Novak Djokovic Ein Leben lang im Krieg - Verlag Die Werkstatt
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Daniel Müksch Novak Djokovic Ein Leben lang im Krieg VERLAG DIE WERKSTATT
ÖKOSTROM Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-7307-0604-6 1. Auflage Copyright 2022 Verlag Die Werkstatt GmbH Siekerwall 21, D-33602 Bielefeld www.werkstatt-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Foto Umschlagseite 1: IMAGO/Xinhua Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen Druck und Bindung: CPI, Leck ISBN 978-3-7307-0603-9
Inhalt Vorwort ................................................................... 7 Prolog ................................................................... 12 Kapitel 1 Die Lüge eines kleinen Jungen ............................ 16 Kapitel 2 Dijana und Srdjan .......................................... 20 Kapitel 3 Unschlagbares Duo aus den Bergen ...................... 24 Kapitel 4 Die Bomben – Nächte voller Angst .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Kapitel 5 „Nole“ in Oberschleißheim .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Kapitel 6 Die Erlösung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Kapitel 7 Andere Welten: Die Jugend seiner Rivalen ............... 56 Kapitel 8 Die Rakete startet. Oder: Der Soldat zieht in den Krieg .. . 66 Kapitel 9 Italienische Sehnsucht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Kapitel 10 Marjan Vajda ............................................... 86 Kapitel 11 Der Zorn des Maestros .................................... 93 Kapitel 12 2007 – Bereit zum Abheben .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Kapitel 13 Krönung Down Under .................................... 111 Kapitel 14 Auf der Suche nach Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Kapitel 15 Aus sehr reich wird verdammt reich ...................... 130 Kapitel 16 Wissenschaft made in Austria .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Kapitel 17 Dr. Igor: Erfolg geht durch den Magen ................... 143 Kapitel 18 Ruhe vor der Ewigkeit .................................... 149 Kapitel 19 Ein Jahr für die Geschichtsbücher ........................ 154 Kapitel 20 Vergoldeter Thron ........................................ 164 Kapitel 21 Tod. Verlobung. Boris Becker ............................. 170 Kapitel 22 Mr. and Mrs. Djokovic .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Kapitel 23 „Der rote Baron“ tritt ab. Das Missverständnis Agassi ... 189 Kapitel 24 Zurück in die Zukunft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Kapitel 25 Kobe und Zlatan – Superstarfreunde ..................... 205 Kapitel 26 „Djoker“ unter Beschuss .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Kapitel 27 Die Tränen von New York ................................. 220 Kapitel 28 Drama Down Under ...................................... 227 Anhang Rekorde von Novak Djokovic .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Zeit, Danke zu sagen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
7 Vorwort Die spektakulärste Niederlage im Leben von Novak Djokovic ist am 16. Januar 2022 um 7.52 Uhr mitteleuropäischer Zeit besiegelt. Sie endet nicht mit einem Handshake am Netz, sondern mit einem hand- festen Rauswurf. Aufgrund eines einstimmigen Richterspruchs am Bundesgericht Melbourne muss der Serbe Australien umgehend ver- lassen. Er darf nicht an den Australian Open 2022 teilnehmen. Nicht versuchen, bei seinem Lieblingsturnier seinen 21. Grand-Slam-Titel zu gewinnen und damit Rafael Nadal und Roger Federer auch in diesem Ranking hinter sich zu lassen. Stattdessen wird der Weltranglisten- erste wie ein Straftäter von australischen Grenzpolizisten zum Flug- hafen in Melbourne eskortiert und mit einer Maschine außer Landes geflogen. Spiel, Satz – und Sieg Australien. Flugzeug statt Rod Laver Arena. Doch es kommt sogar noch schlimmer: Gut zwei Wochen später gewinnt Rafael Nadal das Turnier. Der Spanier geht damit mit seinem 21 Grand-Slam-Titel im Rennen der großen drei in Führung. Djokovic will, darf jedoch nicht – Nadal triumphiert. Der Anfang des Jahres als sportlicher Super-GAU für den Serben. Dazu noch die riesigen Kratzer an seinem ohnehin schon ramponierten Image. Tage zum Vergessen, die niemals vergessen werden. Wie es so weit kommen konnte? Es ist ein Schauspiel in mehreren Akten, das die Welt so noch nicht gesehen hat. Ein bisweilen bizarr anmutender Kampf des weltbesten Tennisspielers um ein Einreisevisum, der im Januar 2022 von Aus tralien aus die ganze Welt beschäftigt. Ein Kampf, der sich im Laufe des Jahres 2021 bereits angekündigt hat. Seitdem die ersten amtlich zugelassenen Vakzine gegen das Corona-Virus zur Verfügung stehen,
8 Vorwort hat sich Novak Djokovic einer Impfung verweigert und sich damit auch auf Kollisionskurs mit den Australian Open begeben. Deren Ver- anstalter haben frühzeitig angekündigt, einen strikten Kurs für die Teilnahme am ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres 2022 zu fahren: Starterlaubnis nur für gegen Covid-19 geimpfte Spieler. Lange hat Djokovic öffentlich offengehalten, ob er in Australien auf- schlagen wird. Kurz nach dem Jahreswechsel überschlagen sich dann die Ereignisse. Über seine Social-Media-Kanäle Twitter und Insta- gram teilt der Serbe mit, dass er eine Ausnahmegenehmigung von den Turnierveranstaltern sowie dem Bundesstaat Victoria, in dem der Austragungsort Melbourne liegt, erhalten hat und nun voller Vor- freude nach Down Under reise. Noch während der „Djoker“ über den Wolken schwebt, entbrennt eine auch außerhalb Australiens geführte Debatte über Pandemieprivilegien für Superstars und Superreiche. Am Flughafen in Melbourne wird Djokovic zunächst die Einreise verwehrt. Seine Anwälte legen umgehend Einspruch ein. Die Regie- rung setzt den Tennisspieler in einem Hotel in der Stadt fest. Nach mehreren juristischen Wendungen muss Djokovic letztlich das Land verlassen und die Heimreise binnen fünf Stunden nach dem Urteils- spruch antreten. Elf Tage nach seiner versuchten Einreise hat Novak Djokovic den härtesten Kampf seiner Karriere verloren. Wer ist dieser Mann, der nicht nur die Tenniswelt Anfang 2022 spaltet? Die einen brandmarken Djokovic als Impfgegner, Querdenker und serbischen Nationalisten. Die anderen stilisieren ihn zum Justizopfer, Spielball der Politik oder gar Kämpfer für die Freiheit. Novak Djokovic ist ein Eindringling. Er hat sich Zutritt zu einem exklusiven Kreis verschafft. Nicht mit Bitcoin, Messer oder Spreng- stoffgürtel. Sondern mit seinem 645-quadratzentimetergroßen Tennisschläger. Roger Federer und Rafael Nadal dominieren das Geschehen auf beiden Seiten des Netzes. Aus dem Sieger-Duo Federer-Nadal formt der Serbe mit seiner Waffe ein Trio. Er ver-
