Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen
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Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Ab Mitte 2008 begann sich die Arbeitsmarktlage in Österreich im Zuge der internationalen Alfred Stiglbauer1 Finanz- und Wirtschaftskrise zu verschlechtern. Dabei handelte es sich um eine der stärksten krisenhaften Episoden auf dem österreichischen Arbeitsmarkt in der Zweiten Republik. Gegeben die Stärke des Rückgangs der realen Wirtschaftsleistung waren die Auswirkungen jedoch überraschend gering. Der Grund dafür lag im Rückgang der gesamten Arbeitsstunden, der wesentlich stärker ausfiel als die Reduktion der Beschäftigung in Personen. Die Verringerung der Arbeitszeit war viel markanter, als dass sich dies nur durch die Kurzarbeit erklären lässt. Im internationalen Vergleich gibt es Unterschiede, inwieweit in einzelnen Ländern die Beschäftigung in Personen bzw. die Arbeitsstunden je Beschäftigten reduziert wurden. Öster- reich gehört mit Deutschland zu jenen Ländern, in denen die Arbeitszeit je Beschäftigten am stärksten zurückging; dies ermöglichte es, dass mehr Personen in Beschäftigung verblieben. Seit einigen Monaten verbessert sich die Arbeitsmarktsituation in Österreich wieder. Aber die Arbeitslosenzahlen und die Anzahl der AMS-Schulungsteilnehmer sind immer noch höher als vor der Krise. Bei der Beschäftigung wurde das Vorkrisenniveau ebenfalls noch nicht erreicht. Im Zuge des durch die internationale Blickwinkeln dargestellt. Neben der Finanzkrise ausgelösten Konjunktur- Entwicklung von Beschäftigung und einbruchs schrumpfte im Jahr 2009 die Arbeitslosigkeit werden auch Verände- Weltwirtschaft erstmals seit der Welt- rungen der Arbeitszeit dargestellt. Darü- wirtschaftskrise 1929 bis 1933. Auch ber hinaus wird ein internationaler Ver- in Österreich kam es zum stärksten gleich angestellt und auf die Entwick- Wachstumseinbruch der Zweiten Repu- lung der letzten Monate eingegangen.2 blik: 2009 ging das reale BIP um 3,9 % Die vorliegende Studie gliedert sich zurück, gemessen am Vorquartal war wie folgt: Kapitel 1 stellt die Lage auf der Einbruch im ersten Quartal 2009 dem Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt des am stärksten (–2,1 %). Angesichts die- Höhepunkts der Krise dar – zu Som- ses dramatischen Wachstumseinbruchs merbeginn bzw. im zweiten Quartal erscheint der Begriff „große Rezession“ 2009. Es wird gezeigt, wie stark sich durchaus gerechtfertigt (im Folgenden die Beschäftigung reduziert und die wird aber zumeist einfach von „der Arbeitslosigkeit erhöht hat. Ein Ver- Krise“ gesprochen). gleich mit früheren Perioden zeigt, dass Der österreichische Arbeitsmarkt es zwar eine schwere Krise, aber nicht reagierte ziemlich rasch auf diese Vor- die schwerste Krise auf dem österrei- gänge. In der vorliegenden Studie chischen Arbeitsmarkt in der Zweiten werden die Folgen der Rezession auf Republik war, vor allem, wenn man den Arbeitsmarkt aus verschiedenen bedenkt, dass es sich um den stärksten 1 Oesterreichische Nationalbank, Abteilung für volkswirtschaftliche Analysen, alfred.stiglbauer@ oenb.at. Der Autor dankt dem Gutachter und Walpurga Köhler-Töglhofer für eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen und Korrekturen. Redaktionsschluss: 31. Juli 2010. Wissenschaftliche 2 Die vorliegende Studie kann lediglich eine grobe Skizze der Geschehnisse auf dem Arbeitsmarkt liefern. Einen Begutachtung: allgemeinen Überblick über die makroökonomischen Auswirkungen der großen Rezession und die nachfolgende Andreas Buzek, Erholung der österreichischen Wirtschaft bieten Ragacs und Vondra (2009, 2010) sowie Scheiblecker (2010). Vor Bundesministerium einem Dreivierteljahr erschien bereits ein Bericht zum österreichischen Arbeitsmarkt in der Krise (Mahringer, 2009). Dessen Schwerpunkte sind jedoch anders gesteckt als in der vorliegenden Arbeit. Ausführliche Arbeits- für Arbeit, Soziales marktstatistiken und -auswertungen zum Krisenjahr 2009 finden sich in AMS (2010a) und BMASK (2010). und Konsumenten- Hinweise zu international vergleichender Literatur finden sich in Kapitel 3. schutz GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 27
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Wachstumseinbruch seit der Weltwirt- Wirtschaftswachstums an und Kurz- schaftskrise 1929 gehandelt hat. Kapi- fristprognosen für die Wirtschafts- tel 2 widmet sich den Gründen, warum tätigkeit, wie z. B. der Konjunkturindi- im Vergleich zum Ausmaß des Wachs- kator der Oesterreichischen National- tumseinbruchs die Folgen für den bank (OeNB), wurden von Mal zu Mal Arbeitsmarkt relativ gemäßigt verlau- nach unten revidiert. Grafik 1 (rechte fen sind. Dazu gehören Maßnahmen Abbildung) zeigt die tatsächliche Wirt- der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wie schaftsentwicklung anhand der (mit Schulungen des AMS und die Kurz- Verzögerung veröffentlichten) Werte arbeit. Es wird aber auch gezeigt, dass aus der Volkswirtschaftlichen Gesamt- das Ausmaß der Stundenreduktion be- rechnung (VGR). Das Wachstum des trächtlich war. In Kapitel 3 werden die realen BIP verringerte sich im zweiten Entwicklungen in Österreich in eine Quartal 2008 gegenüber dem Vorquar- internationale Perspektive gesetzt. Die tal, um in den darauf folgenden Quar- Veränderung der Arbeitsmarktlage in talen einen dramatischen Einbruch zu den EU-Staaten war äußerst heterogen. erleben. Auch die Meldungen im Rah- Dies liegt einerseits daran, dass der men des Frühwarnsystems des Arbeits- Wachstumseinbruch nicht in allen EU- marktservice (AMS) deuteten auf einen Mitgliedstaaten gleich dramatisch war. bevorstehenden Anstieg der Arbeitslosig- Andererseits gibt es aber auch Unter- keit hin: Die beabsichtigten Kündigungen schiede im Ausmaß, in dem sich Be- stiegen im Vorjahresvergleich an und schäftigung (gemessen in Personen) nahmen im Sommer 2008 deutlich zu und Arbeitszeit verändert haben. Kapi- (Grafik 1, linke Abbildung).3 Die Ent- tel 4 zeigt auf, dass sich die Arbeits- wicklung der tatsächlichen Arbeitslosig- marktlage in Österreich seit Mitte des keit folgte den Vorwarnungen mit einer Jahres 2009 verbessert hat, jedoch noch Verzögerung von wenigen Monaten. keineswegs das Vorkrisenniveau hin- Als im dritten Quartal 2008 die sichtlich Beschäftigung und Arbeits- österreichische Wirtschaft zu schrump- losigkeit erreicht ist. In Kapitel 5 wird fen begann, war die Lage auf dem eine Zusammenfassung geboten und Arbeitsmarkt noch gut. Im Folgequar- Schlussfolgerungen gezogen. tal trat jedoch auch hier eine deutliche Verschlechterung ein. Grafik 2 (linke 1 Beschäftigung und Arbeitslosig- Abbildung) zeigt die