NOTWENDIGE ULTIMA RATIO IMPFPFLICHT 10 / 2021 - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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STANDPUNKTE 10 / 2021 BENJAMIN-IMMANUEL HOFF, HEIKE WERNER, ALEX ANDER FISCHER UND SUSANNE HENNIG-WELLSOW NOTWENDIGE ULTIMA RATIO IMPFPFLICHT Das aktuelle Pandemiegeschehen mit einer vierten Infektionswelle sowie deren Inzidenz- und Hospitalisierungswerten bei einer gegenüber dem ursprünglichen Wildtyp signifikant ansteckenderen Delta-Variante und bei gleichzeitig zu niedriger Impfquote haben eine Debatte um die Einführung einer Impfpflicht entfacht. Aufgrund der hohen Emotionalität, mit der in Deutschland generell über Impfungen diskutiert wird, einschließlich Missverständnissen, Fehlinterpretationen bzw. be- wussten Fake News, ist es zwingend erforderlich, in der Debatte klar und transparent zu argumentieren. Eine Impfpflicht ist keine Zwangsimpfung. Die Durchsetzung von Impfpflichten durch körperlichen Zwang ist weder rechtlich noch moralisch zu rechtfertigen. Eine Impfpflicht wird deshalb hier als sanktionsbewehrtes Instrument ver- standen. Wir plädieren für eine allgemeine Impfpflicht statt einer berufsbezogenen Impfpflicht. Unabhängig von einer allgemeinen Impfpflicht sind weiterhin effektive Maßnahmen in der Bevölkerungskommunikation und -aufklärung um- zusetzen. Dabei sind Maßnahmen zu wählen, die soziale Lagen berücksichtigen und geeignet sind, gesundheitliche Un- gleichheiten abzubauen. Eine Impfpflicht erfordert eine entsprechende gesetzliche Regelung. Das Infektionsschutzgesetz bietet dafür keinen ausreichenden Rahmen. AUSGANGSLAGE erste Spritze bekommen haben 58,8 Millionen Menschen Die COVID-19-Pandemie geht in den zweiten Winter. Zu kei- (70,7 Prozent). Eine Auffrischungsimpfung erhielten 6,6 Mil- nem Zeitpunkt war in Deutschland die Infektionsrate der an lionen Menschen. COVID-19 Erkrankten so hoch wie mehr als eineinhalb Jah- Obwohl damit bundesweit mehr als zwei Drittel der Bevöl- re nach Ausbruch des Pandemiegeschehens. Die Erkrankung kerung geimpft sind, variieren die Impfquoten regional, aber basiert zudem nicht mehr auf dem ursprünglichen Wildtyp auch in einzelnen Bevölkerungsgruppen erheblich. In eini- des Virus, sondern auf der inzwischen dominierenden mutier- gen Regionen Deutschlands, darunter Teile Sachsens, aber ROSA LUXEMBURG STIFTUNG ten sogenannten Delta-Variante, die nach bisherigen Erkennt- auch Thüringens, liegen die Impfquoten signifikant niedriger. nissen um 60 bis 80 Prozent ansteckender ist als der Wildtyp. Sie betragen in diesen Regionen nur etwas mehr als 50 Pro- Seit Anfang des Jahres 2021 stehen mehrere zugelassene zent der impffähigen Bevölkerung. Vom Ziel einer Impfquo- Impfstoffe zur Verfügung, mittels derer – eine ausreichende te von mindestens 85 Prozent der impffähigen Bevölkerung Impfquote in der Bevölkerung vorausgesetzt – es gelingen sind wir innerhalb Deutschlands weit entfernt. kann, die Pandemie zu bewältigen und zumindest ein ende- Angesichts dessen wird innerhalb der wissenschaftlichen, misches Geschehen zu erreichen. medialen und politischen Öffentlichkeit über eine COVID- Die Ständige Impfkommission (STIKO) hat in mehreren Emp- 19-Impfpflicht sowohl für einzelne Berufsgruppen als auch fehlungen den Kreis derjenigen, für die eine Impfung empfoh- für diejenige Bevölkerung, für die seitens der STIKO eine len wird, ausgeweitet, sogenannte auffrischende Booster-Imp- Impfempfehlung ausgesprochen wird, diskutiert. Das gel- fungen empfohlen und wird aller Voraussicht nach die Impfung tende Recht kennt keine Impfpflicht im engeren Sinne, sieht von Kindern im Alter von 5 bis 12 Jahren empfehlen. man von bestimmten Sonderregelungen für Soldat*innen In den vergangenen Tagen nahmen die Impfungen – auf ab. Das Verteidigungsministerium hat die Corona-Schutz- zu niedrigem Niveau – weiter Fahrt auf. Am 22. November impfung für die Männer und Frauen in der Bundeswehr am 2021 gab es erstmals wieder so viele Erstimpfungen wie 24. November 2021 duldungspflichtig gemacht. zuletzt vor zwei Monaten: 84.478. Vollständig geimpft sind Auch die Verfasser*innen dieses Beitrags sehen in der laut Robert-Koch-Institut (RKI) nun 56,6 Millionen Menschen Impfpflicht eine wohl unumgängliche Ultima Ratio zur Be- oder 68,1 Prozent aller Einwohner*innen. Mindestens eine wältigung des Pandemiegeschehens.
