Policy Brief Nr. 42, November 2018 Österreich zwischen Ost und West im Kontext der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Policy Brief Nr. 42, November 2018 Österreich zwischen Ost und West im Kontext der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft Julia Grübler Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft, die mit 1. Juli 2018 begann, steht unter dem Stern der Wie- derbelebung seiner Brückenfunktion zwischen Ost und West; denn während sich die Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa (MOSOEL) wirtschaftlich Westeuropa annähern, scheinen sich politische Bruch- linien zu verhärten. Diese Entwicklung betrifft insbesondere die Visegrád-Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn), welche für Österreichs Wirtschaft in den letzten Jahren zunehmend als Handels- partner und Destination für Investitionen an Bedeutung gewonnen haben. Ein besonders ambivalentes wirtschaftliches und politisches Verhältnis mit Osteuropa ergibt sich im Bereich Migration – aus Süd- und Osteuropa nach Österreich bzw. von Personen aus Drittstaaten durch diese Region nach Österreich. Der Boykott der Umverteilung von Geflüchteten zog bereits Vertragsverletzungsverfahren für Länder in der österreichischen Nachbarregion nach sich. Zusammen mit den heuer eingeleiteten Disziplinarmaßnah- men aufgrund von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit könnten sie im neuen EU-Budget zu wesent- lichen Kürzungen von Zuteilungen für Osteuropa und durch die intensiven wirtschaftlichen Verflechtun- gen auch für Österreich zu negativen wirtschaftlichen Konsequenzen führen. Diese Situation verschärft sich durch die erwartete Lücke im EU-Budget durch den Austritt Großbritanniens aus der EU und turbu- lente Zeiten für das internationale Handelssystem durch gegensätzliche Politiken der USA und Chinas. Südosteuropa Infrastrukturinvestitionen vorsieht, birgt 1. Eine Beziehung am sowohl Chancen als auch Risiken für die wirtschaftliche Scheideweg? und politische Entwicklung der Region. Die Beziehung zwischen west- und osteuropäischen 1.1. Südosteuropa im Fokus der Staaten der EU weist zwei gegensätzliche Trends auf. österreichischen Ratspräsidentschaft Wirtschaftlich verschwimmen die Grenzen mit der Zeit. Durch die Integration in internationale Wert-schöp- Österreich übernahm per 1. Juli 2018 den Vorsitz im Rat fungsketten, z.B. der deutschen Autoindustrie, sind sie der Europäischen Union. Nach Bulgarien und vor Ru- eng miteinander verbunden. Sowohl das Bruttoinlands- mänien gestaltet Österreich somit zum bisher dritten produkt (BIP) pro Kopf als auch Lohnniveaus konvergie- Mal die politische Agenda der EU. ren. Im dazu veröffentlichten Programm werden drei Politisch gleicht die Trennlinie jedoch zunehmend einer Schwerpunktthemen vorgestellt: Sicherheit und Migra- Trennmauer. Drei Umstände der jüngsten Vergangen- tion, Wettbewerbsfähigkeit durch Digitalisierung und heit scheinen diese Tendenz zu verstärken: (i) Die soge- die Stabilität in der Nachbarschaft (BKA, 2018). Letztere nannte „Migrationskrise“ zeigte die Uneinigkeit zwi- soll im Einklang mit der im Februar von der Europäi- schen EU-Mitgliedsstaaten über die Verteilung von Asyl- schen Kommission (2018a) veröffentlichten Erweite- suchenden innerhalb der EU. (ii) Durch die Entschei- rungsstrategie durch die Heranführung des Westbal- dung Großbritanniens aus der EU auszuscheiden kans an die EU gewährleistet werden. (Brexit) stellt sich die Frage nach der Kompensation der Lücke im EU-Budget. (iii) Die chinesische Seidenstraßen- Vor diesem Hintergrund werden im vorliegenden Policy initiative, welche innerhalb Europas primär in Ost- und Brief die wirtschaftlichen Beziehungen Österreichs mit mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten (EU- FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018 1
1. Eine Beziehung am Scheideweg? MOE) und dem Westbalkan (WB) beleuchtet und so- die Asylbeantragung erschwert wird und neue ungari- wohl wirtschaftliche als auch politische Herausforde- sche Rechtsvorschriften die Unterstützung von Asylan- rungen diskutiert. trägen kriminalisiert. Sowohl gegen Polen1 als auch Ungarn2 wurden heuer 1.2. Politische Divergenz in Österreichs zudem Disziplinarmaßnahmen aufgrund von Verstößen unmittelbarer Nachbarschaft gegen die Rechtsstaatlichkeit eingeleitet. Öffentliche Proteste wurden in Polen durch die zunehmende Ein- schränkung von Gerichten und politische Besetzung In manchen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropa ist von Richterposten im Zuge einer umstrittenen Justizre- der politische Wille für stärkere Integration in die EU o- form ausgelöst; in Ungarn richten sich die Demonstrati- der den Euroraum wahrnehmbar. Kroatien beispiels- onen gegen den politischen Druck auf Medien, NGOs weise verabschiedete im Frühjahr eine Strategie zur Eu- – insbesondere, wenn sie vom Ausland finanziell unter- roeinführung. Auch Bulgarien bemüht sich darum; er- stützt werden – und auch gegen Hochschulen. Die füllt aber hinsichtlich der Gesetzgebung zur Rolle der Central European University (CEU) verkündete kürzlich, Zentralbank noch nicht alle Kriterien. Zudem wurde für im Jahr 2019 einen Standort in Wien zu eröffnen und im die Westbalkanländer das ambitionierte Ziel eines EU- Falle einer gänzlichen Blockade durch die ungarische Beitritts bis zum Jahr 2025 offiziell verkündet. Regierung das Studienangebot gänzlich von Budapest In jüngster Vergangenheit mehrten sich jedoch Kon- nach Wien zu verlagern.3 Der Unmut der rumänischen frontationen zwischen osteuropäischen EU- Bevölkerung richtet sich gegen die Lockerung der Kor- Mitgliedsstaaten und der EU bzw. westeuropäischen ruptions-gesetze, die auch dem erst im Juni verurteilten Partnerländern, unter anderem durch die Uneinigkeit PSD-Parteichef Dragnea