant
über den Rhein.

Mit knapp 230 m zwischen den Auflagern ist sie die längste
Brückenkonstruktion dieser Art für Radfahrer und Fußgänger weltweit.
Mein Hund mag sie nicht: Sie schwingt ein bisschen.
Vom Dreiländereck aus hat man einen wunderbaren Blick hinüber auf
die Passerelle.

Den Weg dahin muss man allerdings erst finden – und das wird
tatsächlich zu einem Thema: Ich spreche einen freundlichen Polizisten

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an und dem ist es geradezu unangenehm, dass er mir den Weg zur
Brücke nicht beschreiben kann.
Mich wiederum fragen zwei Radfahrer mit Tour-bepackten Velos. Auf der
Brücke diskutiert ein Ehepaar über die Route zum Dreiländereck und
eine Gruppe von Schülern gibt bei dem Blick über den Rhein gleich ganz
auf: „Lohnt sich bestimmt nicht“...

Doch, es lohnt sich – und in Huningue wird man auf dem großzügig
angelegten Marktplatz gleich vom Marquis de Vauban in Empfang
genommen: Als stilisierte Figur mit Stulpenstiefeln und gepuderter
Perücke lächelt er von einer Tafel und lädt zu einem „Circuit pedestre“
ein, zu einem Stadtrundgang. Und damit sind wir im französischen
Barock gelandet, in der Zeit von Bastion und Festung und keineswegs
freundlicher Nachbarschaft am Rhein. Der Marktplatz übrigens ist
deshalb so groß angelegt, weil er früher ein Paradeplatz war...

Musik 4
Jean-Philippe Rameau                    1´54
„Tambourins“ aus: „Zais“
Ausonia
Ltg. Frédérick Haas
M0124801 020 ALP 142, LC 0561

“Tambourins” aus der Oper “Zais” von Jean-Philippe Rameau, gespielt
dem Ensemble ‚Ausonia‘.

Der Marquis de Vauban war General und Festungsbaumeister seiner
Majestät Ludwigs XIV. Wie der etwas jüngere Jean-Philippe Rameau
stammt er aus dem Burgund. Die Basler waren nicht gut auf den General

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zu sprechen: nach Vaubans Plänen wurde in Huningue, also gleich auf
der anderen Rheinseite, eine Festung mit fünf Bastionen gebaut. Eine
davon steht noch. Sie trägt ausgerechnet den Namen „Cavalier“.
Vaubans Militärarchitektur hat um die Wende vom 17. zum 18.
Jahrhundert in ganz Europa Schule gemacht und wurde kopiert bis in
den fernen Osten.

Zwölf seiner Befestigungsanlagen sind vor gut zehn Jahren zum
UNESCO Welterbe ernannt worden. Anders als in Huningue ist die
Festung Neuf-Brisach (weiter nördlich zwischen Colmar und Freiburg)
noch vollständig erhalten.
Es ist bis heute ein merkwürdiges Gefühl, wenn man in diese Stadt
hineinfährt: Wie vor rund 300 Jahren gibt es drei Zufahrten und auf jeder
muss man in Schlangenlinien die haushohen Festungswälle mit den
„Demilunen“ passieren, den vorgesetzten Halbmonden. Das hat etwas
von einer Zeitreise. Und durch die Stadttore kann natürlich immer nur
jeweils ein Gefährt fahren.

Die Festung Huningue wurde übrigens 1815 geschleift, bis eben auf die
Bastion „Cavalier“. - Das neue Bauwerk dagegen, die „Passarelle de
Trois Pays“, ist im Prinzip der absolute Gegenentwurf dazu.

