Pinochet und die Pinguine - Was die Militärdiktatur dem chilenischen Bildungssystem vererbt hat
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Pinochet und die Pinguine Was die Militärdiktatur dem chilenischen Bildungssystem vererbt hat Pinguine haben im vergangenen Jahr chilenische Poli- tiker_innen in Angst und Schrecken versetzt und die ganze Nation in Atem gehalten. Pinguine, Jungen und Mädchen in grauen Schuluniformen, die es satt haben, pinochet & die pinguine in einem System der Ungleichheit zu leben. Einem Sy- stem, das Augusto Pinochet am letzten Tag seiner Amtszeit installierte, und das auch während der 16 Jahre der »Demokratie« nicht beseitigt wurde. Hier lehnt sich eine Generation, die nach der Diktatur ge- boren wurde, gegen die Generationen auf, die dieses Bildungssystem und/oder sein Fortbestehen zu ver- antworten haben. 600 000 Schüler_innen waren in der Hochzeit der Bewegung – Ende Mai, Anfang Juni – mobilisiert. »Die erste soziale Bewegung, die in den vergangenen 16 Jahren diesen Namen verdient«, wie 31 es der Soziologe Eduardo Valenzuela Chadwick in einem Artikel der Tageszeitung La Nación ausdrückt. _________ Tagebuch Santiago, 19. / 20. Mai 2006 Genau richtig sei ich gekommen, in einer sehr bewegten Zeit. Doch nicht immer sei die Lage in Chile so, wie sie sich zurzeit präsentiert. Schwere Ausschreitungen – wie sehr ich dieses Wort liebe (Wollen wir ein wenig ausschreiten?) – am 1. Mai. Fast täglich Mahnwachen, Kundgebungen oder Demonstrationen wegen des Hungerstreiks von drei inhaftierten Mapuche1 und einer Aktivistin, die nach dem Antiterrorgesetz, das noch aus der Zeit der Pinochet-Dik- tatur stammt, wegen eines Brandanschlags auf einen Forst zu einer Gefängnisstrafe von zehn Jahren und einem Tag verurteilt worden sind. Der Hungerstreik war zwischen- zeitlich ausgesetzt worden, weil die Regierung Bachelet eine Gesetzesinitiative in Aussicht gestellt hatte, von der insgesamt neun oder zehn Mapuche, beziehungsweise Un- terstützer_innen, profitieren sollten. Sie müssen dafür al- lerdings der Gewalt abschwören. Die Initiative sollte in den nächsten Wochen umgesetzt werden. Da sich aber nichts tat, haben die Mapuche den Hungerstreik wieder aufgenommen. Die Mapuche und ihre Unterstützer_innen sind nicht die einzigen, die protestieren und mit der Besetzung einer Universität in Temuco oder dem Brandanschlag auf zwei Laster auf einer Überlandstraße im Süden des Landes für Schlagzeilen sorgen. Auch die Schüler_innen gehen auf die Straße, streiken, besetzen ihre Schulen. Sie fordern
unter anderem kostenl- ose Zugangstests an den Universitäten, manche auch die Ab- schaffung des obligato- rischen Militärdien- stes. Dass ihre Schülerkarte, die den reduzierten Fahrpreis im Bus gewährleistet, nicht mehr nur für zwei Fahrten am Tag gültig ist, haben sie am Verhandlungstisch mit dem Erziehungsmini- ster bereits erreicht. Die Regierung hatte al- lerdings die weiteren Verhandlungen ausgesetzt, sollten Plätze schleifen. Diese Schamlosigkeit hat für uns Journa- die Schüler_innen an ihrer Mobilisierung festhalten. Am list_innen natürlich den Vorteil, dass die Carabineros uns Donnerstag, 18. Mai, gab es dennoch den Versuch, die For- nicht angreifen, wenn wir sie bei ihrer Arbeit fotografieren derungen erneut auf die Straße zu tragen. Weit kamen die oder filmen. Schüler_innen und Studierenden indes nicht. Bereits am Versammlungsort, der Plaza Italia, ging