Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft am 3. Oktober 2020, dem Vorabend des ...
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Papst Franziskus unterzeichnet die Enzyklika über die Geschwisterlich- keit und die soziale Freundschaft am 3. Oktober 2020, dem Vorabend des Festtages seines Namensvetters Franz © XXXXX von Assisi, an dessen Grab 4 | Apostel FRATELLI TUTTI
Kein Mensch ist zu viel »Fratelli tutti« und die Frage nach der Gerechtigkeit Das aktuelle Lehrschreiben von Papst Franziskus ist ein eindrücklicher Appell an alle Menschen, zu einer gemeinsamen und solidarischen Haltung einer universellen Geschwisterlichkeit zu finden. Es ist durchdrungen von der Überzeugung, dass diese die Grundlage dafür ist, die elementaren Krisen auf unserem Planeten zu bewältigen und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Wir sprachen mit vier Mitgliedern der Familie SSCC darüber, was die Forderungen dieser Enzyklika für sie bedeuten. Frau Kuhmann, welche Gedanken liche Unterscheidung zwischen für mich immer mit Barmherzigkeit kamen Ihnen, als Sie von der Männern und Frauen in anderen verbunden. Das kann ich gut mit »Apostel«-Redaktion zum Ge- Sprachen wie im Französischen der Geschwisterlichkeit verbinden: spräch über die Enzyklika »Fra- und hier bei »fratelli« im Italie Eltern achten ja auch darauf, dass telli tutti« eingeladen wurden? nischen nicht gemacht wird. So kein Kind zu kurz kommt. Dennoch Elfriede Kuhmann: Geschwisterlich habe ich diesen Punkt zunächst werden die Kinder unterschiedlich zu leben ist auch mein persönliches erst mal ignoriert. Allerdings sind versorgt, unterstützt, gefördert, je Anliegen. Aber eine universelle mir die Frauen in der Enzyklika nach dem, was sie brauchen, nach Geschwisterlichkeit scheint mir insgesamt deutlich zu kurz gekom Alter, Fähigkeiten und Grenzen. doch in der Realität nur schwer men. Und Gerechtigkeit heißt dann auch, umsetzbar. dass die Eltern dabei großzügig Pater Manfred: Mir standen sofort sind und nicht knapp bemessen. Ist Ihnen bei dem Begriff Gerech- Bilder vor Augen beim Wort: Wir Das gilt auch für mich. Ich kann tigkeit in Verbindung mit »Fratel- sind alle Geschwister. Das heißt ja: auch nur wirklich Barmherzigkeit li« die Geschlechtergerechtigkeit Wir haben uns nicht ausgesucht, erfahren, wenn ich selber großzü eingefallen, oder war das für Sie das ist einfach so. Das sind meine gig barmherzig bin. zunächst kein Gedanke? Brüder und Schwestern, und da Elfriede Kuhmann: Das war nicht komme ich nicht raus. Das Wort Pater Rodrigo: Mein erster Gedan mein erster Gedanke. Vielleicht Gerechtigkeit – und so kommt es ke war, dass es eine Sozialenzyk weil ich ja weiß, dass eine sprach ja auch in der Enzyklika vor – ist lika ist, wozu für mich ganz beson Im Gespräch mit unserem Redakteur Thomas Meinhardt Elfriede Kuhmann Rodrigo Alcantara SSCC Manfred Kollig SSCC Martin Königstein SSCC ist Theologin und Mitglied des lebt und arbeitet nach seiner ist Generalvikar in Berlin ist Provinzial der Deutschen weltlichen Zweigs der Ordens- Promotion in Münster nun in Provinz gemeinschaft Mexiko FRATELLI TUTTI Apostel | 7
