Politische Street Art in Portugal als Ausdruck der europäischen Identität einer jungen Generation
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Reisebericht von Liane Schäfer Reisezeitraum: 08.12. - 28.12. 2016 Klassisches Reisestipendium der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa Politische Street Art in Portugal als Ausdruck der europäischen Identität einer jungen Generation („Angela Merkels puppets“, Lissabon 2012, Kollaboration von Nomen, Slap und Kurtz) 1
Inhaltsverzeichnis 1. Ziele der Reise: Street Art mit politischen oder sozialen Inhalten oder: Ist Street Art ein Ausdruck europäischer Identität in Portugal? .......................................................................3 2. Vorbereitungen und geplante Umsetzung der Reise ..........................................................4 3. Die Anfänge: Die Europäische Schuldenkrise, Nomens Street Art als Antwort und die Frage: Was bleibt heute? .......................................................................................................5 4. (Politische) Street Art, Graffiti, und Urban Art als Add on oder: Die Frage nach Vergänglichkeit .................................................................................................................... 10 5. Die Frage nach dem Einfluss: Wer oder was entscheidet über Street Art und welche Themen werden behandelt? - ein Treffen mit einem Kunstgeschichtsstudenten ................13 6. Zusammenfassung, Kritik und Fazit ................................................................................. 15 Literaturverzeichnis ..............................................................................................................18 2
1. Ziele der Reise: Street Art mit politischen oder sozialen Inhalten oder: Ist Street Art ein Ausdruck europäischer Identität in Portugal? Street Art, Urban Art, Graffiti - oder auch: Straßenkunst - wird von vielen Bürger*innen weltweit häufig nicht als „Kunst“ verstanden, sondern als Verschandelung öffentlicher oder privater Güter - seien es Fahrzeuge, Hauswände, oder gar ganze Straßenzüge, die von Menschen als Fläche benutzt werden, um Bilder oder Schriftzüge auf öffentlichem Raum - in der Regel ohne Erlaubnis - anzubringen. Persönlich war ich lange Zeit nicht besonders an Street Art interessiert. Im Sommer 2014 allerdings bin ich in Jamaica mit der politischen und sozialen Dimension von Street Art in Berührung gekommen, als ich von dem Projekt „Paint Jamaica“ erfahren habe - junge Künstler*innen verändern dort seit längerem die Straßenzüge einer der sozial benachteiligten Stadtteile der Hauptstadt Kingston in Down- town. Sie treten dabei in Kontakt mit den Bewohner*innen und wollen mit großen Bildern, die selbstverständlich für alle kostenlos zugänglich sind, das Straßenbild und damit auch das Image des Stadtteils verändern. Damals habe ich mich zum ersten Mal gefragt: Kann das funktionieren? Und wenn ja, wirkt öffentlich zugängliche Straßenkunst nicht nur als Ausdruck, sondern als Katalysator für soziale und politische Prozesse? Portugal ist eines der von der Europäischen Wirtschaftskrise am stärksten betroffenen Län- der (Cascais 2014). Im Jahr 2012 regte sich öffentlich sichtbarer Widerstand gegen die von der EU auferlegte Sparpolitik der portugiesischen Regierung. Lissabons Straßen waren regelmäßig Schauplatz für Demonstrationen, in denen sich auch Wut gegen die deutsche Kanzlerin Angela Merkel entlud (Wittrock 2012). Gleichzeitig ist Portugal seit einigen Jahren besonders in der europäischen Street Art Szene ein Vorreiter: Im Internet lassen sich zahlre- iche Belege finden für ein gestiegenes internationales Interesse (Huffington Post 2014; Movingroovin 2015). Mit meiner Reise nach Portugal will ich daher der Frage nachgehen, inwiefern politische Street Art Ausdruck der europäischen Identität junger Portugiesen und Portugiesinnen ist. Mir geht es weniger um die Begriffe „Identität“ oder „Identifikation“, ich möchte stattdessen durch Gespräche und eigene Begehungen lernen und herausfinden, wie Street Art im Gegensatz zur allgemeinen Annahme von Verschandelung öffentlicher oder privater Gebäude aus anderem Blickwinkel ganz im Gegenteil als Beteiligung von Menschen an Themen und Problemen in Portugal betrachtet werden können und ob sie damit auch öf- fentliche Diskurse anregen (könnten). Dabei will ich mich vor allem auf Street Art fokussieren, die in ihrer Botschaft eine politische oder sozialkritische Aussage im Hinblick auf EU-relevante Themen trifft. Die Anfertigung eines solchen Kunstwerks in öffentlichem Raum werte ich aus meiner Perspektive als eine aktive Beteiligung des oder der Künstler*in an öffentlichen politischen und / oder sozialen Debatten. 3