9 drängt die Widersacher Schlag für Schlag, Sieg auf Sieg aus fast jeder Rekordstatistik. Anfang des neuen Jahrtausends funktioniert die Welt zwischen Top- spin und Return im friedlichen Zweiklang. Nadal beherrscht die rote Asche wie keine „Sandplatzwühlmaus“ zuvor. Besonders die French Open in Paris, das prestigeträchtigste Sandplatzturnier der Welt. Roger Federer wiederum dominiert den heiligen Rasen von Wim- bledon. Den Center Court in London, das ehemalige „Wohnzimmer“ von Boris Becker, baut der „Maestro“ zu seiner fast uneinnehmbaren Festung aus. Zwischen 2005 und 2007 geht entweder Federer oder Nadal bei elf von zwölf Grand-Slam-Turnieren als Sieger hervor. Das Duo präsen- tiert den Fans ein simples Szenario: Hier der elegant auftretende Schweizer, der mit seiner perfekten Technik über den Platz gleitet. Dort der malochende Mallorquiner, der jede Vorhand und jede Rück- hand über das Netz prügelt. Seine unbändige Kraft mit lautstarkem Stöhnen befeuert. „Gehörst du zum Lager Federer oder zum Lager Nadal?“ Lediglich diese Frage müssen Tennisfans in jenen Tagen beantworten. Danach können sie genüsslich die Rekordjagd der beiden Ausnahmeathleten beobachten. Die Tennisweltspitze ist eine geschlossene Gesellschaft zweier Spieler, die seit ihrer Kindheit als große Versprechen für die Zukunft gegolten haben. Federer hat die Jugendweltrangliste sou- verän angeführt. Nadal steigt gleich bei den Herren ein und beschränkt seine Auftritte bei Jugendturnieren lediglich auf ein Minimum. Dann kommt Novak Djokovic wie aus dem Nichts. Will man die Karriere von Novak Djokovic und auch den Menschen dahinter verstehen, muss man in dessen Kindheit abtauchen. Eine Kindheit zwischen der serbischen Hauptstadt Belgrad und den Bergen
10 Vorwort von Kopaonik. Zwischen Tennis und Bomben. Zwischen sportlichem Talent und dem Kampf ums finanzielle Überleben. Das sind die Bau- steine seiner Jugend. Ohne den Blick auf die Jahre als kleiner Junge in einer von der Nato zerbombten Stadt ist die Person Novak Djokovic nicht zu entschlüsseln. Der Mann, der drauf und dran ist, die Rekorde von Federer und Nadal zu pulverisieren, erntet nicht annähernd die gleiche Form an Liebe, Verehrung und Bewunderung, wie sie dem Schweizer oder dem Spa- nier zuteilwird. In den direkten Duellen ergreifen Zuschauer bis- weilen offen Partei für Djokovics Kontrahenten. Sie buhen den serbi- schen Eindringling aus. In den sozialen Medien wird er angefeindet. Es scheint, als liege nur die Heimat ihrem „Nole“ – Djokovics Spitz- name in Serbien – bedingungslos zu Füßen: Wir gegen den Rest der Welt! „Nicht alle Tennis-Champions kommen aus den Country-Clubs der Reichen“, schreibt Novak Djokovic einmal im Rückblick auf seine Her- kunft und den Start seiner Karriere. Eine klare Kampfansage an Roger Federer und Rafael Nadal, die für ihn Produkte dieser Country-Clubs und damit des Tennis-Establishments sind. Unterschiede lassen sich in der Tat ausmachen. In seiner Biografie gibt Rafael Nadal zu, dass er bis heute mit Ein- schlafschwierigkeiten zu kämpfen hat. Auch als erwachsener Mann in den Dreißigern lässt der Sandplatzkönig jede Nacht das Licht an. Dunkelheit mache ihm Angst, sagt er, der als Kind seine Mama Ana Maria bittet, das Licht im Zimmer zum Einschlafen anzulassen. Dem- gegenüber weckt Dijana Djokovic ihren Sohn, weil die Nato-Kampf- pflugzeuge Bomben auf die Hochhäuser von Belgrad abwerfen. Eine Kindheit im Krieg trifft auf eine Kindheit in warm erleuchteter Kuschelatmosphäre. Weder Nadal noch Djokovic sind für ihre Her- kunft verantwortlich. Aber die Erfahrungen zweier maximal unter- schiedlicher Lebensgeschichten in jungen Jahren hinterlassen Spuren
11 für ein ganzes Leben. Der Kriegsjunge, der in die friedliche Welt der Country-Club-Boys eindringt. Und Djokovic spielt nicht einfach nur mit. Er setzt neue Maßstäbe. Kein Spieler steht länger an der Spitze der Weltrangliste. Im März 2021 kassiert Djokovic die bisherige Bestmarke von Roger Federer – 310 Wochen als Nummer eins – und baut sie Woche für Woche aus. Mit inzwischen 34 Jahren liegen noch einige gute Jahre vor dem Modellathleten, in denen er seine Titelsammlung erweitern wird. Der zweifache Familienvater hat seinen Lebenswandel derart dem Pro- fitennis untergeordnet, dass er problemlos noch mit 40 Jahren auf allerhöchstem Niveau spielen kann. Sein Umfeld kolportiert gern, dass Ärzte nicht glauben können, einen Mittdreißiger vor sich zu haben, wenn sie die Werte und Röntgenbilder des Rekordmanns ana- lysieren. Nadal und Federer haben auch noch den ein oder anderen Sieg im Arm, allerdings mangelt es ihnen an der früheren Konstanz. Ihre Körper streiken öfters, was die beiden zu längeren Pausen zwingt. Die Uhr tickt eindeutig für den „Djoker“. In den kommenden Jahren wird er noch viele Rekorde brechen und neue aufstellen können. Über Djokovics sportliche Einmaligkeit herrscht schnell Einigkeit. So gut wie jeder, der in diesem Buch zu Wort kommt, hebt dessen außergewöhnliche Fähigkeiten hervor. Es sind nicht Ballgefühl oder Technik. Es ist seine Einstellung. Seine Disziplin. Seine mentale Stärke. Davor gehen die Gegner in die Knie. Und mit diesen Waffen zieht Novak Djokovic Turnierwoche für Turnierwoche weiter. In seinen ganz persönlichen Krieg.
12 „Sport ist wie Krieg – nur ohne Waffen“ GEORGE ORWELL Prolog Mai 2016, Kopaonik Plötzlich versagt ihm die Stimme. Novak Djokovic muss absetzen, tief schlucken. Die Reise in die Vergangenheit hinterlässt Spuren. Seine Augen werden feucht. Aus dem Englischen wechselt er in seine ser- bische Muttersprache – sein Zufluchtsort in diesem Moment, in dem der beste Tennisspieler der Welt seine Emotionen nicht kontrollieren kann. Der seltene Blick in die Seele des Serben entstammt einem Video, das Djokovic aufgenommen und via „Facebook Live“ im Mai 2016 mit der Welt geteilt hat. Gemeinsam mit seinen beiden jüngeren Brüdern Marko und Djordje sowie seiner Ehefrau Jelena kehrt er darin an jenen Ort zurück, der seine Liebe zum Tennis entfacht hat: Kopaonik. Etwa 260 Kilometer südlich von Belgrad gelegen und für den Sportler und Menschen Novak Djokovic bedeutsamer als seine Geburtsstadt Belgrad. Hier, an der Grenze zum Kosovo, verbringt er große Teile seiner Kindheit, seine Eltern führen in dem Skigebiet eine Pizzeria. In Kopaonik steht Novak das erste Mal auf einem Tennisplatz. Und hier trifft er Jelena Gencic. Seine erste Trainerin, die zu einer der einfluss- reichsten Personen in seinem Leben wird. An diesem sonnigen Maitag im Jahr 2016 wandert Novak Djokovic mit den Brüdern und seiner Ehefrau knapp vier Stunden vom Tal hinauf zu dem ehemaligen Tennisresort. Gute sechs Kilometer, 700