zugutekommt. bei der Frage nach der Aufnahme von vor Kriegen und Wie in den folgenden Abschnitten erörtert wird, schla- politischer Verfolgung geflüchteten Menschen. gen sich die politischen Turbulenzen noch nicht in der Lt. Eurostat belief sich die Anzahl der in der EU um Asyl wirtschaftlichen Entwicklung nieder, Szenarien negati- ansuchenden Menschen im Jahr 2017 auf 712.235 – ver mittel- bis langfristiger Konsequenzen für die Wirt- das entspricht rund 54% des Niveaus aus dem Jahr schaften in Österreichs östlicher Nachbarschaft müssen 2015, in welchem die Migration nach Europa zur Krise jedoch ernsthaft in Betracht gezogen werden. erklärt wurde. Lediglich 3,1% dieser Personen wurden in den elf EU-MOE Staaten registriert. Damit beläuft sich die Anzahl von Asylsuchenden pro Million Einwohner 1.3. Anhaltende aber geschwächte auf 215 für die EU-MOE, aber auf 1.678 für die EU-15. wirtschaftliche Konvergenz Österreich nahm mit 2.817 primär aus Syrien, Afghanis- tan und Pakistan stammenden Schutzsuchenden pro Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung in den meisten Million Einwohner Rang 5 ein, während sich die Zahl Ländern in Mittel- und Osteuropa ist positiv zu bewer- aufgenommener Asylsuchender für Österreichs östli- ten. Im Vergleich zum Vorjahr verlor die Wachstumsdy- che Nachbarn jeweils auf weniger als 150 belief. namik jedoch etwas an Schwung. Der heimische Kon- Weder der informelle Gipfel der Staats- und Regie- sum lässt etwas nach, Exporte flachen durch die Kon- rungschefs im September in Salzburg, noch die Ratssit- junkturabkühlung im Euroraum ab und der Arbeitskräf- zung im Oktober konnten signifikante Vorstöße bei der temangel wird zunehmend spürbar. Reform des Asylwesens – insbesondere im Hinblick auf Während das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts Kooperationen mit Drittstaaten, die Sicherung der Au- (BIP) der elf EU-MOE im Vorjahr 4,9% betrug, wird für ßengrenzen und die Verteilung von Schutzsuchenden heuer ein Wirtschaftswachstum von 4,2% erwartet. Ei- innerhalb der EU – erzielen. Der stärkste Gegenwind für nen Wachstumsschub verzeichnet dagegen der West- Quotenregulierungen kommt aus den Visegrád-Staa- balkan, für welchen ein BIP-Wachstum von 3,8% erwar- ten (V-4): Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn. Ge- tet wird (wiiw, 2018). Neben fiskalpolitischen Maßnah- gen letztere drei leitete die Europäische Kommission men spielt hier auch die „wiederbelebte“ EU- bereits im Juni 2017 ein Vertragsverletzungsverfahren Beitrittsperspektive eine Rolle (Astrov und Grübler, ein, weil sie sich bei der im Jahr 2015 beschlossenen 2018). Umverteilung von Geflüchteten aus Griechenland und Im Vergleich dazu ist für Österreich mit einem Wirt- Italien nicht beteiligten. Für Ungarn wurden im Juli 2018 schaftswachstum von 3,0% zu rechnen (WIFO, 2018). weitere Schritte durch die Kommission eingeleitet, da Sowohl die EU-28 als auch der Euroraum verzeichnen einen leichten Wachstumsrückgang mit einer Prognose 1 Europäisches Parlament, „Rechtsstaatlichkeit in Polen: Parlament will 3Central European University (CEU), „CEU to Open Vienna Campus for EU-Maßnahmen unterstützen“, (1. März 2018). - http://www.euro- U.S. Degrees in 2019; University Determined to Uphold Academic Free- parl.europa.eu/news/de/press-room/20180226IPR98615. dom”, (25. Oktober 2018). - https://www.ceu.edu/article/2018-10- 2Europäisches 25/ceu-open-vienna-campus-us-degrees-2019-university-determined- Parlament, „Rechtsstaatlichkeit in Ungarn: Parlament uphold-academic. fordert Rat zum Handeln auf“, (12. September 2018). - http://www.eu- roparl.europa.eu/news/de/press-room/20180906IPR12104. 2 FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018
2. Österreichs Wirtschaftsbeziehungen mit MOSOEL von 2,1% für das heurige Jahr (Europäische Kommis- Für EU-MOE ist Ähnliches für die Entwicklung des Lohn- sion, 2018b). niveaus zu beobachten. Trotzdem entsprach selbst das Über den Zeitraum 2000-2017 kann man einen klaren slowenische durchschnittliche Lohnniveau, welches wirtschaftlichen Konvergenzpfad der EU-MOE erken- das höchste innerhalb der EU-MOE ist – im Jahr 2017 nen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf4 wuchs schnel- weniger als 70% des österreichischen. Mit 50%-58% des ler in jenen Ländern, wo dieses weit unter dem EU-28 österreichischen Lohnniveaus, bleibt Österreich auch Durchschnitt lag. weiterhin ein attraktiver Arbeitsstandort für Arbeitneh- mer aus Tschechien, Ungarn und der Slowakei. (Astrov Abbildung 1: Konvergenzdynamik 2000-2007 vs. 2010-2017 und Grübler, 2018). Das spiegelt sich auch in der von der Österreichischen Nationalbank veröffentlichten Zahlungsbilanz wieder. Entgelte, die von inländischen Unternehmen (nach Fir- mensitz) für ausländische Arbeitnehmer (nach Wohn- sitz) gezahlt wurden beliefen sich im Jahr 2017 auf 3,6 Milliarden Euro. Von diesen entfielen 26% auf Un- garn, 23% auf Deutschland, 11% auf die Slowakei, je- weils 6% auf Slowenien und Rumänien und weitere 5% auf Tschechien. 