die Polizei mit Doch auch in Chile setzen die Beamten, das versicherte mir Wasserwerfern und Tränengas gegen die Mädchen und eine Kollegin, gelegentlich den Journalist_innen zu. Bis- diskus 1.07 Jungen vor. Spezialeinsatzkräfte nahmen Kinder und Ju- lang hatte ich Glück und den Eindruck, dass ich hier vor gendliche fest. Die Demonstration war von der Stadtregie- solchen Übergriffen einigermaßen sicher bin. Die Mehr- rung nicht autorisiert worden und folglich illegal. zahl der Medien hier ist ohnehin darum bemüht, die völlig überzogenen Polizeieinsätze zu rechtfertigen. Objektive Berichterstattung findet hier kaum statt. Am schlimmsten 32 sind dabei die Fernsehnachrichten MEGA-Noticias. Pure Das Bildungssystem Chiles Hetze. Jetzt droht auch noch eine der wenigen lesbaren Ta- geszeitung, El Diario Siete, zu verschwinden. Das Wohl- (Quelle: MINEDUC, Bildungsministerium) wollen der zumeist völlig unkritischen Medien wird viel- leicht seitens der Polizei mit dieser Rücksichtnahme goutiert. Wie gesagt, die Polizist_innen fühlen sich hier Vorschule (verschiedene private und öffentliche Einrich- völlig im Recht. Mit ihrem martialischen und kompro- tungen) für Kinder von 0 bis 6 Jahren misslosen Auftreten tragen sie das Ihre dazu bei, dass der Grundbildung (städtisch oder privat, obligatorisch); Hass auf diese staatliche Institution von Schuljahr zu Dauer: 8 Jahre Schuljahr wächst. mittlere Bildung (städtisch oder privat, obligatorisch); _________ Dauer: 4 Jahre; zwei Optionen: Option 1: allg. wissenschaftlich-humanistisch Die Schüler_innen ziehen ihre Konsequenzen daraus, Option 2: technisch-professionell (Theorie und berufl. Pra- dass die Autoritäten auf Repression (10. Mai: 1287 xis) Festnahmen, 907 davon in Santiago; 18. Mai: 702 Fest- höhere Bildung/educación superior (private oder öf- nahmen; 30. Mai: 730 Festnahmen, 28 Verletzte, Über- fentliche Träger) griffe auch auf Journalist_innen, ein Verantwortlicher Universitäten oder Akademische Institute (Institutos Profe- der Spezialeinsatzkräfte muss den Hut, respektive den sionales) Helm nehmen) setzen, und sie sind klug genug, der Zentren Technischer Ausbildung (postsecundarios, 2 Regierung nicht aus der Hand zu fressen, als diese der Jahre) Peitsche das Zuckerbrot folgen lässt. Nach den Über- 43 Prozent der Schüler_innen besuchen Schulen in priva- griffen der Polizei besetzen die Schüler_innen ihre Li- ter Trägerschaft. ceos, Institutos und Colegios. Eine Bewegung, die in Santiago beginnt, täglich mehr Beteiligte melden kann und sich dann über das ganze Land zieht. Nach den Attacken der Polizei griffen vereinzelt Demon- Die Schüler_innen sind gut organisiert, stimmen sich strant_innen zu Steinen. Die Mehrheit indessen hielt an in schulinternen sowie regionalen und nationalen Ver- dem Konzept einer gewaltfreien Demonstration fest. Die sammlungen ab. Wobei Handys die Kommunikation Polizei kennt nur ein Einsatzkonzept, und das heißt mit ungemein erleichtern und so manchen Veteranen des allen Kräften um jeden Preis hart durchgreifen. Weder von Widerstands der 80er Jahre neidisch werden lassen, Empathie noch von der Verhältnismäßigkeit der Mittel denn damals mussten die Leute teilweise kilometer- scheinen sie bislang gehört zu haben. Sie sind sich ihrer weit laufen, um sich zu Protestvorbereitungen zu ver- Sache sehr sicher. So sicher, dass es ihnen nichts ausmacht, abreden, so löchrig war das Telefonnetz. Zudem profi- dabei fotografiert zu werden, wenn sie 12-, 13- oder 14- tieren die Jugendlichen davon, dass sie in der Regel Jährige in Schuluniform im Würgegriff über Straßen und mehrere Geschwister haben, die auf andere Schulen