Entwicklung an- keit am Höhepunkt der Krise hand monatlicher Registerdaten, das 1.1 Rapide Verschlechterung der heißt die Beschäftigungs- bzw. Arbeits- Arbeitsmarktlage ab Mitte 2008 losenzahlen und gemeldeten offenen Spätestens Mitte 2008 mehrten sich die Stellen, die vom Hauptverband der Anzeichen für eine Verschlechterung Sozialversicherungsträger – HSV) bzw. auf dem Arbeitsmarkt. Vorlaufindikato- AMS jeweils zu Monatsende veröffent- ren kündigten einen Einbruch des licht werden. Die zeitliche Darstellung 3 Laut einer Bestimmung des Arbeitsmarktförderungsgesetzes sind Betriebe ab einer Größe von 20 Arbeitnehmern verpflichtet, mindestens 30 Tage vor dem Aussprechen der Kündigung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern, dies dem AMS zu melden. Die Werte für die betroffenen Arbeitnehmer schwanken saisonal stark. Daher werden in Grafik 1 Veränderungen im Jahresabstand dargestellt. Auch die dadurch gewonnenen Zahlen weisen noch eine beträchtliche Fluktuation auf; aufgrund von unregelmäßigem Saisonverlauf und Meldeverhalten schwankt das Timing der eingehenden Meldungen. Außerdem gibt es das Problem, dass Unternehmen in aufeinanderfolgenden Monaten teilweise für dieselben Personen Meldungen abgeben und diese Mehrfachmeldungen in den Daten nicht identifiziert werden können. Deshalb wurde die Reihe für Grafik 1 mithilfe zentrierter, gleitender Drei-Monats- Mittelwerte geglättet. 28 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Grafik 1 Vorboten der Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation AMS-Frühwarnsystem und Entwicklung Entwicklung des realen BIP der Arbeitslosigkeit Veränderung zum Vorjahr Veränderung zum Vorjahr Wachstum gegenüber Vorquartal in % 8.000 80.000 2 6.000 60.000 1 4.000 40.000 0 2.000 20.000 –1 0 0 –2 –2.000 –20.000 –4.000 –40.000 –3 Jän. 08 März 08 Mai 08 Juli 08 Sep. 08 Nov. 08 Jän. 09 März 09 Mai 09 Q1 08 Q2 08 Q3 08 Q4 08 Q1 09 Q2 09 Arbeitslose (rechte Achse) Angemeldete Kündigungen (linke Achse) Quelle: AMS, OeNB. reicht von Anfang 2008 bis zum Höhe- Stellen war bereits im Großteil des Jah- punkt4 der krisenhaften Situation auf res 2008 leicht negativ gewesen. Auch dem Arbeitsmarkt im Juni 2009. Der hier trat zu Beginn des Jahres 2009 üblichen Praxis folgend, werden Verän- eine deutliche Verschlechterung ein. derungen im Jahresabstand gemessen. Die Arbeitslosenzahlen stiegen im Jah- Das Beschäftigungswachstum lag in resvergleich ab Jahresende 2008. Die der ersten Jahreshälfte 2008 bei rund Zunahme im Juni 2009 betrug knapp 80.000 Personen, was rund 2,3 % der 60.000, das heißt in ähnlicher Größen- unselbstständigen Beschäftigung ent- ordnung wie die Veränderungen der spricht. Im dritten und vierten Quartal unselbstständigen Beschäftigung. 2008 verlangsamte sich das Beschäfti- Grafik 2 (rechte Abbildung) zeigt gungswachstum beträchtlich und war die Entwicklung anhand der Umfrage- ab Jahresbeginn 2009 negativ. Im Juni daten aus der Eurostat-Arbeitskräfteer- 2009 betrug der Rückgang der unselbst- hebung (Mikrozensus) vom Jahres- ständigen Beschäftigung rund 60.000 beginn 2008 bis zum zweiten Quartal Beschäftigungsverhältnisse gegenüber 2009. Wegen der deutlichen konzep- dem Vorjahresmonat (knapp –1,9 %). tionellen Unterschiede5 zwischen den Das Wachstum des Bestands an offenen Registerdaten und der Arbeitskräfteer- 4 Die Annahme, den „Höhepunkt“ der Krise auf dem Arbeitsmarkt im Juni 2009 zu sehen, ist eine Vereinfachung, die dazu dient, zu verhindern, dass durch ständige Variation des Zeitfensters der Betrachtung Verwirrung erzeugt wird; nicht alle Datenreihen verlaufen synchron. So wurde der höchste Zuwachs im Jahresabstand bei den Arbeits- losenzahlen Ende März 2009 gemessen, bei den Beschäftigtenzahlen Ende August 2009. Die saisonbereinigte Reihe der Registerarbeitslosenquote erreichte ihr Maximum im September 2009. Bezüglich der Messfragen wird auf den Anhang dieser Studie verwiesen. 5 Ein Grund für den günstigeren Verlauf der Beschäftigung laut Mikrozensus ist, dass auch Beschäftigungsverhält- nisse in geringem Stundenausmaß erfasst sind. Laut Daten des HSV ging im Zuge der Krise das Wachstum der geringfügigen Beschäftigung zwar zurück, blieb jedoch im Verlauf der gesamten Krise positiv; die geringfügig Beschäftigten sind aber nicht in der – normalerweise – betrachteten Registerbeschäftigung enthalten. Die unter- schiedliche Entwicklung zwischen unselbstständiger Beschäftigung und Gesamtbeschäftigung in Grafik 2 (rechte Abbildung) erklärt sich daraus, dass die Selbstständigenzahlen relativ stärker zurückgingen als die Anzahl der unselbstständig Beschäftigten. GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 29
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Grafik 2 Rasche Verschlechterung der Arbeitsmarktlage ab Jahresmitte 2008 Monatsdaten von Sozialversicherung und AMS Quartalsdaten aus der Arbeitskräfteerhebung Veränderung zum Vorjahresmonat Veränderung zum Vorjahresmonat Veränderung zum Vorjahresquartal 100.000 25.000 100.000 80.000 20.000 80.000 60.000 15.000 60.000 40.000 10.000 40.000 20.000 5.000 20.000 0 0 0 –20.000 –5.000 –20.000 –40.000 –10.000 –40.000 –60.000 –15.000 –60.000 –80.000 –20.000 –80.000 Q1 08 Q2 08 Q3 08 Q4 08 Q1 09 Q2 09 Jän. 09 Nov. 08 Jän. 08 März 09 Sep. 08 März 08 Mai 09 Mai 08 Juli 08 Registerbeschäftigung (linke Achse) Beschäftigte insgesamt Vorgemerkte Arbeitslose (linke Achse) Unselbstständig Beschäftigte Offene Stellen (rechte Achse) Arbeitslose Quelle: HSV, AMS, Statistik Austria. hebung weichen die Größenordnungen können, wie sich die gegenwärtige Lage manchmal ab; qualitativ ergibt sich je- zur Vorkrisensituation darstellt. doch eine ähnliche Entwicklung für Die Anzahl der Arbeitslosen stieg Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. um 57.000. Dazu kommt noch ein Zuwachs bei den Personen in Schulun- 1.2 Betroffenheit nach Sektoren und gen des AMS um knapp 16.000. Ein Personengruppen Großteil dieses Arbeitslosenanstiegs ist Tabelle 1 zeigt die Entwicklung einzel- auf wenige Sektoren zurückzuführen. ner Sektoren im Vergleich zu den ag- Allein in der Sachgütererzeugung gregierten Zahlen zu Beschäftigung wuchs die Arbeitslosigkeit um 15.000 und Arbeitslosigkeit bis zum Höhe- Personen. Besonders betroffen waren punkt der Krise.6 Der zeitliche Rah- dabei die Metallwarenindustrie sowie men der Darstellung – vom Beginn der der Maschinen- und Fahrzeugbau. Krise bis zu ihrem Höhepunkt – reicht Stark war der Anstieg der Anzahl der von Ende Juni 2008 bis Ende Juni 2009. Arbeitslosen auch im Bauwesen, im Für die Daten aus der Arbeitskräfteer- Gastgewerbe und insbesondere im hebung wird die Veränderung im zwei- Handel und in der