Aufgrund der erheblichen grundrechtlichen, individuellen zu einem COVID-19-Impfstoff sind vergleichbare Überlegun- Eingriffstiefe und der zu befürchtenden Vertiefung der sich gen, die den sozialen Ungleichheiten Rechnung tragen und innerhalb des Pandemiegeschehens herausgebildeten ge- von Beginn an einem entsprechenden zielgruppenspezifi- sellschaftlichen Bruchlinien ist es erforderlich, exakt zu klä- schen Ausgleich betonen, nicht enthalten. ren, was unter einer Impfpflicht genau verstanden wird, die Die COVID-19-Pandemie verstärkte nicht nur soziale Un- rechtlichen Grundlagen zu definieren und Fragen der prakti- gleichheiten, sondern legte auch strukturelle Verwerfungen schen Umsetzung ebenso zu beschreiben wie mögliche we- im Gesundheitssystem offen. Hierzu gehört insbesondere niger einschneidende Maßnahmen. die über Jahrzehnte vollzogene Schwächung des Öffentli- Die Impfpflicht wird im politischen Raum inzwischen von chen Gesundheitsdienstes (Kuhn/Wildner 2020; BÄK 2020) einer Allianz von Konservativen bis Progressiven befürwor- dessen Belastung und zu oft Überlastung durch das Span- tet. Dies spricht für die notwendige Breite eines gesellschaft- nungsverhältnis zwischen nationalen und regionalen Zu- lichen Konsenses. Wenn die Ministerpräsidenten von Bayern ständigkeiten des Pandemiemanagements verstärkt wurde und Baden-Württemberg, Markus Söder (CSU) und Win- (Gerlinger et al. 2021). fried Kretschmann (Grüne) in einem Beitrag der Frankfurter Der ÖGD verlor kontinuierlich Teile seiner aufgabenbe- Allgemeinen Zeitung formulieren «Trägheit, Sorglosigkeit, zogenen, institutionellen und ressourcenbezogenen Ver- Fehleinschätzungen, Verschwörungsmythen und fehlendes ankerung durch Entstaatlichung und die Umwandlung Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse – das alles führt von Pflichtaufgaben in kommunalrechtlich «freiwillige Auf- dazu, dass wir wieder massive Einschränkungen des öffent- gaben». Die verbliebenen Aufgaben des ÖGD standen in lichen Lebens bis hin zu einem erneuten Lockdown disku- Konkurrenz zur ambulanten bzw. stationären Krankenver- tieren müssen», ist dies zwar grundsätzlich zutreffend, aber sorgung. Gleichzeitig wuchsen dem ÖGD lebenslagenbe- blind für diejenigen sozialen Lagen, deren Vernachlässigung zogene Aufgaben zu, die eine vernetzte Aufgabenerfüllung auch in der Bewältigung dieser Pandemie problematisch ist. erforderlich machten, da sie sich der Bewältigung durch das So haben die Lockdowns die sozialen Ungleichheiten insbe- kommunale Gesundheitsamt allein entzogen. Dafür waren sondere auch beim Bildungszugang spürbar verschärft. So- die Gesundheitsämter jedoch gemeinhin sowohl personell ziale Ungleichheiten und Defizite im Gesundheitswesen zu als auch kapazitär nicht ausgestattet (vgl. Grunow/Grunow- analysieren und soziale Lagen einzubeziehen ist aus unse- Lutter 2000: 306). rer Sicht unverzichtbar für ein erfolgreiches und gerechtig- Mit dem «Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst» keitsorientiertes Pandemiemanagement. Die soziale Frage wurde dieser Entwicklung erstmals entgegengesteuert. Für ist demnach auch in die Debatte um eine Impfpflicht einzu- eine Impfkampagne, die sozialräumlich und lebenslagenbe- beziehen, wie wir nachstehend