gehen, was weitere, informelle Kanäle der Kommuni- Tagebuch kation eröffnet. Dass die Schüler_innenbewegung für pinochet & die pinguine sich beanspruchen könne, weite Teile der Gesellschaft Concepción, undatiert zu repräsentieren, habe, paradoxerweise, etwas mit dem Neoliberalismus und der Privatisierung der »Dass die anderen Kekse und Milch bekommen, wir aber Schulen zu tun, erklärte kürzlich Alejandra Bottinelli Erbsen mit Steinen essen müssen, das ist ungerecht.« von der chilenischen Student_innenorganisation »Wir haben das Colegio besetzt, weil die Kekse so SurDA auf dem »Ungleichheitskongress« des Bundes schlecht sind.« Demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissen- Mit der Ausweitung der Streikwelle kommen auch schaftler in Frankfurt. Da Bildung zu einem Geschäft immer jüngere Schüler_innen dazu, die ihre ganz eigenen geworden sei, gebe es ein großes Interesse daran, dass Ziele haben und Forderungen formulieren. Sie wollen sich möglichst viele Jugendliche die mittlere Bildung ab- nicht weiter mit wenigen, schlecht funktionierenden Du- solvieren (siehe Infokasten »Das Bildungssystem Chi- schen, verstopften Toiletten und undichten Dächern abfin- 33 les«, S. 32). Eltern finanzierten das fällige Schulgeld den. Eine Klasse im Süden des Landes hat kurzerhand ihren per Kredit (ein weiteres lukratives Geschäft für die Unterricht ins Freie verlegt. Trotz des Regens. Schließlich Banken). Die Proteste seien, so Bottinelli, auch eine werde man auch im Klassenraum nass, so undicht sei das Antwort auf die Erfahrungen vieler Jugendlicher frü- Dach. herer Jahrgänge: Da gebe es zum einen die Enttäu- schung der Jugendlichen, die es aufgrund ihrer schlechten Schulbildung nicht schaffen, eine Universi- Concepción, 31. Mai 2006 tät zu besuchen, und zum anderen die Enttäuschung anderer, die trotz Universitätsabschlusses keine ad- Beim Ertönen des Martinshorns sind die ersten gerannt. äquate Arbeitsstelle finden. Bottinelli sieht in der Wie so häufig löste die Fluchtbewegung einiger weniger Schüler_innenbewegung die Bewegung einer Mittel- eine panische Massenflucht aus. Ein wenig beschämend schicht, die in der Lage ist, Schüler_innen sowohl aus war das schon, zumal sich herausstellte, dass es sich ledig- ganz armen als auch aus reichen Vierteln zu integrie- lich um die Sirene eines Krankenwagens gehandelt hatte. ren. Trotz dieser Spannweite sei die Solidarität wäh- Zu diesem Zeitpunkt brannte die Barrikade noch nicht ein- rend der Mobilisierung im vergangenen Sommer nicht mal richtig, zerriss ein Student seinen College-Block, um zerbrochen. die spärlichen, zuckenden Flämmchen zu nähren. Ein be- scheidener Anfang. Aber ein Anfang. Die Pinguine sind selbstbewusst. Da die Präsidentin Wenig später schmelzen Verkehrskegel in den Flammen Michelle Bachelet in ihrer Regierungserklärung vom zweier Holzbänke. In einer Seitenstraße wirft ein junger 21. Mai nicht auf die Forderungen der Schüler_innen Vermummter eine Kette mit einem Gewicht über eine Elek- eingegangen ist, halten die Secundarios ihre Mobilisie- troleitung. Die Kette wickelt sich mit Schwung um die Lei- rung aufrecht, weiten sie aus. tung, die Drähte berühren sich, es gibt ein Knall und