Politische Street Art in Portugal als Ausdruck der europäischen Identität einer jungen Generation

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Politische Street Art in Portugal als Ausdruck der europäischen Identität einer jungen Generation
Reisebericht von Liane Schäfer
                                                 Reisezeitraum: 08.12. - 28.12. 2016
               Klassisches Reisestipendium der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa

 Politische Street Art in Portugal als
Ausdruck der europäischen Identität
            einer jungen Generation

 („Angela Merkels puppets“, Lissabon 2012, Kollaboration von Nomen, Slap und Kurtz)

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Inhaltsverzeichnis

1. Ziele der Reise: Street Art mit politischen oder sozialen Inhalten oder: Ist Street Art ein
Ausdruck europäischer Identität in Portugal? .......................................................................3
2. Vorbereitungen und geplante Umsetzung der Reise ..........................................................4
3. Die Anfänge: Die Europäische Schuldenkrise, Nomens Street Art als Antwort und die
Frage: Was bleibt heute? .......................................................................................................5
4. (Politische) Street Art, Graffiti, und Urban Art als Add on oder: Die Frage nach
Vergänglichkeit .................................................................................................................... 10
5. Die Frage nach dem Einfluss: Wer oder was entscheidet über Street Art und welche
Themen werden behandelt? - ein Treffen mit einem Kunstgeschichtsstudenten ................13
6. Zusammenfassung, Kritik und Fazit ................................................................................. 15
Literaturverzeichnis ..............................................................................................................18

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1. Ziele der Reise: Street Art mit politischen oder
     sozialen Inhalten oder: Ist Street Art ein Ausdruck
                    europäischer Identität in Portugal?

Street Art, Urban Art, Graffiti - oder auch: Straßenkunst - wird von vielen Bürger*innen
weltweit häufig nicht als „Kunst“ verstanden, sondern als Verschandelung öffentlicher oder
privater Güter - seien es Fahrzeuge, Hauswände, oder gar ganze Straßenzüge, die von
Menschen als Fläche benutzt werden, um Bilder oder Schriftzüge auf öffentlichem Raum -
in der Regel ohne Erlaubnis - anzubringen. Persönlich war ich lange Zeit nicht besonders an
Street Art interessiert. Im Sommer 2014 allerdings bin ich in Jamaica mit der politischen
und sozialen Dimension von Street Art in Berührung gekommen, als ich von dem Projekt
„Paint Jamaica“ erfahren habe - junge Künstler*innen verändern dort seit längerem die
Straßenzüge einer der sozial benachteiligten Stadtteile der Hauptstadt Kingston in Down-
town. Sie treten dabei in Kontakt mit den Bewohner*innen und wollen mit großen Bildern,
die selbstverständlich für alle kostenlos zugänglich sind, das Straßenbild und damit auch
das Image des Stadtteils verändern. Damals habe ich mich zum ersten Mal gefragt: Kann
das funktionieren? Und wenn ja, wirkt öffentlich zugängliche Straßenkunst nicht nur als
Ausdruck, sondern als Katalysator für soziale und politische Prozesse?

Portugal ist eines der von der Europäischen Wirtschaftskrise am stärksten betroffenen Län-
der (Cascais 2014). Im Jahr 2012 regte sich öffentlich sichtbarer Widerstand gegen die von
der EU auferlegte Sparpolitik der portugiesischen Regierung. Lissabons Straßen waren
regelmäßig Schauplatz für Demonstrationen, in denen sich auch Wut gegen die deutsche
Kanzlerin Angela Merkel entlud (Wittrock 2012). Gleichzeitig ist Portugal seit einigen Jahren
besonders in der europäischen Street Art Szene ein Vorreiter: Im Internet lassen sich zahlre-
iche Belege finden für ein gestiegenes internationales Interesse (Huffington Post 2014;
Movingroovin 2015). Mit meiner Reise nach Portugal will ich daher der Frage nachgehen,
inwiefern politische Street Art Ausdruck der europäischen Identität junger Portugiesen und
Portugiesinnen ist.

Mir geht es weniger um die Begriffe „Identität“ oder „Identifikation“, ich möchte stattdessen
durch Gespräche und eigene Begehungen lernen und herausfinden, wie Street Art im
Gegensatz zur allgemeinen Annahme von Verschandelung öffentlicher oder privater
Gebäude aus anderem Blickwinkel ganz im Gegenteil als Beteiligung von Menschen an
Themen und Problemen in Portugal betrachtet werden können und ob sie damit auch öf-
fentliche Diskurse anregen (könnten). Dabei will ich mich vor allem auf Street Art
fokussieren, die in ihrer Botschaft eine politische oder sozialkritische Aussage im Hinblick
auf EU-relevante Themen trifft. Die Anfertigung eines solchen Kunstwerks in öffentlichem
Raum werte ich aus meiner Perspektive als eine aktive Beteiligung des oder der Künstler*in
an öffentlichen politischen und / oder sozialen Debatten.

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2. Vorbereitungen und geplante Umsetzung der
                                                Reise
Blogeinträge, Fotos, Internetseiten, Zeitungsartikel - im Vorfeld meiner Reise stelle ich die
schiere Flut an Informationen fest, die das Internet zu Street Art in Portugal bereit hält. Ich
finde Einträge von Blogger*innen, die als Tourist*innen aufgrund ihrer Leidenschaft für
Street Art in die Hauptstadt Lissabon reisen, aber auch Seiten, in denen die angeblich „lib-
erale“ Politik der Hauptstadt gegenüber Street Artists in den letzten Jahren seit der Krise
gestiegen ist - sogar einen Hinweis mit Verknüpfung zur Wirtschaftskrise: Street Art kann
auch „günstige“ Alternative für renovierungsbedürftige Gebäude in Portugal sein (Movin-
grooving 2015).