Arbeitskräfte- ten Quartal 2009 gegenüber dem Vor- überlassung, wobei letzterer Sektor zu jahresquartal herangezogen. In Kapi- einem Großteil Beschäftigte an den tel 4 (Tabelle 4) wird in analoger Weise Sachgütersektor vermittelt. die Zeit von Ende Juni 2008 bis Ende Der starke Beschäftigungsrückgang Juni 2010 betrachtet, um beurteilen zu in der Sachgütererzeugung (rd. –42.000) 6 Die Zuordnung der Arbeitslosen zu Branchen richtet sich nach jenem Wirtschaftszweig, in dem der Arbeitslose zuletzt tätig war. 30 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen und in der Arbeitskräfteüberlassung es aber auch einige Sektoren, deren Be- (–18.000) ist besonders augenfällig. In schäftigung kräftig wuchs. Neben den der Leiharbeit ist die Beschäftigung Finanzdienstleistungen (knapp 5.000) relativ (mit –23 %) am stärksten zu- kam es im Unterrichtswesen, im Ge- rückgegangen. Die betroffenen Arbeit- sundheits- und im Sozialbereich zu Be- nehmer sind im Vergleich zur Stamm- schäftigungszuwächsen zwischen 4.000 belegschaft in den Unternehmen schlech- und 7.000. ter gestellt (schlechtere Bezahlung und Laut Arbeitskräfteerhebung kam es geringere Sozialleistungen) und tragen zu einer Veränderung der tatsächlich auch ein größeres Arbeitsplatzrisiko geleisteten Arbeitsstunden von –5,2 % (vgl. OECD, 2010). In Summe ist die (ohne Selbstständige). Die Arbeitszeit- Beschäftigung in diesen beiden Bran- reduktion war somit deutlich stärker chen etwa im gleichen Ausmaß zurück- als die Reaktion der Beschäftigung gegangen wie in der Gesamtwirtschaft. (–1,8 %). Die beiden für Österreich Markante Beschäftigungsrückgänge gab gebräuchlichen Arbeitslosenquoten ver- es auch im Bauwesen und im Handel. änderten sich absolut in ähnlichem In dieser Zeit der allgemeinen Ver- Maß: Register- bzw. Eurostat-Quote schlechterung der Arbeitsmarktlage gab stiegen um 1,5 bzw. 1,6 Prozentpunkte. Tabelle 1 Verschlechterung der Arbeitsmarktlage bis zum Höhepunkt der Krise Veränderung zwischen Juni 2008 und Juni 2009 Arbeitslosigkeit Unselbstständige Beschäftigung Registerdaten Gesamt absolut (in Personen bzw. Beschäftigungsverhältnissen1) 56.945 –60.617 Gesamt relativ (in %) 31,9 –1,8 Personen in AMS-Schulungen 15.773 Offene Stellen –16.659 Ausgewählte Sektoren: in Personen Sachgütererzeugung 15.273 –42.614 Bauwesen 4.467 –5.720 Handel 8.056 –10.664 Beherbergung und Gastronomie 5.123 –2.830 Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften 7.528 –18.154 Finanzdienstleistungen 256 4.880 Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung 502 –3.358 Erziehung und Unterricht 649 4.466 Gesundheitswesen 229 5.740 Sozialwesen 1.568 7.052 Arbeitskräfteerhebung2 Gesamt absolut (in Personen) 53.000 0 Gesamt relativ (in %) 36,4 0,0 Arbeitsstunden je Quartal (in %) –5,2 Arbeitslosenquote in Prozentpunkten Registerquote 1,5 Eurostat-Quote 1,6 Quelle: BMASK, Statistik Austria. 1 Unselbstständige Beschäftigungsverhältnisse ohne Bezieher von Karenz- und Kindergeld. 2 Vergleich Q2 09 mit Q2 08. GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 31
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Hinsichtlich der betroffenen Perso- keit. Kriterium (1) bedeutet – zuge- nengruppen sei auf Mahringer (2009), gebenermaßen etwas willkürlich – Scheiblecker (2010), AMS (2010a) und eine Beschränkung auf „signifikante“ BMASK (2010) verwiesen. Männer Arbeitsmarktkrisen. Kriterium (2) waren wegen der starken Konzentra- dient dazu, Perioden zu selektieren, tion auf den Sachgütersektor von der in denen es einen Rückgang der Krise stärker betroffen als Frauen. Aus- Arbeitsnachfrage gegeben hat. Im Zuge ländische Arbeitskräfte wurden von des zuwanderungsbedingten Angebots- der Verschlechterung der Arbeits- schocks auf dem Arbeitsmarkt zu marktlage zwar schneller getroffen als Beginn der 1990er-Jahre gab es par- inländische, letztendlich aber (relativ allel zum Anstieg der Arbeitslosigkeit gesehen) nicht stärker. Jugendliche ein beträchtliches Beschäftigungs- Arbeitnehmer waren vom Beschäfti- wachstum. gungsrückgang und von steigender Die zeitliche Bestimmung der Arbeitslosigkeit mehr betroffen als Arbeitsmarktkrisen erfolgt ebenfalls Arbeitnehmer im Haupterwerbsalter auf simple Weise: Als Beginn wird der oder Ältere. erste Monat festgelegt, in dem die An- zahl der Arbeitslosen im Jahresabstand 1.3 Historisch betrachtet eine zunimmt, als Ende jener Monat, in dem schwere, aber nicht außer- die Veränderungen der Arbeitslosigkeit gewöhnliche Krise wieder negativ werden (oder nahezu Die jeweils zum Monatsende veröffent- null sind).7 Für die Beschäftigungs- lichten Registerdaten vom HSV und reihen wird die gleiche zeitliche AMS liegen – im Gegensatz zu den Abgrenzung verwendet wie für die Daten aus der VGR und zu Umfrage- Arbeitslosenzahlen. Grafik 3 stellt die daten – bis fast zum Beginn der Zwei- Datenreihen für insgesamt sieben ten Republik vor. Deshalb erlauben Arbeitsmarktkrisen in der Zweiten diese Daten einen Vergleich der jüngs- Republik dar. ten Rezession mit der Beschäftigten- Die linke (Arbeitslosigkeit) und und der Arbeitslosigkeitsentwicklung die rechte Abbildung (Beschäftigung) in früheren Phasen, in denen sich in Grafik 3 sind beinahe spiegelbild- die Arbeitsmarktsituation markant ver- lich. Die Beschäftigungsveränderung schlechtert hat. ist allerdings häufig größer, was auf Um eine Auswahl unter den krisen- einen Rückgang des Arbeitsangebots haften Episoden auf dem Arbeitsmarkt schließen lässt (siehe dazu auch Ab- zu treffen, werden die folgenden Krite- schnitt 1.4). rien angewandt: (1) Der höchste An- Es zeigt sich, dass die jüngste stieg der Arbeitslosigkeit muss mindes- Arbeitsmarktkrise – sowohl von ihrem tens 1 % der unselbstständigen Ge- Ausmaß (gemessen am höchsten bzw. samtbeschäftigung ausmachen. (2) Der tiefsten Punkt) als auch von ihrer Länge höchste Rückgang der Beschäftigung gesehen – im oberen Bereich liegt. Der muss zumindest halb so groß gewesen Anstieg der Arbeitslosigkeit war aller- sein wie die Zunahme der Arbeitslosig- dings in der Krise zu Beginn der 7 Diese simple Methode der Datierung verzerrt allerdings die zeitliche Dimension (siehe dazu den Anhang). Zudem hat auch der die ausgewiesene Registerarbeitslosigkeit dämpfende Effekt der Ausweitung von AMS-Schulungen (allerdings nicht sehr große) Auswirkungen auf die so berechnete Dauer der Arbeitsmarktkrise. Die Schulungs- zahlen liegen allerdings erst seit 1998 vor und werden daher nicht berücksichtigt. 