2. Vorbereitungen und geplante Umsetzung der Reise Blogeinträge, Fotos, Internetseiten, Zeitungsartikel - im Vorfeld meiner Reise stelle ich die schiere Flut an Informationen fest, die das Internet zu Street Art in Portugal bereit hält. Ich finde Einträge von Blogger*innen, die als Tourist*innen aufgrund ihrer Leidenschaft für Street Art in die Hauptstadt Lissabon reisen, aber auch Seiten, in denen die angeblich „lib- erale“ Politik der Hauptstadt gegenüber Street Artists in den letzten Jahren seit der Krise gestiegen ist - sogar einen Hinweis mit Verknüpfung zur Wirtschaftskrise: Street Art kann auch „günstige“ Alternative für renovierungsbedürftige Gebäude in Portugal sein (Movin- grooving 2015). Zur Vorbereitung der Reise kontaktiere ich einzelne Künstler, deren politisch oder sozialkri- tisch motivierte Kunst mir bereits im Vorfeld durch Internetrecherchen auffällt. Welche Per- sonen dies sind, wird in den folgenden Kapiteln ersichtlich werden. Für meinen Aufenthalt in Portugal plane ich drei Stationen ein: Lissabon, das nicht nur Landes- sondern auch Street Art-Hauptstadt Portugals sein soll, das im Norden des Landes gelegene Porto, in dem viele Street Artists derzeit leben oder gelebt haben, sowie Faro im Süden als eines der touristisch am stärksten geprägten Gegenden in Portugal. Wie ich auch später noch beschreiben werde, stelle ich während meines Aufenthaltes fest, dass eine Reise nach Faro für mein gewähltes Thema nicht hilfreich ist, weshalb ich diese Station letztlich nicht besuche. Während ich zu Beginn noch überlege, vorgefertigte Leitfragen in Gesprächen mit Personen „abzuarbeiten“, stelle ich bei meinem Treffen mit einem Künstler schnell fest, dass sich in Einzelgesprächen unterschiedliche Schwerpunkte je nach Hintergrund und Perspektive des oder der Gesprächspartner*in als fruchtbarer herausstellen und wie hilfreich andererseits „Begehungen“ des Feldes, also der Gegenden, in denen sich Street Art finden lässt, sein können. Die folgenden Kapitel richten sich daher schwerpunktmäßig je nach den Themen, die mit den einzelnen Gesprächspartner*innen besprochen wurden. Der Reisebericht ist weniger chronologisch als stärker thematisch an der Forschungsfrage orientiert aufgebaut. Im Vorfeld beschließe ich außerdem, nicht nur mit Künstler*innen zu sprechen, sondern nach Möglichkeit auch mit Bürger*innen Portugals, die ich auf der Straße ansprechen möchte, ins Gespräch zu kommen, um herauszufinden, ob sie die Street Art wahrnehmen und welchen Einfluss sie ausüben kann. Während meiner Reise versuche ich mehrmals, Personen anzusprechen, die einzigen, mit denen ich einige Sätze zu Street Art wechsle, sind allerdings Tourist*innen, die ich entweder durch Street Art oder zufällig kennen lerne und denen ich von meinem Projekt erzähle. Ich stelle fest, dass „Street Art“ offenbar entge- gen meiner Erwartung noch lange nicht im „Mainstream“ angekommen ist. Allerdings wird sich im Folgenden zeigen, wie insbesondere die Einwohner*innen der Städte Lissabon und Porto einen unterschiedlichen Umgang mit Street Art pflegen. 4
„You know, the problem is: No- body wants to buy this [social intervention art]“ - Nomen (o.l. nach u.r.: „Angela Merkel puppets“ in Lissabon, Nomens’ Auto mit Selbstportrait in Sassoeiros, Besucher*innen in seiner Galerie, Nomen bei der Buchvorstellung seiner Biographie) 3. Die Anfänge: Die Europäische Schuldenkrise, Nomens Street Art als Antwort und die Frage: Was bleibt heute? Bei einer meiner ersten google-Bilder-Recherchen zu politischer Street Art in Portugal finde ich ein Foto von - unverkennbar - Angela Merkel. Das Bild soll sich in Lissabon im Norden der Stadt im Stadtteil Amoreiras befinden, etliche Blogger*innen haben schon vor mir den Weg dorthin gemacht und berichten im Internet von der „Wall of Fame“, einem „Open Air Art Museum“, das seit 1995 von Künstler*innen genutzt wird. Angeblich standen die Wände in der Nähe eines Shopping Centers aber auch schon vor den neunziger Jahren bereit, um insbesondere auch politische Aussagen durch Graffitis zu präsentieren (Lomography 2013). Heute ist die Wall of Fame offiziell zur Nutzung von Straßenkunst von der Stadt freigegeben. Das Bild mit dem Titel „Angela Merkels puppets“ soll eine Kollaboration dreier portugiesis- cher Graffiti Artists sein: Nomen, Slap und Kurtz. Ich stelle fest: Es war nicht Nomens letzte Aussage zur europäischen Schuldenkrise und dem Versagen der Politik und beschließe noch vor meiner Abreise, ihm eine Mail zu schreiben, um ihn in Portugal zu treffen. Ich habe Glück: Nomen lädt mich zu der Veröffentlichung seiner Biographie in seine Galerie ein. Noch bevor ich das Bild mit der deutschen Kanzlerin im Original sehe, mache ich mich von Lissabon aus mit dem Zug zunächst auf den Weg nach Oeiras, eine Kleinstadt am Meer. Die Strecke zwischen Lissabon und Oeiras ist voll von Graffitis. Ich entdecke entlang der Bahnschienen etliche Schriftzüge und Tags, auch eines von Nomen ist dabei. In Oeiras nehme ich ein Taxi, um den Berg hinauf nach Sassoeiros zu kommen. Ich bin zu früh: Nomen ist noch mit den Vorbereitungen zur Eröffnung beschäftigt, ich nutze die Zeit und schaue mich um. Nomen wohnt mit seiner Familie in der Kleinstadt in der Nähe von Liss- abon. Die Galerie ist ein leergeräumtes Gebäude in einer Straße, die eher nach ruhigem Vorstadtidyll statt nach sozialkritischer Straßenkunst aussieht, das Restaurant an der Straßenecke wirbt draußen mit einem Bild von - ich beginne, die Handschrift des Künstlers 5
zu erkennen - Nomen. Vor der Galerie steht ein Kleintransporter mit aufgespraytem Selbst- portrait, es riecht nach Lack und Metall. Die Gemälde innen stehen zum Verkauf. „Politisch“ ist davon keines - die meisten zeigen Portraits von Frauen und heißen zum Beispiel „African Beauty“. Ich merke, wie ich versuche, das Bild aus dem Internet mit dem Künstler, der vor mir steht in Einklang zu bringen und freue mich über einen Spruch auf einer der Wände: „It’s a never ending game“ - vielleicht ist damit die Schuldenkrise in Europa gemeint? Nach meinem Gespräch mit Nomen traue ich mich nicht, danach zu fragen - nachdem die ersten Gäste eingetrudelt sind, kommt er auf mich zu und erklärt fast entschuldigend, dass ich hier vergeblich politische Street Art suche. Er habe feststellen müssen, dass sich diese Form von Kunst nicht verkaufen ließe - er habe zwar mit den Bildern in Lissabon national und in- ternational für Aufmerksamkeit gesorgt, letztlich wollen die Menschen aber „paintings with sunsets and dolphins“ (Nomen) in ihren Wohnzimmern. Ich merke, dass auch ein Graffiti Artist morgens überlegen muss, wovon abends das Essen bezahlt wird und blättere ver- legen in seinem Buch. Er erzählt, dass er sich ungern auf eine bestimmte Richtung in der Kunst festlegen lässt und deshalb im Laufe der Jahre auch häufiger den Künstlernamen gewechselt hat. Auf der letzten Seite seines Buches steht „Im a person, not a brand.