Musik 5
Jean-Philippe Rameau                    4´40
„Air pour les Sauvages“ aus: „Les Indes Galantes“
Sabine Devieilhe, Sopran Samuel Boden, Tenor
Les Ambassadeurs
Ltg. Alexis Kossenko
Erato 509999 9341492 0, LC 4281

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Noch einmal Jean-Philippe Rameau: Sabine Devieilhe, Sopran, Samuel
Boden, Tenor, und Les Ambassadeurs mit der „Air pour les Sauvages“,
der ‚Air für die Wilden‘ aus „Les Indes Galantes“ von 1736. Die Leitung
hatte Alexis Kossenko.

Wenn übrigens in Freiburg von „Vauban“ die Rede ist, dann geht es nicht
um eine Festung, sondern um ein noch junges Wohnquartier. Das ist auf
dem ehemaligen Kasernengelände des französischen Militärs neu
gebaut worden. Dass die Franzosen eine Kaserne gerne nach ihrem
Festungsbau-Genie Marquis de Vauban aus dem 17. Jahrhundert
benannt haben, das liegt nahe. Wenn wiederum die Studenten von
„Vauban“ sprechen, dann meinen sie das dortige Studenten-Wohnheim.
Zu dieser Jahreszeit wird da gerne ein Sommerfest gefeiert, da geht es
allerdings in aller Regel friedlich zu.

Doch wir sind noch in Huningue bzw. Basel. Ob zu Fuß über die
Passerelle oder auf der linken Rheinseite durch das Baseler Spalentor:
Unabhängig von der Nationalität geht das Stadtgebiet am Dreiländereck
von Weil am Rhein über Basel und Hüningen ineinander über. Ein Stück
nach Nordwesten und das südliche Elsass beginnt, der Sundgau. Jetzt
noch den Wohngürtel von Basel passieren und wir sind draußen auf dem
Land. Hier, im südlichen Elsass, gibt es noch keine Weinstraßen-
Romantik. Die Weinberge beginnen erst nordwestlich von Mulhouse, am
Fuße der Vogesen. Der Sundgau sei „ein Ziel für geübte Streuner“
schreibt Wolfgang Abel. Alte Theatersäle, in denen man essen kann,
Hügelland, unvermeidlich die Maisfelder, aber auch noch
Streuobstwiesen.

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Wir halten uns an den Rhein, nordwärts. Vielleicht zum Markt in St
Louis? Ein pralles Angebot und bunter, lebendiger als drüben in Basel,
allerdings immer erst am Samstag. Wir steuern die „Piste du Rhin“ bei
Ville Neuf an, ein Restaurant, ganz für sich, direkt am Ufer des Rheins.
Ich erwische einen trüben Tag, dazu noch Ruhetag. - Das ganze Areal
wirkt wie aus der Zeit gefallen, sechziger Jahre, draußen Plastikmobiliar.
Aber im Zaun der Bar vorne ist eine Lyra stilisiert und auf der großen
schwarzen Tafel liest es sich appetitanregend: „Rognon de Veau“,
„Sauman provencales“ und zu trinken „Vin rose“ und „Ventoux“.
- Ein andermal. An sonnigen Sommerabenden soll das hier wie Urlaub
sein.

Und wenn jetzt die Musiker des Ensembles ‚Les haulz et les bas‘ die alte
Melodie „La Folia“ über’s Wasser schicken und die Tuba dabei an
manchen Stellen weit in den Bass hinabsteigt, dann kann man fast
meinen, von Ferne mische sich dann und wann ein Schiffshorn
dazwischen...

Musik 6
Anonym 17. Jh/arr. Schweizer/Miller 2´12
„La Follia“
Les haulz et les bas
M0450885 008 ahalani0042, LC 24568

Das Ensemble ‚Lez haulz et les bas‘ mit einer neuen Interpretation der
alten Melodie „La Folia“. Melancholie in Saxophon und Tuba.

SWR2-Musikstunde, in dieser Woche auf „Streifzügen durch’s
Dreiländereck“ unterwegs, heute im Elsass.