32 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Grafik 3 Entwicklung in ausgewählten Arbeitsmarktkrisen Arbeitslosigkeit Beschäftigung Veränderung zum Vorjahr Veränderung zum Vorjahr 120.000 30.000 105.000 15.000 90.000 0 75.000 –15.000 60.000 –30.000 45.000 –45.000 30.000 –60.000 15.000 –75.000 0 –90.000 –15.000 –105.000 –30.000 –120.000 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 2527 29 31 33 3537 39 41 1 3 5 7 9 11 1315 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 3739 41 Monat Monat Februar 1952 bis Oktober 1953 November 1962 bis November 1963 Jänner 1975 bis April 1976 Oktober 1980 bis April 1984 Juli 1995 bis November 1996 Mai 2001 bis April 2003 November 2008 bis März 2010 Quelle: AMS, HSV. 1950er-Jahre wesentlich größer. In den 16 Monate, von November 2008 bis rezessiven Phasen Anfang der 1980er- März 2010.8 Jahre und zu Beginn dieses Jahrtau- Alle genannten Episoden der Zwei- sends kam es zu einem vergleichbaren ten Republik nehmen sich im Vergleich Anstieg der Arbeitslosigkeit; in beiden zur Entwicklung während der Welt- Fällen dauerte es aber länger (1980 bis wirtschaftskrise der 1930er-Jahre klein 1984 sogar wesentlich länger), bis aus. Zwar war die Zunahme der Beschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit von 1929 bis 1930 mit wieder Zuwächse bzw. Abnahmen im 75.000 Personen von nicht viel größe- Jahresabstand verzeichneten. rer Dimension als 2008/09. Bis 1933 Grafik 3 zeigt weiters deutlich, dass kam es aber zu einem weiteren Anstieg der Anstieg der Arbeitslosigkeit in der um 315.000 Personen, was insgesamt Krise 2008 bis 2010 sehr steil war: In- etwa einer Verdoppelung der Arbeits- nerhalb weniger Monate nahm die losenzahlen gleichkam; die Arbeits- Arbeitslosigkeit rapide zu. Fast ebenso losenquote kletterte auf über 27 %.9 rasch ging die Arbeitslosigkeit aber Weiters ging die Arbeitslosigkeit in den zurück, als die Krise abklang. Nach darauffolgenden Jahren nur geringfügig der gewählten Abgrenzung dauerte sie zurück (Mitchell, 2000). 8 Ähnlich wie bereits zu Beginn der Krise signalisierte der Indikator aus dem AMS-Frühwarnsystem auch den Rück- gang der Arbeitslosigkeit im Vorhinein. 9 Bevölkerung und Arbeitsangebot waren damals wesentlich kleiner. GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 33
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen 1.4 Geringe Effekte auf Beschäf- zufolge hätte die Arbeitslosenquote ein tigung und Arbeitslosigkeit wenig stärker steigen müssen, die Dif- Gemessen an Arbeitslosigkeit und ferenz beträgt nur knapp 0,3 Prozent- Beschäftigung war die Entwicklung punkte. zwar von beträchtlicher Größenord- Es gibt jedoch gute Gründe, nicht nung, aber gemessen an dem dramati- die Arbeitslosenquote zu betrachten, da schen Einbruch der Realwirtschaft im die Arbeitslosigkeit in der Regel nur Zuge einer schweren Rezession verlie- abgeschwächt auf Konjunkturbewe- fen die Entwicklungen auf dem öster- gungen reagiert. Der Grund liegt reichischen Arbeitsmarkt erstaunlich darin, dass sich in einer Rezession typi- milde. scherweise auch das Arbeitsangebot Welche Entwicklung wäre zu er- reduziert. Manche Menschen ziehen warten gewesen, wenn Beschäftigung sich aufgrund der schlechten Aussich- und Arbeitslosigkeit gemäß den Er- ten auf einen Job aus dem Arbeitsmarkt fahrungen der Vergangenheit auf zurück, andere scheinen nicht in den Schwankungen des Wirtschaftswachs- Arbeitslosenzahlen auf, weil sie an Aus- tums reagiert hätten? Grafik 4 ver- und Weiterbildungen im Rahmen der sucht, darauf auf einfache Weise eine aktiven Arbeitsmarktpolitik des AMS Antwort zu geben; dabei werden teilnehmen.10 In beiden Fällen sind die Jahresdaten verwendet. Die linke Ab- Betreffenden nicht mehr Teil des bildung zeigt ein Streudiagramm von Arbeitsangebots, das heißt weder be- Wirtschaftswachstum und Verände- schäftigt, noch arbeitslos. rung der Registerarbeitslosenquote im Dies legt nahe, die Stärke der Arbeits- Zeitraum von 1985 bis 2007. Die marktreagibilität anhand der Beschäf- durchschnittliche Beziehung zwischen tigtenzahlen zu beurteilen (vgl. Möller, beiden Variablen ist auch als „Okun’s 2010, für Deutschland). Grafik 4 Law“ bekannt. Die einfache Regres- (rechte Abbildung) zeigt den Zusam- sionsgerade durch die Datenpunkte er- menhang zwischen den zyklischen gibt einen Okun-Koeffizienten von –4. Komponenten11 der unselbstständigen Eine Zunahme des Wirtschaftswachs- Beschäftigung (laut VGR) und dem tums um 1 % dämpft daher durch- realen Wirtschaftswachstum. Bei der schnittlich den Anstieg der Arbeits- Beschäftigungsreihe handelt es sich losenquote um 0,25 Prozentpunkte. um die geschätzten Werte aus einer Anders betrachtet, müsste das reale Regression der zyklischen Beschäfti- Wachstum 2,5 % betragen, damit die gung auf das kontemporäre und um ein Arbeitslosenquote abnimmt. In Grafik Jahr verzögerte BIP-Wachstum für die 4 sieht man einerseits den tatsächlichen Periode 1985 bis 2009. Datenpunkt für 2009 sowie beim glei- Beide Reihen verlaufen relativ chen BIP-Rückgang von 2009 gegen- gleichförmig, wobei das Beschäftigungs- über 2008 (–3,9 %) den markierten wachstum etwas schwächer schwankt Punkt auf der Regressionsgeraden, der als das Wirtschaftswachstum. Auch sich aufgrund des durchschnittlichen wenn man dies berücksichtigt, legt die Zusammenhangs ergeben hätte. Dem- Grafik nahe, dass 2009 die Reaktion 10 Wie in Kapitel 2 gezeigt wird, wurden die Schulungsmaßnahmen des AMS beträchtlich ausgeweitet. 11 Die zyklischen Komponenten sind die Differenz des tatsächlichen Wachstums und des Trendwachstums, das sich aus einem HP-Filter (λ = 100) für die Reihen von 1985 bis 2009 ergibt. 34 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Grafik 4 Erwartbare und tatsächliche Entwicklung Okun’s Law 1985 bis 2007 Beschäftigung und Wirtschaftswachstum Veränderung der Registerarbeitslosenquote in Prozentpunkten in % 2,0 2 1 1,5 2009 0 1,0 –1 0,5 –2 –3 0,0 –4 –0,5 –5 –1,0 –6 –6 –4 –2 0 2 4 6 1985 1990 1995 2000 2005 2009 Reales Wirtschaftswachstum in % Zyklische Komponente des BIP-Wachstums Durchschnittlicher Zusammenhang 1985 bis 2007 Geschätzte zyklische Komponente des Beschäftigungswachstums Quelle: OeNB, eigene Berechnungen. der Beschäftigung schwächer war, als stärker stiegen als jene für passive man angesichts des Wachstumsein- Arbeitsmarktpolitik (Arbeitslosengeld bruchs erwarten konnte. In weiterer und Notstandshilfe). Folge wird gezeigt, dass sich dies Die Arbeitsmarktpakete beinhalten dadurch erklären lässt, dass die durch- insbesondere Maßnahmen zur Bera- schnittliche Arbeitszeit je Beschäftigten tung, Ausbildung und Beschäftigung in Österreich stark abnahm, wodurch Jugendlicher und junger Erwachsener. vergleichsweise viele Arbeitnehmer in Zu den weiteren Maßnahmen gehört Beschäftigung verblieben. die Förderung der Einstellung von Wiedereinsteigern, älteren Arbeitneh- 2 Gründe für die