“ Ich frage mich, ob er sich von mir „gebrandet“ vorkommt - schließlich habe ich in meiner ersten Kontaktmail explizit nach den politischen Werken gefragt und merke, dass ich tatsächlich weniger am Rest der Arbeiten interessiert bin. Nomen hat nie eine „klassische“ Ausbildung in Kunst absolviert. 1989 begann sein Weg als Graffiti Artist mit illegalen Tags auf Zügen, heute ist er international bekannt, wurde zu Kunstfestivals eingeladen und fertigt Kunst- werke auch auf Nachfrage an. Im Jahr 2010 veranlasste die Europäische Schuldenkrise auch die portugiesische Regierung zum Abschluss eines Sparpaketes mit der Europäischen Union, Bürger*innen in Lissabon demonstrierten dagegen (Wirtschaft und Schule 2014). 2011 hatte die Opposition dem damaligen Ministerpräsidenten José Socrates zunächst die Billigung des Sparpaketes verwehrt und damit seinen Rücktritt eingeläutet (Die Welt 2011). Letztlich war der Abschluss eines Sparpakets nicht mehr abzuwenden: Im gleichen Jahr einigten sich die verant- wortlichen EU-Institutionen, der IWF und Portugal Schuldenkredite in Höhe von insgesamt 78 Milliarden Euro auszuzahlen, im Gegenzug verpflichtete sich Portugal unter dem neuen Premierminister Pedro Passos Coelho zur Einleitung erheblicher Sparmaßnahmen (taz 2013). 2014 gelang es Portugal, aus dem Maßnahmenpaket auszusteigen. Was bleibt und anhält: Die Folgen der Sparmaßnahmen. Portugal erhöhte unter anderem das Rentenalter, führte eine Sonderabgabe von 3,5 Prozent auf alle Löhne ein und ließ staatliche Un- ternehmen privatisieren (taz 2013). Seit 2014 ist Portugal nicht mehr Teil des europäischen Hilfspakets und damit auf den internationalen Finanzmärkten wieder eigenständig (Spiegel 2014). Die Probleme sind damit nicht automatisch gelöst. Die Jugendarbeitslosenquote (15- 24jährige) lag im Oktober diesen Jahres bei 28,9 Prozent, Portugal liegt damit auf dem fün- fthöchsten Platz EU-weit. Insgesamt liegt die Arbeitslosenquote 2016 mit 10,8 Prozent einen Prozentpunkt über dem EU-weiten Durchschnitt, allerdings sinkt die Quote nach einem Höchststand von 16,18 Prozent im Jahr 2013 kontinuierlich (Statista 2016). Dennoch: Das portugiesische Durchschnittseinkommen beträgt heute 1414 Euro, was etwa der Hälfte des deutschen Durchschnittseinkommens entspricht (Statista 2016). 6
Das, was ich als „politische Street Art“ bezeichne, ist für Nomen „soziale Intervention.“ 2012, als Portugal besonders stark unter der Krise litt, fertigte Nomen mehrere seiner sozialen Interventionen an Wänden auf den Straßen an. In seiner Biographie steht unter an- derem: „Government manipulated by countries such as Germany and France and others weak in economy, along with Portugal, were called „Pigs“. Portugal, Ireland, Greece and Spain were the countries under the contributory troika weight […]“ (Nomen 2016). Nomen erzählt, dass er in der Hochphase der Europäischen Schuldenkrise herausfand, wie seine Kunst zu einer politischen und sozialen portugiesischen Revolution beitragen kann. Heute sieht er seine vor vier Jahren produzierten Kunstwerke als Zeugnis des Kampfes Por- tugals in der Europäischen Schuldenkrise an. Ich stelle fest: Es gab und gibt offensichtlich eine Identifikation mit Europa und ja, insbesondere zur Zeit einer gesellschaftspolitischen Krise war es einigen Künstler*innen wichtig, sich zur Lage zu äußern. Das Bild mit Angela Merkel zeigt außerdem zwei portugiesische Politiker: Den damals amtierenden Außenminis- ter Paulo Portas und den bereits erwähnten Premierminister Pedro Passos Coelho. Angela Merkel ist die Strippenzieherin der Beiden: Sie hält die Fäden in der Hand. Im Mund trägt sie einen Stacheldraht mit den Sternen der Europäischen Union. Nomen zeigt mir auch sein erstes sozialpolitisch-kritisches Kunstwerk: 2011 arbeitete er sich gemeinsam mit anderen Künstlern zunächst nur an dem portugiesischen Premier ab und stellte ihn unter dem Titel „The Law of the Strongest“ als Sheriff im Wilden Westen mit zwei Waffen in der Hand dar. Am rechten Rand des Bildes entdecke ich einige Tage später, als ich mir das Original in Lissabon anschaue, einen Mann mit Sprechblase: „Wir sind die Veränderung.“ („The Law of the Strongest“, Lissabon 2011, Kollaboration von Nomen, Exas, Slap, Luka und Kurtz) 7