zeigen. zogen auf einem handlungsfähigen ÖGD aufbaut, kommt der Pakt zu spät. Seine Umsetzung ist demzufolge bereits ein GESUNDHEITLICHE UNGLEICHHEITEN UND Beitrag zu den Schlussfolgerungen aus der Pandemiebewäl- STRUKTURELLE DEFIZITE DES ÖFFENTLICHEN tigung. GESUNDHEITSDIENSTES (ÖGD) Im Sinne von Rudolf Virchow, der Medizin als eine sozia- Der Zusammenhang zwischen der sozialen Lage einerseits le Wissenschaft und Politik als Medizin im Großen verstand, und dem Gesundheitszustand andererseits ist aufgrund ei- plädieren wir bei der Umsetzung des «Pakts für den ÖGD» für ner kaum überschaubaren Zahl wissenschaftlicher Untersu- die Durchsetzung des Ansatzes «Health in all Policies», also chungen (RKI 2019; Siegrist/Staudinger 2019; Mielck 2009) eines Politikkonzepts, das die Verbesserung der Gesundheit unbestritten. Dieser Zusammenhang zwischen sozialem Sta- und die Vermeidung von Krankheit unter Berücksichtigung tus und Morbidität bzw. Mortalität wird zumeist als «gesund- der spezifischen sozialen Lagen und Ressourcen beinhaltet. heitliche Ungleichheit» bezeichnet (Mielck 2009: 7). Schon deshalb, weil beispielsweise Klima- und Gesundheits- Diese sozialen Ungleichheiten müssen sich in der Diskus- politik nicht voneinander zu trennen sind. sion und Entscheidung über die Impfpflicht niederschlagen. Unter anderem ist zu prüfen, ob eine als zu gering einge- ETHISCHE UND RECHTLICHE DIMENSIONEN schätzte Impfquote ihre Ursache auch in einer gegenüber EINER COVID-19-IMPFPFLICHT den bestehenden sozialen Ungleichheiten «blinden» oder Bevor Ende 2020 die ersten COVID-19-Impfstoffe zugelas- zumindest regional nicht ausreichend sensiblen Impfkam sen wurden, äußerten sich Vertreter*innen aus Wissenschaft pagne haben könnte. In diesem Fall wären zunächst ziel- und Politik weitgehend übereinstimmend im Sinne der Kanz- gruppenspezifische und settingorientierte Impfanstren- lerin Merkel: «Niemand wird gezwungen, sich impfen zu las- gungen zu unternehmen, bevor eine allgemeine Impfpflicht sen, sondern das ist eine freiwillige Entscheidung.» Noch im normiert wird. Sommer dieses Jahres sprach sie sich, ebenso wie weitere Zur gesundheitlich besonders vulnerablen Gruppe gehö- politische und auch wissenschaftliche Akteur*innen, gegen ren beispielsweise Menschen ohne gesicherten Aufenthalts- den französischen Weg der Impfpflicht in einzelnen Berufs- status (GFF 2021; BÄK 2013; Hoff 2011). Bereits 2019 emp- gruppen aus. fahl der Deutsche Ethikrat, dass diese Gruppe aufgrund der Wenn wir nun eine Impfpflicht als Ultima Ratio betrach- restriktiven aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen Zugang ten und in der gegenwärtigen Pandemiesituation für deren zu geschützten Impfmöglichkeiten erhalten und ärztlichen Umsetzung plädieren, so sind wir uns bewusst, dass Tat- Hilfsorganisationen, die diese Option anbieten, Rechtssi- jana Heid zuzustimmen ist, die in der Frankfurter Allgemei- cherheit garantiert und Unterstützung gewährt werden sollte nen Zeitung vom 23. November 2021 formulierte: «Vielleicht (Ethikrat 2019: 86). mehr noch als in früheren Wellen rächen sich derzeit Aussa- Im Positionspapier der gemeinsamen Arbeitsgruppe aus gen, die sich später nicht halten lassen. Etwa die, dass es in Mitgliedern der STIKO, des Deutschen Ethikrats und der Leo- Deutschland keine Impfpflicht geben werde […]. Dass nun poldina aus dem November 2020 zur Regelung des Zugangs doch eine Impfpflicht zumindest für bestimmte Berufsgrup- 2
