Stuttgart 21 als "Lehrstück" für politische Partizipation - picture alliance, dpa
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Stuttgart 21 als "Lehrstück" für politische Partizipation © picture alliance, dpa Prof. Dr. Andreas Brunold, Politische Bildung und Politikdidaktik Universität Augsburg
Gliederung 1. Der Protest um Stuttgart 21 2. Direktes vs. parlamentarisches Demokratiemodell 3. 3 Typen von demokratischen Entscheidungsprinzipien 4. Konsequenzen aus Entscheidungsfindungsprozessen 5. Demonstrantenbefragungen 6. Funktion von Mehrheitsentscheidungsregeln und von Verhandlungs- und Konsenslösungen
Gliederung 7. Stuttgart 21 als Beispiel eines politischen Entschei- dungsprozesses (mit besonderer Berücksichtigung des Politikzyklus) 8. Bürgerkompetenzen einer politischen Bildung für nach- haltige Entwicklung 9. Der zukunftsorientierte Ansatz und die Methode der Technikfolgenabschätzung
Grafik zum geplanten unterirdischen Durchgangsbahnhof »Stuttgart 21« hinter dem Bonatzbau © Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2010
»Geschlossene Gesellschaft«, Karikatur vom 16.3.1996 (!) © Friederike Groß, Stuttgarter Zeitung 1996
Der Protest um Stuttgart 21 - Heftige Kontroversen in und um Stuttgart um das Bahn- projekt - verfassungsrechtliche Debatten im Landtag - Geplante Beteiligung des Landes über einen Betrag von ca. 4,526 Milliarden Euro - asymmetrischer Machtkampf zwischen der etablierten Par- teienpolitik (Stuttgart 21-Befürworter, bzw. der Deutsche Bahn-AG) und gut organisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen - Alternative: Kopfbahnhof 21
Der Protest um Stuttgart 21 - Nach der Eskalation am 30. September 2010: Heiner Geißler als Vermittler - Von 22. Oktober bis 30. November 2010: Partizipatives Neuland als »Demokratieexperiment«? - Kompromissvorschlag: Kombi-Bahnhof und Stresstest (Durchführung am 29. Juli 2011) - Volksentscheid vom 27. November 2011
Direktes vs. parlamentarisches Demokratiemodell Vorbehalte, die in Deutschland gegenüber direktdemokratischen Verfahren geführt werden, sind begründet durch die repräsentativ- demokratisch geprägte politische Kultur vs. Befürwortung der direkten Demokratie, da ein Beteiligungsdefizit vorliegt. Zwar wählen die Bürger ihre Repräsentanten entsprechend ihren Interessen und Wertorientierungen, fühlen sich aber bei bestimmten politischen Sachfragen nicht vertreten.
3 Typen von demokratischen Entscheidungsprinzipien 1. Bahninterne Planungsabläufe des Staatskonzerns der Deutsche Bahn AG lassen sich nur mit Mühe parlamen- tarischen Kontrollgremien unterziehen, da der Bund als Eigentümer der Deutsche Bahn-AG fungiert. 2. Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip werden vor allem in den parlamentarischen Instanzen bzw. auf den exekutiven Regierungsebenen gefällt. Diese legitimie- ren sich vor allem auf bewährte Verfahrensabläufe des Rechtsstaats und die sie bestätigenden Urteile der über sie wachenden Gerichte.
3 Typen von demokratischen Entscheidungsprinzipien 3. »Entscheidungen« in Form von Verhandlungs- bzw. Konsenslösungen werden unter Beteiligung der Zivil- gesellschaft durch kommunikative Prozesse hergestellt. Dies wurde in den beiden »Schlichtungsverfahren« durch Heiner Geißler erprobt, um eine transparente und breite öffentliche Kommunikation zu ermöglichen.
Studie der Bertelsmann Stiftung (2009) - die große Mehrzahl der Bürger spricht sich für mehr poli- tische Beteiligung und direktdemokratische Verfahren aus - Ca. 70 Prozent der Deutschen haben das Vertrauen in Politik und Wirtschaft verloren. - Partizipative Verfahren wie Bürger- und Volksentscheide vermögen dagegen, so glaubt die Mehrheit der Bürger- innen und Bürger inzwischen, die Kluft zwischen Bürgern und der Politik zu schließen.
© Gerhard Mester, 2010
Konsequenzen aus Entscheidungsfindungsprozessen Unter dem doppelten Zugriff globaler Herausforderungen und lokaler Betroffenheiten hat der Staat und ein auf ihn zentrier- tes politisches Engagement bereits einen deutlichen Bedeu- tungsverlust zu verkraften und den Anspruch auf die letztlich gültige Verbindlichkeit seiner Entscheidungen verloren (Münkler, Herfried (2011): Aktive Bürgerschaft oder bürgerschaftliches Engagement? Über das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Parteiendemokratie. In: Journal für politische Bildung. Zukunftsfähigkeit und Zivilgesellschaft, Heft 1, S. 10-19.)
Demonstrantenbefragung: »Welches Ereignis hat Sie erst- mals veranlasst, sich gegen Stuttgart 21 zu engagieren?« © Dieter Rucht 2011
Demonstrantenbefragung in Stuttgart: »Welche drei Argu- mente gegen Stuttgart 21 sind für Sie am wichtigsten?« © Dieter Rucht 2011
Demonstrantenbefragung: »Aussagen zum politischen System und zu Politikern« © Dieter Rucht 2011
Funktion von Mehrheitsentscheidungsregeln - Mehrheitsentscheide gelten als attraktivste Entscheidungsregel, da sie Praktikabilität mit hoher Legitimationskraft verbinden. - Mehrheitsregel gilt als fair und legitim, da in diesem Zusam- menhang vor allem auf die Gleichheit der Entscheidungsbe- teiligten (one man - one vote) abgestellt wird (Offe, 1984). - Aber: Ist die Mehrheitsregel tatsächlich in der Lage, den „Willen des Volkes“ zum Ausdruck zu bringen? Das Problem besteht darin, dass der Volkswille schwankend sein kann.