ders die Gerechtigkeit dazugehört. Und: Für uns in der Kirche gilt im Pater Martin: Mich hat zunächst In unserer lateinamerikanischen mer mehr, dass es nicht in erster gefreut, wie tief der Papst in die Diskussion ist Gerechtigkeit nicht Linie auf die richtige Regel an franziskanische Spiritualität ein immer ein Wort aus einem religi kommt, sondern zuerst auf die rich gestiegen ist. Wichtig scheint mir, ösen Kontext, es gehört eher in die tige Praxis. Das ist ein Verdienst dass hier allgemeingültige Orien soziale und politische Sphäre. Ge der Befreiungstheologen, dass sie tierungen formuliert werden, die schwisterlichkeit, ein Begriff, der diesen Teil der Botschaft Jesu wie aber konkret vor Ort gelebt werden für mich stark religiös geprägt ist, der ins Zentrum gerückt haben. Es müssen. Wenn wir als Ordensge war für mich in der Verbindung kommt darauf an, das zu leben, meinschaft sagen, unsere Mission mit Gerechtigkeit neu. Das hat mich was wir lehren. ist das Leben in Gemeinschaft, neugierig gemacht. Wie können dann hat der Papst uns hier eine wir dies praktisch leben? Was ist für Sie persönlich der Kern konkrete Vorlage geliefert. Das be dieser Enzyklika? Was ist für Sie deutet für unsere drei Kommuni Pater Martin, ist für Sie Geschwi- der wichtigste Anstoß? Gibt es täten in Werne, Berlin und Koblenz sterlichkeit nur positiv besetzt? hier etwas Neues, das für Kirche einen je eigenen Auftrag, aus dem Pater Manfred sagte gerade: »Da und Welt – für uns alle – bedeut- wir ein Labor für gemeinschaftliche habe ich keine Wahl.« sam werden kann? Lebensformen machen können. In Pater Martin: Mein erster Gedanke Elfriede Kuhmann: Das Neue für Werne können wir als Kommunität war, dass Geschwisterlichkeit und mich ist der Ansatz einer grenz alter Mitbrüder solidarisch sein zu Gerechtigkeit zwei Aspekte im Le überschreitenden Völkerverständi einem Großteil unserer Gesell ben der Menschen sind, die wir gung. Kann das wirklich langfristig schaft, der Formen gemeinschaft gerade heute notwendig brauchen. gelingen, eine solche Vision umzu lichen Lebens für alte Menschen Ich weiß nicht, ob es in der Ge setzen, oder bleibt es ein Wunsch sucht. In Berlin können wir als schichte schon einmal solch ex traum? Da bin ich zwiegespalten. internationale Kommunität soli treme Polarisierungen in zentralen Die Grundidee einer geschwister darisch leben mit einer Gesell Lebensbereichen gab wie heute. lichen Solidarität sagt mir zu, aber schaft, die immer diverser und viel Und da ist es von großer Bedeu ich kann mir eigentlich nur vorstel fältiger wird, weil dies für unseren tung, dass wir uns bewusst sind, len, dass dies in einem überschau Konvent dort auch gilt. Und in dass wir als Menschen Geschwister baren Raum umsetzbar ist. Wenn Koblenz sind wir in der Citykirche sind, dass wir diese Tatsache ak es sich auf die europäischen Länder solidarisch mit Menschen auf der zeptieren und versuchen, gut mit bezieht, kann ich mir dies vorstel Suche nach einer für sie stimmigen einander auszukommen. len, aber weltweit? Spiritualität, die diese oft nicht Die Idee der universellen Geschwisterlichkeit schließt nicht nur Christen, sondern Menschen aller Religionen sowie Atheist:innen und Agnostiker:innen ein. Papst Franziskus erinnert in » Fratelli tutti« daran, dass er und der Großimam Al-Tayyeb darin übereinstimmen, dass Gott »alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen und sie dazu berufen hat, als B rüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben«. © PICTURE ALLIANCE / PICCIARELLA/POOL/SPAZIANI 8 | Apostel FRATELLI TUTTI
