Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft am 3. Oktober 2020, dem Vorabend des ...

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Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft am 3. Oktober 2020, dem Vorabend des ...
Papst Franziskus unterzeichnet die
                  Enzyklika über die Geschwisterlich-
                  keit und die soziale Freundschaft am
                  3. Oktober 2020, dem Vorabend des
                  Festtages seines Namens­vetters Franz
                                                          © XXXXX

                  von Assisi, an dessen Grab

4   |   Apostel                          FRATELLI TUTTI
Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft am 3. Oktober 2020, dem Vorabend des ...
Kein Mensch ist zu viel
»Fratelli tutti« und die Frage nach der Gerechtigkeit

Das aktuelle Lehrschreiben von Papst Franziskus ist ein eindrücklicher Appell an alle Menschen,
zu einer gemeinsamen und solidarischen Haltung einer universellen Geschwisterlichkeit zu finden.
Es ist durchdrungen von der Überzeugung, dass diese die Grundlage dafür ist, die elementaren Krisen
auf unserem Planeten zu bewältigen und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Wir sprachen mit
vier Mitgliedern der Familie SSCC darüber, was die Forderungen dieser Enzyklika für sie bedeuten.

Frau Kuhmann, welche Gedanken               liche Unterscheidung zwischen                     für mich immer mit Barmherzigkeit
kamen Ihnen, als Sie von der                Männern und Frauen in anderen                     verbunden. Das kann ich gut mit
»Apostel«-Redaktion zum Ge-                 Sprachen wie im Französischen                     der Geschwisterlichkeit verbinden:
spräch über die Enzyklika »Fra-             und hier bei »fratelli« im Italie­                Eltern achten ja auch darauf, dass
telli tutti« eingeladen wurden?             nischen nicht gemacht wird. So                    kein Kind zu kurz kommt. Dennoch
Elfriede Kuhmann: Geschwisterlich           habe ich diesen Punkt zunächst                    werden die Kinder unterschiedlich
zu leben ist auch mein persönliches         erst mal ignoriert. Allerdings sind               versorgt, unterstützt, gefördert, je
Anliegen. Aber eine universelle             mir die Frauen in der Enzyklika                   nach dem, was sie brauchen, nach
Geschwisterlichkeit scheint mir             insgesamt deutlich zu kurz gekom­                 Alter, Fähigkeiten und Grenzen.
doch in der Realität nur schwer             men.                                              Und Gerechtigkeit heißt dann auch,
umsetzbar.                                                                                    dass die Eltern dabei großzügig
                                            Pater Manfred: Mir standen sofort                 sind und nicht knapp bemessen.
Ist Ihnen bei dem Begriff Gerech-           Bilder vor Augen beim Wort: Wir                   Das gilt auch für mich. Ich kann
tigkeit in Verbindung mit »Fratel-          sind alle Geschwister. Das heißt ja:              auch nur wirklich Barmherzigkeit
li« die Geschlechtergerechtigkeit           Wir haben uns nicht ausgesucht,                   erfahren, wenn ich selber großzü­
eingefallen, oder war das für Sie           das ist einfach so. Das sind meine                gig barmherzig bin.
zunächst kein Gedanke?                      Brüder und Schwestern, und da
Elfriede Kuhmann: Das war nicht             komme ich nicht raus. Das Wort                    Pater Rodrigo: Mein erster Gedan­
mein erster Gedanke. Vielleicht             Gerechtigkeit – und so kommt es                   ke war, dass es eine Sozialenzyk­
weil ich ja weiß, dass eine sprach­         ja auch in der Enzyklika vor – ist                lika ist, wozu für mich ganz beson­

Im Gespräch mit unserem Redakteur Thomas Meinhardt

Elfriede Kuhmann                 Rodrigo Alcantara SSCC          Manfred Kollig SSCC                  Martin Königstein SSCC
ist Theologin und Mitglied des   lebt und arbeitet nach seiner   ist Generalvikar in Berlin           ist Provinzial der Deutschen
weltlichen Zweigs der Ordens-    Promotion in Münster nun in                                          Provinz
gemeinschaft                     Mexiko