pen kommen soll, geht nur noch zum Preis eines möglichen anderer Menschen tangiert sind. Dabei sind, wie der Ethik- Vertrauensverlusts.» rat darlegt, «nicht nur die Ausführungshandlungen, sondern Die Diskussion über die Impfpflicht gegen COVID-19 muss auch die Unterlassungshandlungen zu berücksichtigen. Wer deshalb davon geprägt sein, klar und transparent zu fassen, es unterlässt, sich (oder diejenigen Menschen, für die er oder was unter einer Impfpflicht verstanden wird, welche Maß- sie verantwortlich ist) einer Masernimpfung zu unterziehen, nahmen konkret vorgesehen sind und welche Pflichten sich fügt mit hoher Wahrscheinlichkeit (gegebenenfalls anony- für jede*n einzelne*n Bürger*in ergeben. men) anderen einen Schaden zu.» (Ethikrat 2019: 79) Wir unterscheiden, basierend auf den Ausarbeitungen des Der Ethikrat gab seinerzeit einer Regelung im Rahmen von Deutschen Ethikrats, zwischen einer gesetzlich normierten sozial verbindlichen Ethos-Regeln den Vorrang, wenngleich Pflicht, deren Nichteinhaltung sanktionsbewehrt ist, und ei- er betonte, dass sich diese Einschätzung «beim Eintreten be- ner «dem Ethos zugehörigen ‹Tugendpflicht›, also einer rei- sonderer Gefahrenlagen ändern [könne]. So wäre eine Ver- nen Moralpflicht» (Ethikrat 2019: 35). schärfung von Tugend- zu Rechtspflichten beispielsweise Die gesellschaftliche Impfpraxis ist, wie der Ethikrat aus- zu rechtfertigen, wenn eine akute Gefährdung der Gesund- führt, geradezu ein «Musterbeispiel solidarischen Han- heit großer Teile der Bevölkerung rigide Interventionen erfor- delns», das Individualwohl und Gemeinwohl miteinander derte.» (ebd.: 78) Denn «der Anspruch Dritter auf Schutz vor verschränkt. Denn Infektionskrankheiten, die von Mensch zu Fremdschädigung kann zu einem Eingriff in das Selbstbe- Mensch verbreitet werden, sind auch dadurch gekennzeich- stimmungsrecht berechtigen, gegebenenfalls auch mit der net, dass sich manche Menschen nicht ausreichend gegen Konsequenz eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit, diese Infektion schützen können, selbst wenn sie dies woll- sofern die Gefahr groß und unmittelbar drohend ist und sich ten. Hierzu gehören beispielsweise Menschen mit einer ein- nicht auf andere, weniger eingreifende Weise abwenden geschränkten Immunabwehr, aber auch diejenigen, die trotz lässt» (ebd.: 82) Zweitimpfung keinen ausreichenden Schutz entwickeln. Neben den sozialen Ungleichheiten innerhalb der Natio- PFLICHTEN UNTERHALB DER IMPFPFLICHT nalstaaten bestehen auch globale gesundheitliche Ungleich- Im Aufsatz «Impfpflicht – jetzt also doch?» beschreiben die heiten, was sich unter anderem im unterschiedlichen Zu- Gesundheitswissenschaftlerin Cornelia Betsch et al. wirksa- gang zu Impfstoffen in den entwickelten westlichen Ländern me und weniger eingreifende verpflichtende Maßnahmen. und den Ländern des globalen Südens einschließlich der Die Prämisse dieser Überlegungen, die auf der Abwägung entsprechenden Impfquoten zeigt. Da also der Impfstoffzu- der positiven und negativen Effekte einer Impfpflicht beru- gang in den verschiedenen Weltregionen nicht gleichmäßig hen, ist, dass sich nicht impfen zu lassen genauso aufwendig und insbesondere nicht gerecht verteilt ist, gefährden Unge- sein sollte, wie sich impfen zu lassen. Fehlender Solidaritäts- impfte auch bei Reisen in entsprechende Regionen diejeni- und Gemeinsinn sollte demnach nicht belohnt werden. Sie gen mit unzureichendem Zugang zur Impfvorsorge. nennen folgende Möglichkeiten: Infektionskrankheiten schaffen zwar eine gemeinsame 1) Verpflichtender Impftermin: Nicht alle, die keine Impfung Gefahrenlage, deren Abwehrmöglichkeiten individuell und in Anspruch nehmen, tun dies aus Überzeugung. Viel- aufgrund sozialer Ungleichheit asymmetrisch verteilt sind. mehr hat die Wahrnehmung einer Impfung weniger Prio- Die moralische Pflicht zur Impfung ist insoweit aus Solidari- rität. Wer einen Impftermin zugesandt bekommt, der ab- täts- und Gerechtigkeitserwägungen abzuleiten. zusagen ist, hat genauso viel Aufwand, wie diejenigen, die Wachter führt diese Argumentation weiter, indem er dar- einen Impftermin vereinbaren. Darüber hinaus kommuni- legt, dass