mehr im Rahmen der offiziellen aus Liebe zu den Unterdrückten. für gerechten Handel und gerechte Kirche und der Gemeinden finden. Diese Perspektive war für mich Lieferketten auszubauen und damit Der Papst lädt uns gleich auf den ungewohnt und ein guter Impuls. anderen einen Anstoß geben. Heu ersten Seiten der Enzyklika dazu Wenn wir alle Geschwister sind, te kann keine Kirche – und erst recht ein, neue Formen gemeinschaft dann gilt die Sorge auch dem an nicht eine kleine Gruppe – alle Be lichen Lebens auszuprobieren, und deren, damit er oder sie besser wer reiche abdecken. Jede Gemeinschaft wir als Ordensgemeinschaft kön den kann. muss die ihr jeweils entsprechende nen an den verschiedenen Orten Praxis entwickeln und sich darauf je passende Laboratorien für ge Die Covid-19-Pandemie und auch konzentrieren. Gelingt dies, hat es meinschaftliche solidarische Le die Klimakrise zeigen uns, dass es Folgen für das Ganze und motiviert bensformen der Geschwisterlich für die zentralen Menschheitspro- andere, die jeweils für sie angemes keit und Gerechtigkeit entwickeln. bleme keine lokalen oder natio- senen Projekte zu realisieren. nalen Lösungen gibt. So erklären Pater Rodrigo: In Mexiko gibt es uns Epidemiolog:innen und wir Wenn solche Labore eines ge- zwar eine katholische Tradition, erleben es mit jeder neuen Infek- schwisterlichen Lebens ein guter und die große Mehrheit der Bevöl tionswelle, dass die Pandemie erst Ansatz sind, was bedeutet dies kerung ist katholisch. Aber mir vorbei ist, wenn sie weltweit besiegt für kirchliches Handeln, für kirch- kommt es so vor, als ob es über ist. Ansonsten wird sie sich immer liche Strukturen? wiegend nur ein ritueller Katholi wieder verbreiten und neue, unter Elfriede Kuhmann: Mit Blick auf zismus wäre, ein rituelles Christen Umständen noch gefährlichere Mu- die Haltung einer universellen Ge tum mit sehr dünner inhaltlicher tationen ausbilden. Und die Klima- schwisterlichkeit fällt mir vor allem Fundierung. Mexiko ist derzeit sehr krise kennt sowieso keine Grenzen die Situation im Jahr 2015 ein, als stark von Gewalt und Drogenkrieg und kann nur durch eine weltwei- ungefähr eine Million Geflüchtete bestimmt. In dieser Situation könn te intensive Kooperation begrenzt in kurzer Zeit nach Deutschland ten Geschwisterlichkeit und Soli werden. All dies belegt, wie zutref- kamen. Damals und teilweise noch darität, von denen die Enzyklika fend und unabdingbar das von bis heute haben sich sehr viele spricht, eine wichtige Rolle spielen. Papst Franziskus eingeforderte Ehrenamtliche aus katholischen Wir sind aufgerufen, nach der Lie persönliche, aber auch politische und evangelischen Gemeinden be Christi zu leben. Das bedeutet, Ethos einer den ganzen Planeten stark engagiert. Sie haben wesent solidarisch mit den Armen, aber umfassenden Geschwisterlichkeit lich dazu beigetragen, dass diese auch solidarisch mit den vielen ist. Gleichzeitig ist diese Aufforde- Menschen würdig untergebracht Geflüchteten zu leben. In diesem rung nach einer universellen Ge- und versorgt, dass sie willkommen Sinne ist die Enzyklika ein Licht, schwisterlichkeit – insbesondere, geheißen wurden. dass uns auffordert, mit diesem wenn sie praktisch werden soll – obskuren, oberflächlichen Katho auch eine große Herausforderung. Ansonsten fallen mir vor allem lizismus zu brechen und zu begin Wie kann das gelebt werden, wenn dringend überfällige Strukturver nen, ganz praktisch die Liebe es nicht nur darum geht, in meinem