FRATELLI TUTTI                                                                                                         Apostel       | 7
Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft am 3. Oktober 2020, dem Vorabend des ...
ders die Gerechtigkeit dazugehört.        Und: Für uns in der Kirche gilt im­       Pater Martin: Mich hat zunächst
    In unserer lateinamerikanischen           mer mehr, dass es nicht in erster         gefreut, wie tief der Papst in die
    Diskussion ist Gerechtigkeit nicht        Linie auf die richtige Regel an­          franziskanische Spiritualität ein­
    immer ein Wort aus einem religi­          kommt, sondern zuerst auf die rich­       gestiegen ist. Wichtig scheint mir,
    ösen Kontext, es gehört eher in die       tige Praxis. Das ist ein Verdienst        dass hier allgemeingültige Orien­
    soziale und politische Sphäre. Ge­        der Befreiungstheologen, dass sie         tierungen formuliert werden, die
    schwisterlichkeit, ein Begriff, der       diesen Teil der Botschaft Jesu wie­       aber konkret vor Ort gelebt werden
    für mich stark religiös geprägt ist,      der ins Zentrum gerückt haben. Es         müssen. Wenn wir als Ordensge­
    war für mich in der Verbindung            kommt darauf an, das zu leben,            meinschaft sagen, unsere Mission
    mit Gerechtigkeit neu. Das hat mich       was wir lehren.                           ist das Leben in Gemeinschaft,
    neugierig gemacht. Wie können                                                       dann hat der Papst uns hier eine
    wir dies praktisch leben?                 Was ist für Sie persönlich der Kern       konkrete Vorlage geliefert. Das be­
                                              dieser Enzyklika? Was ist für Sie         deutet für unsere drei Kommuni­
    Pater Martin, ist für Sie Geschwi-        der wichtigste Anstoß? Gibt es            täten in Werne, Berlin und Koblenz
    sterlichkeit nur positiv besetzt?         hier etwas Neues, das für Kirche          einen je eigenen Auftrag, aus dem
    Pater Manfred sagte gerade: »Da           und Welt – für uns alle – bedeut-         wir ein Labor für gemeinschaftliche
    habe ich keine Wahl.«                     sam werden kann?                          Lebensformen machen können. In
    Pater Martin: Mein erster Gedanke         Elfriede Kuhmann: Das Neue für            Werne können wir als Kommunität
    war, dass Geschwisterlichkeit und         mich ist der Ansatz einer grenz­          alter Mitbrüder solidarisch sein zu
    Gerechtigkeit zwei Aspekte im Le­         überschreitenden Völkerverständi­         einem Großteil unserer Gesell­
    ben der Menschen sind, die wir            gung. Kann das wirklich langfristig       schaft, der Formen gemeinschaft­
    gerade heute notwendig brauchen.          gelingen, eine solche Vision umzu­        lichen Lebens für alte Menschen
    Ich weiß nicht, ob es in der Ge­          setzen, oder bleibt es ein Wunsch­        sucht. In Berlin können wir als
    schichte schon einmal solch ex­           traum? Da bin ich zwiegespalten.          internationale Kommunität soli­
    treme Polarisierungen in zentralen        Die Grundidee einer geschwister­          darisch leben mit einer Gesell­
    Lebensbereichen gab wie heute.            lichen Solidarität sagt mir zu, aber      schaft, die immer diverser und viel­
    Und da ist es von großer Bedeu­           ich kann mir eigentlich nur vorstel­      fältiger wird, weil dies für unseren
    tung, dass wir uns bewusst sind,          len, dass dies in einem überschau­        Konvent dort auch gilt. Und in
    dass wir als Menschen Geschwister         baren Raum umsetzbar ist. Wenn            Koblenz sind wir in der Citykirche
    sind, dass wir diese Tatsache ak­         es sich auf die europäischen Länder       solidarisch mit Menschen auf der
    zeptieren und versuchen, gut mit­         bezieht, kann ich mir dies vorstel­       Suche nach einer für sie stimmigen
    einander auszukommen.                     len, aber weltweit?                       Spiritualität, die diese oft nicht