13 Höhenmeter legen sie zurück. Ein Klacks für das sportliche Quartett. Mit im Gepäck: ein Tennisschläger. „Nole“ will ein paar Bälle gegen jene Wand spielen, die an den Nachmittagen seiner frühen Kindheit stundenlang ein unbarmherziger, fehlerfreier Gegner gewesen ist. Das Facebook-Video beginnt als launiges Urlaubsfilmchen. „Hallo, ich begrüße euch. Wir sind live“, heißt Djokovic seine Follower im Ausflugslook willkommen: Funktionskleidung, Rucksack, Dreitage- bart. Um ihn herum sieht man den grünen dicht bewachsenen Wald, der Himmel strahlt blau. Keine Touristen weit und breit. Traumhafte Bedingungen für die kleine Wandertruppe. Jelena Djokovic huscht noch schnell durchs Bild, dann schwenkt „Nole“ auf die Hauptdarstel- lerin seines Videos: die Tenniswand. Man benötigt Fantasie, um die Wand ihrer ursprünglichen Funktion zuordnen zu können. Sträucher klettern an ihr hoch. Braune, rostfarbene Streifen fräsen sich von der einen auf die andere Seite. In der Mitte dann etwas, das den langen Kampf mit der Natur überstanden hat: eine in weiß gezogene Linie, die das Netz symbolisieren soll. Vermutlich hat seit Jahren hier nie- mand mehr einen Ball geschlagen. „Dies ist meine Lieblings-Tenniswand auf der ganzen Welt“, sagt Novak Djokovic, tritt zur Seite und erklärt, dass er und seine Brüder an diesem Ort ihre Kindheit verbracht haben. Das letzte Mal seien sie 1998 hier gewesen. „Nur ein Jahr bevor die schrecklichen Bombardie- rungen so viele Ruinen hinterlassen haben.“ Die Berge um Kopaonik, einem der beliebtesten Wintersport-Orte Jugoslawiens, werden im Frühsommer 1999 zum Ziel der Nato-Kampf- flieger. Deren Bomben zerstören das Naturidyll. Djokovic dreht die Smartphone-Kamera und sagt: „Das war unsere Lounge. Dort haben wir als Kinder viel Zeit verbracht, hatten großartige Momente. Haben mit der Familie, mit Freunden gegessen und getrunken. Und bei einem Lagerfeuer einfach die Zeit genossen.“ Man sieht nicht mehr als einen Baumstamm, verwilderte Büsche. Dann die Tenniswand. „Sie hat überlebt. Trotz vieler Einschläge. Die Löcher in der Wand sind durch die Bomben entstanden. Auf der einen Seite ist es traurig, die Wand in so einem Zustand zu sehen. Auf der anderen Seite ist es
14 Prolog jedoch schön zu sehen, dass die Wand noch steht. Genau hier habe ich meine ersten Bälle geschlagen“, fährt Djokovic fort. „Sonne. Kein Lärm. Nur Natur. Ein wunderschöner Tag in Kopaonik, Serbien. Was will man mehr?“ Djokovic blickt nun direkt in die Sonne, er schließt seine Augen. Zunächst wirkt es, als irritierten ihn die hellen, blendenden Strahlen. Seine Stimme gerät ins Stocken. Als er die Augen wieder öffnet, sieht man, dass sie feucht sind. Er kratzt sich am Kopf. Eine Übersprung- handlung, mit der er von seinen Gefühlen ablenken will. Djokovic wechselt ins Serbische. Als brauche er das Gefühl von Geborgenheit. Von Sicherheit. Die gibt ihm die Sprache seiner Eltern, Großeltern, die Sprache seiner Landsleute, die ihn wie einen Heiligen verehren. Sein Weg im Facebook-Video führt ihn nun zu einer Art Baumhaus. Auch hier lässt die Gegenwart glücklich spielende Kinder allenfalls noch erahnen. Djokovics Nase läuft. Immer noch auf Serbisch erinnert er seine Brüder daran, wie viel Spaß sie damals hier gehabt haben. Nach einer knappen Minute fängt sich der Tennisstar wieder und erklärt – wieder auf Englisch: „Meine Eltern haben diesen Tennisklub einige Jahre geführt. Er gehört für mich zu den drei wichtigsten Ten- nisklubs in der Welt. Weil er eine ganz besondere Bedeutung für mich hat, allerdings auch weil er in dieser einzigartigen Umgebung liegt.“ Nur einer der drei Plätze der Anlage besitzt überhaupt noch einen Netzpfosten. Doch auch der verschwindet nahezu komplett in hoch geschossenem Unkraut. „Nach den Nato-Bomben“, sagt Djokovic, „ist jahrelang niemand an diesem Ort in Kopaonik gewesen. Viele Bomben sind nicht explodiert und lagen lange als stille Bomben auf dem Gelände.“ Im Spätsommer 2012 sind in der Gegend zunächst zwei Soldaten, kurz darauf dann der Mitarbeiter einer Spezialfirma für Kampfmittelbeseitigung ums Leben gekommen. Novak Djokovic greift zum Tennisschläger, lässt aber seiner Frau und Bruder Djordje zunächst den Vortritt. Nicht ohne ein paar Frotze- leien über deren Tenniskünste von sich zu geben. Seiner Frau rät er grinsend: „Du musst über die weiße Linie schlagen!“ Dann schwingt Djokovic selbst das Racket und lobt die alte, verwitterte Wand: „Der
15 beste Trainingspartner, den ihr haben könnt, Leute. Glaubt mir, dieser Trainingspartner verschlägt keinen Ball.“ Noch ein kleiner Kunstschuss durch die Beine, einer hinter dem Rücken – dann verabschiedet sich der serbische Volksheld lächelnd. „Ich hoffe, ihr hattet Spaß“, sagt er. „Ich wollte diesen besonderen und emotionalen Moment mit euch teilen.“ Sieben Minuten und vierund- fünfzig Sekunden lang ist das Video. Fast acht Minuten im Eiltempo durch das Leben von Novak Djokovic. Fast acht Minuten, in denen man tief in die Welt der Familie Djokovic eintaucht. Und mitbekommt, welch tragende Rolle darin Kopaonik spielt.
16 Kapitel 1 Die Lüge eines kleinen Jungen Die Karriere des Tennisspielers Novak Djokovic beginnt mit einer Lüge. Es ist Anfang Juni 1993. Der Frühsommer in Kopaonik bietet perfekte Bedingungen für das erste Tennistrainingscamp der 56-jäh- rigen Jelena Gencic. Eine im ehemaligen Jugoslawien bekannte Ex- Sportlerin und Trainerin. 32 nationale Titel hat sich die Enkelin des prominenten jugoslawischen Mediziners Lazar Gencic im Tennis erspielen können. Auch für die jugoslawische Handball-National- mannschaft läuft sie über Jahre auf. Gencic ist eine Allroundsport- lerin, die nach der aktiven Karriere ihre Erfüllung in der Arbeit mit jungen Tennistalenten gefunden hat. Bis im Sommer 1993 ein kleiner Junge namens Novak Djokovic in ihr Leben tritt, ist Monica Seles ihre berühmteste Entdeckung. Wie groß der Einfluss von Gencic auf die im Sommer 1993 von Steffi Graf an der Weltranglistenspitze abgelöste Seles gewesen ist, darüber existieren heute unterschiedliche Inter- pretationen. Manche bezeichnen Gencic als Ex-Trainerin von Seles, was aus dem Umfeld der großen Steffi-Graf-Rivalin bestritten wird. Fest steht, dass Gencic für die Jugendförderung der jugoslawischen Tennistalente verantwortlich ist, als die Teenagerin Seles ihre ersten Turniere bestreitet. Auch mit dem jungen Goran Ivanisevic, der heute Trainer von Novak Djokovic ist, tourt Gencic über die Tennisplätze Europas – oder besser gesagt: dorthin, wohin es das kommunistische Regime erlaubt. Jelena Gencic hat ihren Sport im ehemaligen Jugoslawien als Amateurin betreiben müssen. Nun erwartet man von der einstigen Vorzeigeathletin, dass sie ihrem Land etwas zurückgibt. Schon mit Anfang 30 beginnt Gencic, mit talentierten Jugendlichen zu arbeiten. Es wird ihre große Leidenschaft. Wobei sie nie eine Ausbildung zur Tennistrainerin absolviert hat. Kunstgeschichte hat Jelena Gencic stu- diert, einen Uni-Abschluss in Psychologie besitzt sie. Aber es ist die