änderungen in der Kirche ein, wie Gottes zu leben. persönlichen Umfeld geschwister- sie jetzt im Synodalen Weg endlich lich und solidarisch zu leben, son- thematisiert werden. Wir müssen Pater Manfred: Für mich war neu, dern universell? den geschwisterlichen Umgang wie klar und eindeutig bestimmte Pater Martin: Ich möchte an meine auch in der Kirche praktizieren. In Positionen formuliert wurden: »Es Aussage von eben anknüpfen: Als der Enzyklika spricht Papst Fran gibt keinen gerechten Krieg«, oder Ordensgemeinschaft, als kleine Ge ziskus vom Dialog als entschei auch die klare Ansage: Die Todes meinde vor Ort oder als kirchlicher dendem Mittel für die Bewältigung strafe kann nie gerechtfertigt wer Verband können wir versuchen, der weltweiten Krisen. Aber der den. Neu war für mich auch, dass aus unserem geschwisterlichen Zu Dialog in der Kirche selber wird der Papst hier sagt: Wir müssen sammenleben ein Labor zu machen. hier sehr stiefmütterlich themati alles tun, damit ein ungerechter Das heißt zu versuchen, in einem siert. Kirche kann aber von anderen Machthaber oder ein Diktator an uns entsprechenden Bereich diese keine Dialogbereitschaft einfor dere nicht weiterhin unterdrücken Haltung konkret umzusetzen und dern, wenn sie diese nicht selbst kann. Und das müssen wir auch damit zum Beispiel zu werden. Ei vorlebt. Und ich glaube, ein Dialog aus Liebe zum Unterdrücker tun, ne Gemeinde kann sich – um es auf Augenhöhe in der Kirche damit er davor bewahrt bleibt, wei konkret zu machen – entscheiden, könnte dazu beitragen, festge terhin Böses zu tun; also nicht nur aus Solidarität ihre Bemühungen fahrene und überlebte Strukturen FRATELLI TUTTI Apostel | 9
zu verändern. Dies gilt besonders deln und uns wirklich begegnen, stierenden Solidarität im Volk ler auch für den Umgang mit den um zu einem »Wir« werden zu kön nen. Hier ist es wichtig, die Priori Frauen in der Kirche. Die Perspek nen. täten unseres Handelns als Kirche tive der Frauen spielt in der Enzy zu verändern: Natürlich sind die klika kaum eine Rolle. Wir müssen In Deutschland sind wir als Kirche Verkündigung des Evangeliums, endlich gleichberechtigt, in Re auf dem sogenannten Synodalen die Liturgie und die Spiritualität spekt voreinander, mit Offenheit Weg. Hier stellt sich mir die Frage: und liebevoll miteinander umge Wird es am Ende Gewinner und hen. Oft fühlen sich Frauen in der Verlierer geben? Oder haben wir Kirche immer noch als Anhängsel, Sehnsucht, einander zu begegnen? als nicht so wichtig. Ich würde gerne einmal jedes Mit glied in der Vollversammlung fra Wenn hier ein Miteinander gelebt gen: Haben Sie Sehnsucht danach, wird, dann hat das sehr positive dem jeweils anderen, der hier ist, Auswirkungen – auch auf die pa zu begegnen? Das ist ja auch eine storale Arbeit. Ich habe in den letz Forderung des Papstes in der ten acht Jahren in einem Pastoral Enzyklika: Hast Du die Lei team mit einem Pfarrer zusammen denschaft, der Schwester, gearbeitet, der den Anspruch hatte, dem Bruder zu begegnen? mit den anderen Hauptamtlichen, Ich glaube, hier merkt jede aber auch mit der ganzen Gemein und jeder, dass wir in der de auf Augenhöhe zusammenzu deutschen Kirche noch ei arbeiten, Verantwortung abzuge nen sehr großen Hand ben, die Aufgaben aufzuteilen. Das lungsbedarf haben. sollte mittlerweile eigentlich selbst verständlich sein, ist es aber noch Pater Rodrigo: In Mexiko längst