    Die Idee der universellen Geschwister­lich­keit schließt nicht nur Christen, sondern Menschen aller Religionen
    sowie Atheist:innen und Agnostiker:innen ein. Papst Franziskus erinnert in »    ­ Fratelli tutti« daran, dass er und der
    Großimam Al-Tayyeb darin übereinstimmen, dass Gott »alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und
    gleicher Würde ge­schaffen und sie dazu berufen hat, als B  ­ rüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben«.
                                                                                                                                © PICTURE ALLIANCE / PICCIARELLA/POOL/SPAZIANI

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Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft am 3. Oktober 2020, dem Vorabend des ...
mehr im Rahmen der offiziellen          aus Liebe zu den Unterdrückten.         für gerechten Handel und gerechte
Kirche und der Gemeinden finden.        Diese Perspektive war für mich          Lieferketten auszubauen und damit
Der Papst lädt uns gleich auf den       ungewohnt und ein guter Impuls.         anderen einen Anstoß geben. Heu­
ersten Seiten der Enzyklika dazu        Wenn wir alle Geschwister sind,         te kann keine Kirche – und erst recht
ein, neue Formen gemeinschaft­          dann gilt die Sorge auch dem an­        nicht eine kleine Gruppe – alle Be­
lichen Lebens auszuprobieren, und       deren, damit er oder sie besser wer­    reiche abdecken. Jede Gemeinschaft
wir als Ordensgemeinschaft kön­         den kann.                               muss die ihr jeweils entsprechende
nen an den verschiedenen Orten                                                  Praxis entwickeln und sich darauf
je passende Laboratorien für ge­        Die Covid-19-Pandemie und auch          konzentrieren. Gelingt dies, hat es
meinschaftliche solidarische Le­        die Klimakrise zeigen uns, dass es      Folgen für das Ganze und motiviert
bensformen der Geschwisterlich­         für die zentralen Menschheitspro-       andere, die jeweils für sie angemes­
keit und Gerechtigkeit entwickeln.      bleme keine lokalen oder natio-         senen Projekte zu realisieren.
                                        nalen Lösungen gibt. So erklären
Pater Rodrigo: In Mexiko gibt es        uns Epidemiolog:innen und wir           Wenn solche Labore eines ge-
zwar eine katholische Tradition,        erleben es mit jeder neuen Infek-       schwisterlichen Lebens ein guter
und die große Mehrheit der Bevöl­       tionswelle, dass die Pandemie erst      Ansatz sind, was bedeutet dies
kerung ist katholisch. Aber mir         vorbei ist, wenn sie weltweit besiegt   für kirchliches Handeln, für kirch-
kommt es so vor, als ob es über­        ist. Ansonsten wird sie sich immer      liche Strukturen?
wiegend nur ein ritueller Katholi­      wieder verbreiten und neue, unter       Elfriede Kuhmann: Mit Blick auf
zismus wäre, ein rituelles Christen­    Umständen noch gefährlichere Mu-        die Haltung einer universellen Ge­
tum mit sehr dünner inhaltlicher        tationen ausbilden. Und die Klima-      schwisterlichkeit fällt mir vor allem
Fundierung. Mexiko ist derzeit sehr     krise kennt sowieso keine Grenzen       die Situation im Jahr 2015 ein, als
stark von Gewalt und Drogenkrieg        und kann nur durch eine weltwei-        ungefähr eine Million Geflüchtete