Die Lüge eines kleinen Jungen 17 Arbeit mit den jungen, talentierten Kindern auf dem Tennisplatz, in der sie vollkommen aufgeht. Die Kids folgen ihr, weil sie als Trainerin und Mensch gleichermaßen Respektsperson ist. Als Jelena Gencic ihre Trainerkarriere in den späten 1960er-Jahren startet, ist sie eine Exotin. Eine Frau in einer solchen Position ist im patriarchisch-kom- munistischen Jugoslawien des gestrengen Ministerpräsidenten Josip Broz Tito die totale Ausnahme. Doch Gencic, die hauptberuflich als Fernsehproduzentin für das Staatsfernsehen arbeitet, lässt sich nicht von ihrem Weg abbringen, Anfang der 1990er-Jahre landet sie schließlich in Kopaonik. Der Bergort an der Grenze zum Kosovo ist ein beliebtes Winterurlaubsziel. Mit Schneesicherheit, Lifts, Hotels und gut präparierten Pisten. Im Sommer herrscht dagegen Flaute. Mit einem Tenniscamp für Kinder will Gencic Familien auch zu dieser Zeit in die Region locken. Für die veranschlagten neun Wochen täglicher Arbeit auf dem Tennisplatz erhält sie kein Honorar, Gencic reicht es, wenn der jugoslawische Ver- band ihr das Essen und die Unterkunft stellt. Von ihrem Arbeitgeber, dem Sender Radio Television Belgrad, erhält sie Extraurlaub für das Camp in den Bergen von Kopaonik. Schon am ersten Tag fällt ihr dort ein kleiner Junge auf, der das Training von der anderen Seite des Zauns aus genau beobachtet, geradezu zu studieren scheint. Vom Morgen an spaziert der stille Zuschauer Stunde um Stunde um die Anlage herum. Ehe sie die Kinder um kurz nach zwölf Uhr zur Mittagspause ruft, geht Jelena Gencic zu dem kleinen Jungen hinüber. „Hallo, weißt du denn, was die hier spielen“, fragt sie. „Ja, klar. Das ist Tennis“, antwortet der Zaungast. „Wie alt bist du denn?“, will Gencic wissen. „Sechs.“ „Hast du Lust heute Nachmittag mit uns zu spielen?“ „Ja. Ich habe die ganze Zeit gewartet, dass Sie mich das fragen.“ „Okay. Dann kannst du heute Nachmittag um 14 Uhr mit uns spielen. Wie ist denn dein Name?“ „Novak Djokovic.“
18 Kapitel 1 Der erste Dialog zwischen Jelena Gencic und Novak Djokovic ist beendet. Dem britischen Journalisten und Tennishistoriker Chris Bowers hat es Jelena Gencic so im März 2013 in den Block diktiert, zwei Monate vor ihrem Tod. Sie habe, sagte Gencic Bowers im Gespräch, den anderen Trainern sofort von diesem Jungen am Zaun berichtet: „Schaut ihn euch nachher genau an. Besonders seine Augen. Andere Jungs in seinem Alter wandern mit den Augen hin und her, wenn man sie anschaut. Er nicht. Er konnte meinen Blick aushalten. Das erlebt man ganz selten. Er war hier ganz allein. Ohne Eltern. Ohne irgend- jemand. Das ist außergewöhnlich.“ Auch Novak Djokovic hat diese folgenschwere Begegnung mit Gencic sehr ähnlich in Erinnerung. In einer Dokumentation des ser- bischen Fernsehens besucht der inzwischen zum Superstar aufgestie- gene Djokovic seine erste Trainerin im Jahr 2021 wieder einmal in Belgrad. Auf dem Sofa im wenig feudalen Wohnzimmer von Gencic erzählt Djokovic die Geschichte vom ersten Kennenlernen, er hat seiner Gastgeberin ein kleines Präsent mitgebracht: eine Miniatur- ausgabe des Wimbledon-Pokals, den er im Jahr zuvor erstmals hat gewinnen können. Im Juni 1993 ist Wimbledon noch weit weg. In Kopaonik kann es ein kleiner Junge kaum erwarten, am Nachmittag mit den anderen Kindern des Tenniscamps auf dem Platz zu stehen. Eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Treffen blickt Jelena Gencic aus dem Fenster ihres Appartements. Am Eingang zu den drei Sandplätzen steht schon der kleine Junge vom Vormittag. Mit einer Sporttasche in der Hand. „Was hast du eingepackt?“, fragt Jelena Gencic den Jungen, als sie ihm wenige Minuten später gegenübersteht. „Einen Schläger. Eine Flasche Wasser. Zwei Schweißbänder. Ein Handtuch. Eine Banane. Und drei saubere T-Shirts“, sagt Djokovic. „Woher wusstest du, was du alles brauchst?“ „Das habe ich im Fernsehen gesehen. Bei Sampras, Agassi und Edberg.“ Anfang Juni 1993 läuft die zweite Woche in Wimbledon, dem prestigeträchtigsten Turnier der Tenniswelt. Die Spiele werden vom
Die Lüge eines kleinen Jungen 19 jugoslawischen Staatsfernsehen übertragen. Der kleine „Nole“ sitzt vor dem Fernseher. Fasziniert verfolgt er die Duelle auf dem heiligen Rasen. Vor allem ein junger Amerikaner begeistert ihn: Pete Sampras, der im Endspiel seinen Landsmann Jim Courier in vier Sätzen regel- recht in die Knie zwingt und den ersten seiner sieben Wimbledon- Titel gewinnt. Erst viele Jahre später wird Novak Djokovic einräumen, dass die Anekdote von der selbst gepackten Tasche nicht ganz der Wahrheit entspricht. Seine Mutter Dijana, gibt er im Dezember 2012 zu, habe die Tasche für sein erstes Tennistraining gepackt, allerdings habe er ihr genaue Anweisungen gegeben, was sie ihm mitgeben müsse. Auch nicht selbstverständlich für einen Sechsjährigen, der Tennis bis dahin nur aus dem Fernsehen kennt. Es folgt die erste Trainerstunde im Leben von Novak Djokovic. Gencic beschreibt diese rückblickend als ein Aha-Erlebnis, wie sie es davor nur bei Monica Seles gehabt habe. Allerdings ist gut mög- lich, dass Gencic diese erste Einheit mit „Nole“ verklärt. Zumindest gibt es viele Wegbegleiter, die zwar eine besondere Begabung des jungen Djokovic erkannt haben – aber eine Weltkarriere hat ihm deswegen keiner zugetraut. Gencic jedenfalls lässt den Jungen, der sich noch am Vormittag die Nase am Zaun plattgedrückt hat, nicht mehr gehen. Bleibt die Frage, weshalb die Trainerin in Kopaonik über- haupt auf Novak Djokovic hat treffen können? Der Ort an der Grenze zum Kosovo liegt schließlich 280 Kilometer von Belgrad entfernt, der Heimat der Familie Djokovic.