Zur Vorbereitung der Reise kontaktiere ich einzelne Künstler, deren politisch oder sozialkri-
tisch motivierte Kunst mir bereits im Vorfeld durch Internetrecherchen auffällt. Welche Per-
sonen dies sind, wird in den folgenden Kapiteln ersichtlich werden. Für meinen Aufenthalt in
Portugal plane ich drei Stationen ein: Lissabon, das nicht nur Landes- sondern auch Street
Art-Hauptstadt Portugals sein soll, das im Norden des Landes gelegene Porto, in dem viele
Street Artists derzeit leben oder gelebt haben, sowie Faro im Süden als eines der touristisch
am stärksten geprägten Gegenden in Portugal. Wie ich auch später noch beschreiben
werde, stelle ich während meines Aufenthaltes fest, dass eine Reise nach Faro für mein
gewähltes Thema nicht hilfreich ist, weshalb ich diese Station letztlich nicht besuche.
Während ich zu Beginn noch überlege, vorgefertigte Leitfragen in Gesprächen mit Personen
„abzuarbeiten“, stelle ich bei meinem Treffen mit einem Künstler schnell fest, dass sich in
Einzelgesprächen unterschiedliche Schwerpunkte je nach Hintergrund und Perspektive des
oder der Gesprächspartner*in als fruchtbarer herausstellen und wie hilfreich andererseits
„Begehungen“ des Feldes, also der Gegenden, in denen sich Street Art finden lässt, sein
können. Die folgenden Kapitel richten sich daher schwerpunktmäßig je nach den Themen,
die mit den einzelnen Gesprächspartner*innen besprochen wurden. Der Reisebericht ist
weniger chronologisch als stärker thematisch an der Forschungsfrage orientiert aufgebaut.

 Im Vorfeld beschließe ich außerdem, nicht nur mit Künstler*innen zu sprechen, sondern
nach Möglichkeit auch mit Bürger*innen Portugals, die ich auf der Straße ansprechen
möchte, ins Gespräch zu kommen, um herauszufinden, ob sie die Street Art wahrnehmen
und welchen Einfluss sie ausüben kann. Während meiner Reise versuche ich mehrmals,
Personen anzusprechen, die einzigen, mit denen ich einige Sätze zu Street Art wechsle,
sind allerdings Tourist*innen, die ich entweder durch Street Art oder zufällig kennen lerne
und denen ich von meinem Projekt erzähle. Ich stelle fest, dass „Street Art“ offenbar entge-
gen meiner Erwartung noch lange nicht im „Mainstream“ angekommen ist. Allerdings wird
sich im Folgenden zeigen, wie insbesondere die Einwohner*innen der Städte Lissabon und
Porto einen unterschiedlichen Umgang mit Street Art pflegen.

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„You know, the
   problem is: No-
    body wants to
   buy this [social
 intervention art]“
- Nomen

  (o.l. nach u.r.: „Angela Merkel puppets“ in Lissabon, Nomens’ Auto mit Selbstportrait in Sassoeiros, Besucher*innen in seiner
 Galerie, Nomen bei der Buchvorstellung seiner Biographie)

         3. Die Anfänge: Die Europäische Schuldenkrise,
       Nomens Street Art als Antwort und die Frage: Was
                                           bleibt heute?
 Bei einer meiner ersten google-Bilder-Recherchen zu politischer Street Art in Portugal finde
 ich ein Foto von - unverkennbar - Angela Merkel. Das Bild soll sich in Lissabon im Norden
 der Stadt im Stadtteil Amoreiras befinden, etliche Blogger*innen haben schon vor mir den
 Weg dorthin gemacht und berichten im Internet von der „Wall of Fame“, einem „Open Air
 Art Museum“, das seit 1995 von Künstler*innen genutzt wird. Angeblich standen die Wände
 in der Nähe eines Shopping Centers aber auch schon vor den neunziger Jahren bereit, um
 insbesondere auch politische Aussagen durch Graffitis zu präsentieren (Lomography 2013).
 Heute ist die Wall of Fame offiziell zur Nutzung von Straßenkunst von der Stadt freigegeben.
 Das Bild mit dem Titel „Angela Merkels puppets“ soll eine Kollaboration dreier portugiesis-
 cher Graffiti Artists sein: Nomen, Slap und Kurtz. Ich stelle fest: Es war nicht Nomens letzte
 Aussage zur europäischen Schuldenkrise und dem Versagen der Politik und beschließe
 noch vor meiner Abreise, ihm eine Mail zu schreiben, um ihn in Portugal zu treffen.

 Ich habe Glück: Nomen lädt mich zu der Veröffentlichung seiner Biographie in seine Galerie
 ein. Noch bevor ich das Bild mit der deutschen Kanzlerin im Original sehe, mache ich mich
 von Lissabon aus mit dem Zug zunächst auf den Weg nach Oeiras, eine Kleinstadt am
 Meer. Die Strecke zwischen Lissabon und Oeiras ist voll von Graffitis. Ich entdecke entlang
 der Bahnschienen etliche Schriftzüge und Tags, auch eines von Nomen ist dabei. In Oeiras
 nehme ich ein Taxi, um den Berg hinauf nach Sassoeiros zu kommen. Ich bin zu früh:
 Nomen ist noch mit den Vorbereitungen zur Eröffnung beschäftigt, ich nutze die Zeit und
 schaue mich um. Nomen wohnt mit seiner Familie in der Kleinstadt in der Nähe von Liss-
 abon. Die Galerie ist ein leergeräumtes Gebäude in einer Straße, die eher nach ruhigem
 Vorstadtidyll statt nach sozialkritischer Straßenkunst aussieht, das Restaurant an der
 Straßenecke wirbt draußen mit einem Bild von - ich beginne, die Handschrift des Künstlers