bestimmt. In dieser Situation könn­     te intensive Kooperation begrenzt       in kurzer Zeit nach Deutschland
ten Geschwisterlichkeit und Soli­       werden. All dies belegt, wie zutref-    kamen. Damals und teilweise noch
darität, von denen die Enzyklika        fend und unabdingbar das von            bis heute haben sich sehr viele
spricht, eine wichtige Rolle spielen.   Papst Franziskus eingeforderte          Ehrenamtliche aus katholischen
Wir sind aufgerufen, nach der Lie­      persönliche, aber auch politische       und evangelischen Gemeinden
be Christi zu leben. Das bedeutet,      Ethos einer den ganzen Planeten         stark engagiert. Sie haben wesent­
solidarisch mit den Armen, aber         umfassenden Geschwisterlichkeit         lich dazu beigetragen, dass diese
auch solidarisch mit den vielen         ist. Gleichzeitig ist diese Aufforde-   Menschen würdig untergebracht
Geflüchteten zu leben. In diesem        rung nach einer universellen Ge-        und versorgt, dass sie willkommen
Sinne ist die Enzyklika ein Licht,      schwisterlichkeit – insbesondere,       geheißen wurden.
dass uns auffordert, mit diesem         wenn sie praktisch werden soll –
obskuren, oberflächlichen Katho­        auch eine große Herausforderung.        Ansonsten fallen mir vor allem
lizismus zu brechen und zu begin­       Wie kann das gelebt werden, wenn        dringend überfällige Strukturver­
nen, ganz praktisch die Liebe           es nicht nur darum geht, in meinem      änderungen in der Kirche ein, wie
Gottes zu leben.                        persönlichen Umfeld geschwister-        sie jetzt im Synodalen Weg endlich
                                        lich und solidarisch zu leben, son-     thematisiert werden. Wir müssen
Pater Manfred: Für mich war neu,        dern universell?                        den geschwisterlichen Umgang
wie klar und eindeutig bestimmte        Pater Martin: Ich möchte an meine       auch in der Kirche praktizieren. In
Positionen formuliert wurden: »Es       Aussage von eben anknüpfen: Als         der Enzyklika spricht Papst Fran­
gibt keinen gerechten Krieg«, oder      Ordensgemeinschaft, als kleine Ge­      ziskus vom Dialog als entschei­
auch die klare Ansage: Die Todes­       meinde vor Ort oder als kirchlicher     dendem Mittel für die Bewältigung
strafe kann nie gerechtfertigt wer­     Verband können wir versuchen,           der weltweiten Krisen. Aber der
den. Neu war für mich auch, dass        aus unserem geschwisterlichen Zu­       Dialog in der Kirche selber wird
der Papst hier sagt: Wir müssen         sammenleben ein Labor zu machen.        hier sehr stiefmütterlich themati­
alles tun, damit ein ungerechter        Das heißt zu versuchen, in einem        siert. Kirche kann aber von anderen
Machthaber oder ein Diktator an­        uns entsprechenden Bereich diese        keine Dialogbereitschaft einfor­
dere nicht weiterhin unterdrücken       Haltung konkret umzusetzen und          dern, wenn sie diese nicht selbst
kann. Und das müssen wir auch           damit zum Beispiel zu werden. Ei­       vorlebt. Und ich glaube, ein Dialog
aus Liebe zum Unterdrücker tun,         ne Gemeinde kann sich – um es           auf Augenhöhe in der Kirche
damit er davor bewahrt bleibt, wei­     konkret zu machen – entscheiden,        könnte dazu beitragen, festge­
terhin Böses zu tun; also nicht nur     aus Solidarität ihre Bemühungen         fahrene und überlebte Strukturen