20 Kapitel 2 Dijana und Srdjan Novak Djokovic kommt am 22. Mai 1987 in Belgrad zur Welt. Er ist das erste Kind von Dijana und Srdjan Djokovic. Vater Srdjan ist zum Zeitpunkt der Geburt 26, seine Frau drei Jahre jünger. Das junge Paar versucht, sich im kriselnden Jugoslawien eine Existenz aufzu- bauen. In Belgrad betreiben die Djokovics ein Restaurant. Wobei der aus dem Kosovo stammende Srdjan sich in der Millionenstadt nie wirklich wohlfühlt, er sehnt sich nach der Natur seiner Heimat. Doch in dem immer weiter auseinanderfallenden Jugoslawien sieht er nur in Belgrad die Chance, seine Familie durchzubringen. Dijana hingegen ist gebürtige Belgraderin. Sie entstammt einer Militär- familie, wächst in patriarchalischen Strukturen auf, die ihr Gatte Srdjan fortführt. Zu den sportlichen Qualitäten von Dijana und Srdjan Djokovic gibt es widersprüchliche Angaben. Manche Artikel aus seiner Heimat behaupten, Srdjan sei ein hervorragender Skifahrer gewesen und habe an einigen Rennen teilgenommen, andere führen ihn als ehema- ligen Fußballspieler des FC Trepca auf, einem Klub aus dem Kosovo nahe Mitrovica. Der Name Srdjan Djokovic findet sich allerdings in keinen Statistiken. Weder im Ski noch im Fußball. Der Verdacht liegt nahe, dass Djokovic senior im Angesicht der späteren unglaublichen Erfolge seines Sohnes die eigenen sportlichen Leistungen posthum aufpoliert hat. Verbürgt ist immerhin seine Arbeit als Skilehrer – und hier schließt sich der Kreis: als Skilehrer in Kopaonik. Mama Dijana ist eine ehemalige passable Volleyballerin und aus- gezeichnete Turnerin. Seine einzigartige Beweglichkeit und Flexibi- lität glaubt Novak Djokovic von ihr „vererbt“ bekommen zu haben: „Ich bin ein Champion dank meiner Mutter, nicht wegen meines Vaters.“ Mit Tennis haben allerdings weder Dijana noch Srdjan irgend- etwas am Hut.
Dijana und Srdjan 21 Entsprechend spielt der weiße Sport auch am 22. Mai 1987 noch keine Rolle im Hause Djokovic. Die kleine Familie wohnt zu dieser Zeit in einem Häuserblock im Zentrum Belgrads. In den Wintermonaten gibt Familienoberhaupt Srdjan Skistunden in Kopaonik. Für jugos- lawische Verhältnisse ein feudaler Ort. Im Prinzip trifft man dort nur treue Parteikader oder Zivilisten mit besten Beziehungen nach oben. Auf diese Klientel setzen Srdjan und sein Bruder Goran, als sie im Jahr 1999 eine Pizza in Kopaonik eröffnen, die sie „Red Bull“ nennen. Vom österreichischen Getränkehersteller gleichen Namens werden die Gebrüder Djokovic nicht auf Markenrechtsverletzung verklagt. Das Unternehmen ist erst zwei Jahre zuvor gegründet worden und mehr damit beschäftigt, den Kunden im Westen Europas Flügel zu verleihen. Die Umgebung Kopaoniks lässt Novak Djokovic bis heute nicht los, sie hat einen ganz speziellen Platz in seinem Herzen: „Ehrlicherweise denke ich, dass die Seele Serbiens in den Dörfern des Südens liegt. Belgrad ist eine moderne Metropole, die dir alles geben kann. Das wahre Serbien ist aber der Süden. Ich bewundere jedes Mal den Aus- blick von den Bergen Kopaoniks.“ Man könnte meinen, dass der Ort an der Grenze zum Kosovo für die Familie Djokovic der angenehme Gegenpol zum Leben in den Plattenbauten Belgrads gewesen sei. Aber was auf den ersten Blick nach einer Auszeit für die Seele klingt, ist vor allem eins: knallharte Arbeit. Sechs Tage die Woche. Ohne Pause. Den Gästen die Wünsche von den Augen ablesen. Höflich, freundlich bleiben. Das Los des Gas- tronomen. Und zwischen den unentwegt schuftenden Eltern wuselt der kleine Novak herum. Beim Pendeln zwischen den Bergen im Winter und der Hauptstadt bleibt die junge Familie nicht lange zu dritt. Im August 1991 kommt Sohn Marko auf die Welt. Im Juli 1995 Djordje, der dritte Sohn. Der Versuch, die drei Jungen gleich zu behandeln, scheitert früh. Spätes- tens seit der ersten Tennisstunde mit Jelena Gencic nimmt Novak eine Sonderrolle in der Familie ein. Nachdem sie mit ihm ein paar Bälle geschlagen und der kleine Junge jede Anweisung sofort umgesetzt hat, will die aufgeregte Ten-
22 Kapitel 2 nislehrerin umgehend dessen Eltern sprechen. Novak soll sie zu ihnen führen. Ein kurzer Weg. Das „Red Bull“ liegt gegenüber der Tennisan- lage. „Sie haben einen Goldjungen“, hält sich die berühmte Trainerin nicht mit Vorreden auf. Srdjan und Dijana Djokovic können mit dem Besuch von der anderen Straßenseite wenig anfangen. Tennis? Sie haben hier ein Restaurant zu führen, müssen viel und hart arbeiten. Von den frühen sportlichen Eruptionen, die die von Gencic trainierte Weltklassespielerin Monica Seles auslöst, haben sie nichts mitbe- kommen. Völlig euphorisiert platzt es aus Gencic heraus: „Ich habe kaum jemals ein größeres Talent gesehen wie Ihren Sohn. Ich ver- spreche Ihnen: Wenn er siebzehn ist, gehört er zu den fünf besten Ten- nisspielern auf der Welt.“ Srdjan und Dijana Djokovic sind sprachlos. Novak, der sich bis dahin hinter dem Rücken seiner Mutter ver- steckt hat, tritt nach den Lobpreisungen hervor und schmiegt sich an Gencic. Seine Eltern sind skeptisch. Als Gencic das „Red Bull“ verlässt, wissen sie nicht, was sie von dieser Frau halten sollen. Sie holen sich Informationen ein. Jeden und jede, die sie rund um Kopaonik fragen, schwärmt in höchsten Tönen von der Tennistrainerin. Srdjan und Dijana Djokovic beginnen, den Worten der zigfachen jugoslawischen Tennismeisterin zu trauen. Novak darf bei ihr trainieren. Kostenlos. Gencic verzichtet auf eine Vergütung für die Arbeit mit dem Ausnah- metalent. Sie weiß aber, dass auch ohne ihr Honorar auf Familie Djo- kovic erhebliche finanzielle Belastungen einprasseln werden. Kleidung, Bälle, Schläger – all das kann sich die Familie kaum leisten. Geschweige denn die Kosten für die Reisen zu den anste- henden Jugendturnieren. Schon hier merkt Vater Srdjan, dass er nur einem seiner drei Söhne eine solche Ausbildung wird bieten können. In einem ihrer wenigen Interviews beschreibt Mutter Dijana in der serbischen TV-Sendung „Sport Klub“ Jahre später, wie schwierig der zunehmende Erfolg des ältesten Sohnes für die beiden jüngeren Brüder gewesen ist. So hätte sie Marko und Djordje nach großen Siegen ihres Bruders immer wieder aufgefordert, mit auf das Sieger- foto zu kommen. „Nein, das ist nicht unser Pokal. Wir haben ihn nicht gewonnen“, hätten ihre Söhne dann erwidert. Die völlige Fokussie-
Dijana und Srdjan 23 rung auf Novak ist und bleibt ein wunder Punkt, sie bedroht den Fami- lienfrieden damals wie heute; was kein Djokovic öffentlich zugeben würde. Der sportliche Erfolg mag diese Risse materiell und temporär überdecken. Aber die weit weniger spektakulären Lebensläufe von Marko und Djordje sprechen eine deutliche Sprache. Anfang der Neunziger in Kopaonik ist das spätere Ausmaß des Problems noch nicht auszumachen. Das Talent Novak fängt ja gerade erst an.