nicht überall. Bei uns hat ist es eine sehr wichtige das geklappt, und das hat sich po Frage, wie wir die Struk sitiv auf das Miteinander in der turen der Kirche verändern. ganzen Pfarrgemeinde ausgewirkt. Hier hängt alles noch sehr Und so ein Beispiel hat dann Aus davon ab, was jeweils der Pfar wirkungen weit über die Gemeinde rer, der Priester sagt. Vor diesem hinaus. Hintergrund ist die Enzyklika, die sich an alle Getauften und Unge Pater Manfred, Sie tragen als Ge- tauften wendet, damit sie sich als neralvikar auch strukturell eine Geschwister und auf Augenhöhe ganz spezifische Verantwortung. begegnen, sehr bedeutsam für uns. Wie sehen Sie diesen Punkt? Pater Manfred: Einmal müssen wir In einer echten Gemeinde solida uns als Kirche fragen, ob wir un risch, gleichberechtigt miteinander terwegs sind zu einem »Wir«. Im zu leben, ohne nur das zu tun, was Sumak Kawsa – »gutes, auskömm- Erzbistum Berlin beispielsweise die Hierarchie sagt, das müssen wir liches Zusammenleben in Vielfalt und stammen ein Viertel aller Katho lernen. Wir müssen realisieren, was Harmonie mit der Natur« – ist das lik:innen nicht aus Deutschland. die Auswirkungen unseres Han zentrale Prinzip der indigenen Völker Davon sind wiederum die Hälfte delns sind, wenn wir uns in unseren polnischer Nationalität, die zweit Wohnvierteln für die Ärmsten en größte Gruppe stammt aus Kroa gagieren, unser Brot miteinander wichtig, aber das Erste ist das soli tien. Beide Gruppen sind kirchlich teilen, damit alle etwas zu essen darische Handeln, immer mit Re zumeist sehr konservativ geprägt. haben. Hier bewegt sich langsam spekt gegenüber den anderen, die Hier stellt sich die Frage, ob wir etwas und zeigt: Eine andere Welt Nächstenliebe, dann kommt die die Vielfalt wirklich wollen, ob wir ordnung, eine andere Welt ist mög Verkündigung. Dies erfordert auch Brücken bauen, ob wir die Verwun lich. Unsere Aufgabe fängt immer einen Umbau der kirchlichen Struk dungen, die aus den Auseinander mit einer solidarischen Handlung turen, der sich an einem geschwi setzungen entstanden sind, behan an. Wir können dabei von der exi sterlichen Miteinander orientiert. 10 | Apostel FRATELLI TUTTI
Dieser Ansatz hätte dann zur Fol- Strukturen und Aufgaben verän- Und ich kann nicht nur auf Sicher ge, dass für eine Pfarrgemeinde dern. Kirche würde sich wieder heit gehen, alles vorher berechnen. nicht nur die eigenen Mitglieder stärker als gesellschaftliche Ak- Wenn ich das tue, verpasse ich aus oder sogar nur die Gottesdienst- teurin verstehen, die gemeinsam Angst auch eine Menge an Glück, besucher:innen, sondern vielmehr mit anderen an einer solida- an guten Begegnungen. Nur wenn das Wohnviertel, das Dorf, die rischen und geschwisterlichen ich ein gewisses Risiko eingehe, Welt arbeitet. Für Papst Franzis- kann ich auch Glück erfahren. kus ist in »Fratelli tutti« der Dia- log mit allen das zentrale Instru- So glaube ich, es gibt Ereignisse ment auf diesem Weg. Kann man – wie beispielsweise die Erderwär aber überhaupt einen Dialog mit mung –, die haben die Kraft, die Gruppen führen, die auf Eigennutz Welt zu verändern und auch noch statt Gemeinwohl setzen und so festgefahrene Strukturen und Nutznießer:innen eines neolibe- Gewohnheiten zumindest zu hin ralen Wirtschaftssystems sind? terfragen oder sogar zu zerbrechen. Sprich, kann jemand wie Jeff Bezos, der Amazon-Chef, Bru- In der Realität derer, denen