2. Österreichs Wirtschafts- beziehungen mit MOSOEL 2.1. Außenhandel: Verschiebung Richtung Visegrád-Länder Der mit Abstand wichtigste Markt für österreichische Güterexporte ist der europäische Binnenmarkt mit ei- nem Anteil von 70% im Jahr 2017: Davon entfielen rund 30% auf Deutschland, bzw. 52% auf Österreichs unmit- telbare Nachbarstaaten (Abbildung 2). Die Konzentration österreichischer Unternehmen auf den EU-Markt wird sich kurzfristig nicht dramatisch ver- ändern. Über die letzten Jahre lassen sich jedoch Ten- denzen erkennen: Im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2007 wuchsen Exportanteile in Regionen außerhalb Europas, insbesondere in die zwei größten Volkswirtschaften der Welt. Der Exportanteil in die USA wuchs im Vergleichs- zeitraum um 1,7 Prozentpunkte auf 6,8%, jener nach China erhöhte sich um 1,2 Prozentpunkte auf 2,6%. Dagegen reduzierte sich der Anteil der für die EU be- stimmten Exporte von 74% auf 70%. Dieser Rückgang ist Datenquelle: wiiw Annual Database, Eurostat; wiiw Berechnungen. An- primär den EU-15 (von 56% auf 52%) zuzuschreiben, merkung: BIP pro Kopf zu Kaufkraftparitäten. Der EU-28-Durschschnitt während Exportanteile in die EU-MOE und in den West- entspricht 100%. balkan beinahe unverändert bei 18% bzw. 0,9% blie- ben. Innerhalb der EU-MOE konnten die Visegrád-Staa- Die globale Wirtschafts- und Finanzkrise hat dieser Dy- ten – Tschechien, Ungarn, Polen und Slowakei – jedoch namik allerdings erheblich Wind aus den Segeln ge- sogar an Bedeutung gewinnen mit einer Steigerung um nommen (Abbildung 1). Spaltet man die Gesamtperi- 0,7 Prozentpunkte auf nunmehr rund 12%. ode in eine siebenjährige Vorkrisenzeit (2000-2007) und Den im Jahr 2017 aus Österreich exportierten Waren im eine eben solange „Quasi“-Nachkrisenzeit (2010-2017), Gesamtwert von 142 Milliarden Euro standen 147 Milli- zeigt sich sehr deutlich, dass sich EU-Mitglieder schnel- arden Euro an Importen gegenüber, die zu 71% aus ler dem EU-28-Durchschnitt (und auch Österreich) an- den EU-28 stammten. Die für die Exporte beobachte- nähern konnten als die Westbalkanstaaten und auch, ten Tendenzen sind auf der Seite der Importe noch viel dass sich der wirtschaftliche Aufholprozess nach der stärker ausgeprägt. Mit einem Anteil von 56% dominie- Krise wesentlich verlangsamt hat. ren die EU-15 die österreichischen Importe. Gleichzeitig 4Gemessen zu Kaufkraftparitäten (KKP), d.h. unter Berücksichtigung unterschiedlicher Preisniveaus. FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018 3
2. Österreichs Wirtschaftsbeziehungen mit MOSOEL ist für diese Region der stärkste Anteilsrückgang zu be- Mit einem Anteilsgewinn von 2,3 Prozentpunkten auf obachten, der zum größten Teil Deutschland zuzurech- nunmehr 12% ist den Visegrád-Staaten auch auf der nen ist. Dagegen entwickelten sich die Importanteile Importseite besondere Aufmerksamkeit zu schenken. aus den EU-MOE und dem Westbalkan sehr dynamisch. Abbildung 2: Anteile am österreichischen Warenhandel WARENIMPORTE: 147.615 Mio. Euro im Jahr 2017 WARENEXPORTE: 141.918 Mio. Euro im Jahr 2017 Datenquelle: Statistik Austria. Anmerkung: Sortierung nach Importanteilen im Jahr 2017. Mit einem Exportvolumen von 59 Milliarden Euro und EU-15 reduzierte sich von 82% im Jahr 2007 auf 75% im Importen in der Höhe von 48 Milliarden Euro im Jahr Jahr 2017 – die absoluten Nächtigungszahlen reduzier- 2017 entspricht der Dienstleistungsaußenhandel etwa ten sich jedoch nur für Großbritannien und Italien. einem Drittel des Warenhandels. Der Handelsbilanz- Auch der österreichische Tourismus profitiert von der überschuss aus dem Dienstleistungs-sektor übersteigt wirtschaftlichen Entwicklung in der östlichen Nachbar- jedoch das Handelsbilanzdefizit aus dem Güterhandel schaft: Gemessen an den Nächtigungszahlen rangier- – was in erster Linie der positiven Entwicklung der Tou- ten Tschechien, Ungarn und Polen auf den Plätzen 6, 8 rismusbranche zuzuschreiben ist. Auch hier zeigt sich und 9. Zusammen mit der Slowakei (Rang 18) repräsen- die dominante Rolle Deutschlands, dem im Jahr 2017 tierten die Visegrád-Staaten 6,9% der gesamten Näch- 45% der Reiseverkehrsexporte und 51% der insgesamt tigungen. Das entspricht einem Anteilsplus von 2,1 Pro- knapp 106 Millionen Nächtigungen ausländischer zentpunkten im Vergleich zum Jahr 2007 oder 3,1 Milli- Gäste zuzuordnen waren. Der Anteil der Gäste aus den onen zusätzlichen Nächtigungen. Auf Gäste aus dem 4 FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018
2. Österreichs Wirtschaftsbeziehungen mit MOSOEL Westbalkan entfallen lediglich 0,3% der Nächtigungen; Es ist damit auch nicht verwunderlich, dass innerhalb über die letzten 10 Jahre hat sich der Anteil jedoch der östlichen EU-Region die V-4 die meisten österreichi- mehr als verdreifacht. Die stärkste Wachstumsdynamik schen Greenfield-Investitionen im Jahr 2017 verbuch- ist jedoch für Reisende aus China zu beobachten, de- ten (Abbildung 4). Dabei handelt es sich nicht um Auf- ren Nächtigungsanteil im Jahr 2017 1,2% betrug, aber käufe bestehender Unternehmen oder Anteile davon, sich im Vergleich zum Vorkrisenjahr mehr als verfünf- sondern um den Aufbau oder die Erweiterung von Un- fachte. ternehmensstandorten. 2.2. Investitionen: Abkehr vom Osten trotz Abbildung 4: Österreichische Greenfield-Projekte in MOSOEL überdurchschnittlicher Profitabilität Eine gegenläufige Entwicklung der österreichischen Beziehungen mit west- und osteuropäischen Ländern der EU zeigt sich auch anhand Österreichs Direktinves- titionen (DI). Über den Zeitraum von 2004 bis 2010, in welchem zwei EU-Erweiterungen nach Osten stattfan- den, überstiegen die österreichischen Bestände an DI in den EU-MOE jene in den EU-15 deutlich. Seit dem Jahr 2013 verschieben sich DI-Anteile wieder zuneh- mend Richtung EU-15. Zuletzt belief sich der Anteil der Datenquelle: fDi Markets österreichischen DI-Bestände in den EU-15 auf 44%, je- ner in den EU-MOE auf 25% (Linien in Abbildung 3). Wechselt man die Perspektive ist schnell ersichtlich, Der Anteil an generierten Einkommen aus Investitionen dass Österreich auch eine prominente Position als In- in den EU-MOE überstieg mit einer einzigen Ausnahme vestor in diesen Ländern einnimmt. Österreich zählt zu jenen der Einkommen aus Investitionen in den EU-15. den Top-5 Herkunftsländern ausländischer Direktinvesti- tionen in sieben von elf EU-MOE – mit Anteilen von 9,7% Abbildung 3: Anteile österreichischer Direktinvestitionsbestände für Bulgarien bis zu 24,7% für Slowenien an den zugeflos- und -einkommen in % senen Direktinvestitions-beständen. Auch in vier von sechs Ländern am Westbalkan