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Das Rheinufer bei Ville-Neuf kann einen tatsächlich melancholisch
stimmen: Der mächtige Fluss liegt hier wie gefangen in seinem
Betonbett. - Nur wenig flussabwärts das große Wehr bei Märkt: Hier wird
der Rhein vom Grand Canal d’Alsace getrennt, vom Rheinseitenkanal.
Das ist eine Folge des Versailler Vertrags: Frankreich besitzt hier im
Elsass das alleinige Nutzungsrecht der Wasserkraft am Rhein und nutzt
die Wassermassen an den insgesamt zehn Schleusen und Staustufen
bis Iffezheim zur Stromgewinnung. Im eigentlichen Rheinbett fließt nur
noch ein kleiner Teil des Wassers. Da passt der Begriff „Restrhein“ -
Auenwälder adé.

Oder doch nicht ganz: Etwas landeinwärts zieht sich von Ville-Neuf nach
Norden bis etwa Rosenau die „Petite Camargue Alsacienne“, das erste
Naturschutzgebiet im Elsass. Das Gebiet ist etwa 150 Hektar groß und
gibt eine kleine Ahnung von der früheren Auenlandschaft. Ähnlich wie
Taubergießen weiter im Norden. Dazu kann man sich ausführlich über
den früher wilden Rhein informieren und über seine Begradigung, dieses
Mammutprojekt im 19. Jahrhundert nach Plänen des Karlsruher
Ingenieurs Johann Gottfried Tulla. Man wollte die „ungesunden Sümpfe“
trockenlegen, Ackerland gewinnen, den Fluss zähmen. 82km kürzer ist
er dabei geworden. Und deutlich schneller.

Das zweite große Thema im Freilichtmuseum ist die Kaiserliche
Fischzucht: Von hier kam der Salm, der Lachs auf die Teller von
Napoleon III., hier wurde zum ersten Mal industriell Fischzucht betrieben.

Zwei große Ausstellungen also – die größte aber liegt draußen, in der
Natur: Feuchtwiesen, Trockenrasen, Auwald, Libellen und seltene
Orchideenarten - ein kleiner Rest der früheren Urlandschaft. Das

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eigentliche Museum lassen wir hinter uns und folgen dem kleinen
Hüninger Kanal, Kilometer um Kilometer. Graureiher, Zilpzalp,
Bachstelze. Vielleicht auch eine junge Schäferin zwischen den Bäumen
– „Pastorella che tra le selve“ – und die singt von Liebe und Treue:

Musik 7
Giovanni Bononcini                 3´35
„Pastorella tra le selve“
Nuria Rial, Sopran
Accademia del Piacere
M0569337 006 dhm/Sony 19075868472, LC 0761

„Pastorella che tra le selve“ – Nuria Rial als ‚Schäferin zwischen den
Bäumen‘ zusammen mit der Accademia del Piacere. Die Leitung hatte
Fahmi Alquhai.

Hier im Elsass und auch in den nächsten Tagen im Badischen bin ich mit
den Büchern von Wolfgang Abel unterwegs: Der Badener Flaneur
schreibt das, was man „hemmungslose Reisebücher“ nennt. Er streift
seit Jahren durch die Regio und betrachtet alles zusammen: die
Menschen, die Landschaft, die Lokale und eben auch die
Veränderungen - Landschaftskultur und Kulturpolitik gehen ineinander
über. Sein Stil? „Ich mag’s halt gern pointiert“ sagt er, und durchaus
auch mal spitz, füge ich hinzu und folge ihm gerne in einsame Täler und
stimmige Wirtschaften im Schwarzwald wie im Elsass. Hier im Elsass
weiß Abel, wo die Carpe frites noch schmecken, eine Spezialität im
Sundgau, und wo die Rechnung nicht dominiert wird vom
schweizerischen Einfluss. Wenn einer schon sein erstes Kapitel mit den
Worten „Es kann später werden“ überschreibt...