wir der und Dialogpartner sein? uns in erster Linie zuwenden sol- Pater Manfred: Es wäre si len, den Armen und Ausgegrenz- cher naiv, wenn ich glauben ten, sind die großen Krisen unserer würde, ich könne solche Zeit wie Erderhitzung, Hunger, Menschen und Gruppen Krieg, Flucht, … ja schon länger allein durch das Gespräch Realität. Hier geht es häufig um überzeugen. Ich glaube das pure Überleben. Muss eine aber daran, dass solche Kirche, die auf der Seite der Ver- Leute durch Erleben und letzlichsten stehen will, hier nicht Erfahren zu überzeugen noch sehr viel deutlicher als bisher sind. Ich vermute zum Bei die grundsätzliche Veränderung spiel, dass die Covid-19-Pan unserer Lebens- und Wirtschafts- demie auch bei Menschen weise einfordern und auch ent- etwas in Bewegung bringen sprechend zu handeln versuchen? wird, die vorher nicht zu be Pater Martin: Die Option für die wegen waren. Und zwar, weil sie Armen heißt, wir müssen uns be erleben, dass sie sich nicht alleine wegen und unsere Lebens- und retten können, sondern abhängig Wirtschaftsweise grundsätzlich sind von dem, was weltweit ge verändern und unsere Verantwor schieht, und weil sie spüren, dass tung für und mit den Armen wahr sie am Ende genauso verlieren wer nehmen. den wie alle anderen.Von daher bin ich nicht so pessimistisch, dass Pater Manfred: Wir kennen ja alle der Dialog mit Andersdenkenden noch Zeiten in unserer Kirche, in des Andenraumes. Dies könnte ein nichts bewirken wird. Es bleibt uns der gesagt wurde, das ist ja nur weiterer Denkanstoß für eine univer- auch wenig anderes übrig, als sol sozial, was die Hilfswerke machen. selle Geschwisterlichkeit sein, die die che Diskurse zu wagen. Nun wird in der Enzyklika das So gesamte Schöpfung einbezieht … ziale als das Erste und Entschei Geschwisterlicher Dialog ist immer dende bezeichnet, damit es eine kleine Stadt zum Bezugsrahmen auch ein Risiko, das ich eingehen Zukunft für die Menschheitsfami und Handlungsfeld werden. Das muss, damit sich was bewegt. Und lie überhaupt geben kann. In der alleine verändert schon den Blick- ich muss der Meinung sein, dass Enzyklika ist das Soziale der Brü © MAXIMINO CEREZO BARREDO winkel und die Ausrichtung. Wird es nicht nur einen richtigen Weg ckenbegriff, der gesellschaftliche das auch auf die anderen kirch- gibt, sondern Gott auch zutrauen, Kitt, der die Voraussetzung dar lichen Ebenen wie Diözesen und dass er mehr Wege öffnet als den, stellt für so etwas wie Gemeinwohl. Weltkirche übertragen, müssten der mir der richtige erscheint. Ich Das Gemeinwohl ist abhängig vom sich zwangsläufig kirchliche muss eine gewisse Weite haben. sozialen Gewissen, vom sozialen FRATELLI TUTTI Apostel | 11
friedenheit, mein innerer Frieden hängen wesentlich davon ab, die richtige Einstellung zu den Dingen zu bekommen, was sich dann auch in der Einstellung zu meinen Mit menschen niederschlägt. Das ist sicher zutreffend für viele in den Wohlstandsgesellschaften in Nordamerika und Europa, aber wie klingt dies in den Ohren derer, die von allem zu wenig haben, denen es an Nahrung, Wasser und Medizin fehlt? Pater Martin: Armut ist immer zu bekämpfen, denn sie schädigt uns Die Flutkatastrophe ab 14. Juli 2021 hat großes Leid verursacht. Frei und beschädigt unsere Entwick willige Feuerwehren und andere Hilfskräfte aus allen Bereichen Deutsch- lungsmöglichkeiten. Ich denke, es lands machten sich umgehend