reiht sich Österreich un- ter die fünf wichtigsten Investoren gemessen an den DI- Beständen, mit Anteilen von 19,2% für Bosnien und Her- zegowina, 12,2% für Mazedonien, 11,6% für Serbien und 6% für den Kosovo. In drei weiteren Staaten ist Öster- reich noch im Top10-Ranking zu finden. Damit bleiben lediglich die drei baltischen Länder in der östlichen EU übrig, wo Österreich nur zu den Top-20 Investorländern zählt mit Anteilen von jeweils unter 2%. Zu berücksichtigen ist hier allerdings, dass Österreich gerne von ausländischen Unternehmen als Stützpunkt für ihre Geschäfte mit MOE gewählt wird und somit DI- Statistiken tendenziell die Wichtigkeit der österreichi- schen Investoren überschätzen. Datenquelle: OeNB. 2.3. Migration: Österreichs ambivalentes Verhältnis zu Osteuropa Während 44% der österreichischen DI in den EU-15 ge- tätigt werden, stammen 21% der Einkommen aus dieser Österreich machte bei den EU-Osterweiterungen in westlichen EU-Region. Für die EU-MOE steht ein DI- den Jahren 2004 und 2007 Gebrauch von der maxima- Bestandsanteil von 25% einem Einkommensanteil von len Übergangsperiode von sieben Jahren für die voll- 33% gegenüber. Österreichische Investoren profitierten ständige Arbeitsmarktöffnung für Arbeitskräfte aus den damit überdurchschnittlich von ihren Projekten in der neuen Mitgliedsstaaten. Im Fall Kroatiens, das der EU im östlichen EU-Region. Jahr 2013 beitrat, tut es das noch. Reiht man Länder nach ihrem Anteil am österreichi- Nichtsdestotrotz ist Österreich ein beliebtes Zielland für schen Direktinvestitionseinkommen im Jahr 2017 wird Arbeitssuchende aus Osteuropa. Zwei wesentliche Fak- diese Liste von Tschechien mit 14,6% angeführt. Die Slo- toren sind hier natürlich die geographische Nähe, aber wakei (3,9%), Rumänien (3,7%), Ungarn (3,3%) und Po- auch das bereits erwähnte Lohngefälle. len (2,9%) folgen auf den Plätzen 9 bis 12. Lediglich Zwischen 2003 und 2016 vervierfachte sich in Österreich Deutschland (8,6%) und die Niederlande (5,5%) reihen die Anzahl der Arbeitskräfte aus osteuropäischen EU- sich als EU-15-Staaten vor den Visegrád-Ländern ein. FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018 5
3. Zahlreiche Weichenstellungen in naher Zukunft Mitgliedstaaten auf 185.000 Individuen1 (Schmieder tomobilbranche – lässt den Schluss zu, dass Robotisie- und Weber, 2018). Während der Zugang zum österrei- rung in den Visegrád-Ländern wahrscheinlicher als in chischen Arbeitsmarkt während der Übergangsphase anderen Regionen Osteuropas eine zentrale Rolle bei für hoch-qualifizierte Fachkräfte erleichtert wurde, hat der Produktivitätssteigerung und Standortsicherung sich nach der vollständigen Arbeitsmarktöffnung die spielen wird (Grieveson, 2018). Zusammensetzung der Arbeitnehmer hin zu geringer Über die letzten zehn Jahre stiegen die Bruttolöhne in qualifizierten und jüngeren Beschäftigten in Industrien allen Westbalkanstaaten und EU-MOE mit Ausnahme mit Bedarf an Saisonarbeitskräften verschoben. Kroatiens schneller als in Österreich. Gleichzeitig ver- Von den im Jahr 2017 gezählten 8,8 Millionen Einwoh- zeichneten bis auf Ungarn und Mazedonien alle Län- nern Österreichs besaßen 1,4 Millionen Menschen (rund der dieser zwei Regionen ein schnelleres Produktions- 16%) keine österreichische Staatsbürgerschaft. Rund wachstum als Österreich. Wenn die Produktivität ein Drittel kommt aus den EU-MOE und knapp ein Fünf- schneller zunimmt, als die Arbeitnehmerentgelte, fallen tel aus dem Westbalkan. Ebenfalls im Jahr 2017 wurden die Lohnstückkosten relativ zu Österreich und könnten 3,6 Millionen Beschäftigungsverhältnisse erfasst. Von damit den Wettbewerb mit österreichischen Sektoren diesen entfielen 699 Tausend auf Personen anderer Na- verschärfen. Das trifft innerhalb der EU-MOE auf Kroa- tionalitäten. Sowohl die Zahl der Personen aus dem tien, Polen und Slowenien zu, die gleichzeitig auch die Westbalkan, die in Österreich leben, als auch die Zahl geringsten Lohnunterschiede zu Österreich aufweisen der entsprechenden Beschäftigungen steigt; der Anteil (Astrov und Grübler, 2018). Ebenso trifft diese Beobach- der Westbalkanregion ist jedoch stark rückläufig, wäh- tung für Albanien, Bosnien und Herzegowina sowie Ser- rend der Anteil der östlichen EU-Mitgliedsstaaten stetig bien zu, die jedoch noch einen langen Konvergenz- zunimmt. weg vor sich haben. Tabelle 1: Personen aus EU-MOE und Visegrád-Staaten (V-4) in Österreich im internationalen Vergleich2 Open Data & Interaktive Visualisierung Gesamte ausländische Population je Kennzahl = 100% Daten zu Wirtschaftsbeziehungen Österreichs mit Anteile 2017, in% EU-28 EU-MOE V-4 WB 22 Ländern in Mittel-, Ost- und Südosteuropa stehen Bevölkerung 49,7% 30,2% 13,8% 19,2% seit Mitte 2018 kostenlos in Form interaktiver Grafiken und als Download in Excel-Format zur Verfügung: Unselbständig Beschäftigte 59,8% 40,5% 24,6% 20,7% https://wiiw.ac.at/at-und-mosoe.html Gastarbeiterüberweisungen 60,0% 47,8% 33,3% 22,3% Grenzüberschreitende Ar- 90,0% 61,7% 46,6% 4,0% beitnehmerentgelte Datenquellen: Statistik Austria, BALI (Budget-, Arbeitsmarkt- und Leis- tungsbezugsinformationen des BMASK), OeNB. 3. Zahlreiche Weichenstellungen Während Emigration für die MOE kurzfristig positive wirt- in naher Zukunft schaftliche Konsequenzen mit sich bringt, wie etwa eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit, Gastarbeiter- 3.1. EU-interne Herausforderungen überweisungen in ihre Heimatländer, als auch höheres Lohnwachstum, führt anhaltende Emigration in Kombi- Brexit und die wachsende Lücke im EU-Budget nation mit dem natürlichen demographischen Wandel zu zunehmendem Arbeitskräftemangel, der die wirt- Großbritannien – und damit eine der größten Volkswirt- schaftliche Entwicklung der Länder gefährden könnte. schaften der EU und Nettozahler in das EU-Budget – Eine nachhaltige Verbesserung der Situation durch aus scheidet per 30. März 2019 aus der EU aus. Großbritannien nach dem vollzogenen Brexit zurück- Laut Programm zum österreichischen EU-Ratsvorsitz kehrende Personen oder durch Kompensation mit Ar- wird der Wahrung der Einheit der verbleibenden 27 EU- beitskräften aus weiter östlich liegenden Regionen ist Mitgliedstaaten als auch des positiven Verhältnisses mit unwahrscheinlich. Der Sorge, dass Unternehmen ihr Ka- Großbritannien nach vollzogenem Brexit besondere pital aus der Region abziehen und damit das Wachs- Aufmerksamkeit geschenkt (BKA, 2018). tum der für Österreich wichtigen Wirtschaftspartner Ein informeller Gipfel der Staats- und Regierungschefs, dämpfen würden, könnte durch Automatisierung Ab- der Mitte September in Salzburg abgehalten wurde, hilfe geschafft werden. Die aktuelle wirtschaftliche widmete sich neben den Themen Migration und innere Struktur – insbesondere die Spezialisierung auf die Au- Sicherheit dem Fortschritt der Brexit-Verhandlungen. Als 1 Diese Zahl beschränkt sich auf im österreichischen Sozialversiche- 2 Detaillierte Länderstatistiken zu einzelnen Kennzahlen für mehrere rungssystem erfasste unselbständige Erwerbstätige, ohne nach Woh- Länder sind im statistischen Anhang zum wiiw-Sommerprognosebericht nort zu differenzieren und schließt damit ausländische Pendler ein, aber auch als Download verfügbar: https://wiiw.ac.at/ds-6.html temporär entsandte Arbeitskräfte sowie selbständig Tätige nicht. 6 FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018
3. Zahlreiche Weichenstellungen in naher Zukunft positives Ergebnis konnte lediglich die Einigkeit präsen- EU-Transfers ab 2021 getrübt werden (Abbildung 5). tiert werden, dass es eine klare, rechtsverbindliche Lö- Geplante Kürzungen entsprechen der Größenordnung sung für Irland geben müsse. Obwohl der Präsident des von etwa 1% des BIP dieser Länder (Astrov und Grübler, Europäischen Rates, Donald Tusk, die Oktobertagung 2018). als „Stunde der Wahrheit“ für die Brexit-Verhandlungen Der von der Kommission im Mai präsentierte Budget- ankündigte (Tusk, 2018), konnte bei dieser ebenfalls nur Vorschlag beläuft sich auf 1,11% des Bruttonationalpro- festgestellt werden, dass noch keine ausreichenden dukts der EU-27. Mit dem Ausstieg Großbritanniens setzt Verhandlungsfortschritte erzielt werden konnten (Euro- man auf eigene EU-Einnahmequellen, Systemvereinfa- päischer Rat, 2018). chungen, teils auf Kürzungen und nicht zuletzt auch auf Zahlreiche Studien widmeten sich der Schätzung von bedingte Zahlungen (Europäische Kommission, 2018c): Brexit-Effekten – durchwegs mit negativen Konsequen- (i) Zu den neuen Einnahmequellen gehören gemäß EK- zen für die EU, und teilweise verheerenden Effekten für Vorschlag 20% der Einnahmen aus dem Emissionshan- das ausscheidende Großbritannien. Für die Analysen delssystem, 3% der gemeinsamen Körperschaftssteuer- werden verschiedene Szenarien entworfen. Im Bemessungsgrundlage und Abgaben (0,80 EUR/Kilo) schlimmsten Fall geht man – auch heute noch – von auf nicht wiederverwertete Verpackungsabfälle aus einem „Hard Brexit“3 aus, für welchen Aichele und Fel- Kunststoff. (ii) Vereinfachungen des EU-Haushalts sollen bermayr (2015) Rückgänge des Realeinkommens um u.a. durch die Abschaffung des aufwendigen Rabatt- bis zu -0,2% für Österreich, -0,4% für die EU-27 und systems erreicht werden. Zudem sollen nur noch 10% -2,8% für Großbritannien errechneten. Analysen von (anstatt 20%) der Zolleinnahmen von EU- Oberhofer und Pfaffermayr (2017) ergeben für die Ver- Mitgliedstaaten einbehalten werden. (iii) Kürzungen änderung des Realeinkommens für Großbritannien von jeweils ca. 5% wurden von der Kommission für Fi- eine Bandbreite von -0,3% bis -5,7%, die sich primär aus nanzmittel für die Gemeinsame Agrarpolitik und für die der Substitution relativ günstiger Industriegüterimporte Kohäsionspolitik vorgeschlagen. aus der EU durch relativ teure heimische Produktion Sowohl eine Erhöhung der Beiträge Österreichs zum EU- ergibt, während der Effekt für die EU27 sich nicht signifi- Budget als auch die vorgeschlagenen Maßnahmen im kant von Null unterscheidet. Bereich der Landwirtschaft stießen in einer ersten Reak- Kohl et al. (2017) präsentierten potenzielle Einbußen tion auf Ablehnung. Aber auch Frankreich, Polen und mehrwertschaffender Exporte im Fall eines „Hard die Niederlande zeigten sich kritisch (derStandard, Brexit“ im Ausmaß von -0,6% für Österreich, -1,2% für die 2. Mai 2018). EU-27 und -17,5% für Großbritannien. Dhingra et al. Die Debatten rund um das neue EU-Budget werden (2017) kommen zu dem Schluss, dass der Konsum pro stark von der Gegenüberstellung der Netto-Empfänger Kopf in Österreich um -0,2%, in der EU-27 um -0,4% und bzw. Netto-Zahler geprägt. Die Entscheidung über das in Großbritannien um -2,7% einbrechen könnte. Budget sollte aber vielmehr die wirtschaftlichen Konse- quenzen abwägen. Abbildung 5: Geplante Zuteilungen des Europäischen Struktur- und Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Naldini et al. Investitionsfonds, in EUR pro Kopf (2018) analysiert die Spillover-Effekte der europäischen Kohäsionspolitik. Effekte der Kohäsionsausgaben in Ös- terreich beliefen sich durchschnittlich auf rund EUR 94 Millionen pro Jahr über eine Periode von acht Jahren. Über Handels- und Produktionsnetzwerke profi- tieren aber auch andere Länder von Investitionen in Österreich und auch umgekehrt kann Österreich durch Investitionen in der EU als Zulieferer aktiv werden. Über Kohäsionspolitik finanzierte Projekte in Österreich zei- gen einen positiven Spillover-Effekt auf die restlichen EU-15 von rund EUR 15,7 Millionen pro Jahr auf, wäh- rend die EU-MOE – welche Hauptempfänger dieser Zahlungen sind – nur marginal mit EUR 1,9 Millionen mit- naschen können. Gänzlich anders sieht die Situation für Österreich aus, wenn man betrachtet, welche Effekte Anmerkung: MFR = Mehrjähriger Finanzrahmen. Datenquelle: Europäi- sich für Österreich durch Projekte im EU-Ausland erge- sche Kommission (2018d), Smart Specialisation Platform. ben. Die höchsten Spillover-Effekte für Österreich sind Ungarn (EUR 32,5 Millionen pro Jahr), Polen (21,8), Zusätzlich zur Neugestaltung der Handelsbeziehung mit Tschechien (17,3) und Deutschland (12,4) zuzuschrei- Großbritannien, könnten Wachstumsaussichten der EU- ben. In Summe ergibt sich für Österreich ein positiver Ef- Mitgliedsstaaten in MOE auch durch die Kürzung von fekt von EUR 31,6 Millionen pro Jahr für die restlichen 3 FIW Policy Brief 36 (September 2017) diskutiert einzelne Szenarien aus- führlich. FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018 7