FRATELLI TUTTI                                                                                          Apostel         | 9
Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft am 3. Oktober 2020, dem Vorabend des ...
zu verändern. Dies gilt besonders        deln und uns wirklich begegnen,        stierenden Solidarität im Volk ler­
   auch für den Umgang mit den              um zu einem »Wir« werden zu kön­       nen. Hier ist es wichtig, die Priori­
   Frauen in der Kirche. Die Perspek­       nen.                                   täten unseres Handelns als Kirche
   tive der Frauen spielt in der Enzy­                                             zu verändern: Natürlich sind die
   klika kaum eine Rolle. Wir müssen        In Deutschland sind wir als Kirche     Verkündigung des Evangeliums,
   endlich gleichberechtigt, in Re­         auf dem sogenannten Synodalen          die Liturgie und die Spiritualität
   spekt voreinander, mit Offenheit         Weg. Hier stellt sich mir die Frage:
   und liebevoll miteinander umge­          Wird es am Ende Gewinner und
   hen. Oft fühlen sich Frauen in der       Verlierer geben? Oder haben wir
   Kirche immer noch als Anhängsel,         Sehnsucht, einander zu begegnen?
   als nicht so wichtig.                    Ich würde gerne einmal jedes Mit­
                                            glied in der Vollversammlung fra­
   Wenn hier ein Miteinander gelebt         gen: Haben Sie Sehnsucht danach,
   wird, dann hat das sehr positive         dem jeweils anderen, der hier ist,
   Auswirkungen – auch auf die pa­          zu begegnen? Das ist ja auch eine
   storale Arbeit. Ich habe in den letz­    Forderung des Papstes in der
   ten acht Jahren in einem Pastoral­       Enzyklika: Hast Du die Lei­
   team mit einem Pfarrer zusammen­         denschaft, der Schwester,
   gearbeitet, der den Anspruch hatte,      dem Bruder zu begegnen?
   mit den anderen Hauptamtlichen,          Ich glaube, hier merkt jede
   aber auch mit der ganzen Gemein­         und jeder, dass wir in der
   de auf Augenhöhe zusammenzu­             deutschen Kirche noch ei­
   arbeiten, Verantwortung abzuge­          nen sehr großen Hand­
   ben, die Aufgaben aufzuteilen. Das       lungsbedarf haben.
   sollte mittlerweile eigentlich selbst­
   verständlich sein, ist es aber noch      Pater Rodrigo: In Mexiko
   längst nicht überall. Bei uns hat        ist es eine sehr wichtige
   das geklappt, und das hat sich po­       Frage, wie wir die Struk­
   sitiv auf das Miteinander in der         turen der Kirche verändern.
   ganzen Pfarrgemeinde ausgewirkt.         Hier hängt alles noch sehr
   Und so ein Beispiel hat dann Aus­        davon ab, was jeweils der Pfar­
   wirkungen weit über die Gemeinde         rer, der Priester sagt. Vor diesem
   hinaus.                                  Hintergrund ist die Enzyklika, die
                                            sich an alle Getauften und Unge­
   Pater Manfred, Sie tragen als Ge-        tauften wendet, damit sie sich als
   neralvikar auch strukturell eine         Geschwister und auf Augenhöhe
   ganz spezifische Verantwortung.          begegnen, sehr bedeutsam für uns.
   Wie sehen Sie diesen Punkt?
   Pater Manfred: Einmal müssen wir         In einer echten Gemeinde solida­
   uns als Kirche fragen, ob wir un­        risch, gleichberechtigt miteinander
   terwegs sind zu einem »Wir«. Im          zu leben, ohne nur das zu tun, was
                                                                                   Sumak Kawsa – »gutes, auskömm-
   Erzbistum Berlin beispielsweise          die Hierarchie sagt, das müssen wir
                                                                                   liches Zusammenleben in Vielfalt und
   stammen ein Viertel aller Katho­         lernen. Wir müssen realisieren, was
                                                                                   Harmonie mit der Natur« – ist das
   lik:innen nicht aus Deutschland.         die Auswirkungen unseres Han­
                                                                                   zentrale Prinzip der indigenen Völker
   Davon sind wiederum die Hälfte           delns sind, wenn wir uns in unseren
   polnischer Nationalität, die zweit­      Wohnvierteln für die Ärmsten en­
   größte Gruppe stammt aus Kroa­           gagieren, unser Brot miteinander       wichtig, aber das Erste ist das soli­
   tien. Beide Gruppen sind kirchlich       teilen, damit alle etwas zu essen      darische Handeln, immer mit Re­
   zumeist sehr konservativ geprägt.        haben. Hier bewegt sich langsam        spekt gegenüber den anderen, die
   Hier stellt sich die Frage, ob wir       etwas und zeigt: Eine andere Welt­     Nächstenliebe, dann kommt die
   die Vielfalt wirklich wollen, ob wir     ordnung, eine andere Welt ist mög­     Verkündigung. Dies erfordert auch
   Brücken bauen, ob wir die Verwun­        lich. Unsere Aufgabe fängt immer       einen Umbau der kirchlichen Struk­
   dungen, die aus den Auseinander­         mit einer solidarischen Handlung       turen, der sich an einem geschwi­
   setzungen entstanden sind, behan­        an. Wir können dabei von der exi­      sterlichen Miteinander orientiert.