Nicht alle der sozialen Interventionen bleiben: Nomen erzählt, dass die Zensur mittlerweile zurück ist. 2014 hat er in Lissabon ein Kunstwerk über den Politiker Miquel Relvas angefer- tigt, der all seine Diploma angeblich illegal erkauft hatte. Das Bild war nur sechs Tage da und wurde dann schwarz überstrichen. Ich frage mich, wer darüber entscheidet, welches der Bilder akzeptabel ist und welches nicht und recherchiere kurz nach unserem Gespräch im Internet: Relvas hatte wohl tatsächlich mehrfach Studiengänge angefangen, dann wieder abgebrochen, 2006 beendete er ein Studium angeblich innerhalb eines Jahres, wobei ihm politische Ämter angerechnet worden waren. Studierende hatten ausgesagt, ihn innerhalb des einen Jahres nie an der Uni gesehen zu haben, ihm seien Kurse angerechnet worden, die es im Zeitraum seiner Einschreibung gar nicht gegeben hatte. Sein Abschluss ist ihm im Sommer diesen Jahres durch ein Lissaboner Gericht wieder aberkannt worden (Portugal- resident 2016). Einige Tage nach dem Treffen mit Nomen beschließe ich, mich auf die Suche nach der „Wall of Fame“ in Lissabon zu machen. Markus, ein deutscher Tourist, will mich begleiten. Wir lernen uns zufällig im Hostel kennen, ich erzähle im morgens von meinen Plänen, er findet Gefallen daran. Auf dem Weg kommen wir ins Gespräch über mein Thema und Street Art. Ernüchterung und Verwunderung macht sich bei mir breit, als wir schließlich Nomens Kol- laborationen, oder eher das, was davon übrig ist, finden: Eines seiner bekanntesten Werke „Pray for Portugal“ ist im Dezem- ber 2016 gar nicht mehr zu sehen: Stattdessen finden wir einige Me- ter vorher eine Wand, auf der das Baukonzept für einen neue Straße im Bezirk erläutert wird. Viele der mir aus dem Internet bekannten großen Bilder verschwinden ger- ade hinter einem Bauzaun, vor Nomens Bild steht Baumaterial und ein Container. Zum Vergleich ein Foto von Joao Rodriguez (2012): 8
Ich fühle mich fast persönlich beleidigt und bin überrascht, wie schnell ich eine emotionale Bindung zu den Bildern eines Künstlers aufgebaut habe. Auch das Bild mit Angela Merkel ist nicht vollständig zu sehen, allerdings scheint der wow-Effekt bei Markus relativ groß zu sein, als wir um den Bauzaun herumlaufen und vor der Riesen-Angela-Karikatur stehen. Er zieht seine Kamera und stellt fest: „Na, das muss ich aber doch mal fotografieren.“ Ich überlege: Funktioniert so europäische Identifikation? Auf dem Rückweg frage ich Markus, ob er glaubt, ob sich eigentlich nicht nur die Tourist*innen für die Kunstwerke interessieren, sondern auch die Lissaboner*innen. In den letzten Tagen war ich immer die Einzige, die staunend vor den vielen verschiedenen Kunst- werken in der Stadt stehen geblieben ist. Als ich einmal eine Frau auf der Straße anspreche, wirkt sie eher irritiert und läuft weiter. Nach dieser Begegnung bin ich irritiert. Markus glaubt, es sei gerade in Zeiten der Schuldenkrise sicherlich eine intelligente Idee der Stadt gewesen, mit Promotion von Street Art „ein junges, hippes Publikum“ anzuziehen. Ich fühle mich unweigerlich angesprochen, entgegne, dass nicht alle sozialkritischen Kunstwerke die öffentlichen Autoritäten überlebt hätten und erzähle von Nomens entferntem Graffiti. Markus wundert sich und meint: „Aber das mit Angela Merkel lassen sie da?“ Ich stelle fest: Markus und ich identifizieren uns beide unweigerlich mit dem Bild, auf dem die deutsche Kanzlerin dargestellt wird. Markus zumindest findet das mit der politischen Street Art ganz schön spannend und beschließt, sich bei seiner Rückkehr in seinem derzeitigen Wohnort auch mal damit auseinanderzusetzen. Dann erzählt er mir noch von einem Projekt in der Stadt, in der er aufgewachsen ist: Dort hatte die Stadtverwaltung ein baufälliges Gebäude zwei Monate vor Abriss an Graffiti-Künstler*innen freigegeben. Viele in der Stadt fanden die entstandenen Kunstwerke toll. Das Gebäude wurde dennoch nach Ablauf der Frist abgeris- sen und neu aufgebaut, Markus wünschte sich die Kunstwerke zurück. Ich bin irgendwie empört: So funktioniert das also? Solange das Gebäude zu hässlich ist, um es in bestehen- dem Zustand zu belassen, darf es künstlerisch genutzt werden, sobald die Möglichkeit zum Abriss oder zur Restaurierung gegeben ist, verschwindet die Arbeit der Künstler*innen wieder? Und haben Markus und ich nicht gerade die gleiche Erfahrung gemacht? Immerhin wird in Lissabon an der „Wall of Fame“ gerade auch gebaut. Ich beschließe, dieses Thema mit in meine zukünftigen Begegnungen zu nehmen. 9
You can learn so much from the streets about what’s going on in the neigh- bourhood - Vero (o.l. nach u.r.: Street Art Führung, Mural von Andrea Tarli, Mural von Mifa, das an Angela Merkel erinnert, Mural von unbekannt) 4. (Politische) Street Art, Graffiti, und Urban Art als Add on oder: Die Frage nach Vergänglichkeit Die Auswirkungen der Schuldenkrise machen sich auch in den Stadtbildern bemerkbar: In Lissabon stehen viele Häuser leer, das Geld für Instandhaltungen fehlt. Bei der Recherche zu politischer Kunst in Portugal lese ich im Vorfeld meiner Reise, dass die Stadt Lissabon ein interessantes Modell verfolgt: Sie hat vor einigen Jahren bestimmte Flächen explizit für Straßenkünstler*innen freigegeben. Eines der Ziele ist dabei, den „Wildwuchs“ an Straßenkunst in geordnete Bahnen zu lenken (Greenality 2014). Dieser Prozess begann 2008 in Zusammenarbeit mit Künstler*innen, mittlerweile gibt es in Lissabons Innenstadt Orte wie die „Urban Art Gallery“, wo bemalte Flächen im Stadtzentrum abends sogar an- geleuchtet werden. Gleich an meinem ersten Abend finde ich zufällig eine der Straßen mit mehreren Kunstwerken, ohne absichtlich danach gesucht zu haben. Im Laufe meiner Tage in Lissabon beginne ich mich zu fragen, ob die Stadt diese öffentliche Kunst vielleicht sogar beginnt, als Alternative zu notwendigen Renovierungs- und Instandhaltungsarbeiten zu nutzen. Bevor ich meine Reise beginne, geht eine der ersten Nachrichten, die ich versende, an eine Gruppe, die in Lissabon sogenannte „Street Art Tours“ anbietet. Eigentlich will ich nur ein paar Tips und Namen bekommen - und erhalte sofort eine Antwort, in der mir unter an- derem Andrea Tarli genannt wird, der in diesem Jahr während eines Kunstfestivals in Liss- abon ein Kunstwerk als Kritik zum Umgang mit Geflüchteten in Europa angefertigt hat. Ich kontaktiere ihn und erhalte - ebenso rasch wie von Nomen - eine Antwort: Leider ist Andrea Tarli während meines Reisezeitraums nicht in Lissabon. Stattdessen beschließe ich an meinem vorletzten Tag, an der offiziellen Tour durch Lissabon teilzunehmen und die Gele- genheit zu nutzen, um meine angestauten Fragen loszuwerden. Ich bin pünktlich am angegebenen Treffpunkt im Stadtzentrum. Von der offiziellen Führung ist bislang nichts zu sehen. Dafür fallen mir sofort zwei junge Pärchen auf, Marke: Hip. Ich spreche sie an und tatsächlich wollen die vier an der gleichen Tour teilnehmen wie ich. Schnell wird die Gruppe 10