relativ geringe mern und Menschen mit besonderen Verschlechterung der Arbeits- Bedürfnissen („Kombilohn Neu“). Im marktlage Rahmen der „Aktion 4.000“ wird die Wirtschaftspolitische Maßnahmen tru- Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen gen erheblich zur Abmilderung der (oder von Langzeitarbeitslosigkeit Be- Krise auf dem Arbeitsmarkt bei. Viele troffenen) in öffentlichen oder gemein- direkt arbeitsmarktrelevante Maßnah- nützigen Tätigkeiten beträchtlich sub- men wurden im Rahmen der beiden ventioniert. Auch mit der „Aktion „Arbeitsmarktpakete“ des Jahres 2009 +6.000“ wurde bei Jugendlichen mit beschlossen. Indirekt wirkten weiters geringen Arbeitsmarktchancen eine die beiden „Konjunkturpakete“ und die Subventionierung der Lohn- und Lohn- letzte Steuerreform. Überdies wurden nebenkosten beschlossen. Änderungen für 2009 die Mittel des AMS für aktive bei der Altersteilzeit machen es älteren Arbeitsmarktpolitik um 27 % auf über Arbeitnehmern nun noch leichter, ihre 1,1 Mrd EUR aufgestockt. Tabelle 2 Arbeitszeit vor dem Pensionsantritt zu zeigt, dass im Jahr 2009 die Ausgaben reduzieren. Weiters wurde eine Reihe für aktive Arbeitsmarktpolitik relativ von Qualifizierungsmaßnahmen be- GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 35
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Tabelle 2 Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik in Österreich 2009 2008 Veränderung in Mio EUR in % Aktive Leistungsarten (z. B. Qualifizierungsmaßnahmen, inklusive Kurzarbeit) 1.119,51 882,24 31,4 Passive und aktivierende Leistungsarten (z. B. Arbeitslosengeld) 4.147,33 3.411,16 21,6 Insgesamt 5.266,84 4.293,40 23,6 Quelle: AMS (2010b). schlossen („Qualifizierungsbonus“, Er- Personen in Schulungen im Jahresab- leichterungen bei der Bildungskarenz, stand um etwa 16.700 zugenommen Kurse für Migranten, eine Qualifizie- hat. Grafik 5 (linke Abbildung) zeigt, rungsoffensive für den Gesundheits- dass diese kräftige Zunahme von einem und Sozialbereich). In der Krise war ohnehin bereits hohen Niveau der An- eine starke Zunahme der Bildungska- zahl an Schulungsteilnehmern erfolgte. renz in Verbindung mit einer finanziel- Zwischen 1998 und 2009 (Jahres- len Förderung (dem Weiterbildungs- durchschnitte) hat sich die Anzahl der geld) zu verzeichnen. Gegenüber dem Schulungsteilnehmer stetig erhöht (eine ersten Halbjahr 2009 wuchs die Anzahl Abnahme gab es nur 2007 und 2008) der Förderfälle um etwa 70 %12 (bzw. bzw. mehr als verdreifacht – von knapp 3.000 in absoluten Zahlen). 20.000 auf über 60.000. Grundsätzlich Für eine detailliertere Darstellung ist dieser Anstieg positiv zu bewerten – der arbeitsmarktpolitischen Maßnah- sowohl die Europäische Kommission men sei auf BMWFJ (2010) verwiesen. als auch die OECD forcieren seit Jahren Auf eine vieldiskutierte Maßnahme, den stärkeren Einsatz solcher (und an- die Kurzarbeitshilfe, wird in Ab- derer) Instrumente der aktiven Arbeits- schnitt 2.2 gesondert eingegangen. marktpolitik. Angesichts des hohen Mitteleinsatzes und der Vielzahl der 2.1 Aus- und Weiterbildungs- Instrumente bedarf es aber auch einer maßnahmen des AMS geeigneten Evaluierung.13 Viele Maßnahmen der aktiven Arbeits- marktpolitik sind Aus- und Weiterbil- 2.2 Hohe Kurzarbeitszahlen im dungen. Diese schlagen sich in den Vergleich zum letzten Wirt- „Schulungsteilnehmerzahlen“ des AMS schaftsabschwung nieder, die von diesem ebenso wie die Die Kurzarbeit ist das wohl meistbe- Arbeitslosenzahlen monatlich publi- achtete Instrument der aktiven Arbeits- ziert werden. In Tabelle 1 wurde be- marktpolitik im Verlauf der Krise ge- reits dargestellt, dass zwischen Juni wesen. Dabei reduziert ein sich in einer 2008 und Juni 2009 die Anzahl der Absatzkrise befindliches Unternehmen 12 Vorläufiger Wert laut BMASK. 13 Einer Untersuchung von Lutz und Mahringer (2007) zufolge, sind die Beschäftigungseffekte von Maßnahmen der fachlichen Qualifizierung erheblich größer als von Maßnahmen, die zur Unterstützung der Arbeitssuche und -aufnahme dienen (z. B. Berufsorientierung, Bewerbungstraining). Zu hinterfragen ist auch die Sinnhaftigkeit des Mehrfachbesuchs der gleichen Kurse durch Arbeitslose. Beispielsweise kritisierte Sozialminister Hundstorfer Ende Mai 2010, dass eine dreimalige Absolvierung des Kurses „Wie bewerbe ich mich richtig?“ in Zukunft nicht mehr vorkommen dürfe (Der Standard, 25. Mai 2010). 36 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Grafik 5 Wichtige Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Österreich AMS-Schulungen und Kurzarbeit 1998 bis 2009 Kurzarbeit im Verlauf der Krise in Personen in Personen in Personen 90.000 45.000 60.000 80.000 40.000 50.000 70.000 35.000 60.000 30.000 40.000 50.000 25.000 30.000 40.000 20.000 30.000 15.000 20.000 20.000 10.000 10.000 10.000 5.000 0 0 0 2001 2003 2002 1999 2005 Okt. 08 Nov. 08 Dez. 08 Jän. 09 Feb. 09 März 09 Apr. 09 Mai 09 Juni 09 Juli 09 Aug. 09 Sep. 09 Okt. 09 Nov. 09 Dez. 09 Jän. 10 Feb. 10 März 10 Apr. 10 Mai 10 Juni 10 1998 2009 2006 2004 2007 2008 2000 Schulungsteilnehmer (über 55 Jahre) (linke Achse) Stichtag Schulungsteilnehmer (25 bis 54 Jahre) (linke Achse) Ist-Teilnehmer Schulungsteilnehmer (15 bis 24 Jahre) (linke Achse) Angemeldete Arbeitnehmer Zur Kurzarbeit angemeldete Arbeitnehmer (rechte Achse) Quelle: AMS, BMASK. die Arbeitszeit14 für seine Beschäftigten. besonders stark war. Die gesamten Diese erhalten einen teilweisen Ersatz Kosten für dieses Instrument beliefen für den mit der Arbeitszeitreduktion sich im Jahr 2009 auf 114 Mio EUR. verbundenen Verdienstentgang, der auf Den Höchststand erreichte die dem fiktiven Arbeitslosengeld basiert. Kurzarbeit im Frühjahr und Sommer Im Zuge der beiden Arbeitsmarktpa- 2009. Im April 2009 betrug die Anzahl kete wurde die Dauer der Kurzarbeits- der Anmeldungen fast 57.000 (Grafik 5, unterstützung auf bis zu 24 Monate rechte Abbildung). Ab August 2009 ausgedehnt. Im Durchschnitt des Jah- gingen die Meldezahlen stetig und rasch res 2009 betrug die Anzahl der geneh- zurück und im Juni 2010 lagen sie nur migten Kurzarbeitsfälle über 40.000 – noch bei etwa 8.000 Personen. das ist rund das Achtfache im Vergleich Die genaue Betrachtung zeigt zu- zur letzten Krise 2001/02 (Grafik 5, dem, dass die Unternehmen weniger linke Abbildung).15 Nach Branchen be- kurzarbeiten ließen als es den Anmel- trachtet, wurde die Kurzarbeit in ers- dezahlen entspricht. Grafik 5 (rechte ter Linie in der Automobil- und -zulie- Abbildung) zeigt weiters die Anzahl ferindustrie sowie im Maschinenbau der tatsächlich in Anspruch genomme- eingesetzt, das heißt in Branchen, in nen Förderfälle (Ist-Teilnehmer).16 Der denen der Rückgang der Produktion Höchststand wurde somit ebenfalls im 14 Das Ausmaß der Arbeitszeitreduktion kann zwischen 10 % und 90 % betragen. 15 Kurzarbeitszahlen vor 2001 liegen nicht vor. 16 Aufgrund des Umstands, dass die Abrechnungen erst mit beträchtlicher Verzögerung erstellt werden, liegen für 2010 noch keine endgültigen Zahlen vor. GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 37