10 |     Apostel                                                                                          FRATELLI TUTTI
Dieser Ansatz hätte dann zur Fol-    Strukturen und Aufgaben verän-          Und ich kann nicht nur auf Sicher­
                            ge, dass für eine Pfarrgemeinde      dern. Kirche würde sich wieder          heit gehen, alles vorher berechnen.
                            nicht nur die eigenen Mitglieder     stärker als gesellschaftliche Ak-       Wenn ich das tue, verpasse ich aus
                            oder sogar nur die Gottesdienst-     teurin verstehen, die gemeinsam         Angst auch eine Menge an Glück,
                            besucher:innen, sondern vielmehr     mit anderen an einer solida-            an guten Begegnungen. Nur wenn
                            das Wohnviertel, das Dorf, die       rischen und geschwisterlichen           ich ein gewisses Risiko eingehe,
                                                                 Welt arbeitet. Für Papst Franzis-       kann ich auch Glück erfahren.
                                                                 kus ist in »Fratelli tutti« der Dia-
                                                                 log mit allen das zentrale Instru-      So glaube ich, es gibt Ereignisse
                                                                 ment auf diesem Weg. Kann man           – wie beispielsweise die Erderwär­
                                                                 aber überhaupt einen Dialog mit         mung –, die haben die Kraft, die
                                                                 Gruppen führen, die auf Eigennutz       Welt zu verändern und auch noch
                                                                 statt Gemeinwohl setzen und             so festgefahrene Strukturen und
                                                                 Nutznießer:innen eines neolibe-         Gewohnheiten zumindest zu hin­
                                                                  ralen Wirtschaftssystems sind?         terfragen oder sogar zu zerbrechen.
                                                                    Sprich, kann jemand wie Jeff
                                                                      Bezos, der Amazon-Chef, Bru-       In der Realität derer, denen wir
                                                                       der und Dialogpartner sein?       uns in erster Linie zuwenden sol-
                                                                        Pater Manfred: Es wäre si­       len, den Armen und Ausgegrenz-
                                                                         cher naiv, wenn ich glauben     ten, sind die großen Krisen unserer
                                                                          würde, ich könne solche        Zeit wie Erderhitzung, Hunger,
                                                                           Menschen und Gruppen          Krieg, Flucht, … ja schon länger
                                                                           allein durch das Gespräch     Realität. Hier geht es häufig um
                                                                           überzeugen. Ich glaube        das pure Überleben. Muss eine
                                                                           aber daran, dass solche       Kirche, die auf der Seite der Ver-
                                                                           Leute durch Erleben und       letzlichsten stehen will, hier nicht
                                                                           Erfahren zu überzeugen        noch sehr viel deutlicher als bisher
                                                                          sind. Ich vermute zum Bei­     die grundsätzliche Veränderung
                                                                         spiel, dass die Covid-19-Pan­   unserer Lebens- und Wirtschafts-
                                                                        demie auch bei Menschen          weise einfordern und auch ent-
                                                                       etwas in Bewegung bringen         sprechend zu handeln versuchen?
                                                                      wird, die vorher nicht zu be­      Pater Martin: Die Option für die
                                                                   wegen waren. Und zwar, weil sie       Armen heißt, wir müssen uns be­
                                                                 erleben, dass sie sich nicht alleine    wegen und unsere Lebens- und
                                                                 retten können, sondern abhängig         Wirtschaftsweise grundsätzlich
                                                                 sind von dem, was weltweit ge­          verändern und unsere Verantwor­
                                                                 schieht, und weil sie spüren, dass      tung für und mit den Armen wahr­
                                                                 sie am Ende genauso verlieren wer­      nehmen.
                                                                 den wie alle anderen.Von daher
                                                                 bin ich nicht so pessimistisch, dass    Pater Manfred: Wir kennen ja alle
                                                                 der Dialog mit Andersdenkenden          noch Zeiten in unserer Kirche, in
          des Andenraumes. Dies könnte ein
                                                                 nichts bewirken wird. Es bleibt uns     der gesagt wurde, das ist ja nur
          weiterer Denkanstoß für eine univer-
                                                                 auch wenig anderes übrig, als sol­      sozial, was die Hilfswerke machen.
          selle Geschwisterlichkeit sein, die die
                                                                 che Diskurse zu wagen.                  Nun wird in der Enzyklika das So­
          gesamte Schöpfung einbezieht …
                                                                                                         ziale als das Erste und Entschei­
                                                                 Geschwisterlicher Dialog ist immer      dende bezeichnet, damit es eine
                            kleine Stadt zum Bezugsrahmen        auch ein Risiko, das ich eingehen       Zukunft für die Menschheitsfami­
                            und Handlungsfeld werden. Das        muss, damit sich was bewegt. Und        lie überhaupt geben kann. In der
                            alleine verändert schon den Blick-   ich muss der Meinung sein, dass         Enzyklika ist das Soziale der Brü­
© MAXIMINO CEREZO BARREDO