größer, schließlich taucht Vero auf, die uns in den nächsten drei Stunden mit einem etwas anderen Blick durch die Stadt führen wird. Die Vorstellungsrunde zeigt: Wir sind alle Eu- ropäer*innen, England, Italien, Niederlande und Deutschland. Vero selbst kam vor drei Jahren ebenfalls aus den Niederlanden, um ihr Studium in Anthropologie an der Uni in Liss- abon zu beginnen. Sie hat vorher bereits mit öffentlicher Kunst als Mittel zur Veränderung sozial benachteiligter Stadtteile gearbeitet und kommt in Lissabon durch ein Freiwilligenpro- jekt mit Künstler*innen in Kontakt. Mittlerweile fokussiert sich auch ihr Forschungsinteresse auf Street Art. Während des Rundgangs zeigt sich ihr unglaublich breit gefächertes Wissen. Ich lerne: Meine kritische Perspektive, Street Art werde als eine Art „Übergangslösung“ für tieferliegende ökonomische, städtebauliche oder wirtschaftliche Probleme ausgenutzt, kann sie nicht teilen. Sie erklärt uns, dass Street Art ursprünglich aus dem Bereich der Graffiti- Kunst in den 1960ern / 70ern in Amerika entstanden ist. Mit Graffiti werden bis heute Kunstwerke bezeichnet, bei denen vor allem Schriftzüge (oftmals die Namen der Künstler*innen) an öffentliche Wände / Fahrzeuge angebracht werden, während Street Art insbesondere in den 90ern als eine Weiterentwicklung entstanden ist, und mit Bildern / Por- traits / Darstellungen arbeitet. Urban Art ist eine neuere Form, die insbesondere heute eine immer stärkere Rolle spielt. Vero meint, dies sei eine Form stärker „institutionalisierter“ Street Art, bei der öffentliche Kunstwerke durch Galerien oder Unternehmen (sogar Mi- crosoft hat ein Kunstwerk in Lissabon in Auftrag gegeben) angefragt und bezahlt werden. Graffiti-Kunst als solche ist aus dem Bewusstsein heraus entstanden, dass die Kunst früher oder später, oftmals nach wenigen Tagen, verschwinden wird - Vero macht immer wieder darauf aufmerksam und erklärt uns, dass es für Street Artists bis heute selbstverständlich ist, mit der Vergänglichkeit ihrer Kunst zu leben. Sie erwähnt das Kunstfestival aus dem let- zten Sommer: Während Künstler*innen, die hauptsächlich in Galerien ausstellen, ihre Werke mit Beendigung des Festivals wieder abbauten und mitnahmen, ließen die Street Artists ihre Werke, wo sie waren - im Bewusstsein, dass sie entweder mitgenommen oder übersprayed werden. Mir fällt eine Dokumentation über den wohl bekanntesten Street Artist Banksy ein, der oftmals mit dem „Verschwinden“ seiner Kunstwerke spielt. Und ich merke, dass ich einen stark „institutionalisierten“ Blick auf Street Art habe, während die Künstler*innen selb- st viel stärker mit dem Auftauchen und Verschwinden der eigenen Kunst spielen. Die letzten Tage hatte ich damit zugebracht, ein Kunstwerk von Nomen zu suchen, dass er vor einigen Jahren als Kritik an der portugiesischen Regierung angefertigt hatte, jetzt komme ich mir irgendwie lächerlich vor, weil es das Kunstwerk aller Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr gibt und ich es deshalb nicht finden konnte. Vero erzählt uns allerdings auch, dass sich fest- stellen lässt, je stärker die Künstler*innen in ihren Bildern und Schriftzügen Historie oder Themen aus der Nachbarschaft oder der Stadt aufgreifen, desto mehr werden sie dafür „respek- tiert“, sowohl von anderen Street Artists, als auch von den Anwohner*innen selbst. Insgesamt ist die Innenstadt von Lissabon relativ frei von Straßenkunst, abgesehen von der bereits erwähn- ten institutionalisierten „Urban Art Gallery.“ Vero berichtet, dass Street Art bis heute von vielen Menschen als „dirty“ empfunden wird. Gemein- sam mit anderen Menschen versucht sie gerade, in 11
einem Projekt dieses Image zu verändern und den Anwohner*innen eines Stadtteils klar zu machen, welche positive Kraft sich durch öffentliche Kunst entwickeln kann. Eines der ersten Werke, dass sie uns zeigt, ist bereits 2009 entstanden und gesellschaftlich so hoch angesehen, dass es sogar mehrfach aufgebessert wurde, wenn Farbe abzublättern drohte. Es ist für mich Ausdruck der sozialen Kraft, die politisch motivierte Kunst auslösen kann. Es zeigt die friedliche Nelkenrevolution von 1974 in Portugal, bei der es fast voll- ständig unblutig gelang, ein autoritäres Regime abzusetzen. Das Bild wurde absichtlich zur Beginn der Europäischen Krise angefertigt. Es findet sich im direkten Stadtzentrum Liss- abons, in Bairro Alto, in der Nähe vieler Kneipen und Cafés und sollte die Portu- gies*innen daran erinnern, was das Volk bereits vor vielen Jahren geschafft hatte und Kraft in der anstehenden schwierigen Zeit geben. Es erfüllte offenbar seinen Zweck, denn es ist bis heute an gleicher Stelle und sieht aus, als sei es erst vor wenigen Tagen fertig gestellt worden. Wenige Meter weiter zeigt Vero uns zwei Bilder vom französischen Street Artist