einen Zu den zentralen Forderungen, wie kostenlose Bus- Blitz, dann ist der Strom weg. Hinter dem Wasserwerfer fahrten, kostenlose Zugangsprüfung für die Universi- rücken die Spezialkräfte an. Sie verfolgen Student_innen täten, Abschaffung der städtischen Zuständigkeit für bis auf den Campus, ein Greiftrupp nimmt einen Schüler die Schulen sowie Abschaffung des verhassten Geset- fest. Doch dann setzt die Gegenoffensive ein: Im Steinha- zes LOCE (Ley Organica Constitucional de Educación), gel müssen sich die »Pacos« (chil. abfällig für Carabinero) kommen die Forderungen, die die Mängel in der Infra- zurückziehen, selbst als die Carabineros beim Einsteigen struktur der einzelnen Schule betreffen. Diese zuneh- sind, werden sie beworfen, ein Vermummter schlägt mit mende Streikbewegung – die Tendenz hält bis Anfang einer Holzlatte auf die Flüchtenden ein. Auch der größere, Juni an – erfasst sogar Schulen der Grundbildung. modernere Wasserwerfer kann zur Entspannung der Lage Kleine Kinder hopsen vor Fernsehkameras und nichts beitragen. Immer wieder sammeln sich die jungen tragen ihre Anliegen vor. Männer und Frauen, um das dunkelgrüne Gefährt mit _________ Steinen und sonstigen Wurfgeschossen einzudecken. Nach
zwei Treffern von Molotowcocktails und der anschließen- tung und Reform des LOCE in verschiedenen Unter- den Selbstlöschung ist der Tank leer. Für mehr als eine gruppen diskutieren wird. Die Überleitung des bishe- Stunde verschwindet der Wasserwerfer. Der altersschwa- rigen Protests in solch geregelte Bahnen gestaltet sich che, völlig zerbeulte Wasserwerfer, ein Mercedes wie in schwierig. Der Elan der Straße und der Besetzungen den frühen 80er Jahren aus der BRD bekannt, flößt der, lässt sich nicht einfach in mehrheitsfähige Vorschläge vom Rückzug der verhassten Polizei berauschten Menge umformen. Wer darf an diesem Gremium teilnehmen? nur geringen Respekt ein. Wie kann eine repräsentative Vertretung der Schü- diskus 1.07 ler_innen im Norden oder Süden des Landes sicherge- Ich bin ganz froh, dass ich gestern nicht in Santiago war, stellt werden? Wie demokratisch sind die Schüler_in- denn dort sind die Bullen zum Teil recht massiv gegen nenvertretungen überhaupt? Werden sie von Pressevertreter_innen vorgegangen. Das Geschrei wegen Parteimitgliedern unterwandert, missbraucht? Sind der Polizeigewalt ist heute groß. Merkwürdig, als es am die Schüler_innenvertreter selbstsüchtig, arrogant, 34 18. Mai lediglich Schüler_innen und keine Journalist_in- karrierebewusst? All diese Fragen werden in dieser nen traf, hat sich niemand aufgeregt. Die Concertación Phase öffentlich diskutiert. (die Regierungskoalition unter anderem aus Sozialisten Mit dem letzten Nationalstreik (paro nacional) hat und Christdemokraten) hat wohl ihre Strategie geändert die Bewegung zweifelsohne ihren Zenit überschritten. und will nun die Mobilisierung nutzen, um eine Reform Ein Anwachsen der Bewegung ist nicht mehr zu er- des Bildungssystems zu betreiben, schließlich stammt das warten. Im Gegenteil: Unter dem Eindruck, mit der LOCE aus den letzten Tagen der Diktatur. Regierungskri- Einrichtung des Runden Tischs habe die Regierung tische Leute befürchten jedoch, die Regierung strebe ledig- eine wesentliche Forderung erfüllt, bröckelt die Streik- lich eine Weiterentwicklung des Gesetzes im Sinne des front. Außerdem stehen die Ferien an, und die Öffent- Neoliberalismus an, statt »Bildung für Alle« zu