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zu erkennen - Nomen. Vor der Galerie steht ein Kleintransporter mit aufgespraytem Selbst-
portrait, es riecht nach Lack und Metall. Die Gemälde innen stehen zum Verkauf. „Politisch“
ist davon keines - die meisten zeigen Portraits von Frauen und heißen zum Beispiel „African
Beauty“. Ich merke, wie ich versuche, das Bild aus dem Internet mit dem Künstler, der vor
mir steht in Einklang zu bringen und freue mich über einen Spruch auf einer der Wände: „It’s
a never ending game“ - vielleicht ist damit die Schuldenkrise in Europa gemeint? Nach
meinem Gespräch mit Nomen traue ich mich nicht, danach zu fragen - nachdem die ersten
Gäste eingetrudelt sind, kommt er auf mich zu und erklärt fast entschuldigend, dass ich hier
vergeblich politische Street Art suche. Er habe feststellen müssen, dass sich diese Form
von Kunst nicht verkaufen ließe - er habe zwar mit den Bildern in Lissabon national und in-
ternational für Aufmerksamkeit gesorgt, letztlich wollen die Menschen aber „paintings with
sunsets and dolphins“ (Nomen) in ihren Wohnzimmern. Ich merke, dass auch ein Graffiti
Artist morgens überlegen muss, wovon abends das Essen bezahlt wird und blättere ver-
legen in seinem Buch. Er erzählt, dass er sich ungern auf eine bestimmte Richtung in der
Kunst festlegen lässt und deshalb im Laufe der Jahre auch häufiger den Künstlernamen
gewechselt hat. Auf der letzten Seite seines Buches steht „Im a person, not a brand.“ Ich
frage mich, ob er sich von mir „gebrandet“ vorkommt - schließlich habe ich in meiner ersten
Kontaktmail explizit nach den politischen Werken gefragt und merke, dass ich tatsächlich
weniger am Rest der Arbeiten interessiert bin. Nomen hat nie eine „klassische“ Ausbildung
in Kunst absolviert. 1989 begann sein Weg als Graffiti Artist mit illegalen Tags auf Zügen,
heute ist er international bekannt, wurde zu Kunstfestivals eingeladen und fertigt Kunst-
werke auch auf Nachfrage an.

Im Jahr 2010 veranlasste die Europäische Schuldenkrise auch die portugiesische
Regierung zum Abschluss eines Sparpaketes mit der Europäischen Union, Bürger*innen in
Lissabon demonstrierten dagegen (Wirtschaft und Schule 2014). 2011 hatte die Opposition
dem damaligen Ministerpräsidenten José Socrates zunächst die Billigung des Sparpaketes
verwehrt und damit seinen Rücktritt eingeläutet (Die Welt 2011). Letztlich war der Abschluss
eines Sparpakets nicht mehr abzuwenden: Im gleichen Jahr einigten sich die verant-
wortlichen EU-Institutionen, der IWF und Portugal Schuldenkredite in Höhe von insgesamt
78 Milliarden Euro auszuzahlen, im Gegenzug verpflichtete sich Portugal unter dem neuen
Premierminister Pedro Passos Coelho zur Einleitung erheblicher Sparmaßnahmen (taz
2013). 2014 gelang es Portugal, aus dem Maßnahmenpaket auszusteigen. Was bleibt und
anhält: Die Folgen der Sparmaßnahmen. Portugal erhöhte unter anderem das Rentenalter,
führte eine Sonderabgabe von 3,5 Prozent auf alle Löhne ein und ließ staatliche Un-
ternehmen privatisieren (taz 2013). Seit 2014 ist Portugal nicht mehr Teil des europäischen
Hilfspakets und damit auf den internationalen Finanzmärkten wieder eigenständig (Spiegel
2014). Die Probleme sind damit nicht automatisch gelöst. Die Jugendarbeitslosenquote (15-
24jährige) lag im Oktober diesen Jahres bei 28,9 Prozent, Portugal liegt damit auf dem fün-
fthöchsten Platz EU-weit. Insgesamt liegt die Arbeitslosenquote 2016 mit 10,8 Prozent
einen Prozentpunkt über dem EU-weiten Durchschnitt, allerdings sinkt die Quote nach
einem Höchststand von 16,18 Prozent im Jahr 2013 kontinuierlich (Statista 2016). Dennoch:
Das portugiesische Durchschnittseinkommen beträgt heute 1414 Euro, was etwa der Hälfte
des deutschen Durchschnittseinkommens entspricht (Statista 2016).

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Das, was ich als „politische Street Art“ bezeichne, ist für Nomen „soziale Intervention.“
2012, als Portugal besonders stark unter der Krise litt, fertigte Nomen mehrere seiner
sozialen Interventionen an Wänden auf den Straßen an. In seiner Biographie steht unter an-
derem:

        „Government manipulated by countries such as Germany and France and others weak in
        economy, along with Portugal, were called „Pigs“. Portugal, Ireland, Greece and Spain were
        the countries under the contributory troika weight […]“ (Nomen 2016).

Nomen erzählt, dass er in der Hochphase der Europäischen Schuldenkrise herausfand, wie
seine Kunst zu einer politischen und sozialen portugiesischen Revolution beitragen kann.
Heute sieht er seine vor vier Jahren produzierten Kunstwerke als Zeugnis des Kampfes Por-
tugals in der Europäischen Schuldenkrise an. Ich stelle fest: Es gab und gibt offensichtlich
eine Identifikation mit Europa und ja, insbesondere zur Zeit einer gesellschaftspolitischen
Krise war es einigen Künstler*innen wichtig, sich zur Lage zu äußern. Das Bild mit Angela
Merkel zeigt außerdem zwei portugiesische Politiker: Den damals amtierenden Außenminis-
ter Paulo Portas und den bereits erwähnten Premierminister Pedro Passos Coelho. Angela
Merkel ist die Strippenzieherin der Beiden: Sie hält die Fäden in der Hand. Im Mund trägt
sie einen Stacheldraht mit den Sternen der Europäischen Union. Nomen zeigt mir auch sein
erstes sozialpolitisch-kritisches Kunstwerk: 2011 arbeitete er sich gemeinsam mit anderen
Künstlern zunächst nur an dem portugiesischen Premier ab und stellte ihn unter dem Titel
„The Law of the Strongest“ als Sheriff im Wilden Westen mit zwei Waffen in der Hand dar.
Am rechten Rand des Bildes entdecke ich einige Tage später, als ich mir das Original in
Lissabon anschaue, einen Mann mit Sprechblase: „Wir sind die Veränderung.“