24 Kapitel 3 Unschlagbares Duo aus den Bergen Jelena Gencic vergeudet keine Zeit. Nach dem ersten Gespräch mit Srdjan und Dijana Djokovic steht für sie fest: Dieser „Goldjunge“ ist ab sofort meiner. Sie arbeitet ein detailliertes Trainingsprogramm aus. Nicht nur für die Wochen im Camp in Kopaonik, sondern gleich für die kommenden fünf Jahre. Sie spricht mit Lehrern, Vereinstrainern und immer wieder mit Novaks Eltern. Betont jedes Mal die Einmaligkeit des Jungen. Eines der größten Probleme auf dem Weg nach oben ist schnell ausgemacht: die Schulpflicht. Novak geht in Belgrad zur Schule. Gencic hingegen gibt aufgrund der hohen Nachfrage immer mehr Ten- niscamps in Kopaonik. Zunächst versucht die Familie, eine Schule für Novak in den Bergen zu finden. Doch es gibt keine in unmittelbarer Nähe. Also besucht Novak weiterhin seine Belgrader Schule, während die Eltern große Teile des Jahres im „Red Bull“ verbringen und in ihrer Boutique, die sie in der Zwischenzeit in dem Wintersportort zusätz- lich eröffnet haben. Während seine Eltern in Kopaonik das Geld für die Tenniskarriere verdienen, lebt Novak bei Großvater Vlado, dem Vater von Srdjan Djokovic. So hart und unnahbar Srdjan oft wirkt, so einfühlsam und offen wird Vlado Djokovic von denen charakterisiert, die ihn persönlich kannten. Er lebt in einem Plattenbau etwa sieben Kilometer südlich vom Zentrum Belgrads entfernt, im Stadtteil Banjica. Damals lebte hier die Mittelschicht des kommunistischen Jugosla- wiens, heute ist Banjica ein sozialer Brennpunkt. Die Suche nach der Wohnung von Vlado Djokovic gestaltet sich einfach. An der Außen- wand des Hauses prangt direkt unter der Wohnung im ersten Stock ein nicht zu übersehendes Graffiti, das Novak Djokovic zwischen Jelena Gencic und seinem Opa Vlado zeigt. Etwa drei mal zehn Meter groß ist das Kunstwerk. Gencic hat stets nur in den besten Tönen
Unschlagbares Duo aus den Bergen 25 von Opa Vlado gesprochen: „Ich wusste, dass er dort in den besten Händen ist“, fasst sie im Buch von Chris Bowers ihr Gefühl gegenüber dem Belgrader Ziehvater ihres Schülers zusammen. Über ihre guten Verbindungen in Regierungskreise schafft es Gencic, dass Novak beim einstigen Armeesportklub Partizan Belgrad trainieren darf. Immer an ihrer Seite, sofern sie nicht andernorts Tennis-Camps geben muss. Jelena Gencic gelingt es regelmäßig, eine Woche Extra-Schulurlaub für ihren Musterschüler zu verhandeln, damit Novak länger am Stück mit ihr in den Bergen trainieren kann. Bei Opa Vlado spielt indes nicht nur Tennis eine große Rolle. Zwi- schen den gigantischen Plattenbauten liegt ein Fußballplatz – eben- falls aus Beton. Dort bolzt Novak nach der Schule mit seinen Freunden. Oder er spielt eine Runde Basketball, denn einen Korb gibt es dort ebenfalls. Für die Kinder von Banjica ist es der Sport-Himmel in einer zusehends tristeren Welt, und „Nole“ gehört in jeder Sportart zu den Besten. Er lernt aber auch, dass es im Mannschaftssport nicht auf den Einzelnen ankommt. Freunde berichten heute noch von seinem großen Einsatz fürs Team. Der Beton um ihn herum hat zudem den Vorteil, dass er nahezu jede Ecke des Wohnblocks in eine Tenniswand verwandeln kann. Die meiste Zeit ist allerdings für das Training mit Jelena Gencic reserviert. Sie wohnt am Rande von Banjica und steht den ganzen Tag auf den Ascheplätzen des Geländes von Partizan. Am liebsten mit „Nole“. Dabei bringt Gencic ihrem Schützling nicht nur den richtigen Vorhandschwung und korrekten Ballwurf bei. Sie weiß: Will es dieser Junge auf die Profitour schaffen, muss er auch abseits des Platzes bestehen. Er muss Sprachen beherrschen, damit er nicht als ver- schlossene „Balkan-Maschine“ wahrgenommen wird. Heute spricht Djokovic fünf Sprachen fließend: Serbisch, Englisch, Italienisch, Fran- zösisch und Deutsch. Nicht jede dieser Sprachen hat er von Gencic gelernt. Aber sie schafft bei ihm das Bewusstsein für Kommunikation auf Augenhöhe. Auch als Zeichen des Respekts für das Gegenüber. Djokovic freut sich übrigens bis heute, wenn er auf Deutsch angespro- chen wird. Aus seiner Zeit in München bei Trainerlegende Niki Pilic
26 Kapitel 3 beherrscht er die Sprache noch gut. Auch als Boris Becker später als Trainer an seiner Seite ist, kommuniziert er mit dem gebürtigen Lei- mener auf Deutsch. In Serbien macht er sich mit seinem Sprachtalent gleichwohl nicht nur Freunde. Weil er im Ausland auf seine serbische Muttersprache verzichtet, unterstellen ihm einige seiner Landsleute fehlenden Patriotismus, bezeichnen den Tennisstar als anbiedernd und unterwürfig. Novaks Eltern sprechen trotz ihrer inzwischen vielen Reisen um die Welt wenig Englisch. Auch ein Grund, warum sie – allen voran Srdjan – nicht-serbischen Medien äußert selten Interviews geben. Jelena Gencic beschränkt ihre Erziehung abseits des Platzes nicht ausschließlich auf Sprachen. Sie hat die Etikette umfänglich im Blick. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten erklärt sie „Nole“, welche Gabel für den Salat und welche für den Hauptgang gedacht ist. Er bekommt Dinge beigebracht, die ihm seine hemdsärmeligen Eltern – nicht nur aus Zeitgründen – nicht vermitteln können. Jelena Gencic kann es. Jelena Gencic macht es. Zur Entspannung hört sie oft klassische Musik. Und spielt sie auch Novak vor. Der Junge im Kindergarten- alter lauscht den Klängen zunächst ungern, im Laufe der Zeit jedoch bemerkt die Klassik-Liebhaberin, wie Novak immer wieder vor der Tür stehen bleibt, wenn sie ihre Musik spielt. Sie erklärt ihm die Hinter- gründe zu einzelnen Passagen, Nole hört ihr einfach nur zu. Speichert ab. Wie immer, wenn Gencic mit ihm spricht. Er saugt alles auf, was sie ihm zu sagen hat. Es bleibt eine jener Eigenschaften, die bis heute jeder herausstellt, der mit ihm näher zu tun hat. Vom Physiothera- peuten bis zum Manager. „Er machte so unglaublich schnelle Fortschritte“, erinnert sich Gencic an die gemeinsamen Anfangsjahre zwischen Belgrad und Kopaonik. Während die Geldprobleme der Familie im Hintergrund wachsen, ist es für die Trainerin und ihren Schützling eine unbe- schwerte Zeit. In Blockbuster-Filmen wie „Rocky“ oder „Karate Kid“ sind das jene Passagen, in denen die Stars zu opulenter Musik ihre Trainingseinheiten bis zur Perfektion absolvieren. Rocky Balboa stapft durch den Schnee Sibiriens, räumt Baumstämme aus dem Weg. Oder
Unschlagbares Duo aus den Bergen 27 Karate-Tiger Daniel-san, der nach den eindringlichen Worten seines Lehrmeisters Mister Miyagi erkennt, dass er mit dem Waschen eines Autos seine Technik für den perfekten Kampfmoment verfeinert. Momente totaler Fokussierung. Hollywood-Kitsch. So nah an der Wahrheit wie die Boxkämpfe von Rocky Balboa. Die Erzählungen von Gencic und Djokovic ähneln diesen filmischen Inszenierungen. Und auch wenn sie sich nur in den Köpfen der beiden so abgespielt haben, ihren Anteil an der Karriere des erfolgreichsten Tennisspielers aller Zeiten haben sie. Gencic bringt Djokovic schon früh mit einer Technik in Verbindung, die heute Standard im mentalen Training von Spitzensportlern ist: dem Visualisieren. „Stell dir vor, wie du den Wimbledon-Pokal in der Hand hast. Was siehst du?“, fragt sie ihn immer und immer wieder. Und es reicht ihr nicht, dass Novak ant- wortet: „Einen Pokal.“ Sie fordert ihn auf, die Trophäe detailliert zu beschreiben. Fragt ihn, welches Bild er im Kopf hat. Was hat er an? Was hat der Schiedsrichter an? Wer sitzt in seiner Box? Wie riecht das Gras? Jede noch so kleinste Nuance muss der Junge in Worte fassen und mit allen Sinnen vorfühlen. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten öffentlichen Videos von Novak Djokovic. Eines zeigt ihn als Sechsjährigen auf dem Tennis- platz von Kopaonik. In grelle Neonfarben gehüllt kann der kleine „Nole“ gerade mal über das Netz blicken. Er spielt ein paar Bälle mit Vater Srdjan. Beide sind auf dem gleichen Niveau. Novak feiert jeden Punktgewinn mit lautem Geschrei und ballt dabei die Faust. Bei einem Punktverlust sinkt er vor Enttäuschung auf die Knie. Eine andere Sequenz zeigt ihn in einem Match mit einem Jungen, der mindestens vier, fünf Jahre älter ist. Novak kann immer noch nur gerade so über das Netz schauen, den Aufschlag beherrscht er schon außergewöhnlich gut. Doch einem langen Return seines körperlich klar überlegenen Gegners har er nichts entgegenzusetzen. Nach einem Vorhandfehler ist das Match beendet. Novak hat verloren. Nach dem obligatorischen Handshake am Netz bricht der Verlierer in Tränen aus. Novak muss von Freunden getröstet werden. Schon damals trifft großer Ehrgeiz auf großes Talent.