sich in der Impfpflicht Freiheit und Solidarität inei- ziert die automatische Zusendung eines Impftermins die nanderfügen: «Da Freiheit nur real erlebt werden kann, wenn Impfung als soziale Norm (Betsch et al. 2021: 3). Zu be- der Handelnde darauf vertrauen darf, dass ihm in elementa- rücksichtigen ist, dass einerseits bekannt sein muss, wer rer Not eine mögliche und zumutbare Hilfe nicht vorenthal- noch nicht geimpft ist, und dass Termine auch verfallen ten wird, fügt sich der Solidaritätsgedanke in den Kontext ei- können, statt abgesagt zu werden. nes freiheitlichen Legitimationsmodells ein. Übertragen auf Einem Bericht des Handelsblatts zufolge erhielten die eine Impfpflicht bedeutet dies, dass nicht in erster Linie auf meisten Bürger*innen in Griechenland durch SMS oder den Schutz des zu Impfenden selbst abzustellen ist. Für sein E-Mail einen Impftermin zugesandt. Die Kontaktdaten ent- eigenes Wohlbefinden ist der Einzelne insoweit, als ihm dies stammten einem System, das am Beginn der Pandemie durch ein Impfangebot ermöglicht wurde, selbst zuständig. zur Entlastung der Arztpraxen entwickelt worden sei (WD Sich selbst auf eigene Verantwortung in Gefahr zu begeben, Bundestag 2021d: 12). ist zu Recht auch sonst nicht verboten. Wohl aber kann von 2) Verpflichtende Impfberatung: Es kann eine Verpflichtung dem Einzelnen unter Solidaritätsgesichtspunkten verlangt zur Impfberatung durch zertifizierte Impfberater*innen werden, die Voraussetzungen einer eigenen sterilen Immu- festgelegt werden, deren Nichtwahrnehmung negativ nität zu schaffen, welche eine Infektion und Weitergabe der sanktioniert wird. Nach Auffassung von Betsch et al. ist Viren auf andere verhindert.» (Wachter 2021) die individuelle Impfentscheidung nach dieser Beratung Dabei ist wiederum zu berücksichtigen, dass die Impfung, weiterhin frei, fußt jedoch einerseits auf einer wissen- die einen Eingriff in die körperliche Integrität einer Person be- schaftlich fundierten Grundlage. Die Impfberatungspflicht deutet, eine weitergehende Begründung erfordert. Diejeni- kann mit der Terminpflicht kombiniert werden. Erkenntnis- gen wiederum, die individuelle religiöse oder weltanschauli- se aus Fallbeispielen zeigen laut Betsch et al. (2021: 4), che Gründe gegen eine Impfentscheidung vorbringen, oder dass sich die Impfquote erhöht und Clusterbildungen von die Auffassung vertreten, dass eine Entscheidung für oder Ungeimpften vermieden werden. gegen eine Impfung eine rein private Entscheidung sei, müs- Die Zertifizierung der Impfberater*innen soll laut Betsch et sen die Einschränkung vergegenwärtigen, dass individuelle al. vorbeugen, dass impfkritische Ärzt*innen aus der Impf- 3 Entscheidungen ihre Grenze dort finden, wo die Interessen beratung ein Geschäftsmodell entwickeln (ebd.). Bereits
der Ethikrat hatte in seiner Stellungnahme die Empfeh- IMPFPFLICHT IST NICHT GLEICH ZWANGS lung formuliert, gegenüber Ärzt*innen, «die öffentlich (ins- IMPFUNG – BEGRÜNDUNG, SANKTIONEN UND besondere in sozialen Medien) Fehlinformationen über die ANREIZE. Masernimpfung verbreiten, […] berufsrechtliche Sanktio- Wie wir bereits ausführten, sollen gesetzliche Zwänge nen zu verhängen» (Ethikrat 2019: 88). grundsätzlich nur als Ultima Ratio zum Einsatz kommen. In Eine verpflichtende Beratung ist grundsätzlich kein neu- Übereinstimmung mit denjenigen, die für eine Impfpflicht es Instrument, denn § 34 Abs. 10a Infektionsschutzgesetz plädieren, weil sie der Auffassung sind, dass alle anderen (IfSG) sieht die Verpflichtung der Erziehungsberechtigten niedrigschwelligeren Maßnahmen an ihre Grenzen gestoßen vor, bei Kindern, die in einen Kindergarten aufgenommen sind und auch eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen werden, den Nachweis einer vorhergehenden ärztlichen nicht ausreichend