einem lichkeit will andere Bilder als die von Straßenschlach- Grundrecht zu machen. ten und besetzten Schulen sehen. Am 9. Juni beginnt ________ die Fußball-Weltmeisterschaft, der Verkauf von Plasma-Fernsehern schnellt in die Höhe, obwohl Chile Hatte der Erziehungsminister anfangs noch darauf be- nicht einmal qualifiziert ist. standen, nur mit solchen Schüler_innen zu verhan- deln, die sich nicht an Streiks beteiligen, und hatte die Im August kam es zu einem kurzen, aber heftigen Wie- Regierung gedroht, die Verhandlungen abzubrechen, deraufflammen der Bewegung. Auch im September falls es weiter zu (gewalttätigen) Demonstrationen und im Oktober wurde demonstriert und besetzt. komme, haben die Schüler_innen durchgesetzt, dass Doch eine solche Durchschlagskraft wie zu Beginn des alle bei den Verhandlungen vertreten sind. Die De- Jahres konnten die Pinguine nicht mehr erreichen. Das monstrationen haben mittlerweile eine Eigendynamik lag unter anderem daran, dass sich nun viele der Schü- entwickelt, so dass die mobilisierten Schüler_innen ler_innen auf die Aufnahmeprüfung für die Universi- durchaus – zumindest teilweise – in ihren Schulen täten vorbereiten mussten. Ein komplettes Schuljahr bleiben können, um die Besetzungen sicherzustellen. zu verlieren, das können sich die meisten Es kommen dennoch genügend Menschen auf die Schüler_innen nicht leisten. Zum anderen wurden Straßen, und Ausschreitungen gibt es auch. Anfang Kräfte in Abwehrkämpfen gebunden, hatten doch Juni teilt die Präsidentin die Forderungen der Schü- rechte Bürgermeister begonnen, Schüler_innen für ler_innen in kurzfristige und langfristige ein. Für die ihre Beteiligung an den Mobilisierungen zu bestrafen Diskussion um das künftige Bildungssystem wird ein und vom Unterricht zu suspendieren. Ein weiterer Runder Tisch (Consejo Asesor Presidencial para la Ca- Faktor dürfte gewesen sein, dass der Runde Tisch lidad de Educación) einberufen. Knapp 80 seine Arbeit noch nicht abgeschlossen hatte. Vertreter_innen aus allen Bereichen des Erziehungssy- stems, darunter auch jene, die Profit aus der Bildung Von diesem Beratergremium wird am 11. Dezember schlagen, sind in diesem Gremium vertreten, das die 2006, einen Tag nach dem Ableben von Ex-Diktator Themen Finanzierung, Qualität, Städtische Verwal- Augusto Pinochet Ugarte, der Präsidentin Michelle
renden hat bereits ein eigenes Papier angekündigt, er fin- det, seine Positionen seien im Abschluss- bericht nicht ausrei- chend gewürdigt. Fazit: Den Schülern und Schülerinnen ist es gelungen, ein aus- gesprochen wichti- ges Thema auf die Agenda der chileni- schen Gesellschaft zu bringen. Sie haben die Politik Bachelet der Abschlussbericht übergeben. Nun will unter Druck gesetzt und andere, etwa Student_innen, sie im ersten Quartal 2007, daraus politische Projekte Lehrer_innen und Gewerkschaften, durch die Massi- pinochet & die pinguine und Gesetze ableiten. Das kann spannend werden, vität ihres Auftretens dazu bewegt, Stellung zu bezie- denn schließlich geht es hier um ein Kernstück des hen. Zudem haben sie in weiten Teilen der frustrierten, neoliberalen Systems, eingeführt von der Pinochet- und sich enttäuscht von der Politik abgewandten Be- Diktatur. Der »soziale Block«, der Zusammenschluss völkerung neue Hoffnungen geweckt. Das sind unbe- aus Lehrer_innen, Schüler_innen, Eltern und Studie- streitbare Erfolge. Unklar bleibt jedoch, was die Schü- ler_innen