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen April 2009 mit knapp 38.000 Personen reduzieren. Andererseits sank aber erreicht. auch die wöchentliche Normalarbeits- Über das gesamte Jahr betrachtet, zeit im Zuge der Krise. Beides trug gab es 2009 im Durchschnitt rund wesentlich zur Reduktion der Arbeits- 26.000 Förderfälle, wobei die durch- stunden bei. Einer Auswertung von schnittliche Arbeitszeitreduktion bei Daten der Arbeitskräfteerhebung zu- etwa 26 % lag (BMWFJ, 2010). Auf- folge wurde in Österreich die Arbeits- grund dieser Angaben lassen sich die zeit je Beschäftigten zu knapp 45 % Beschäftigungsauswirkungen der Kurz- durch den Abbau von Überstunden arbeit grob schätzen. Wenn man an- und zu mehr als 55 % durch eine nimmt, dass anstelle der Arbeitszeitre- Reduktion der Normalarbeitszeit ver- duktion in 26.000 Fällen eine Kündi- kürzt (OECD, 2010). Wie groß war gung von 26 % dieser Arbeitnehmer der Beitrag der Kurzarbeit? Bei einer erfolgt wäre, dann ergäbe sich ein Be- Auswertung der Stundendaten aus der schäftigungseffekt von knapp 6.800 Arbeitskräfteerhebung und unter Zu- oder 0,2 % der unselbstständig Be- grundelegung der zuvor erwähnten schäftigten. Derartige Berechnungen Teilnehmerzahl von 26.000 und einer sind nicht unproblematisch (siehe dazu Arbeitszeitreduktion von 26 % ergibt Abschnitt 3.3). Dennoch zeigt dieses sich, dass der Beitrag der Kurzarbeit zur Ergebnis, dass es nicht nur die Kurz- Gesamtreduktion der Arbeitsstunden arbeit sein kann, die einen stärkeren um 5,2 % sich lediglich auf 0,26 Pro- Beschäftigungseinbruch verhindert hat. zentpukte belief. 2.3 Arbeitszeitreduktion 3 Österreich im internationalen Neben den arbeitsmarktpolitischen Vergleich Maßnahmen war ganz allgemein die Wie stellen sich die Verschlechterun- Reduktion der gesamten Arbeitsstun- gen auf dem österreichischen Arbeits- den der Grund für die vergleichsweise markt im internationalen Vergleich geringen Auswirkungen auf Beschäfti- dar?18 Die Auswirkungen auf die jewei- gung und Arbeitslosigkeit. Aus Tabelle ligen Arbeitsmärkte sind sehr unter- 1 geht hervor, dass zwischen dem zwei- schiedlich. Faktoren, die zu dieser ten Quartal 2008 und dem zweiten Heterogenität beitragen, sind zum Quartal 2009 die gesamten Arbeits- einen der Umstand, dass der makro- stunden um 5,2 %17 zurückgegangen ökonomische Schock, gemessen am sind – weitaus stärker als die Reduk- Rückgang des realen BIP, nicht in allen tion der Beschäftigung (–1,8 %). Ländern gleich stark war. Zum anderen Worauf ist dies zurückzuführen? gibt es auch Unterschiede in der Vertei- Zum einen war die österreichische lung der Beschäftigungsreaktion auf Wirtschaft vor der Krise gut ausgelas- Kündigungen und Reduktion der tet und es gab viele Überstunden. Da- Arbeitszeit. her war es zuerst naheliegend, diese zu 17 Die saisonbereinigten Daten der VGR ergeben einen Rückgang der Arbeitsstunden von nur 1,2 %. Das erscheint nicht glaubwürdig. Auch die internationalen Vergleiche in OECD (2010) und Europäische Kommission (2009) basieren auf den Arbeitszeitdaten der Arbeitskräfteerhebung. 18 Ausführliche Darstellungen zur Arbeitsmarktentwicklung in der Krise finden sich in OECD (2009, 2010), Euro- päische Kommission (2009) sowie in Verick und Islam (2010) und Eichhorst et al. (2010). 38 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Grafik 6 Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in der Krise (Q2 08 bis Q2 09) Beschäftigungswachstum in % 4 PL AT 0 DE Euroraum-16 EU-27 –4 US ES –8 LT IE EE –12 LV –16 –20 –16 –12 –8 –4 0 4 BIP-Wachstum in % Quelle: Eurostat, BLS, BEA. 3.1 Große Unterschiede in den 3.2 Anpassung der Beschäftigten- makroökonomischen Schocks zahlen oder der Arbeitsstunden? und in der Beschäftigungsreaktion Um diese unterschiedlichen Reaktions- Grafik 6 zeigt ein Streudiagramm der muster besser zu sehen, und um von Veränderung des realen BIP und der der Größe und Zusammensetzung des Veränderung der Beschäftigung für alle makroökonomischen Schocks zu abs- EU-Mitgliedstaaten, die EU insgesamt, trahieren, zeigt Grafik 7 für dieselben den Euroraum und die USA. Mit Aus- Staaten die Elastizitäten von Beschäfti- nahme von Polen kam es in allen Län- gung und Arbeitsstunden19 in Bezug auf dern zu einer Beschäftigungsreduktion. den Rückgang des realen BIP in der Besonders stark war diese in den balti- Krise. Die Länder sind nach der Höhe schen Staaten, in denen es aber auch zu der Beschäftigungselastizität geordnet. einem dramatischeren Einbruch des Aus Grafik 7 wird ersichtlich, dass Wirtschaftswachstums gekommen ist. die Reaktion der Stunden je Arbeitneh- Des Weiteren gibt es Staaten, wo – ge- mer in den USA und in der EU (bzw. messen an der durchschnittlichen Be- im Euroraum) ziemlich ähnlich war, al- ziehung zwischen Wachstum und Be- lerdings war der Rückgang der Be- schäftigung (Regressionsgerade) – die schäftigung in den USA bezogen auf die Beschäftigung relativ stark gesunken ist Höhe des Wachstumseinbruchs weit (Irland, Spanien und die USA) und stärker. Auch in einigen europäischen jene, in denen die Reaktion der Be- Staaten gab es markante Beschäfti- schäftigung nur gering war (z. B. gungsreaktionen; am stärksten waren Deutschland und Österreich). diese in Spanien, Irland und Griechen- 19 Für die EU-Staaten: Arbeitsstunden je Arbeitnehmer in der Haupttätigkeit. GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 39