Mifa. Und er ist wohl das beste Beispiel für europäis- chen „Austausch“ in der Street Art Szene: Er kam als Erasmus-Student nach Lissabon und hat ein Bild über den europaweit bekannten Fall der vermissten „Maddie“ angefertigt, das zweite erinnert stark an Angela Merkel. Die Schrift links neben dem Portrait spricht allerd- ings eher von der Vergänglichkeit von Beziehungen, Vero erzählt, es sei einer Ex-Freundin gewidmet. Insgesamt haben insbesondere junge französische Street Artists in den letzten Jahrzehnten die Szene in Portugal mitgeprägt. Zum Abschluss der Tour behalte ich: Wenn ich etwas über die sozial oder politisch vorherrschenden Themen erfahren möchte, sollte ich öffentlichen Kunstwerken auf der Straße mehr Beachtung schenken. Vero meint, wir sollten versuchen, auch in unserer Heimatstadt durch die Straßen zu laufen und Schriftzüge und Bilder an Gebäuden und Fahrzeugen zu betrachten. Es sei eine Eigenheit von Street Art, sich von der Umgebung und den vorherrschenden Themen inspirieren zu lassen. Ein Kunstwerk stünde nie für sich, sondern greife immer auch Inhalte auf, die in irgendeiner Weise gerade global oder lokal relevant seien. Und so, wie diese Themen mal stärker, mal weniger stark von Relevanz seien, so würden sich auch die Geschichten an den Wänden verändern. Ich habe schon eine neue Projektidee im Kopf: Welche verändernden Geschichten wohl eine einzige Wand, die für Street Art in einer Stadt genutzt wird, über die Jahre erzählt? 12
(o.l. nach rechts: Flyer der Initiative „Make Porto Podre Again“, Mauer in der Innenstadt Portos „Every Wall is a Statement“, Street Art „airBUYnBYE“ als Kritik an Airbnb, Street Art der feministis- chen Künstlerin BerriBlue) 5. Die Frage nach dem Einfluss: Wer oder was entscheidet über Street Art und welche Themen werden behandelt? - ein Treffen mit einem Kunst- geschichtsstudenten Vor Reiseantritt plane ich eigentlich, einen Stop in Faro im Süden des Landes einzulegen. Während meines Aufenthaltes in Lissabon erfahre ich, dass entgegen meiner Erwartung insbesondere die Hauptstadt und Porto, eine größere Stadt im Norden des Landes, in der Street Art Szene bekannt sind. Ich entscheide mich deshalb, meinen Aufenthalt auf die Mitte und den Norden des Landes zu beschränken. Bevor ich nach Porto reise, recher- chiere ich von Lissabon aus zu Street Art in Porto. Ich habe Email-Kontakt mit Maismenos, dem bekanntesten Street Artist aus Portugal, der mit politischen und sozialen Statements arbeitet. Er setzt ein Treffen in Porto für das kommende Wochenende in Aussicht. Als ich in Porto ankomme und mich noch einmal bei ihm melde, um einen genauen Tag und eine Uhrzeit fest zu machen, erhalte ich während der gesamten Dauer meines Aufenthaltes in Portugal leider keine Antwort mehr von ihm. Eher zufällig ergibt sich stattdessen eine an- dere Begegnung: In einem Internetforum finde ich die Kontaktdaten von Joao, einem jun- gen Kunstgeschichtsstudenten, der aus Porto kommt und an Street Art interessiert ist. Ich schreibe ihm eine Nachricht, berichte ihm von meinem Projekt und wir verabreden uns für einen Vormittag, damit wir gemeinsam durch Portos Straßen laufen und ich ihm ein paar Fragen stellen kann. Nach etwa vier Stunden in Portos Straßen habe ich das Gefühl, jeden Winkel der Stadt, jede Hauswand, jedes Graffiti, jedes Bild und jeden Tag gesehen zu haben. Das Bild, das Joao mir vermittelt, ist ein anderes, als das aus der Hauptstadt: Er nimmt sich sehr viel Zeit, um mir verschiedene Interventionen zu zeigen und mir zu erklären, dass in Porto gerade vor 13
allem zu den Problemen des aufkommenden Tourismus gearbeitet wird. Eine Gruppe von Künstler*innen hat überall in der Stadt Flyer verteilt, auf denen steht: „Make Porto podre again“, also: „Mach Porto wieder arm.“ Er berichtet davon, wie Internetplattformen wie Airbnb die Einwohner*innen Portos zunehmend aus dem Stadtzentrum verdrängen, wie Preise in Bars und Restaurants steigen, wie Menschen, die in der Tourismusbranche arbeit- en, unter den schlechten Arbeitsbedingungen leiden und wie die Gruppe zu einem Treffen animieren will, bei dem alle Menschen, die von den negativen Auswirkungen des Tourismus betroffen sind, zusammen kommen, um gemeinsame Schritte einleiten zu können. Was ich außerdem lerne: Während ich in Lissabon eher eine Abneigung der Bürger*innen gegen Street Art aus den Begegnungen heraushören konnte, erklärt mir Joao, dass in Porto vor einigen Jahren die Bürger*innen selbst dafür kämpften, dass Kunstwerke auf den Straßen erlaubt werden. Nachdem einer der ehemaligen Bürgermeister angeordnet hatte, ein größeres Projekt entfernen zu lassen, hatten sich die Anwohner*innen beschwert und mit- geteilt, ihnen habe das Kunstwerk eigentlich ganz gut gefallen. Der derzeit amtierende Bürgermeister steht Straßenkunst offener gegenüber: Ich erfahre, dass es in Porto sogar eine offizielle Liste gibt, auf der Namen von Street Artists und ihren Kunstwerken stehen, die nicht entfernt werden sollen. Als ich nachfrage, wie genau denn entschieden wird, wer einen Platz auf dieser Liste verdient, zuckt Joao die Schultern. Er erklärt, dass dieses Ver- fahren keiner offiziellen Regelung folgt, sondern, dass im Prinzip jede Person, die möchte, mit einem Vorschlag an die Stadtverwaltung herantreten kann, in dem eine Skizze und ein möglicher Ort für das Bild erklärt werden. Wenn die Verwaltung ihr ok gibt, wird die Street Art in Zukunft (zumindest nicht von der Stadtverwaltung) entfernt werden. Natürlich gibt es auch Personen, die zwar immer noch auf