28 Kapitel 3 In einem dritten Video sitzt er mit umgedrehter Baseballkappe und einem Tennisschläger in der Hand an einem Netz in einer Art Fernsehstudio und wird von einem anderen Kind interviewt. „Was liebst du am Tennis am meisten“, will der Fragesteller wissen. „Die Vorhand. Die Rückhand. Und die Volleys. Weil ich damit meine Gegner besiege.“ „Wie oft spielst du?“ „Die ganze Nacht. Tagsüber habe ich Schule. Dann habe ich Trai- ning am Nachmittag. Spiele aber danach weiter bis in die Nacht.“ „Und was ist dein Ziel im Tennis?“, beschließt der etwas ältere Junge das Interview. „Die Nummer eins der Welt zu werden.“ Djokovic sagt es mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, die diesen siebenjährigen Jungen schlagartig unsympathisch erscheinen lässt. Ähnlich einem übereifrigen Teenager, der im Cluburlaub sofort aufspringt, sobald nach einem Freiwilligen für den Musical-Abend gefragt wird, und, ohne mit der Wimper zu zucken, zu trällern beginnt. Nicht jedes dieser Kinder wird ein musikalischer Weltstar und nicht jedes Tennistalent, das die Nummer eins der Welt als Ziel ausgibt, hält Wort. Novak Djokovic schon. Weil er sich nicht aufs Träumen beschränkt. Weil er seinen Traum mit Leben füllt. Und mit schier unmenschlichem Einsatz. Sein großes Glück: Um ihn herum sind Menschen, die den unbändigen Ehrgeiz dieses Kindes in die richtigen Bahnen lenken. Allen voran Jelena Gencic. Doch die Idylle zwischen Gencic und „Nole“ wird nicht lange währen. Schon bald bestimmen Bomben den Alltag der meisten Serben. Auch den von Jelena Gencic und Novak Djokovic. Und nichts ist mehr wie zuvor. Nie mehr.
29 Kapitel 4 Die Bomben – Nächte voller Angst Am Anfang heulen die Sirenen. Dann das Summen der Flieger. Plötz- lich leuchtet inmitten der Nacht der Himmel. In der Wohnung von Vlado Djokovic wackeln die Lampen. Die Djokovics schrecken vom Sofa hoch. Die Familie ist nach Belgrad gekommen. Weil sie es zwi- schen Winter- und Sommersaison immer so machen. Weil es eine der wenigen Phasen im Jahr ist, in der sich die Familie einmal für ein paar Wochen am Stück sehen kann. Diesmal aber ist alles anders. Belgrad ist ein Fluchtpunkt. Eine erneute Eskalation des Krieges liegt in der Luft. Und im Epi- zentrum des Konflikts, in der Grenzregion zwischen Serbien und dem Kosovo, wollen Srdjan und Dijana Djokovic nicht länger sein. Zumal nicht mit ihren drei kleinen Söhnen an der Seite. Dann lieber bei Opa Vlado in der Zweizimmerwohnung. Auch wenn hier die Gefahr von Bombentreffern droht, weil um den Häuserblock herum Militärstütz- punkte liegen, die ganz oben auf der Liste für Raketenangriffe der Nato-Streitkräfte stehen. Doch die Wohnung des Großvaters hat einen wesentlichen Vorteil: Der Plattenbau besitzt einen Luftschutzkeller. Als die Bomber der Nato am 24. März 1999 ihre ersten Angriffe auf Belgrad fliegen, suchen viele Anwohner Unterschlupf in dem Keller. Mit ihren Decken und Wasservorräten finden auch Srdjan, Dijana, Novak, Marko, Djordje und die Großeltern eine freie Ecke. Zunächst herrscht ängstliche Stille. In der Ferne ist das dumpfe Knallen der ser- bischen Luftabwehr zu vernehmen. Bombeneinschläge in der unmit- telbaren Nähe? Zunächst einmal Fehlanzeige. Zwei Wochen lang, jede Nacht wird die Flucht in den Keller nun zum Ritual für die Familie Djokovic. Nach der ersten Panik hält dort zwischen den dicken Beton- wänden schnell Galgenhumor Einzug. „Anfangs war die Stimmung
30 Kapitel 4 sehr bedrückt. Doch im Laufe der Nächte wurde immer mehr gelacht. Untereinander wurden Gesellschaftsspiele ausgepackt“, erinnert sich Novak Djokovic. Eine Erfahrung, die auch eine andere junge Tennisspielerin macht. Ana Ivanovic wird ebenfalls von den nächtlichen Sirenen aufgeschreckt und bricht mit ihren Eltern und dem Bruder in einen Keller auf, um Schutz vor den Bomben zu suchen. Auch Ivanovic erinnert sich noch sehr genau an die erste Bombennacht: „Der 24. März war ausgerechnet der Geburtstag meiner Cousine. Als Kinder haben wir den Ernst der Lage erst nicht begriffen, sondern waren nur traurig, dass es keine Geburtstags- party gab.“ Die heutige Frau von Ex-Fußballprofi Bastian Schweinsteiger wuchs jedoch in ganz anderen Verhältnissen auf als Novak Djokovic: in einem Eigenheim mit drei Etagen und eigenem Keller, der in dieser unsi- cheren Zeit zum Zufluchtsort wurde. Schnell suchen dort auch die Groß- eltern sowie einige Freunde und Nachbarn der Familie Ivanovic Schutz. Als es vor einer jener Nächte heißt, die dem Haus gegenüberliegende Post würde in wenigen Stunden von der Nato ins Visier genommen, bricht die Familie von Ivanovic Hals über Kopf zu den Großeltern auf, die etwa zehn Minuten entfernt leben. Auf der Fahrt erschüttern Bom- beneinschläge mehrfach das Auto. „Das war der gefährlichste Moment für uns im ganzen Krieg“, sagt Ana Ivanovic heute. „Als wir am nächsten Morgen zurückgefahren sind, haben wir gesehen, dass Ecken und Häuser, an denen wir die Nacht davor vorbeigefahren sind, komplett zerstört waren. Unser Haus hatte es zum Glück nicht erwischt.“ Bomben werden Alltag. Viele Serben akzeptieren die Machtlosig- keit und versuchen sich stückweise wieder an so etwas wie Normalität. Nach den ersten Wochen der Bombardements kehren auch junge Ten- nistalente wie Novak Djokovic und Ana Ivanovic auf den Platz zurück. Jugendturniere finden wieder statt. Doch sobald die Sirenen ertönen, werden die Spiele umgehend unterbrochen. In dieser Zeit wachsen Djokovic und Ivanovic eng zusammen. Sie kennen sich bereits, weil Ana im Alter von vier mit ihren Eltern während eines Tenniscamps in Kopaonik im Restaurant der Djokovics zum Essen war. Zudem sind Anas Vater und Novaks Onkel Goran zusammen zur Schule gegangen.