Funktion von Verhandlungs- und Konsenslösung - Konfliktlösung und Entscheidungsfindung durch Verhand- lungen scheinen eine immer größere Bedeutung zu ge- winnen - Schwäche der Verhandlungs- bzw. Konsenslösungen: Möglichkeit von hohen Kosten und langen Verfahren !? - Länder mit starken verhandlungsdemokratischen Elemen- ten besitzen eine große politische Stabilität und sind in der Lage, diese mit einer großen wirtschaftlichen Leistungsfä- higkeit und einem hohen Niveau an sozialer Sicherung zu kombinieren
Stuttgart 21 als Beispiel eines politischen Entscheidungsprozesses Nach den drei Idealtypen der Entscheidungsregeln ist das hierarchisch strukturierte Entscheidungsprinzip sowie der Mehrheitsentscheid stärker der repräsentativen sowie die Verhandlungs- bzw. Konsenslösung eher der Form der plebiszitären oder direkten Demokratie zuzuordnen.
Stuttgart 21 als Beispiel eines politischen Entscheidungsprozesses - Als Signum für ein hierarchisch strukturiertes Entschei- dungsprinzip können die bahninternen Planungsabläufe der Deutsche Bahn-AG identifiziert werden, die sich nur schwer parlamentarischen Kontrollgremien unterziehen lassen. - Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip wurden v.a. in den Gremien des Gemeinderats der Stadt Stuttgart, im Landtag von Baden-Württemberg sowie im Bundestag gefällt.
Stuttgart 21 als Beispiel eines politischen Entscheidungsprozesses - Entscheidungen in Form von Verhandlungs- bzw. Kon- senslösungen wurden in einem „Schlichtungsverfahren“ erprobt, um eine transparente und breite öffentliche Kommunikation und Information über das Projekt Stuttgart 21 herzustellen. Am Ende des Verfahrens stand - quasi für eine „Als-Ob-Entscheidung“ - ein umstrittener Schlichterspruch. Hier wird die Frage nach der Legitimität von repräsentativen und plebiszitären bzw. direkten Formen von Elementen der Demokratie aufgeworfen.
Politikzyklus zu Stuttgart 21 - Machbarkeitsstudien und - Bei Projektbeginn Planfeststellungsverfahren 1995/1996 hohe Kosten zur Heimerl-Trasse Auseinander- - Befürworter: u.a. Bahn, Stadt und befürchtete starke Problem Auswirkungen auf die setzung Stuttgart, CDU, SPD, FDP urbane Struktur Stuttgarts - Gegner: Grüne, Umwelt- verbände, Alternativvor- schlag K 21, Klagen - Antrag auf - 2006: Landtag Bürgerentscheid Individuelle und (abgelehnt) nimmt Entschlie- kollektive Entscheidung ßungsantrag an - massive Reaktionen - 2007: Vertrags- Bürgerproteste unterschriften der Stadt Stuttgart - Befürworter: Verkehrsver- besserung, Stadterweite- - 2009: Finanzierungsverein- rung, Arbeitsplätze Bewertung der Implementierung barung zwischen Bund, - Gegner: Kostensteigerung, Land Baden-Württemberg, Entscheidung der Entscheidung Stadt Stuttgart und Bahn fehlende Kosten-Nutzen- Analyse - Februar 2010: Baubeginn
- anhaltende öffentliche und - Spaltung der Stadt in zwei zunehmend medienwirksame Lager Bürgerproteste (direkte - Erkennen struktureller Demokratie) Probleme in der Demokratie Auseinander - Problem - Verweis auf Beschlüsse und - können Großprojekte ohne setzung Polizeieinsatz (repräsentative umfassende Bürgerbeteili- Demokratie) gungen noch realisiert - Schlichtungsverfahren als werden? „Demokratieexperiment“ - Reaktion der - 2010: Als-Ob- Landesregierung: Individuelle und Entscheidung des Entschluss zu einem kollektive Entscheidung Schlichterspruchs Volksentscheid im Reaktionen für „S21 plus“ von November 2011 Heiner Geißler mit - März 2011: Landtagswahl - Vorlage des - Auftrag zum „Stresstest“ Stresstests im Bewertung der Implementierung - Bildung einer neuen Juli 2011 En tscheidung der Entscheidung Landeregierung
Instrumentarien von neuen Formen der Bürgerbeteiligung - Anwendung der Prinzipien des antizipatorischen Lernens, des vernetzten und systemischen Denkens sowie v.a. das Denken in Kreislauf- und Wirkungszusammenhängen in Institutionen und Organisationen - Auflösung der interdependenten politischen Spannungs- felder vor allem zwischen Ökonomie und Ökologie - Einsatz von nutzenmessenden Methoden der Technikfol- genabschätzung und Umweltverträglichkeitsprüfung sowie Instrumentarien der Zukunftswerkstatt, der Dilemma- Methode oder der Szenario-Technik
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Prof. Dr. Andreas Brunold, Politische Bildung und Politikdidaktik Universität Augsburg
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