 („The Law of the Strongest“, Lissabon 2011, Kollaboration
         von Nomen, Exas, Slap, Luka und Kurtz)

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Nicht alle der sozialen Interventionen bleiben: Nomen erzählt, dass die Zensur mittlerweile
zurück ist. 2014 hat er in Lissabon ein Kunstwerk über den Politiker Miquel Relvas angefer-
tigt, der all seine Diploma angeblich illegal erkauft hatte. Das Bild war nur sechs Tage da
und wurde dann schwarz überstrichen. Ich frage mich, wer darüber entscheidet, welches
der Bilder akzeptabel ist und welches nicht und recherchiere kurz nach unserem Gespräch
im Internet: Relvas hatte wohl tatsächlich mehrfach Studiengänge angefangen, dann wieder
abgebrochen, 2006 beendete er ein Studium angeblich innerhalb eines Jahres, wobei ihm
politische Ämter angerechnet worden waren. Studierende hatten ausgesagt, ihn innerhalb
des einen Jahres nie an der Uni gesehen zu haben, ihm seien Kurse angerechnet worden,
die es im Zeitraum seiner Einschreibung gar nicht gegeben hatte. Sein Abschluss ist ihm im
Sommer diesen Jahres durch ein Lissaboner Gericht wieder aberkannt worden (Portugal-
resident 2016).

Einige Tage nach dem Treffen mit Nomen beschließe ich, mich auf die Suche nach der „Wall
of Fame“ in Lissabon zu machen. Markus, ein deutscher Tourist, will mich begleiten. Wir
lernen uns zufällig im Hostel kennen, ich erzähle im morgens von meinen Plänen, er findet
Gefallen daran. Auf dem Weg kommen wir ins Gespräch über mein Thema und Street Art.
Ernüchterung und Verwunderung macht sich bei mir breit, als wir schließlich Nomens Kol-
laborationen, oder eher das, was davon übrig ist, finden: Eines seiner bekanntesten Werke
„Pray for Portugal“ ist im Dezem-
ber 2016 gar nicht mehr zu sehen:
Stattdessen finden wir einige Me-
ter vorher eine Wand, auf der das
Baukonzept für einen neue Straße
im Bezirk erläutert wird. Viele der
mir aus dem Internet bekannten
großen Bilder verschwinden ger-

                                    ade hinter einem Bauzaun, vor Nomens Bild steht
                                    Baumaterial und ein Container.

                                    Zum Vergleich ein Foto von Joao Rodriguez (2012):

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Ich fühle mich fast persönlich beleidigt und bin überrascht, wie schnell ich eine emotionale
Bindung zu den Bildern eines Künstlers aufgebaut habe. Auch das Bild mit Angela Merkel
ist nicht vollständig zu sehen, allerdings scheint der wow-Effekt bei Markus relativ groß zu
sein, als wir um den Bauzaun herumlaufen und vor der Riesen-Angela-Karikatur stehen. Er
zieht seine Kamera und stellt fest: „Na, das muss ich aber doch mal fotografieren.“ Ich
überlege: Funktioniert so europäische Identifikation?

Auf dem Rückweg frage ich Markus, ob er glaubt, ob sich eigentlich nicht nur die
Tourist*innen für die Kunstwerke interessieren, sondern auch die Lissaboner*innen. In den
letzten Tagen war ich immer die Einzige, die staunend vor den vielen verschiedenen Kunst-
werken in der Stadt stehen geblieben ist. Als ich einmal eine Frau auf der Straße anspreche,
wirkt sie eher irritiert und läuft weiter. Nach dieser Begegnung bin ich irritiert. Markus
glaubt, es sei gerade in Zeiten der Schuldenkrise sicherlich eine intelligente Idee der Stadt
gewesen, mit Promotion von Street Art „ein junges, hippes Publikum“ anzuziehen. Ich fühle
mich unweigerlich angesprochen, entgegne, dass nicht alle sozialkritischen Kunstwerke die
öffentlichen Autoritäten überlebt hätten und erzähle von Nomens entferntem Graffiti.
Markus wundert sich und meint: „Aber das mit Angela Merkel lassen sie da?“ Ich stelle fest:
Markus und ich identifizieren uns beide unweigerlich mit dem Bild, auf dem die deutsche
Kanzlerin dargestellt wird. Markus zumindest findet das mit der politischen Street Art ganz
schön spannend und beschließt, sich bei seiner Rückkehr in seinem derzeitigen Wohnort
auch mal damit auseinanderzusetzen. Dann erzählt er mir noch von einem Projekt in der
Stadt, in der er aufgewachsen ist: Dort hatte die Stadtverwaltung ein baufälliges Gebäude
zwei Monate vor Abriss an Graffiti-Künstler*innen freigegeben. Viele in der Stadt fanden die
entstandenen Kunstwerke toll. Das Gebäude wurde dennoch nach Ablauf der Frist abgeris-
sen und neu aufgebaut, Markus wünschte sich die Kunstwerke zurück. Ich bin irgendwie
empört: So funktioniert das also? Solange das Gebäude zu hässlich ist, um es in bestehen-
dem Zustand zu belassen, darf es künstlerisch genutzt werden, sobald die Möglichkeit zum
Abriss oder zur Restaurierung gegeben ist, verschwindet die Arbeit der Künstler*innen
wieder? Und haben Markus und ich nicht gerade die gleiche Erfahrung gemacht? Immerhin
wird in Lissabon an der „Wall of Fame“ gerade auch gebaut. Ich beschließe, dieses Thema
mit in meine zukünftigen Begegnungen zu nehmen.