Antwort warten, ihr Bild allerdings dennoch auf der Straße veröffentlichen. Bereits an dem von Joao vorgeschlagenen Treffpunkt entdecke ich Plakate von Maismenos, auf denen steht „Vota“, also das portugiesische Wort für Abstimmung. Auch während unseres Rundgangs durch die Stadt zeigt Joao mir immer wieder Street art des portugiesischen Künstlers und erzählt, dass er selbst schon länger ein Interview mit ihm machen will, bislang aber keine Möglichkeit dazu hatte. Maismenos äußert sich mit seinen Kunstwerken in Porto vor allem kritisch zu Themen wie Touris- mus, Migration und Politikverdrossenheit, aber auch zur Korrup- tion von Politiker*innen. Am beeindruckendsten finde ich ein Haus gleich hinter dem Bahnhof. Die komplette Hauswand ist mit schwarzen Kacheln besetzt, auf denen Bilder, Wörter und ganze Sätze zu Porto und Portu- gal eingeritzt sind. Maismenos hat diese Arbeit im Auftrag angefertigt und die Kacheln an verschiedenste Menschen in Porto verteilt und sie gefragt, was sie mit der Stadt assozi- ieren. Ich bin davon beeindruckt und finde, es ist eine gute Idee, mit Street Art die 14
Bürger*innen der Stadt abzuholen und sie teilhaben zu lassen. Joao erzählt auch von einem Projekt, bei dem Maismenos um ein Gebäude herum einen Stacheldraht mit Nelkenblüten angebracht hat: Er wollte sich damit kritisch zur europäischen Flüchtlingspolitik äußern und gleichzeitig an die friedliche Nelkenrevolution in Portugal erinnern. Ich merke: Das Bild der Nelkenblüten ist in der Regel ein klares Kennzeichen für politische oder sozialkritische Äußerungen in Portugals Street Art Szene. Auch ein wiederkehrendes Moment ist die Arbeit von der polnischen Street Art Künstlerin Berri Blue. Joao ist ein Fan von ihr und seine Begeisterung schwappt auf mich über: Sie arbeitet hauptsächlich zu Themen wie Gender und Feminismus und hat überall in der Stadt ihre Kunst hinterlassen. Auch in den darauffolgenden Tagen fallen mir immer wieder neue kleine Kunstwerke auf. Ich stelle fest: Europa und das freie Reisen eröffnet insbesondere jungen Menschen aus der Street Art Szene die Möglichkeit, ihre Kunst und ihre Äußerungen über nationale Grenzen hinweg zu veröffentlichen und zu neuen Dialogen innerhalb der Szene, aber auch innerhalb der Städte, in die sie reisen, anzuregen. Darüber hatte ich zu Beginn meines Aufenthaltes in Portugal kaum nachgedacht. Ernüchternd hingegen sind meine Erwartungen gegenüber dem Themenfeld „Europa“. Auf meine Frage, ob er glaubt, die Künstler*innen in Porto würden auch Themen, die vor allem als Ausdruck einer europäischen Identität gelten könnten, schüttelt er den Kopf. Anderer- seits stellen wir im weiteren Gespräch fest, dass ja eben genau das: Die Auswirkungen, die für Porto lokal zu spüren sind, nämlich zunehmender Tourismus, steigende Preise und schlechte Arbeitsbedingungen insbesondere für die junge Generation mit der europäischen Krise zusammenhängen. Joao zumindest glaubt fest daran, dass die öffentliche Straßenkunst das Potenzial dazu hat, Veränderungen anzuregen. Auch er macht mich da- rauf aufmerksam, dass sie als Spiegel der Gesellschaft gesehen werden kann und dass insbesondere in Porto die Kommunikation zwischen Bürger*innen und Street Artists zu gelingen scheint. Allerdings ist das auch abhängig vom Wohlwollen der jeweiligen Stadtverwaltung und des regierenden Bürgermeisters: Die politische Seite scheint erhe- blichen Einfluss zu haben auf die Dynamiken, die sich rund um Street Art in einer Stadt oder einem Bezirk entwickeln. 6. Zusammenfassung, Kritik und Fazit Auf meiner Reise durch Portugal wollte ich der Frage nachgehen, inwiefern politische Street Art Ausdruck der europäischen Identität junger Portugiesen und Portugiesinnen ist. Dabei habe ich Street Art, die in Bildern oder Wörtern EU-relevante Themen aufgreift, als Aus- druck einer Identifikation mit Europa gewertet. Wie ich feststellen konnte, gab es insbeson- dere in Lissabon um die kritischen Jahre der Wirtschaftskrise (2011 beginnend) ein ver- mehrtes Positionieren portugiesischer Street Artists, hier sei insbesondere Nomen genannt. Er hatte tatsächlich zum Ziel, mit seiner Street Art den Diskurs über die europäische Spar- politik und die Auswirkungen auf das portugiesische Volk aufzugreifen und die Bürger*innen zu friedlichen Protesten zu motivieren. Mehrere Kunstwerke in Lissabon zeugen von der Verbindung, die in diesen Jahren zwischen der als Erfolg verbuchten friedlichen Nelkenrev- 15
olution in den 1970ern zur Abschaffung der Diktatur und dem Aufruf zu Protesten während der Wirtschaftskrise gezogen werden. Als ich im Internet noch einmal die geschichtlichen Ereignisse Portugals recherchieren will, finde ich einen Artikel in der Zeit, verfasst von einem Portugiesen im Jahr 2014. Er schlägt die Brücke zu Nelkenrevolution und der heutigen Zeit und Deutschland spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle für ihn: Die Sozialistische Partei Portugal soll bereits 1973 vor Beginn der Nelkenrevolution vom deutschen Bun- deskanzler Willy Brandt Geld erhalten haben, um Kommunismus zu verhindern und den Weg zum Eintritt Portugals in die Europäische Gemeinschaft zu ebnen (Cascais 2014). Tat- sächlich sieht Cascais aber vor allem den Verlust der Übersee-Kolonien als einen Mitgrund, der Portugal in eine schwere Krise zu stürzen drohte. Die Verbindung zu heute lässt sich leicht ziehen: „Einige glauben heute, Portugal sei auf diesem Weg wieder in einer Diktatur gelandet: in der Fi- nanzdiktatur der Troika aus EZB, IWF und EU-Kommission. Das Land ist hoch verschuldet, die Jugendarbeitslosigkeit alarmierend, und Kürzungen der Sozialausgaben heizen die Unzufrieden- heit noch weiter an.