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Grafik 7 Beschäftigungsanpassung: Arbeitnehmer oder Stunden je Arbeitnehmer? Elastizität 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 –0,2 NL Euroraum-16 DE SE ES US AT HU EL SK EU-27 MT IT RO CZ LT SI FI BG EE LV FR BE IE DK CY UK BIP-Elastizität der Beschäftigung in Personen BIP-Elastizität der Stunden je Arbeitnehmer Quelle: Eurostat, BLS, BEA, eigene Berechnungen. Anmerkung: Die drei Mitgliedstaaten mit negativer Stundenelastizität (Luxemburg, Polen und Portugal) sind nicht in der Grafik enthalten. land. Andere Staaten wiederum wiesen negativen Zusammenhang zwischen nur eine sehr geringe Reaktion der Be- der Höhe des Anteils des Bausektors an schäftigung (gemessen in Personen) bei der Gesamtbeschäftigung vor der Krise gleichzeitig starker Reduktion der und der Veränderung der Gesamtbe- Arbeitsstunden auf, wie Deutschland, schäftigung im Verlauf der Krise (Euro- Belgien, Österreich und Frankreich. In päische Kommission, 2009). Es kann weiteren Staaten waren Beschäfti- (bzw. konnte) davon ausgegangen wer- gungs- und Stundenelastizität von ähn- den, dass es sich dabei um eine struktu- licher Größenordnung, wie z. B. in der relle Veränderung in den jeweiligen Tschechischen Republik, in Schweden, Ökonomien handelt und die Beschäfti- Slowenien und Finnland. Tendenziell gung im Bausektor daher nicht mehr bedeutet eine Kombination von nied- das Vorkrisenniveau erreichen wird. rigerer Beschäftigungs- und hoher Dies erklärt den massiven Beschäfti- Stundenelastizität eine Reduktion der gungsabbau in diesem Sektor. Produktivität je Beschäftigten, nicht In anderen Staaten kam es im Ver- notwendigerweise aber der Stunden- lauf der Krise zu einer Reduktion der produktivität (vgl. OECD, 2010). Exporte, wie beispielsweise in Deutsch- Was ist der Grund für diese höchst land und Österreich. In diesem Fall unterschiedlichen Reaktionsmuster? ließ sich erwarten, dass die Krise ledig- Eine plausible Erklärung liegt darin, lich vorübergehend sein würde; die dass es in einigen Staaten im Zuge der Unternehmen waren daher eher bereit, Finanzkrise zum Platzen einer spekula- ihre Arbeitskräfte zu halten, insbeson- tiven Blase auf dem Immobilienmarkt dere gut ausgebildete Arbeitnehmer, und infolgedessen zu einem Einbruch wie jene in der deutschen und öster- im Bausektor gekommen ist. Dazu reichischen Exportwirtschaft (Möller, gehören insbesondere Spanien, Irland 2010; OECD, 2010; The Economist, und die USA. Tatsächlich gibt es einen 2010). 40 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Tabelle 3 Abgesehen davon gibt es möglicher- weise auch länderspezifische Unter- Geschätzte permanente schiede in der Bereitschaft der Auswirkungen der Kurzarbeit auf Unternehmen, ihre Arbeitskräfte zu die Beschäftigung halten, bzw. verändert sich diese über Dauerhafte Wirkung auf die die Zeit. In den USA wurde seit Beschäftigung den 1970er-Jahren auf einen Rück- in % in 1.000 gang der Arbeitsnachfrage zunehmend Personen stärker mittels Kündigungen agiert, Portugal 0,01 0,4 während die Reduktion der Arbeits- Dänemark 0,06 1,5 Frankreich 0,09 18,1 zeit an Bedeutung verloren hat Niederlande 0,09 5,6 (OECD, 2010). Hallock (2009) stellt Ungarn 0,09 3,0 für die USA einen Bedeutungsverlust Österreich 0,12 4,0 Spanien 0,24 30,3 des „impliziten Kontrakts“ zwischen Tschechische Republik 0,43 17,3 Arbeitgebern und Arbeitnehmern fest, Deutschland 0,73 221,5 im Rahmen dessen sich beide Seiten Italien 0,74 124,0 Finnland 0,78 15,3 einer langfristigen Kooperation ver- Belgien 1,27 43,3 pflichtet fühlen und diese für die Quelle: OECD (2010). Arbeitgeber z. B. bedeutet, Kündigun- gen zu vermeiden. Dies könnte eben- falls zu dem Unterschied zwischen den freiwillige Reduktion der Arbeitszeit je USA und Europa in der Krise beigetra- Beschäftigten durch die Firmen und die gen haben. In jenen europäischen interne Flexibilität der Arbeitszeit, wie Ländern, in denen der Beschäftigungs- sie etwa durch Arbeitszeitkonten in vielen rückgang sehr groß war, ging dieser Kollektivverträgen vorgesehen ist, spiel- vor allem zulasten von Leiharbeits- ten eine größere Rolle (Möller, 2010). kräften, für die der implizite Kontrakt Einfache Berechnungen der Aus- nicht gilt, wie insbesondere das Beispiel wirkungen von Kurzarbeit, wie sie bis- Spanien zeigt. her für Österreich und Deutschland ge- nannt wurden, stellen wohl die Ober- 3.3 Ein internationaler Vergleich der grenze der tatsächlichen Auswirkungen Effekte der Kurzarbeit dar, denn zum einen könnte es sich um Viele Staaten setzten in der Krise auf Mitnahmeeffekte handeln (die Arbeits- das bereits bestehende Instrument der plätze hätten auch ohne Kurzarbeitsbei- Kurzarbeit, veränderten es (etwa durch hilfe weiter bestanden) und zum ande- Verlängerung) oder führten die Kurz- ren könnte es sein, dass die Arbeits- arbeitsunterstützung neu ein (OECD, plätze erst nach dem Auslaufen der 2010). Bezogen auf die Höhe der Ge- Kurzarbeitsbeihilfe verloren gehen. samtbeschäftigung war der Einsatz der Letztendlich müsste man die „kontra- Kurzarbeit in Deutschland intensiver faktische“ Entwicklung kennen, das als in Österreich. Durch eine analoge heißt die Entwicklung der Beschäfti- Berechnung, wie in Abschnitt 2.3 für gung ohne Kurzarbeit, die naturgemäß Österreich, käme man auf einen Be- nur geschätzt werden kann. Die OECD schäftigungseffekt von 350.000 Personen (2010) unternahm den Versuch einer oder etwa 1 % der Gesamtbeschäftigung. solchen Schätzung der kontrafaktischen Auch in diesem Fall kann die Kurzarbeit Entwicklung mithilfe einer panelöko- nur einen Teil der geringen Reaktion nometrischen Untersuchung für 19 EU- der Beschäftigtenzahlen erklären. Die Mitgliedstaaten, um die permanenten GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 41
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Grafik 8 Saisonbereinigte Arbeitslosenquoten Juni 2008 bis Juni 2010 in % 11 10 9 8 7 6 5 4 3 Juni 08 Sep. 08 Dez. 08 März 09 Juni 09 Sep. 09 Dez. 09 März 10 Juni 10 Eurostat-Quote Euroraum-16 Registerquote AT Eurostat-Quote AT Quelle: OeNB. Wirkungen der Kurzarbeit auf die Be- 4.1 Immer noch mehr Arbeitslose schäftigung zu quantifizieren. und weniger Beschäftigte als vor Die Ergebnisse sind in Tabelle 3 der Krise dargestellt. In einer Reihe von Ländern Tabelle 4 geht mehr ins Detail und leistete die Kurzarbeit einen wesentli- stellt wie Tabelle 1 einen Vergleich mit chen Beitrag zur Beschäftigungssiche- Juni 2008 her. Diesmal beziehen sich rung, insbesondere in Deutschland, die Daten aber auf die gegenwärtige Italien und Finnland. Am höchsten war Situation (Ende Juni bzw. das erste der Effekt in Belgien mit rund 1,3 % Quartal 2010), um beurteilen zu der Beschäftigung. Für Österreich er- können, ob sich Beschäftigung und gibt sich ein geringerer Wert von 0,12 %, Arbeitslosigkeit bereits wieder auf dem der auch etwas kleiner ist als die grobe Vorkrisenniveau befinden. Schätzung von 0,2 % in Abschnitt 2.3. Die Situation hat sich zwar gegen- über Juni 2009 entspannt, aber den- 4 Deutliche Erholung sichtbar noch gibt es immer noch 40.000 Seit Mitte 2009 ist in Österreich eine Arbeitslose mehr und knapp 20.000 Entspannung der Arbeitsmarktlage fest- Beschäftigte weniger als Mitte 2008. stellbar. Grafik 8 zeigt die beiden saison- Auch die Anzahl der Schulungsteil- bereinigten Arbeitslosenquoten für Öster- nehmer liegt noch um 25.000 über reich: die Eurostat-Quote und eine dem Vorkrisenniveau. Auswertungen saisonbereinigte Registerquote. Beide der AMS-Datenbank zeigen zudem, Quoten stiegen bis Mitte 