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You can learn so
   much from the
    streets about
  what’s going on
     in the neigh-
         bourhood
- Vero

  (o.l. nach u.r.: Street Art Führung, Mural von Andrea Tarli, Mural von Mifa, das an Angela Merkel erinnert, Mural
  von unbekannt)

         4. (Politische) Street Art, Graffiti, und Urban Art als
               Add on oder: Die Frage nach Vergänglichkeit

  Die Auswirkungen der Schuldenkrise machen sich auch in den Stadtbildern bemerkbar: In
  Lissabon stehen viele Häuser leer, das Geld für Instandhaltungen fehlt. Bei der Recherche
  zu politischer Kunst in Portugal lese ich im Vorfeld meiner Reise, dass die Stadt Lissabon
  ein interessantes Modell verfolgt: Sie hat vor einigen Jahren bestimmte Flächen explizit für
  Straßenkünstler*innen freigegeben. Eines der Ziele ist dabei, den „Wildwuchs“ an
  Straßenkunst in geordnete Bahnen zu lenken (Greenality 2014). Dieser Prozess begann
  2008 in Zusammenarbeit mit Künstler*innen, mittlerweile gibt es in Lissabons Innenstadt
  Orte wie die „Urban Art Gallery“, wo bemalte Flächen im Stadtzentrum abends sogar an-
  geleuchtet werden. Gleich an meinem ersten Abend finde ich zufällig eine der Straßen mit
  mehreren Kunstwerken, ohne absichtlich danach gesucht zu haben. Im Laufe meiner Tage
  in Lissabon beginne ich mich zu fragen, ob die Stadt diese öffentliche Kunst vielleicht sogar
  beginnt, als Alternative zu notwendigen Renovierungs- und Instandhaltungsarbeiten zu
  nutzen.

  Bevor ich meine Reise beginne, geht eine der ersten Nachrichten, die ich versende, an eine
  Gruppe, die in Lissabon sogenannte „Street Art Tours“ anbietet. Eigentlich will ich nur ein
  paar Tips und Namen bekommen - und erhalte sofort eine Antwort, in der mir unter an-
  derem Andrea Tarli genannt wird, der in diesem Jahr während eines Kunstfestivals in Liss-
  abon ein Kunstwerk als Kritik zum Umgang mit Geflüchteten in Europa angefertigt hat. Ich
  kontaktiere ihn und erhalte - ebenso rasch wie von Nomen - eine Antwort: Leider ist Andrea
  Tarli während meines Reisezeitraums nicht in Lissabon. Stattdessen beschließe ich an
  meinem vorletzten Tag, an der offiziellen Tour durch Lissabon teilzunehmen und die Gele-
  genheit zu nutzen, um meine angestauten Fragen loszuwerden. Ich bin pünktlich am
  angegebenen Treffpunkt im Stadtzentrum. Von der offiziellen Führung ist bislang nichts zu
  sehen. Dafür fallen mir sofort zwei junge Pärchen auf, Marke: Hip. Ich spreche sie an und
  tatsächlich wollen die vier an der gleichen Tour teilnehmen wie ich. Schnell wird die Gruppe

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größer, schließlich taucht Vero auf, die uns in den nächsten drei Stunden mit einem etwas
anderen Blick durch die Stadt führen wird. Die Vorstellungsrunde zeigt: Wir sind alle Eu-
ropäer*innen, England, Italien, Niederlande und Deutschland. Vero selbst kam vor drei
Jahren ebenfalls aus den Niederlanden, um ihr Studium in Anthropologie an der Uni in Liss-
abon zu beginnen. Sie hat vorher bereits mit öffentlicher Kunst als Mittel zur Veränderung
sozial benachteiligter Stadtteile gearbeitet und kommt in Lissabon durch ein Freiwilligenpro-
jekt mit Künstler*innen in Kontakt. Mittlerweile fokussiert sich auch ihr Forschungsinteresse
auf Street Art. Während des Rundgangs zeigt sich ihr unglaublich breit gefächertes Wissen.
Ich lerne: Meine kritische Perspektive, Street Art werde als eine Art „Übergangslösung“ für
tieferliegende ökonomische, städtebauliche oder wirtschaftliche Probleme ausgenutzt, kann
sie nicht teilen. Sie erklärt uns, dass Street Art ursprünglich aus dem Bereich der Graffiti-
Kunst in den 1960ern / 70ern in Amerika entstanden ist. Mit Graffiti werden bis heute
Kunstwerke bezeichnet, bei denen vor allem Schriftzüge (oftmals die Namen der
Künstler*innen) an öffentliche Wände / Fahrzeuge angebracht werden, während Street Art
insbesondere in den 90ern als eine Weiterentwicklung entstanden ist, und mit Bildern / Por-
traits / Darstellungen arbeitet. Urban Art ist eine neuere Form, die insbesondere heute eine
immer stärkere Rolle spielt. Vero meint, dies sei eine Form stärker „institutionalisierter“
Street Art, bei der öffentliche Kunstwerke durch Galerien oder Unternehmen (sogar Mi-
crosoft hat ein Kunstwerk in Lissabon in Auftrag gegeben) angefragt und bezahlt werden.
Graffiti-Kunst als solche ist aus dem Bewusstsein heraus entstanden, dass die Kunst früher
oder später, oftmals nach wenigen Tagen, verschwinden wird - Vero macht immer wieder
darauf aufmerksam und erklärt uns, dass es für Street Artists bis heute selbstverständlich
ist, mit der Vergänglichkeit ihrer Kunst zu leben. Sie erwähnt das Kunstfestival aus dem let-
zten Sommer: Während Künstler*innen, die hauptsächlich in Galerien ausstellen, ihre Werke
mit Beendigung des Festivals wieder abbauten und mitnahmen, ließen die Street Artists ihre
Werke, wo sie waren - im Bewusstsein, dass sie entweder mitgenommen oder übersprayed
werden. Mir fällt eine Dokumentation über den wohl bekanntesten Street Artist Banksy ein,
der oftmals mit dem „Verschwinden“ seiner Kunstwerke spielt. Und ich merke, dass ich
einen stark „institutionalisierten“ Blick auf Street Art habe, während die Künstler*innen selb-
st viel stärker mit dem Auftauchen und Verschwinden der eigenen Kunst spielen. Die letzten
Tage hatte ich damit zugebracht, ein Kunstwerk von Nomen zu suchen, dass er vor einigen
Jahren als Kritik an der portugiesischen Regierung angefertigt hatte, jetzt komme ich mir
irgendwie lächerlich vor, weil es das Kunstwerk aller Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr gibt
und ich es deshalb nicht finden konnte. Vero erzählt uns allerdings auch, dass sich fest-
stellen lässt, je stärker die Künstler*innen in ihren Bildern und Schriftzügen Historie oder
                                            Themen aus der Nachbarschaft oder der Stadt
                                              aufgreifen, desto mehr werden sie dafür „respek-
                                              tiert“, sowohl von anderen Street Artists, als auch
                                              von den Anwohner*innen selbst. Insgesamt ist die
                                              Innenstadt von Lissabon relativ frei von
                                              Straßenkunst, abgesehen von der bereits erwähn-
                                              ten institutionalisierten „Urban Art Gallery.“ Vero
                                              berichtet, dass Street Art bis heute von vielen
                                              Menschen als „dirty“ empfunden wird. Gemein-
                                            sam mit anderen Menschen versucht sie gerade, in