über kostenlose Busfahrten und subventionierte Uni-Zugangsprüfungen hinaus noch LOCE erreichen werden. Einigkeit bestand bei der Schüler_innenschaft in der Diagnose, dass die Qualität Das Ley Orgánica Constitucional de Enseñanza (LOCE) der Bildung in Chile schlecht ist. Schwieriger dürfte wurde am 10. März 1990, dem letzten Tag der Militär- sein zu definieren, was gute Bildung ist und wozu sie 35 regierung, veröffentlicht und trat somit in Kraft. In die- dienen soll. In einem neoliberalen Wirtschaftsmodell sem Gesetz, für dessen Änderung eine Vier-Siebtel- wird die Umformung des Bildungssystems, und sei sie Mehrheit bei den Abgeordneten und den Senatoren noch so tief greifend, nicht dazu führen, dass sich die notwendig ist, werden die Mindestvoraussetzungen Klassenunterschiede in Luft auflösen. Aber auch in- und die Ziele der Grundbildung (acht Jahre) sowie der nerhalb der herrschenden Ordnung gibt es viele Un- mittleren Bildung (vier weitere Jahre) festgelegt. Auch bekannte, die die Richtung der Reform beeinflussen die Normen, die alle Bildungseinrichtungen bis ein- werden. Entscheidend dürfte dabei sein, welche Rolle schließlich der Universität erfüllen müssen, sind in die- Chile künftig innerhalb der globalen Wirtschaft spie- sem Gesetz festgeschrieben. len will. Bislang beschränkt es sich im Wesentlichen Schüler_innen (und Student_innen) kritisieren das auf die Rolle als Lieferant von Bodenschätzen (Kup- LOCE grundsätzlich vor allem deshalb, weil es aus der fer), sowie den Export von Agrarprodukten (Obst, Bildung ein Geschäft mache, während sich der Staat Wein). Gut möglich, dass die herrschende Klasse die dort aus seiner Verantwortung zurückziehe. Sie fordern Notwendigkeit erkennen wird, angesichts endlicher eine aktivere Rolle des Staates bei der Finanzierung und Bodenschätze neue wirtschaftliche Aktivitäten zu ent- der Qualitätssicherung der öffentlichen Bildung in Chile wickeln. Dann wäre eine bessere Bildung ein wichtiger sowie ferner eine Erhöhung der Pro-Kopf-Pauschale für Standortvorteil. Schüler_innen. (Spötter_innen sagen übrigens, es sei in Daran, dass die Pinguine das nun begonnene politi- Chile schwieriger, die Konzession für eine Kneipe zu er- sche Verfahren kritisch begleiten werden und dass sie halten, als eine Schule zu eröffnen.) von März an wieder auf die Straße gehen werden, Seit 1991 hat es laut der Tageszeitung El Mercurio wenn sie sich von der Politik getäuscht fühlen, dürfte vom 5. Juni 2006 zehn Modifikationen des LOCE gege- indessen kein Zweifel bestehen. ben, die seinen grundsätzlichen Charakter aber nie ver- ändert haben. Seit Februar 2006 ist ein Dekret mit Ge- Boris Schöppner setzescharakter in Kraft, das diese Änderungen ist Journalist und wird zur Buchmesse 2007 im Frankfurter Trotzdem zusammenfasst. 42 weitere Projekte wurden laut Mer- Verlag ein Buch mit dem Titel »Nur Mut. Geschichten aus dem chile- curio in den vergangenen 16 Jahren rund um das LOCE nischen Widerstand« veröffentlichen. gestartet, die meisten jedoch zu den Akten gelegt. Seit 2002 ist ein Projekt zur Schaffung eines nationalen Sy- stems zur Qualitätsgarantie in der universitären Ausbil- *.notes: dung (educación superior) im Kongress anhängig, über 1_: Mapuche sind eine indigene Minderheit in Chile und Argenti- das seit Mai 2006 in einer Vermittlungskommission ver- nien. handelt wird, um Differenzen zwischen Kammer und Senat zu lösen.
Sie können auch lesen