2009 und fallen dass sich – abgesehen von der Kurz- seither wieder, wobei der Rückgang arbeit – das Niveau der Fördermaß- der Eurostat-Quote wesentlich stärker nahmen durchwegs noch über dem ausfällt als jener der Registerquote. Die Vorkrisenniveau befindet. Weiters Grafik zeigt auch, dass sich im Euro- legen die Ergebnisse der Arbeits- raum die Arbeitslosenquote zwar bei kräfteerhebung nahe, dass sich die 10 % stabilisiert hat, jedoch im Durch- gesamten Arbeitsstunden gegenüber schnitt noch nicht zurückgegangen ist. 2009 zwar erhöht haben, aber immer 42 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen Tabelle 4 Gegenwärtige Arbeitsmarktlage im Vergleich zum Vorkrisenniveau Veränderung zwischen Juni 2008 und Juni 2010 Arbeitslosigkeit Unselbstständige Beschäftigung Registerdaten1 Gesamt absolut (in Personen bzw. Beschäftigungsverhältnissen2) 40.095 –19.505 Gesamt relativ (in %) 23,2 –0,6 Personen in AMS-Schulungen 25.398 Offene Stellen –9.617 Ausgewählte Sektoren: in Personen Sachgütererzeugung 5.811 –45.222 Bauwesen 3.092 –6.742 Handel 6.789 –7.564 Beherbergung und Gastronomie 4.626 –4.944 Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften 3.491 –7.364 Finanzdienstleistungen 139 4.789 Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung 874 8.049 Erziehung und Unterricht 1.099 11.715 Gesundheitswesen 454 6.548 Sozialwesen 2.468 10.266 Arbeitskräfteerhebung3 Gesamt absolut (in Personen) 1.700 –14.300 Gesamt relativ (in %) 1,0 –0,4 Arbeitsstunden je Quartal (in %) –2,1 Arbeitslosenquote in Prozentpunkten Registerquote 1,0 Eurostat-Quote 0,4 Quelle: BMASK, Statistik Austria. 1 Beschäftigungsdaten beziehen sich wegen einer Klassifikationsänderung auf einen Vergleich von Mai 2010 mit Mai 2008. 2 Unselbstständige Beschäftigungsverhältnisse ohne Bezieher von Karenz- und Kindergeld. 3 Vergleich Q1 10 mit Q1 08. noch um 2,1 % geringer sind als vor der Beschäftigungssteigerungen gegen- Krise. über Juni 2009 gab es im Handel und insbesondere in der Arbeitskräfte- 4.2 Keine Erholung im Sachgüter- überlassung; Letzteres lässt auf die sektor, dafür steigende Beschäf- Unsicherheit über die Nachhaltigkeit tigung im öffentlichen Sektor, im des Aufschwungs schließen. Die Unter- Unterrichts-, Gesundheits- und nehmen sind zögerlich, Arbeitskräfte Sozialbereich auf Basis regulärer Kontrakte einzu- Betrachtet man einzelne Branchen, so stellen. Es könnte sich dabei jedoch stellt sich heraus, dass im Sachgüter- auch um einen dauerhaften Effekt sektor von einer Erholung nicht die handeln, indem Unternehmen im Sach- Rede sein kann. Die Beschäftigungs- gütersektor einen Teil ihrer Stamm- zahl liegt um 45.000 unter dem belegschaft permanent durch Leih- Niveau vom Juni 2008. Vergleicht man arbeitskräfte ersetzen. mit Tabelle 1, so hat sich die Situation Sowohl gegenüber dem Jahr 2008 seit Mitte 2009 sogar noch leicht ver- als auch gegenüber 2009 ist die Be- schlechtert. Auch im Bauwesen hat es schäftigung im öffentlichen Dienst so- gegenüber 2009 keine Verbesserung wie im Unterrichts-, Gesundheits- und gegeben. Sozialwesen gewachsen. Dies hat einer- GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10 43
Der österreichische Arbeitsmarkt in der großen Rezession: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen seits mit einer erhöhten Nachfrage im troffen waren der Sachgütersektor, das Bereich der Kinderbetreuung zu tun Bau- und Gastgewerbe und die Arbeits- (Einführung von Gratiskindergärten in kräfteüberlassung. einigen Bundesländern, verpflichtendes Bezüglich ihrer Dauer und der Vorschulkindergartenjahr), andererseits quantitativen Auswirkungen auf Be- dürften sich hier aber einige der in schäftigung und Arbeitslosigkeit zählt Kapitel 2 genannten Beschäftigungs- diese Phase zu den stärksten krisenhaf- programme des AMS niederschlagen. ten Episoden in der Zweiten Republik; in Bezug auf die Stärke des Rückgangs 4.3 Starker Rückgang der der realen Wirtschaftsleistung waren Eurostat-Arbeitslosenquote die Auswirkungen jedoch überraschend für Österreich gering. Der Grund lag im starken Grafik 8 und Tabelle 4 zeigen, dass Rückgang der gesamten Arbeitsstun- die Eurostat-Arbeitslosenquote beinahe den, der stärker ausfiel als die Reduk- wieder das Vorkrisenniveau erreicht tion der Beschäftigung in Personen. hat. Ende Juni 2010 lag sie mit 3,9 % Die Stabilisierung der Arbeits- lediglich um 0,4 Prozentpunkte über marktlage ist unter anderem das Resul- dem Wert vom Juni 2008. Gegeben die tat des massiven Einsatzes von Instru- geschilderte Arbeitsmarktlage erscheint menten der aktiven Arbeitsmarkt- dies überraschend. Man muss jedoch politik, wovon die Ausweitung der beachten, dass die Werte der zuletzt Kurzarbeit die meiste Beachtung fand. verfügbaren Monate April, Mai und Der Rückgang der Arbeitszeit war je- Juni 2010 nur vorläufig sind. Sobald die doch viel stärker, als sich nur durch die Ergebnisse aus der Arbeitskräfteerhe- Kurzarbeit erklären lässt. bung für das zweite Quartal 2010 vor- Im internationalen Vergleich gibt es liegen, werden diese revidiert. Danach beträchtliche Heterogenität hinsicht- wird eine neue Saisonbereinigung der lich der Verschlechterung der Arbeits- Eurostat-Quote durchgeführt. Es wäre marktlage. Dies hat einerseits damit zu möglich, dass mit der nächsten Revi- tun, dass es Unterschiede im Ausmaß sion der Eurostat-Quote das Niveau für des makroökonomischen Schocks gibt. Österreich etwas ansteigt. Am Um- Andererseits gab es aber auch Unter- stand, dass Österreich derzeit die nied- schiede, inwieweit in einzelnen Län- rigste Arbeitslosenquote in der gesam- dern die Beschäftigung in Personen ten EU hat, dürfte dies aber nichts än- bzw. die Arbeitsstunden je Beschäftig- dern. ten reduziert wurden. Österreich ge- hört mit Deutschland zu jenen Län- 5 Zusammenfassung und dern, in denen die Arbeitszeit je Be- Schlussfolgerungen schäftigten am stärksten zurückging. Ab Mitte 2008 begann sich die Arbeits- Dies ermöglichte, dass mehr Personen marktlage in Österreich im Zuge in Beschäftigung verblieben. Die der internationalen Finanz- und Wirt- Unterschiede liegen aber wohl auch in schaftskrise zu verschlechtern. Bis der Einschätzung der Unternehmen, Mitte des Jahres 2009 kam es zu Rück- inwieweit die Krise in den betroffenen gängen der Beschäftigung im Ausmaß Ländern strukturelle Implikationen ha- von etwa 60.000 Personen und ben würde. Zuwächsen der Arbeitslosigkeit im Seit einigen Monaten verbessert Ausmaß von über 50.000 Personen im sich die Arbeitsmarktsituation in Öster- Jahresabstand. Davon besonders be- reich wieder. Die Arbeitslosenzahlen 44 GELDPOLITIK & WIRTSCHAFT Q3/10
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