                                                                                              11
einem Projekt dieses Image zu verändern und den Anwohner*innen eines Stadtteils klar zu
machen, welche positive Kraft sich durch öffentliche Kunst entwickeln kann.

Eines der ersten Werke, dass sie uns zeigt, ist bereits 2009 entstanden und gesellschaftlich
so hoch angesehen, dass es sogar mehrfach aufgebessert wurde, wenn Farbe abzublättern
drohte. Es ist für mich Ausdruck der sozialen Kraft, die politisch motivierte Kunst auslösen
kann. Es zeigt die friedliche Nelkenrevolution von 1974 in Portugal, bei der es fast voll-
ständig unblutig gelang, ein autoritäres Regime abzusetzen. Das Bild wurde absichtlich zur
Beginn der Europäischen Krise angefertigt. Es findet sich im direkten Stadtzentrum Liss-
abons, in Bairro Alto, in der Nähe vieler
Kneipen und Cafés und sollte die Portu-
gies*innen daran erinnern, was das Volk
bereits vor vielen Jahren geschafft hatte
und Kraft in der anstehenden schwierigen
Zeit geben. Es erfüllte offenbar seinen
Zweck, denn es ist bis heute an gleicher
Stelle und sieht aus, als sei es erst vor
wenigen Tagen fertig gestellt worden.

Wenige Meter weiter zeigt Vero uns zwei
Bilder vom französischen Street Artist Mifa. Und er ist wohl das beste Beispiel für europäis-
chen „Austausch“ in der Street Art Szene: Er kam als Erasmus-Student nach Lissabon und
hat ein Bild über den europaweit bekannten Fall der vermissten „Maddie“ angefertigt, das
zweite erinnert stark an Angela Merkel. Die Schrift links neben dem Portrait spricht allerd-
ings eher von der Vergänglichkeit von Beziehungen, Vero erzählt, es sei einer Ex-Freundin
gewidmet. Insgesamt haben insbesondere junge französische Street Artists in den letzten
Jahrzehnten die Szene in Portugal mitgeprägt.

Zum Abschluss der Tour behalte ich: Wenn ich etwas über die sozial oder politisch
vorherrschenden Themen erfahren möchte, sollte ich öffentlichen Kunstwerken auf der
Straße mehr Beachtung schenken. Vero meint, wir sollten versuchen, auch in unserer
Heimatstadt durch die Straßen zu laufen und Schriftzüge und Bilder an Gebäuden und
Fahrzeugen zu betrachten. Es sei eine Eigenheit von Street Art, sich von der Umgebung
und den vorherrschenden Themen inspirieren zu lassen. Ein Kunstwerk stünde nie für sich,
sondern greife immer auch Inhalte auf, die in irgendeiner Weise gerade global oder lokal
relevant seien. Und so, wie diese Themen mal stärker, mal weniger stark von Relevanz
seien, so würden sich auch die Geschichten an den Wänden verändern. Ich habe schon
eine neue Projektidee im Kopf: Welche verändernden Geschichten wohl eine einzige Wand,
die für Street Art in einer Stadt genutzt wird, über die Jahre erzählt?

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(o.l. nach rechts: Flyer der Initiative „Make Porto Podre Again“, Mauer in der Innenstadt Portos
„Every Wall is a Statement“, Street Art „airBUYnBYE“ als Kritik an Airbnb, Street Art der feministis-
chen Künstlerin BerriBlue)

         5. Die Frage nach dem Einfluss: Wer oder was
       entscheidet über Street Art und welche Themen
      werden behandelt? - ein Treffen mit einem Kunst-
                                  geschichtsstudenten

Vor Reiseantritt plane ich eigentlich, einen Stop in Faro im Süden des Landes einzulegen.
Während meines Aufenthaltes in Lissabon erfahre ich, dass entgegen meiner Erwartung
insbesondere die Hauptstadt und Porto, eine größere Stadt im Norden des Landes, in der
Street Art Szene bekannt sind. Ich entscheide mich deshalb, meinen Aufenthalt auf die
Mitte und den Norden des Landes zu beschränken. Bevor ich nach Porto reise, recher-
chiere ich von Lissabon aus zu Street Art in Porto. Ich habe Email-Kontakt mit Maismenos,
dem bekanntesten Street Artist aus Portugal, der mit politischen und sozialen Statements
arbeitet. Er setzt ein Treffen in Porto für das kommende Wochenende in Aussicht. Als ich in
Porto ankomme und mich noch einmal bei ihm melde, um einen genauen Tag und eine
Uhrzeit fest zu machen, erhalte ich während der gesamten Dauer meines Aufenthaltes in
Portugal leider keine Antwort mehr von ihm. Eher zufällig ergibt sich stattdessen eine an-
dere Begegnung: In einem Internetforum finde ich die Kontaktdaten von Joao, einem jun-
gen Kunstgeschichtsstudenten, der aus Porto kommt und an Street Art interessiert ist. Ich
schreibe ihm eine Nachricht, berichte ihm von meinem Projekt und wir verabreden uns für
einen Vormittag, damit wir gemeinsam durch Portos Straßen laufen und ich ihm ein paar
Fragen stellen kann.