ist, beschreiben wir in diesem Abschnitt, Beratung zum Impfschutz vorzulegen. Bei fehlendem was wir unter einer Impfpflicht verstehen und welcher recht- Nachweis kann das zuständige Gesundheitsamt die sor- liche Weg zu wählen ist. geberechtigte Person zu einem Beratungsgespräch einla- Zunächst müssen jedoch, mit Blick auf die laufende und den. sich voraussichtlich polarisierende Debatte um die Impf- Diese Ansätze lassen sich zusätzlich mit Maßnahmen der pflicht Argumente für und gegen die Impfpflicht abgewo- aufsuchenden, zielgruppenspezifischen und settingorien- gen werden. Der Staatsrechtler Uwe Volkmann argumentier- tierten Impfstrategie verbinden. te am 21. November2021 im Deutschlandfunk, dass bereits heute die «Ausgrenzung der Ungeimpften» durch eine «mo- IMPFPFLICHT FÜR BESTIMMTE BERUFS ralische Dauerbeschallung» begleitet würde, die schädliche GRUPPEN IN DER COVID-19-PANDEMIE Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima habe. Dem- U NZUREICHEND gegenüber wäre eine Impfpflicht eine klare und einfache Lö- In der bisherigen Impfkampagne wurde unter anderem da- sung, da sie auf das Recht statt auf moralische Ausgrenzung rauf orientiert, dass diejenigen, die in besonders belasteten setzen würde. Berufen des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens tä- Betsch et al. (2021: 5 ff.) identifizieren fünf Argumente für tig sind respektive körpernahe Dienstleistungen ausüben, ei- eine Impflicht und fünf mögliche Nachteile; sie sind in nach- nem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind. folgender Übersicht zusammengestellt (siehe Tabelle auf der Derjenige Teil der Beschäftigten in den genannten Berufs- folgenden Seite). gruppen, der aufgrund eigener Entscheidung keinen ausrei- Die Durchsetzung einer Impfpflicht mittels körperlichen chenden Impfschutz hat, stellt für die ihm anvertrauten Per- Zwangs ist aus unserer Sicht nicht zu rechtfertigen und wird sonen ein Risiko dar, die Infektion an sie weiterzugeben. deshalb von uns weder vorgeschlagen noch begründet. Wir Deshalb wird in der gegenwärtigen Debatte über die Impf- betonen deshalb analog zu Betsch et al., dass auch bei ei- pflicht auch argumentiert, dass eine berufsgruppenspezifi- ner rechtlich normierten und sanktionierten Impfpflicht kein sche Impfpflicht einerseits notwendig und andererseits eine Mensch zu einer Impfung gezwungen werden wird. geringere gesellschaftliche Eingriffstiefe habe als eine allge- Eine rechtlich normierte Impfpflicht bedeutet nach unse- meine Impfpflicht. rer Auffassung, dass ungeimpfte Personen ein noch zu be- Der Ethikrat bejahte in seiner Stellungnahme von 2019 stimmendes Set an Sanktionen zu vergegenwärtigen haben. aus Gründen des Gemeinschaftsschutzes «zumindest ein Darunter können Zugangsbeschränkungen zu gesellschaft- starkes moralisches Gebot zur Impfung für solche Perso- lichen Bereichen fallen, die nicht zur Grundversorgung ge- nen […], die beruflich ein erhöhtes Risiko tragen, sich zu in- hören (vgl. die derzeit geltenden 2G-Regelungen), oder wie fizieren und die Infektion an Dritte, insbesondere anfällige bei der Masernimpfpflicht die Verhängung von Geldbußen und damit besonders vulnerable Personen weiterzugeben. oder das Verbot, bestimmten Berufen beispielsweise im Dies gilt umso mehr, als sie mit ihrer Berufswahl freiwillig Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen nachzugehen eine erhöhte Verantwortung übernommen haben.» Er plä- (Betsch et al. 2021: 4). dierte deshalb mit Ausnahme eines Mitglieds für eine mit Vorgeschlagen wurde zudem, dass Bürger*innen, die Tätigkeitsverboten sanktionierbare Impfpflicht für Berufs- nach dem 1. Februar 2022 an COVID-19 erkranken und nicht gruppen in besonderer Verantwortung. In einer Ad-hoc- mindestens zweimal geimpft bzw. nach einer Genesung Stellungnahme