                            winkel und die Ausrichtung. Wird     es nicht nur einen richtigen Weg        ckenbegriff, der gesellschaftliche
                            das auch auf die anderen kirch-      gibt, sondern Gott auch zutrauen,       Kitt, der die Voraussetzung dar­
                            lichen Ebenen wie Diözesen und       dass er mehr Wege öffnet als den,       stellt für so etwas wie Gemeinwohl.
                            Weltkirche übertragen, müssten       der mir der richtige erscheint. Ich     Das Gemeinwohl ist abhängig vom
                            sich zwangsläufig kirchliche         muss eine gewisse Weite haben.          sozialen Gewissen, vom sozialen

                            FRATELLI TUTTI                                                                                       Apostel        | 11
friedenheit, mein innerer Frieden
                                                                                    hängen wesentlich davon ab, die
                                                                                    richtige Einstellung zu den Dingen
                                                                                    zu bekommen, was sich dann auch
                                                                                    in der Einstellung zu meinen Mit­
                                                                                    menschen niederschlägt.

                                                                                    Das ist sicher zutreffend für viele
                                                                                    in den Wohlstandsgesellschaften
                                                                                    in Nordamerika und Europa, aber
                                                                                    wie klingt dies in den Ohren derer,
                                                                                    die von allem zu wenig haben,
                                                                                    denen es an Nahrung, Wasser und
                                                                                    Medizin fehlt?
                                                                                    Pater Martin: Armut ist immer zu
                                                                                    bekämpfen, denn sie schädigt uns
   Die Flutkatastrophe ab 14. Juli 2021 hat großes Leid verursacht. Frei­           und beschädigt unsere Entwick­
   willige Feuerwehren und andere Hilfskräfte aus allen Bereichen Deutsch-
                                                                                    lungsmöglichkeiten. Ich denke, es
   lands machten sich umgehend auf den Weg, um im Überschwemmungs­
                                                                                    geht darum zu lernen, wunschlos
   gebiet zu helfen. Die Bereitschaft zur Anteilnahme und zur Hilfe in
                                                                                    zu werden und die Dinge so zu ge­
   unserem Land ist groß, aber sie geht auch weit darüber hinaus. Univer-
                                                                                    nießen, wie sie sind, und nicht nach
   selle Geschwisterlichkeit bewiesen zum Beispiel 14 afrikanische, evange-
                                                                                    immer mehr und immer mehr Ab­
   lische Kirchen, die mehr als 20.000 Euro als Soforthilfe bereitstellten.
                                                                                    wechslung zu gieren, denn das