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Es wird jetzt später: Wir treiben auf einer kleinen Straße zwischen
Rheinseitenkanal und dem Hüninger Kanal Richtung Mulhouse. Vorbei
an Kembs, weiter Richtung Niffer. Mit dem Fahrrad mag es reizvoller
sein. Hier in Kembs, direkt am idyllischen kleinen Hafen und der
Zugbrücke kreuzen zwei große europäische Radwanderwege: Der
Eurovelo 15 folgt dem Rhein und der andere, Eurovelo 6, führt vom
Atlantik bis ins rumänische Constantia am Schwarzen Meer.

In Niffer kreuze ich den Rhein-Rhone-Kanal und halte spontan an: Was
ist das für ein Schleusengebäude mit den seitlich verschobenen
Stockwerk-Ebenen in dem alten Betonturm? Diagonal übereinander
gestapelte Würfel. Ganz oben, vollverglast, eine Aussichtsplattform. Ich
frage meine Bücher: Diese Schleusenanlage ist zu Beginn der 60er
Jahre gebaut worden. Die Pläne stammen aus dem Architekturbüro von
Le Corbusier – eine ‚Bauhaus-Schleuse‘ mitten im Ried.

Keine Tafel, die darauf hinweist. Das Gelände ist eingezäunt. Die
Schleuse wird noch betrieben, allerdings von einem neuen
Kontrollzentrum aus, 800 Meter entfernt. Das Geländer am Turm rostet,
der Beton splittert zum Teil auf. Turm und Gebäude stehen inzwischen
unter Denkmalschutz. Man könnte, man sollte vermutlich restaurieren.
Gleichzeitig wirkt der Bau gerade so: zwischen Damm, Wiese und Wald.
Ein in die Jahre gekommenes Gebrauchsgebäude von wirklicher
Schönheit. Und dazu passt jetzt die kleine „Pastorale“ von Igor
Stravinsky.

Die Schäferin heißt hier Emma Kirkby und ihre klare Stimme fügt sich
wie ein Instrument in das Kammerensemble ein:

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Musik 8
Igor Stravinsky               1´42
“Pastorale”
Emma Kirkby, Sopran
Mitglieder des Kammerorchester Basel
Ltg. Christopher Hogwood
Arte Nova 74321926502, LC 03480

Emma Kirkby, Sopran, zusammen mit Isabelle Schnöller, Flöte, Markus
Niederhauser, Klarinette, und Bodo Friedrich, Bratsche, mit der
„Pastorale“ von Igor Stravinsky.

Der südliche Teil des Elsass ist vermutlich der weniger bekannte. Die
„Route du Vin“ beginnt erst nördlich von Mulhouse und wer eine
elsässische Stadt besucht, der fährt eher nach Colmar oder gleich nach
Straßburg, aber nicht nach „Französisch Manchester“, wie das industriell
geprägte Mulhouse auch genannt wird. Schade, die Stadt lohnt mehrere
Besuche: Industriell geprägt reiht sich hier ein technisches Museum an
das nächste: Da ist das große Automobil-Museum des Mr. Schlumpff.
Dann das „Musée du Chemin de Fer“. Hier stehen glänzende
Lokomotiven und legendäre Züge. Der Geruch von Fernweh liegt in der
Luft. Einmal in den Orient-Express schauen und in den Train Bleu, wo im
Speisewagen schon stilvoll eingedeckt ist.

Im Stadtzentrum, nahe am Bahnhof, das Musée d’Etoffes: Das erzählt
von der textilen Vergangenheit von Mulhouse, vom Bedrucken der
Stoffe, der Herkunft der Farben. Raumhoch stapeln sich in einem Regal
die Holz-Models. Die erste Manufaktur in der Stadt wurde schon 1746
gegründet. –

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In den Blumendesigns der laufenden Ausstellung kann man fast
ertrinken: Ein Projektor lässt das florale Muster sogar die herrschaftliche
Treppe herabfließen. Schauen, lesen – und von der freundlichen
Mitarbeiterin daran erinnert werden, dass es kurz vor zwölf sei. Ja, und?
...Und dass das Museum pünktlich um zwölf Uhr schließe. Wie jeden
Mittag. Um zwei mache es ja wieder auf. Es ist Zeit für das „Menu du
Jour“. Und immerhin muss man auf der Straße davor – wir sind im
Zentrum einer Großstadt! - um diese Zeit keine Parkgebühr zahlen.
Pause ist Pause.