aus dem laufenden Jahr unterstrich er die- einmal geimpft sind, keine Entgeltfortzahlung bei Arbeits- ses Plädoyer (Ethikrat 2021). unfähigkeit mehr erhalten oder die Krankenkassen für die Seitens der Ärzteschaft wurde zum Beginn des laufenden genannte Personengruppe keine Behandlungskosten finan- Jahres, wie verschiedene Medienberichte dokumentierten, zieren, die nachweislich durch eine COVID-19-Erkrankung eine berufsbezogene Impfpflicht abgelehnt. Begründet wur- ausgelöst wurden. Einer entsprechenden Beschlusslage de die Ablehnung mit der Befürchtung, dass angesichts der hatten in der Gesundheitsministerkonferenz die beiden lin- sowieso bereits bestehenden personellen Belastung des ken Gesundheitsministerinnen Heike Werner (Thüringen) Gesundheitswesens (Pflegenotstand) die Androhung einer und Claudia Bernhard (Bremen) nicht zugestimmt. Der Um- berufsbezogenen Impfpflicht bestimmte Beschäftigte mo- stand, dass Beamt*innen von dem seit dem 1. November tivieren könnte, ihren Beruf zu verlassen bzw. die Durch- 2021 geltenden Wegfall der Lohnfortzahlung ausgenom- setzung der Impfpflicht diesen Effekt zusätzlich verstärken men sind, verstärkt die diesem Weg innewohnende Unge- könnte. rechtigkeit. Obwohl wir grundsätzlich der Abwägung des Ethikrats Denkbar wäre grundsätzlich auch, dass eine bundesge- folgen können, der eine Impfpflicht insbesondere für Be- setzliche Regelung Vorgaben für den Zugang Ungeimpfter rufsgruppen in besonderer Verantwortung befürwortet, er- zur Personenbeförderung normiert (WD Bundestag 2021a), scheint dies im gegenwärtigen Pandemiegeschehen nicht doch dürfte dies vermutlich nicht den Bereich der Grundver- ausreichend und auch nicht ausreichend gerecht. sorgung des öffentlichen Nahverkehrs umfassen. 4
Argumente für eine Impfpflicht Mögliche Nachteile einer Impfpflicht Eine Impfpflicht ist sozial und stärkt das Gemeinwohl, da Eine Impfpflicht entbindet nicht von der Aufklärung, wes- durch eine relevante Erhöhung der Impfquote Gesundheit, halb die aktive und niedrigschwellige Aufklärung weiter- Gesundheitsversorgung und Wohlbefinden der Gesamtbe- hin essenziell bleibt. völkerung gesteigert werden können. Die Impfpflicht kann effektiv sein, da wissenschaftliche Un- Eine Impfpflicht kann psychologische Nebenwirkungen tersuchungen zeigen, dass in bestimmten Bereichen die haben. So zeigen Untersuchungen, dass diejenigen, die Impfquoten höher sind als ohne Impfpflicht. eine Impfpflicht ablehnen, künftig auch andere freiwillige Impfungen verweigern. Eine Impfpflicht gegen COVID ist aktuell akzeptiert, wie ent- Eine Impfpflicht kann das Signal aussenden, dass freiwil- sprechende Daten zeigen. lige Impfungen weniger wichtig seien und deshalb «Impffaulheit» befördern. Eine Impfpflicht kann sich positiv auf die Gesellschaft auswir- Eine zielgruppenspezifische Impfpflicht (z.B. 60+) kann ken, da Impfen zum sozialen Vertrag wird: «Ich schütze dich, zwar die Impfbereitschaft in der betreffenden Gruppe er- du schützt mich». höhen, aber die Impfbereitschaft in Bevölkerungsgrup- pen senken, für die es keine Empfehlung gibt. Eine Impfpflicht stärkt das Vertrauen derjenigen in die staatli- Eine Impfpflicht braucht begleitende Maßnahmen, um chen Institutionen, die sich haben impfen lassen und wenn die Akzeptanz der Maßnahmen und das Vertrauen so- sich mehr Menschen impfen lassen, und in der Folge ihre Be- wohl in das Gesundheitssystem als auch in die politi- fürchtungen nicht bestätigt sehen, stärkt dies auch das Ver- schen Entscheider*innen zu stärken. trauen in Impfungen allgemein. Neben den vorstehend genannten Sanktionen ist von un- che Maßnahme, insbesondere auf regionaler Ebene statt im terschiedlicher Seite, unter anderem durch den Bundestags- bundeseinheitlichen Rahmen, ausreichend sind oder einer abgeordneten Christian Görke (DIE LINKE) der Vorschlag ei- gesonderten gesetzlichen Regelung bedürfen. In den nach- nes Impfbonus unterbreitet worden. Im Gespräch sind Boni folgenden Ausführungen konzentrieren wir uns auf diese in Höhe von 100 bis 400 EUR. Angesichts der bereits millio- Frage und verweisen für weitere Abwägungen, insbeson- nenfach vorgenommenen Impfungen stellt sich die Frage, dere im Hinblick auf individuelle Schutzgüter etc., auf ent- inwieweit ein solches Bonussystem diejenigen bevorteilt, die sprechende Untersuchungen (WD Bundestag 2016, 2021b bislang eine Impfung als nachrangig angesehen haben, aber u. 2021c; Schaks/Krahnert 2015). deren Impfung auch durch Instrumente wie zum Beispiel ei- Abgeleitet aus Artikel 74 Abs. 1 Nr. 19 Grundgesetz (GG), nen verpflichtenden Impftermin erreichbar wären. der dem Bund die Zuständigkeit innerhalb der konkurrieren- Darüber hinaus würde eine solche Mittelallokation im den Gesetzgebung für Maßnahmen gegen gemeingefähr- Umfang von geschätzt 37,5 Milliarden Euro Trittb rett liche und übertragbare Krankheiten zuweist, hat dieser das fahrer*innen motivieren, die Impfung hinauszuzögern, um Infektionsschutzgesetz erlassen. Nach allgemeiner Lesart vom Bonus profitieren zu können. Kritisch bewertet einem enthält das IfSG für eine generelle Impfpflicht keine Ermäch- Medienbericht zufolge Dominik Ernste vom Institut der deut- tigung, doch werden sowohl der Bund (§ 20 Abs. 6 IfSG) als schen Wirtschaft (IW) in Köln den Vorschlag aus verhalten- auch die Länder (§ 20 Abs. 7 IfSG) ermächtigt, mittels Erlass sökonomischer Sicht, da der monetäre Anreiz die ethische einer Rechtsverordnung anzuordnen, «dass bedrohte Teile Verpflichtung (Solidaritätsgedanke) aushebeln würde, wäh- der Bevölkerung an Schutzimpfungen teilzunehmen haben, rend Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie und wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Konjunkturforschung (IMK) angesichts der aktuellen Inflati- Verläufen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu on negative Effekte befürchtet (Holewik/Behrens 2021). rechnen ist». (WD Bundestag 2016: 3) Betsch et al. betonen in ihrer Abwägung von Gründen für Weder der Bund noch die Länder haben bislang von die- und gegen eine Impfpflicht, dass das Vertrauen Ungeimpf- ser Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung Ge- ter in staatliche Institutionen geringer ist als das der Geimpf- brauch gemacht. ten. Der Verzicht auf eine Impfpflicht dürfte das Vertrauen Soweit eine Impfpflicht für bedrohte Teile der Bevölke- dieser Personen in staatliche Institutionen zumindest we- rung im Falle des aktuellen Pandemiegeschehens und der niger erhöhen als der zu befürchtende Vertrauensverlust Schwere seiner Verlaufsform, einschließlich der drohen- der Geimpften, der entsteht, wenn nur sie die Konsequen- den Überlastung des Gesundheitswesens, als ein verfas- zen aus der geringen Impfquote zu tragen haben (Betsch et sungsrechtlich gerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Le- al. 2021: 7). Unter diesem Gesichtspunkt setzen Impfboni ben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG Fehlanreize. angesehen wird, wird dennoch davon ausgegangen, dass dies nicht auf der Norm des § 20 Abs. 6 und 7 IfSG aufbau- REGELUNGSKOMPETENZ UND DERZEITIGE en dürfe (Rixen 2021). Denn diese sieht Schutzimpfungen RECHTSLAGE EINER COVID-19-IMPFPFLICHT nur für «bedrohte Teile der Bevölkerung» vor, weshalb eine In der gegenwärtigen Debatte um eine mögliche Impfpflicht generelle Impfpflicht zur Herstellung von Herdenimmuni- bestehen unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die im tät, durch ein eigenständiges Bundesgesetz zu regeln wäre 5 Infektionsschutzgesetz getroffenen Regelungen für eine sol- (Wolff 2020: 3).
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