227 Kapitel 28 Drama Down Under Aber noch immer schüttelt hauptsächlich nur die Tenniswelt den Kopf über den Serben und seine Haltung zur Corona-Impfung. Das ändert sich Anfang Januar 2022 binnen Stunden. Am 4. Januar, einem Dienstag, postet Novak Djokovic ein Bild, das das Rätsel um seine Teilnahme an den Australian Open zu lösen scheint. Mit Tennista- sche und gepackten Koffern steht er am Flughafen, dazu schreibt er: „Ich habe eine fantastische Zeit mit meinen Liebsten während der Pause verbracht und mache mich heute auf den Weg nach Down Under mit einer Ausnahmegenehmigung.“ Sache geklärt. Der Serbe wird in Melbourne aufschlagen. Doch noch während Djokovic im Flugzeug Richtung Australien sitzt, bricht dort ein Sturm der Entrüs- tung über den im Anflug befindlichen Weltranglistenersten los. In Australien explodieren gerade wieder einmal die Infektionszahlen, der australische Staat hat daraufhin drastische Corona-Maßnahmen beschlossen. Und in dieser Situation fliegt ein ungeimpfter Spitzensportler vom anderen Ende der Welt ein. Mit einer medizinischen Ausnahmegeneh- migung. Auf welcher Grundlage diese Ausnahmegenehmigung erteilt worden ist, darüber hüllt sich die Djokovic-Seite in Schweigen. Der Superstar bleibt bei der Strategie, seinen Gesundheitszustand nicht mehr öffentlich zu kommentieren. Dafür tut dies die australische Öffentlichkeit umso deutlicher. Ein Kommentar jagt den nächsten, immer wieder wird die Skrupellosigkeit und Rücksichtslosigkeit des Serben angeprangert, kombiniert mit dem Verweis auf die Ungleich- behandlung des Prominenten im Vergleich zur australischen Normal- bevölkerung. Aber nicht nur Down Under, auch im Rest der Welt steigt der Unmut den „Djoker“ betreffend. Der politische Druck auf die aus- tralische Regierung um Premierminister Scott Morrison wächst quasi stündlich.
228 Kapitel 28 Mittwoch, 5. Januar. Unmittelbar nach Djokovics Landung in Melbourne spitzt sich die Lage zu. Die Beamten der Grenzschutzbe- hörden bemängeln die Unterlagen des Einreisewilligen aus Europa. Sie entsprächen nicht den Anforderungen der australischen Pan- demie-Auflagen. Der Tennisstar wird in einen gesonderten Verhör- raum verbracht, muss sein Handy abgeben und sich zu den fehlenden Unterlagen erklären. Sein Team um Trainer Goran Ivanisevic wartet währenddessen in einem anderen Teil des Flughafens. Die Befra- gung zieht sich über Stunden hin. Das bleibt der Welt nicht verborgen. „Breaking News“ über den festgehaltenen Superstar laufen über Bildschirme und werden via Pushmitteilungen auf die Smartphones von Melbourne bis Belgrad geschickt. In der serbischen Hauptstadt klagt Papa Srdjan kurz darauf über eine „Hexenjagd“, die sein Sohn in Australien über sich ergehen lassen müsse. Kurz vor Mitternacht europäischer Zeit dann die Entscheidung. Das Visum des Serben wird für ungültig erklärt. Der Heimflug mit der nächsten Maschine wäre eigentlich der nächste Schritt für den Sportler. Doch so einfach gibt sich Djokovic nicht geschlagen. Seine Anwälte legen am Freitag Ein- spruch ein und erwirken eine einstweilige Verfügung. Mit ihr darf der Tennisspieler in einem Quarantäne-Hotel unweit des Flughafens bleiben, bis der Einspruch gegen die Annullierung seines Visums am folgenden Montag verhandelt wird. Bis dahin kochen die Emotionen hoch. Vater Srdjan Djokovic hält in Belgrad eine Pressekonferenz, auf der er seinen Sohn mit „Jesus“ vergleicht und in Novak einen Freiheitskämpfer für die gesamte Menschheit sieht. Er versäumt es natürlich nicht zu erwähnen, dass auch rassistische Beweggründe gegen Serbien eine große Rolle in dem Fall seines Sohnes spielen. „Novak ist Serbien. Serbien ist Novak“, mit diesen Worten beschließt Srdjan Djokovic seinen Auftritt. Auch abseits von nationalistischer Propaganda beschäftigt der Fall die Politik, und die Wortwahl ist erschreckend ähnlich. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic spricht ebenfalls von einer „Hexenjagd“ gegen den berühmtesten Sportler seines Landes und wittert schon vor dem endgültigen Urteil eine Verschwörung: „Ich befürchte, dass
Drama Down Under 229 diese unerbittliche politische Verfolgung von Novak so lange weiter- gehen wird, bis sie etwas beweisen können“, sagt er. „Denn wenn man jemanden nicht besiegen kann, dann greift man zu solchen Dingen.“ In den sozialen Netzwerken machen Bilder die Runde, die Novak Djokovic auf der Hochzeit des serbischen Judo-Weltmeisters Nemanja Majdov im September 2021 in Sarajevo zeigen, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Auf den Motiven posiert der Tennisspieler mit Milan Jolovic und Milorad Dodik. Jolovic, ein früherer Kommandant der „Drina-Wölfe“, einer paramilitärischen Einheit, die unter anderem am Völkermord an Bosniern in Srebrenica beteiligt gewesen ist. Ein Massaker, das der serbische Politiker Dodik, mit dem Djokovic auf der Feier fröhlich ein Liedchen trällert, bis heute leugnet. Zwischen die nationalistischen Kommentare zu diesen Bildern mischen sich aber auch welche, die darin keine politische Gesinnung Djokovics erkennen wollen. Der Tenor: Was kann er dafür, mit wem er auf einer Hochzeit eingeladen ist? Kurz vor Prozessbeginn am Montag kommen immer weitere Details ans Tageslicht. Auch die Argumentation der Djokovic-Anwälte wird öffentlich. Demnach stieg der Serbe mit einem positiven PCR-Test vom 16. Dezember 2021 ins Flugzeug nach Melbourne. Somit würde er zum Start der Australian Open als Genesener gelten und müsse keine vollständige Impfung nachweisen. Das sichern ihm sowohl der Bundestaat Victoria, in dem das Turnier stattfindet, als auch die Ver- anstalter zu. Dennoch verweigern die Behörden Djokovic bei dessen Einreise die Anerkennung seines Visums. Zu Unrecht, so sieht es zumin- dest Richter Anthony Kelly vom „Federal Circuit and Family Court of Australia“. Nach vielen Stunden Verhandlung begründet Richter Kelly seine Entscheidung in erster Linie mit einem Formfehler: Man habe dem Serben bei der Einreise nicht ausreichend Zeit gegeben, seine Argumentation der Dinge darzulegen. Ein wichtiger Teilerfolg für Djo- kovic, der die Verhandlung in der Kanzlei seines Anwalts verfolgt und danach seine Sachen aus dem ihm zugewiesenen Hotel holen darf. Serbische Fans ziehen jubelnd durch die Straßen in Melbourne. Es kommt immer wieder zu Handgemengen mit der Polizei.
Sie können auch lesen