Nach etwa vier Stunden in Portos Straßen habe ich das Gefühl, jeden Winkel der Stadt,
jede Hauswand, jedes Graffiti, jedes Bild und jeden Tag gesehen zu haben. Das Bild, das
Joao mir vermittelt, ist ein anderes, als das aus der Hauptstadt: Er nimmt sich sehr viel Zeit,
um mir verschiedene Interventionen zu zeigen und mir zu erklären, dass in Porto gerade vor

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allem zu den Problemen des aufkommenden Tourismus gearbeitet wird. Eine Gruppe von
Künstler*innen hat überall in der Stadt Flyer verteilt, auf denen steht: „Make Porto podre
again“, also: „Mach Porto wieder arm.“ Er berichtet davon, wie Internetplattformen wie
Airbnb die Einwohner*innen Portos zunehmend aus dem Stadtzentrum verdrängen, wie
Preise in Bars und Restaurants steigen, wie Menschen, die in der Tourismusbranche arbeit-
en, unter den schlechten Arbeitsbedingungen leiden und wie die Gruppe zu einem Treffen
animieren will, bei dem alle Menschen, die von den negativen Auswirkungen des Tourismus
betroffen sind, zusammen kommen, um gemeinsame Schritte einleiten zu können. Was ich
außerdem lerne: Während ich in Lissabon eher eine Abneigung der Bürger*innen gegen
Street Art aus den Begegnungen heraushören konnte, erklärt mir Joao, dass in Porto vor
einigen Jahren die Bürger*innen selbst dafür kämpften, dass Kunstwerke auf den Straßen
erlaubt werden. Nachdem einer der ehemaligen Bürgermeister angeordnet hatte, ein
größeres Projekt entfernen zu lassen, hatten sich die Anwohner*innen beschwert und mit-
geteilt, ihnen habe das Kunstwerk eigentlich ganz gut gefallen. Der derzeit amtierende
Bürgermeister steht Straßenkunst offener gegenüber: Ich erfahre, dass es in Porto sogar
eine offizielle Liste gibt, auf der Namen von Street Artists und ihren Kunstwerken stehen, die
nicht entfernt werden sollen. Als ich nachfrage, wie genau denn entschieden wird, wer
einen Platz auf dieser Liste verdient, zuckt Joao die Schultern. Er erklärt, dass dieses Ver-
fahren keiner offiziellen Regelung folgt, sondern, dass im Prinzip jede Person, die möchte,
mit einem Vorschlag an die Stadtverwaltung herantreten kann, in dem eine Skizze und ein
möglicher Ort für das Bild erklärt werden. Wenn die Verwaltung ihr ok gibt, wird die Street
Art in Zukunft (zumindest nicht von der Stadtverwaltung) entfernt werden. Natürlich gibt es
auch Personen, die zwar immer noch auf Antwort warten, ihr Bild allerdings dennoch auf
der Straße veröffentlichen.

Bereits an dem von Joao vorgeschlagenen Treffpunkt entdecke ich Plakate von Maismenos,
                                        auf denen steht „Vota“, also das portugiesische
                                        Wort für Abstimmung.
                                        Auch während unseres
                                        Rundgangs durch die
                                        Stadt zeigt Joao mir
                                        immer wieder Street art
                                        des portugiesischen
                                        Künstlers und erzählt,
                                       dass er selbst schon
länger ein Interview mit ihm machen will, bislang aber keine
Möglichkeit dazu hatte. Maismenos äußert sich mit seinen
Kunstwerken in Porto vor allem kritisch zu Themen wie Touris-
mus, Migration und Politikverdrossenheit, aber auch zur Korrup-
tion von Politiker*innen. Am beeindruckendsten finde ich ein
Haus gleich hinter dem Bahnhof. Die komplette Hauswand ist mit
schwarzen Kacheln besetzt, auf denen Bilder, Wörter und ganze Sätze zu Porto und Portu-
gal eingeritzt sind. Maismenos hat diese Arbeit im Auftrag angefertigt und die Kacheln an
verschiedenste Menschen in Porto verteilt und sie gefragt, was sie mit der Stadt assozi-
ieren. Ich bin davon beeindruckt und finde, es ist eine gute Idee, mit Street Art die

                                                                                          14
Bürger*innen der Stadt abzuholen und sie teilhaben zu lassen. Joao erzählt auch von einem
Projekt, bei dem Maismenos um ein Gebäude herum einen Stacheldraht mit Nelkenblüten
angebracht hat: Er wollte sich damit kritisch zur europäischen Flüchtlingspolitik äußern und
gleichzeitig an die friedliche Nelkenrevolution in Portugal erinnern. Ich merke: Das Bild der
Nelkenblüten ist in der Regel ein klares Kennzeichen für politische oder sozialkritische
Äußerungen in Portugals Street Art Szene.