“ (Cascais 2014). Das Aufgreifen der Nelken-Symbolik in vielen größeren und kleineren Street Art Arbeiten in Lissabon und Porto macht also durchaus aus heutiger Sicht betrachtet Sinn. Street Artists wie Nomen und Maismenos greifen diese Rhetorik auf, um die Energie von damals ins Heute zu übertragen. Insgesamt habe ich aber vor allem gelernt: Ich verstehe Street Art als zu „institutionalisiert.“ Es geht Street Artists nicht darum, ihre Kunstwerke auf der Straße jahrelang einem Publikum bereit zu stellen, sie sind sich der Vergänglichkeit ihrer Arbeiten bewusst und spielen damit sogar teilweise. Ich denke, dass gerade Street Artists und ihre Kunstwerke an öffentlich zugänglichen Plätzen als eine Art „Barometer“ für die derzeit vorherrschenden öffentlich relevanten Themen gelten können. So habe ich in Porto natür- lich versucht, Street Art zu finden, die europäische Themen aufgreift, während mir Joao erk- lärt hat, dass die einsetzende Gentrifizierung und die negativen Auswirkungen des Touris- mus gerade viel präsenter für die Bevölkerung sind und viele der Street Artists daher Aus- sagen dazu treffen. Insgesamt war zunächst die erste Kontaktaufnahme mit Künstler*innen nicht problematisch. Allerdings hat sich während meines Aufenthaltes herausgestellt, dass tatsächliche Treffen dann letztlich schwierig umzusetzen sind: Andrea Tarli war während meines Aufenthaltes beruflich nicht in Portugal und Maismenos hat sich trotz mehrmaliger Nachfrage nicht mehr gemeldet. Insbesondere ein Treffen mit Maismenos wäre für meine Forschungsfrage sehr hilfreich gewesen, da er in seiner Arbeit quasi ausschließlich politisch oder sozialkritisch motivierte Aussagen trifft. Was mir außerdem nicht recht gelingen wollte, war die Kontak- taufnahme mit Personen auf der Straße: Ich habe zwar Menschen getroffen, mit denen ich über Street Art sprechen konnte, allerdings nehme ich aus meiner Perspektive wahr, dass bereits ein Interesse beziehungsweise eine Offenheit für diese Form der Kunst da sein muss, um darüber ins Gespräch zu kommen. Mir ist es hingegen nicht gelungen, mit Men- schen zu sprechen, die sozusagen „direkt“ von der Street Art „betroffen“ sind, nämlich Per- sonen, die beispielsweise in der Nähe eines Kunstwerkes leben. Lediglich einmal bin ich kurz mit einem Kioskbesitzer in der Nähe eines Wandbildes in Lissabon ins Gespräch 16
gekommen, der mir berichtet hat, ihm sei das Bild noch gar nicht aufgefallen. Allerdings kann diese Aussage natürlich auch „Ergebnis“ gewertet werden. Dennoch kann ich abschließend festhalten, dass bestimmte (nicht jede!) Street Art in Portu- gal durchaus als Ausdruck europäischer Identität gewertet werden kann. Sie ist allerdings nicht nur das: Sie ist Stimmungsbarometer für die Diskurse innerhalb einer Gruppe, egal ob lokal, regional oder global motiviert. 17
Literaturverzeichnis Cascais, Antonio. 2014. „Ein Mythos verblasst. Nelkenrevolution in Portugal.“ In: Die Zeit, online abrufbar unter http://www.zeit.de/2014/18/portugal-nelkenrevolution, zuletzt eingesehen am 02.01.2017. Die Welt. 2011. „Portugal lehnt Sparpaket ab - Premier tritt zurück“, online abrufbar unter https:// www.welt.de/wirtschaft/article12939417/Portugal-lehnt-Sparpaket-ab-Premier-tritt-zurueck.html, zuletzt eingesehen am 30.12.2016. Greenality. 2014. „Street Art in Lissabon: Eine Stadt wird zum Freilichtmuseum“, online abrufbar unter http://www.greenality-movement.de/street-art-in-lissabon-eine-stadt-wird-zum-freilichtmuse- um.html, zuletzt eingesehen am 30.12.2016. Huffington Post. 2014. „Exploring Lisbon As A Street Art Tourist“, online abrufbar unter http:// www.huffingtonpost.com/jaime-rojo-steven-harrington/lisbon-street-art_b_5611789.html, zuletzt eingesehen am 02.01.2017. Lomography. 2013. „Lisbon Graffiti: Amoreiras Wall of Fame“, online abrufbar unter https://www.lo- mography.com/magazine/225165-lisbon-graffiti-amoreiras-wall-of-fame, zuletzt eingesehen am 30.12.2016. Movingroovin. 2015. „Street Art in Lissabon - eine Foto-Reise durch die Straßen der Stadt.“ Online abrufbar unter https://movingroovin.de/street-art-in-lissabon/, zuletzt eingesehen am 02.01.2017. Portugalresident. 2016. „Former Minister Miguel Relvas stripped of university degree“, online abruf- bar unter http://portugalresident.com/former-minister-miguel-relvas-stripped-of-university-degree, zuletzt eingesehen am 30.12.2016. Spiegel. 2014. „Portugals riskante Freiheit“, online abrufbar unter http://www.spiegel.de/wirtschaft/ soziales/euro-krise-in-portugal-wirtschaft-nach-rettungsschirm-a-969875.html, zuletzt eingesehen am 30.12.2016. Statista. 2016. Online abrufbar unter www.statista.com, zuletzt eingesehen am 30.12.2016. Tageszeitung. 2013. „Portugal beschließt Sparpaket“, online abrufbar unter http://www.taz.de/! 5054063/, zuletzt eingesehen am 30.12.2016. Wirtschaft und Schule. 2014. „Die Chronik der Krisen: Von 2006 bis 2014“, online abrufbar unter http://www.wirtschaftundschule.de/aktuelle-themen/globalisierung-europa/schuldenkrise-der-euro- laender/die-chronik-der-krisen-von-2006-bis-2014/, zuletzt eingesehen am 30.12.2016. Wittrock, Philipp. 2012. „Zum Teufel, Frau Merkel! Vielen Dank, Frau Merkel!“. In: SpiegelOnline, on- line abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/portugal-protest-gegen-den-besuch-von- merkel-a-866796.html, zuletzt eingesehen am 02.01.2017. 18
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