3. Zahlreiche Weichenstellungen in naher Zukunft EU-15, aber einen mehr als dreimal so hohen Effekt für Länder in der Nachbarschaft mit einem erwarteten An- die EU-MOE (97,5), der zum Großteil auf den engen stieg des Realeinkommens von über 0,001%, mit erwar- Wirtschaftsbeziehungen Österreichs mit den Visegrád- teten Exportzuwächsen von 0,04%. Staaten (77,8) beruht. Diese Effekte schließen noch keine mittelfristigen Konsequenzen durch Kapazitätser- 3.2. Steigende Unsicherheiten im weiterungen, verbesserte Infrastruktur oder Investitio- nen in Humankapital oder Forschung und Entwicklung internationalen Umfeld ein. Die chinesische Seidenstraßeninitiative4 und Anti-EU-Propaganda Bedingte Kohäsionspolitik Die im Jahr 2013 verkündete „Neue Seidenstraße“ ist Eine große Neuerung des EU-Budgets ist die Bindung an ein internationales von China vorangetriebenes Infra- Rechtsstaatlichkeit. Sollten die eingangs erwähnten strukturinvestitionsprogramm, mit einem Schwerpunkt Disziplinarverfahren gegen Ungarn und Polen keine auf den Ausbau und die Modernisierung von Transpor- schwerwiegenden politischen Konsequenzen – wie tinfrastruktur. Innerhalb Europas liegt der geographi- den Verlust der Stimmrechte – zur Folge haben, könn- sche Schwerpunkt spätestens seit der Übernahme von ten die wirtschaftlichen Folgen durch die Koppelung 67% der Anteile am größten griechischen Hafen von Pi- von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit trotzdem räus im Juli 2016 durch die China Ocean Shipping enorm sein. Im Fall Ungarns wurden bereits fast alle aus Company (COSCO) in Südosteuropa. dem Kohäsionsfonds für die Periode 2014-2020 zur Ver- fügung gestellten Ressourcen im Voraus ausbezahlt. Die primär durch chinesische Kredite gestützte Initiative Sollten die Zahlungen, die in der Vergangenheit die birgt großes wirtschaftliches Potenzial, insbesondere für Größenordnung von in etwa 3-4% des ungarischen BIP die Westbalkanstaaten, die den höchsten Aufholbe- eingenommen haben, nicht eintreffen, würde Ungarn darf im Bereich Infrastruktur aufweisen und gleichzeitig mit einem enormen Haushaltsdefizit und vermutlich ei- im Vergleich zu den EU-MOE nur eingeschränkt Zugang nem Wachstumseinbruch konfrontiert werden. zu EU-Förderungen haben. Vorgesehene Projekte könnten u.a. zusätzliche Beschäftigung schaffen, EU-Integration der Westbalkanstaaten durch verbesserte Infrastruktur Transportkosten und -zei- ten reduzieren und damit den Wirtschaftsstandort auf- werten. Die Aussichten für einen EU-Beitritt einiger Westbalkan- staaten haben sich in jüngster Vergangenheit verbes- Die mit der Initiative verbundenen Risikofaktoren und sert. Die Europäische Kommission präsentierte als Ziel die Unsicherheit durch mangelnde Transparenz, die das Jahr 2025 in welchem die EU um die Westbalkan- Ängste in Europa schüren, sollten jedoch nicht unbe- staaten erweitert werden soll. rücksichtigt bleiben. Hierzu zählen u.a. die Befürch- tung, dass lokale Arbeitskräfte und Materialien bei der Angesichts persistenter wirtschaftlicher und politischer Realisierung der Projekte kaum zum Einsatz kommen Hürden scheint die Zielvorgabe selbst für die am wei- könnten, oder dass sich kreditfinanzierte Großprojekte testen entwickelten Länder der Region – Montenegro als Schuldenfallen entpuppen könnten. Hur- und Serbien – zu optimistisch (Grieveson et al., 2018). ley et al. (2018) identifizierten sieben Länder, für wel- Die Demonstration einer ernsthaften Aussicht auf einen che chinesische Projekte das Risiko einer Überschul- EU-Beitritt ist dennoch von Bedeutung: Die Erfahrungen dung stark erhöhen – dazu zählt auch Montenegro in der Vergangenheit haben gezeigt, dass eine solche durch ein Seidenstraßen-Autobahnprojekt. Neben wirt- wesentlich dazu beitragen kann, die Attraktivität für schaftlichen Herausforderungen müssen auch politi- ausländische Direktinvestitionen zu steigern und Export- sche Hürden überwunden werden. Intransparenz bei kapazitäten aufzubauen. Lt. EBRD (2017) beläuft sich Auftragsvergaben ist fruchtbarer Boden für Korruption. der Bedarf an Infrastrukturinvestitionen in der Region für Ferner kann sich finanzielle Abhängigkeit zu politischer die Periode 2018-2022 immerhin auf über 8% des BIP pro Abhängigkeit entwickeln. Jahr für jeden Westbalkanstaat. Die Ankündigungen der Europäischen Kommission Mit Gravitationsschätzungen kommen Reiter und Steh- (2018e, 2018f) von sechs Leitinitiativen für den Westbal- rer (2018) zu dem Schluss, dass der Beitritt zur Zollunion kan im Mai, der Vorschlag eines „InvestEU“-Programms vor allem für den High-Tech-Sektor als auch den Agrar- im Juni, als auch die Präsentation der EU-Vision für bereich der Region förderlich wäre. Die größten positi- Konnektivität zwischen Europa und Asien im Septem- ven Effekte auf das Realeinkommen durch vertiefte ber sind in diesem Kontext sehr zu begrüßen. Diese Initi- Handelsintegration ergäben sich für die Westbalkan- ativen können noch nicht mit dem Titel einer „Europäi- staaten (zwischen 0,15% für Albanien bis 0,26% für Mon- schen Seidenstraße“, wie sie beispielsweise Holzner et tenegro), hauptsächlich durch die Reduktion von Im- al. (2018) skizzieren5, bedacht werden. Dennoch sen- portpreisen. Aber auch Österreich ist eines der sieben den sie ein Signal in die richtige Richtung. 4FIW Policy Brief 33 (Jänner 2017) widmet sich dem wirtschaftlichen Po- 5 In den komplementär zur chinesischen Seidenstraße angelegten tenzial der chinesischen Seidenstraßeninitiative für Österreich. Transportrouten von Lissabon bis Uralsk und von Mailand bis Wolgograd 8 FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018