auf den Weg, um im Überschwemmungs geht darum zu lernen, wunschlos gebiet zu helfen. Die Bereitschaft zur Anteilnahme und zur Hilfe in zu werden und die Dinge so zu ge unserem Land ist groß, aber sie geht auch weit darüber hinaus. Univer- nießen, wie sie sind, und nicht nach selle Geschwisterlichkeit bewiesen zum Beispiel 14 afrikanische, evange- immer mehr und immer mehr Ab lische Kirchen, die mehr als 20.000 Euro als Soforthilfe bereitstellten. wechslung zu gieren, denn das macht mich nicht glücklich. Handeln der Menschheitsfamilie. Perspektive für ein geschwister- Und an anderer Stelle fordert Papst liches Zusammenleben auf un- Pater Rodrigo: Ungerechte Armut Franziskus, bezogen auf die uni serem Planeten eröffnen könnte. ist immer zu bekämpfen. Doch der verselle Gültigkeit der Menschen Eine Haltung der »zufriedenen einzige Weg, diese Armut zu be rechte, die Stärke des Rechts statt Genügsamkeit«, lautete seine Ant- kämpfen, ist das Teilen in Solida das Recht des Stärkeren zu fördern. wort. Könnte dies zu einer posi- rität, unsere Nahrung, unser Ob Das kann auf den Bereich der Wirt tiven Alternative zu vorherrschen- dach. Ungerechtigkeit und Korrup schaft, auf die politische Sphäre den Haltung des unbegrenzten tion müssen wir bekämpfen und und auf die Kirche übertragen wer Wachstums werden – des immer auch ungerechte Regierungen, aber den. Und dann verwendet er auf mehr an Konsum? an erster Stelle sollen wir Christen der Ebene des persönlichen Zu Pater Martin: Ich denke, ganz sicher solidarisch und voller Mitgefühl sammenlebens den Begriff der so ist das ein Weg. Es ist ja kurios, dass handeln; was in christlicher Spra zialen Freundschaft als eine zen in Deutschland, so zeigen es die che heisst: das Reich Gottes auf trale Qualität. Das heißt: Unser Umfragen, viele sagen: Materiell zubauen. kirchliches Qualitätsmerkmal ist und finanziell geht es gut, aber zu das soziale Engagement. Das So frieden sind sie eigentlich nicht. Ein Fazit für mich wäre: Um Men- ziale begründet die Freundschaft Schon Meister Eckhart hat gesagt, schen bei uns in den reichen Län- und nicht in erster Linie unser wenn du nicht zufrieden bist, dann dern von einer Umkehr zum Ge- Glaube. Damit wird der Glaube hat das mehr mit dir zu tun als mit meinwohl und zu einer universellen nicht unwichtig, aber Papst Fran deiner Umwelt. Wenn du nicht zu Geschwisterlichkeit zu überzeugen, ziskus bleibt nicht bei der Freund frieden bist, hast du die falsche sollten wir den Gewinn an Glück, schaft unter den Katholiken, unter Einstellung zu den Dingen. Da hat den jede und jeder aus einer zu- den Christen stehen, das ist der er recht. Das können wir in unseren friedenen Genügsamkeit schöpfen entscheidende Punkt. übervollen Kleiderschränken sehen kann, versuchen erfahrbar zu ma- oder wenn die Hälfte aller Lebens chen. Und das gelingt wahrschein- Vor einigen Wochen fragte ich mittel, die produziert werden, im lich am besten, indem wir dies © PICTURE ALLIANCE / DPA Monsignore Pirmin Spiegel, den Müll landet, oft bevor sie überhaupt glaubhaft leben und somit auch Hauptgeschäftsführer von Mise- ausgepackt sind. Im »Immer mehr« zum Zeichen werden, das anste- reor, wie eine Grundhaltung aus- an Konsum finden wir nicht das cken kann. p sehen müsste, die eine realistische Glück. Mein Glück und meine Zu 12 | Apostel FRATELLI TUTTI
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