Musik 9
Carl Friedrich Zöllner                   2´42
„Menu du Jour“ („Der Speisezettel“)
Ein Scherz für Männerstimmen (1841)
amarcord
M0279789 011 RK ap 10108, LC 10940

„Menu du Jour“ - „Der Speisezettel“.
„Ein Scherz für Männerstimmen“ von Carl Friedrich Zöllner, hier
gesungen vom Ensemble amarcord.

Es gibt ein Jazzfestival In Mulhouse, immer Ende August, es gibt viel
Musik auf den Straßen, eine Oper, die gemeinsam mit den Städten
Colmar und Straßburg verwaltet wird, in Mulhouse sitzt das Ballett – und
es gibt ein Sinfonieorchester. - Das kleine Grün vor der alten Börse
durchquert man auf der „Allée de la Parfaite Harmonie“.

                                                                         16
Das mag sich auf eine Loge würdiger Herren im frühen 19. Jahrhundert
beziehen, aber es passt auch auf die Gebäude ringsherum mit ihren
elegant geschwungenen Arkaden.

Und jetzt zum Markt. Möglich dienstags und donnerstags - und am
Samstag unvergleichlich! Man kauft Körbe voller frischer Sachen ein –
und bleibt am besten zum Mittagessen gleich hier. Und nach Riedisheim,
da steht der Käsehändler, dessen Namen Gourmets geradezu
ehrfürchtig aussprechen: „Antony“.
Das Tapetenmuseum in Rixheim... Für Mulhouse müssen Sie viel mehr
Zeit einplanen, als Sie denken!

Wir fahren heute noch nach Ottmarsheim, an den Stammsitz der
Habsburger, zurück Richtung Rhein und setzen uns in die alte
romanische Abteikirche: Hier kann man wunderbar zur Ruhe kommen.
Das Oktogon mit seiner hohen Kuppel ist dem Aachener Dom
nachgestaltet, aber hier ist alles viel kleiner, schlichter – und absolut
stimmig proportioniert: Über dem wuchtigen Untergeschoß reihen sich
die Säulen in den beiden Obergeschossen geradezu zierlich im Rund.
Im nächsten Jahr wird der Bau 1000 Jahre alt, die Spuren des
verheerenden Brands Anfang der 90er Jahre sind längst beseitigt und
gefeiert werden wird mit Musik: Seit letztem Jahr gibt es hier die
„Octophonia“-Konzerte.

Dann werden wieder Lichtfresken auf die inneren Wände projiziert und
zu Mozarts „Kleiner Nachtmusik“ kann sich der Blick scheinbar im
nachtblauen Himmel verlieren...

                                                                            17
Musik 10
Wolfgang Amadeus Mozart                4´12
4. Satz „Rondo“
aus: Serenade Nr. 13 G-Dur KV 525 Eine kleine Nachtmusik
Les Folies Francoises
Ltg. Patrick Cohen-Akenine
ALP 092, LC 0561                              Auf Zeit

Die Musikstunde geht zu Ende mit dem letzten Satz „Rondo“ aus
Mozarts Serenade Nr. 13 G-dur, der „Kleiner Nachtmusik“. Patrick
Cohen-Akenine hat Les Folies Francoises geleitet.

Morgen geht es über den Rhein nach Freiburg und dann streifen wir
durch die Musik- und Kulturszene der Unistadt – darauf freut sich: AvS.

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