4. Wiederbelebung der Brückenfunktion Wankelmütige US-Handelspolitik angekündigten EU-Initiativen zu erwarten. Es ist im ös- terreichischen Interesse, beide Initiativen aktiv mitzuge- Mit einem Anteil von rund 6% an den gesamten Waren- stalten und zu analysieren. Insbesondere im Fall chine- exporten im Jahr 2017 sind die USA der zweitwichtigste sischer Investitionen sollte sich Österreich während des Exportmarkt Österreichs. Für eine Evaluierung der Ef- Ratsvorsitzes stark machen, im Sinne der Transparenz- fekte der aggressiven US-Handelspolitik dürfen jedoch förderung die seit dem Jahr 2013 andauernden Ver- nicht nur diese direkten Exporte betrachtet werden, da handlungen zum Investitionsabkommen zwischen Österreich in internationale Wertschöpfungsketten ein- China und der EU voranzutreiben und Fortschritte sowie gebunden ist. Risiken der chinesischen Investitionen in Europa zu eva- Damit ist es durchaus berechtigt, auch in Österreich luieren. Alarm zu schlagen, wenn sich US-Strafzölle gegen die Während China sich schrittweise in den Bereichen Han- deutsche Automobilindustrie richten. Basierend auf der del und Investitionen öffnet, zieht sich die USA zuneh- WIOD-Datenbank lässt sich berechnen, dass in jedem mend von der internationalen Wirtschaftsbühne zu- Euro an deutschen Autoexporten 30 Cent ausländi- rück. Europa ist direkt von den gegenläufigen Strate- sche Wertschöpfung stecken, von welchen rund 5% gien der zwei weltweit größten Volkswirtschaften be- auf Österreich entfallen. Damit rangiert Österreich auf troffen, z.B. von Stahl- und Aluminiumzöllen der USA o- Rang 7 der ausländischen Zulieferer, noch vor großen der chinesischen Investitionen im Westbalkan. Die indi- Ländern wie Großbritannien. Aber auch die Visegrád- rekten Effekte, die sich aus der zunehmend feindlichen Staaten sind stark in die deutsche Autoproduktion inte- Beziehung zwischen den USA und China ergeben, griert. In weiterer Folge könnte der handelspolitische könnten jedoch noch stärker ausfallen. In diesem Sinne Angriff auf die deutsche Autoindustrie die Konjunktur scheint eine verstärkte Analyse der Entwicklung des der wichtigsten Wirtschaftspartner Österreichs in Eu- Handelskriegs zwischen China und den USA als auch ropa schwächen und die ausländische Nachfrage der Verhandlungen einer Reform der Welthandelsor- nach österreichischen Gütern und Dienstleistungen an- ganisation (WTO) sinnvoll. derer Sektoren wie der Tourismusbranche dämpfen. 4. Wiederbelebung der Brückenfunktion Die Rolle des Vermittlers zwischen West und Ost, die Ös- terreich im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft 2018 ein- nehmen will, gestaltet sich in Anbetracht der politi- schen und wirtschaftlichen Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit als zunehmend herausfordernd. Nicht zuletzt durch die Ankündigung der österreichi- schen Regierung, dem Migrationspakt zu Grundsätzen für den Umgang mit Migranten bei der UN-Konferenz in Marokko im Dezember 2018 nicht zuzustimmen, wer- den Vorwürfe einer „Orbanisierung“ Österreichs laut. Ohne auf diese Entscheidung im Detail eingehen zu wollen, ist es wirtschaftlich notwendig, politisch klar zu kommunizieren, in welchen Bereichen Österreich die- selben Positionen wie die Visegrád-Länder vertritt, aber auch, wo sie sich unterscheiden. Eine starke Unterstrei- chung der Befürwortung der Bindung des EU-Budgets an Rechtsstaatlichkeit wäre ein wichtiges Signal an die heimische Bevölkerung als auch an ausländische Inves- toren. Ebenfalls das EU-Budget betreffend, sollte die Diskus- sion rund um Netto-Zahler und Netto-Empfänger erwei- tert werden um die tatsächlichen Effekte von Kohäsi- onspolitik für Empfänger als auch Wirtschafspartnerlän- der wie Österreich. Positive Spillover-Effekte sind auch von Investitionen der chinesischen Seidenstraßeninitiative und der kürzlich und Baku würde Österreich vornehmlich von einer Steigerung der Ex- porte nach Russland um 14% profitieren. FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018 9
5. Literaturverweise Grieveson, R. (2018), “Demographic decline does not nec- 5. Literaturverweise essarily condemn CESEE EU countries to a low growth fu- ture”, Focus on European Economic Integration, Q3/18, Aichele, R., und G. Felbermayr (2015), „Costs and benefits of Oesterreichische Nationalbank, Wien. a United Kingdom exit from the European Union“, Bertels- Grieveson, R., J. Grübler und M. Holzner (2018), „Western Bal- mann Stiftung, Gütersloh. kans EU Accession: Is the 2025 Target Date Realistic?”, Po- Astrov, V. und J. Grübler (2018), „MOSOE: Konjunkturzenit licy Notes and Reports, No. 22, Wiener Institut für Internati- überschritten. Wirtschaftsanalyse und Ausblick für Mittel-, onale Wirtschaftsvergleiche, Mai, Wien. Ost- und Südosteuropa.