                                                                                    macht mich nicht glücklich.
   Handeln der Menschheitsfamilie.        Perspektive für ein geschwister-
   Und an anderer Stelle fordert Papst    liches Zusammenleben auf un-              Pater Rodrigo: Ungerechte Armut
   Franziskus, bezogen auf die uni­       serem Planeten eröffnen könnte.           ist immer zu bekämpfen. Doch der
   verselle Gültigkeit der Menschen­      Eine Haltung der »zufriedenen             einzige Weg, diese Armut zu be­
   rechte, die Stärke des Rechts statt    Genügsamkeit«, lautete seine Ant-         kämpfen, ist das Teilen in Solida­
   das Recht des Stärkeren zu fördern.    wort. Könnte dies zu einer posi-          rität, unsere Nahrung, unser Ob­
   Das kann auf den Bereich der Wirt­     tiven Alternative zu vorherrschen-        dach. Ungerechtigkeit und Korrup­
   schaft, auf die politische Sphäre      den Haltung des unbegrenzten              tion müssen wir bekämpfen und
   und auf die Kirche übertragen wer­     Wachstums werden – des immer              auch ungerechte Regierungen, aber
   den. Und dann verwendet er auf         mehr an Konsum?                           an erster Stelle sollen wir Christen
   der Ebene des persönlichen Zu­         Pater Martin: Ich denke, ganz sicher      solidarisch und voller Mitgefühl
   sammenlebens den Begriff der so­       ist das ein Weg. Es ist ja kurios, dass   handeln; was in christlicher Spra­
   zialen Freundschaft als eine zen­      in Deutschland, so zeigen es die          che heisst: das Reich Gottes auf­
   trale Qualität. Das heißt: Unser       Umfragen, viele sagen: Materiell          zubauen.
   kirchliches Qualitätsmerkmal ist       und finanziell geht es gut, aber zu­
   das soziale Engagement. Das So­        frieden sind sie eigentlich nicht.        Ein Fazit für mich wäre: Um Men-
   ziale begründet die Freundschaft       Schon Meister Eckhart hat gesagt,         schen bei uns in den reichen Län-
   und nicht in erster Linie unser        wenn du nicht zufrieden bist, dann        dern von einer Umkehr zum Ge-
   Glaube. Damit wird der Glaube          hat das mehr mit dir zu tun als mit       meinwohl und zu einer universellen
   nicht unwichtig, aber Papst Fran­      deiner Umwelt. Wenn du nicht zu­          Geschwisterlichkeit zu überzeugen,
   ziskus bleibt nicht bei der Freund­    frieden bist, hast du die falsche         sollten wir den Gewinn an Glück,
   schaft unter den Katholiken, unter     Einstellung zu den Dingen. Da hat         den jede und jeder aus einer zu-
   den Christen stehen, das ist der       er recht. Das können wir in unseren       friedenen Genügsamkeit schöpfen
   entscheidende Punkt.                   übervollen Kleiderschränken sehen         kann, versuchen erfahrbar zu ma-
                                          oder wenn die Hälfte aller Lebens­        chen. Und das gelingt wahrschein-
   Vor einigen Wochen fragte ich          mittel, die produziert werden, im         lich am besten, indem wir dies
                                                                                                                            © PICTURE ALLIANCE / DPA

   Monsignore Pirmin Spiegel, den         Müll landet, oft bevor sie überhaupt      glaubhaft leben und somit auch
   Hauptgeschäftsführer von Mise-         ausgepackt sind. Im »Immer mehr«          zum Zeichen werden, das anste-
   reor, wie eine Grundhaltung aus-       an Konsum finden wir nicht das            cken kann. p
   sehen müsste, die eine realistische    Glück. Mein Glück und meine Zu­

12 |    Apostel                                                                                            FRATELLI TUTTI
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