“, Forschungsbericht, No. 10, Juni, Grübler, J., A. Bykova, M. Ghodsi, D. Hanzl-Weiss, M. Holzner, Wien. G. Hunya und R. Stehrer (2018), „Economic Implications BKA – Bundeskanzleramt Österreich (2018), „Programm des of the Belt and Road Initiative for CESEE and Austria”, Re- österreichischen Ratsvorsitzes. Vorsitz im Rat der Europäi- search Report, Mai, Wien. - https://wiiw.ac.at/economic- schen Union: 1. Juli – 31. Dezember 2018”, Juni, Wien. policy-implications-of-the-belt-and-road-initiative-for-ce- derStandard.at, „Kommission will höheres EU-Budget: Kurz see-and-austria-p-4549.html. lehnt Vorschlag als inakzeptabel ab“, https://derstan- Holzner, M., P. Heimberger und A. Kochnev (2018), „A ‚Euro- dard.at/2000079034573/Bruessel-will-hoeheres-EU-Budget- pean Silk Road‘“, wiiw Research Report, No. 430, August, 1-11-Prozent-der-Wirtschaftsleistung (2. Mai 2018). Wien. Dhingra, S; H. Huang, G. Ottaviano, J.P. Pessoa, T. Sampson Hurley, J., S. Morris, and G. Portelance (2018), „Examining the und J. Van Reenen (2017), „The Costs and Benefits of Debt Implications of the Belt and Road Initiative from a Leaving the EU: Trade Effects“, CEP Discussion Paper, Policy Perspective”, CGD Policy Paper No. 121, Center No 1478, April. for Global Development, März, Washington DC. EBRD (2017), „Sustaining Growth”, Transition Report 2017-18, Kohl, T., S. Brakman und J Garretsen (2017), “Consequences European Bank for Reconstruction and Development, of Brexit and Options for a ‘Global Britain’”, CESifo Work- November, London, ISBN: 978-1-898802-46-5. ing Paper, No. 6648, April, München. Europäische Kommission (2018a), „Eine glaubwürdige Erwei- Naldini, A., A. Daraio, G. Vella, E. Wolleb und R. Römisch terungsperspektive für und ein verstärktes Engagement (2018), „Externalities of Cohesion Policy“, Study for the der EU gegenüber dem westlichen Balkan“, COM(2018) REGI Committee, European Parliament, Policy Depart- 65 final, 6. Februar 2018. - https://ec.europa.eu/commis- ment for Structural and Cohesion Policies, October, Brüs- sion/sites/beta-political/files/communication-credible- sel. enlargement-perspective-western-balkans_de.pdf. Oberhofer H. und M. Pfaffermayr (2017), „Estimating the Europäische Kommission (2018b), „European Economic Fore- Trade and Welfare Effects of Brexit. A Panel Data Struc- cast. Summer 2018 (Interim)“, Institutional Paper, No. 084, tural Gravity Model”, WIFO Working Papers, No. 546, DG for Economic and Financial Affairs, Juli. Dezember, Wien. Europäische Kommission (2018d), ‘EU Haushalt: Regionale Reiter, O. und R. Stehrer (2018), „Trade Policies and Integra- Entwicklung und Kohäsionspolitik nach 2020’, Pressemit- tion of the Western Balkans“, Working Paper, No. 148, teilung, 29. Mai 2018. - http://europa.eu/rapid/press-re- Mai, Wien. lease_IP-18-3885_de.htm. Schmieder J. und A. Weber (2018), „How did EU Eastern en- Europäische Kommission (2018e), ‘EU-Western Balkans. Six largement affect migrant labor supply in Austria?“, Focus Flagship Initiatives‘, European Commission, Mai. - on European Economic Integration, Q3/18, Oester- https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-politi- reichische Nationalbank, Wien. cal/files/six-flagship-initiatives-support-transformation- Tusk, D. (2018), „Ausführungen von Präsident Donald Tusk western-balkans_en.pdf nach dem informellen Gipfeltreffen in Salzburg“, Rat der Europäische Kommission (2018f), „EU-Haushalt: Programm Europäischen Union, Erklärungen und Bemerkungen, „InvestEU“ für Arbeitsplätze, Wachstum und Innovation in No. 519/18, 20. September 2018. - https://www.consil- Europa”, Pressemitteilung, 6. Juni 2018. - http://eu- ium.europa.eu/de/press/press-releases/2018/09/20/re- ropa.eu/rapid/press-release_IP-18-4008_de.htm marks-by-president-donald-tusk-after-the-salzburg-infor- Europäischen Kommission (2018c), „EU-Budget: Die Kommis- mal-summit/. sion schlägt ein modernes Budget vor für eine Union, die WIFO (2018), „Prognose für 2018 und 2019: Abflauende inter- schützt, stärkt und verteidigt.“, Pressemitteilung, 2. Mai nationale Konjunktur nach kräftigem Wachstum 2018“, 2018. - http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18- Presseinformation, 5. Oktober 2018. 3570_de.htm wiiw (2018), „Strong growth amid increased negative risks“, Europäischer Rat (2018), Tagung des Europäischen Rates, Ar- Herbst-Prognosebericht, November, Wien. tikel 50, 17. Oktober 2018, - https://www.consilium.eu- ropa.eu/de/meetings/european-coun- cil/2018/10/17/art50/. 10 FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018
6. Ländercodes 6. Ländercodes Westeuropäische Länder der EU (EU-15) Österreich AT Finnland FI Italien IT Belgien BE Frankreich FR Luxemburg LU Deutschland DE Großbritannien GB (UK) Niederlande NL Dänemark DK Griechenland GR (EL) Portugal PT Spanien ES Irland IE Schweden SE Mittel- und Osteuropäische Länder der EU (EU-MOE) Bulgarien BG Ungarn HU Rumänien RO Tschechien CZ Litauen LT Slowenien SI Estland EE Lettland LV Slowakei SK Kroatien HR Polen PL Westbalkanstaaten (WB) Albanien AL Montenegro ME Serbien RS Bosnien und Herzegowina BA Mazedonien MK Kosovo XK Autorin: Julia Grübler, M.Sc. Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) Telefon: +43 1 533 66 10-86 Email: gruebler@wiiw.ac.at Impressum: FIW-Policy Briefs erscheinen in unregelmäßigen Abständen zu aktuellen außenwirtschaftlichen Themen. Herausgeber ist das Kompetenzzentrum "Forschungsschwerpunkt Internationale Wirtschaft" (FIW). Das FIW bietet den Zugang zu internationa- len Außenwirtschafts-Datenbanken, eine Forschungsplattform und Informationen zu außenwirtschaftsrelevanten Themen. Das Kompetenzzentrum FIW ist ein Projekt von WIFO, wiiw und WSR im Auftrag des BMDW. Die Kooperationsvereinbarungen des FIW mit der Wirtschaftsuniversität Wien, der Universität Wien, der Johannes Kepler Universität Linz und der Leopold- Franzens-Universität Innsbruck werden aus Mittel des BMBWF gefördert. Für die Inhalte der Policy Briefs sind die AutorInnen verantwort- lich. Kontakt: FIW-Projektbüro c/o WIFO Arsenal, Objekt 20 1030 Wien Telefon: +43 1 728 26 01 / 335 Email: fiw-pb@fiw.at Webseite: https://fiw.ac.at FIW-Policy Brief Nr. 42, November 2018 11
Sie können auch lesen