Auch ein wiederkehrendes Moment ist die Arbeit von der polnischen Street Art Künstlerin
Berri Blue. Joao ist ein Fan von ihr und seine Begeisterung schwappt auf mich über: Sie
arbeitet hauptsächlich zu Themen wie Gender und Feminismus und hat überall in der Stadt
ihre Kunst hinterlassen. Auch in den darauffolgenden Tagen fallen mir immer wieder neue
kleine Kunstwerke auf. Ich stelle fest: Europa und das freie Reisen eröffnet insbesondere
jungen Menschen aus der Street Art Szene die Möglichkeit, ihre Kunst und ihre Äußerungen
über nationale Grenzen hinweg zu veröffentlichen und zu neuen Dialogen innerhalb der
Szene, aber auch innerhalb der Städte, in die sie reisen, anzuregen. Darüber hatte ich zu
Beginn meines Aufenthaltes in Portugal kaum nachgedacht.

Ernüchternd hingegen sind meine Erwartungen gegenüber dem Themenfeld „Europa“. Auf
meine Frage, ob er glaubt, die Künstler*innen in Porto würden auch Themen, die vor allem
als Ausdruck einer europäischen Identität gelten könnten, schüttelt er den Kopf. Anderer-
seits stellen wir im weiteren Gespräch fest, dass ja eben genau das: Die Auswirkungen, die
für Porto lokal zu spüren sind, nämlich zunehmender Tourismus, steigende Preise und
schlechte Arbeitsbedingungen insbesondere für die junge Generation mit der europäischen
Krise zusammenhängen. Joao zumindest glaubt fest daran, dass die öffentliche
Straßenkunst das Potenzial dazu hat, Veränderungen anzuregen. Auch er macht mich da-
rauf aufmerksam, dass sie als Spiegel der Gesellschaft gesehen werden kann und dass
insbesondere in Porto die Kommunikation zwischen Bürger*innen und Street Artists zu
gelingen scheint. Allerdings ist das auch abhängig vom Wohlwollen der jeweiligen
Stadtverwaltung und des regierenden Bürgermeisters: Die politische Seite scheint erhe-
blichen Einfluss zu haben auf die Dynamiken, die sich rund um Street Art in einer Stadt oder
einem Bezirk entwickeln.

                          6. Zusammenfassung, Kritik und Fazit

Auf meiner Reise durch Portugal wollte ich der Frage nachgehen, inwiefern politische Street
Art Ausdruck der europäischen Identität junger Portugiesen und Portugiesinnen ist. Dabei
habe ich Street Art, die in Bildern oder Wörtern EU-relevante Themen aufgreift, als Aus-
druck einer Identifikation mit Europa gewertet. Wie ich feststellen konnte, gab es insbeson-
dere in Lissabon um die kritischen Jahre der Wirtschaftskrise (2011 beginnend) ein ver-
mehrtes Positionieren portugiesischer Street Artists, hier sei insbesondere Nomen genannt.
Er hatte tatsächlich zum Ziel, mit seiner Street Art den Diskurs über die europäische Spar-
politik und die Auswirkungen auf das portugiesische Volk aufzugreifen und die Bürger*innen
zu friedlichen Protesten zu motivieren. Mehrere Kunstwerke in Lissabon zeugen von der
Verbindung, die in diesen Jahren zwischen der als Erfolg verbuchten friedlichen Nelkenrev-

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olution in den 1970ern zur Abschaffung der Diktatur und dem Aufruf zu Protesten während
der Wirtschaftskrise gezogen werden. Als ich im Internet noch einmal die geschichtlichen
Ereignisse Portugals recherchieren will, finde ich einen Artikel in der Zeit, verfasst von einem
Portugiesen im Jahr 2014. Er schlägt die Brücke zu Nelkenrevolution und der heutigen Zeit
und Deutschland spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle für ihn: Die Sozialistische
Partei Portugal soll bereits 1973 vor Beginn der Nelkenrevolution vom deutschen Bun-
deskanzler Willy Brandt Geld erhalten haben, um Kommunismus zu verhindern und den
Weg zum Eintritt Portugals in die Europäische Gemeinschaft zu ebnen (Cascais 2014). Tat-
sächlich sieht Cascais aber vor allem den Verlust der Übersee-Kolonien als einen Mitgrund,
der Portugal in eine schwere Krise zu stürzen drohte. Die Verbindung zu heute lässt sich
leicht ziehen:

   „Einige glauben heute, Portugal sei auf diesem Weg wieder in einer Diktatur gelandet: in der Fi-
   nanzdiktatur der Troika aus EZB, IWF und EU-Kommission. Das Land ist hoch verschuldet, die
   Jugendarbeitslosigkeit alarmierend, und Kürzungen der Sozialausgaben heizen die Unzufrieden-
   heit noch weiter an.“ (Cascais 2014).

Das Aufgreifen der Nelken-Symbolik in vielen größeren und kleineren Street Art Arbeiten in
Lissabon und Porto macht also durchaus aus heutiger Sicht betrachtet Sinn. Street Artists
wie Nomen und Maismenos greifen diese Rhetorik auf, um die Energie von damals ins
Heute zu übertragen. Insgesamt habe ich aber vor allem gelernt: Ich verstehe Street Art als
zu „institutionalisiert.“ Es geht Street Artists nicht darum, ihre Kunstwerke auf der Straße
jahrelang einem Publikum bereit zu stellen, sie sind sich der Vergänglichkeit ihrer Arbeiten
bewusst und spielen damit sogar teilweise. Ich denke, dass gerade Street Artists und ihre
Kunstwerke an öffentlich zugänglichen Plätzen als eine Art „Barometer“ für die derzeit
vorherrschenden öffentlich relevanten Themen gelten können. So habe ich in Porto natür-
lich versucht, Street Art zu finden, die europäische Themen aufgreift, während mir Joao erk-
lärt hat, dass die einsetzende Gentrifizierung und die negativen Auswirkungen des Touris-
mus gerade viel präsenter für die Bevölkerung sind und viele der Street Artists daher Aus-
sagen dazu treffen.

Insgesamt war zunächst die erste Kontaktaufnahme mit Künstler*innen nicht problematisch.
Allerdings hat sich während meines Aufenthaltes herausgestellt, dass tatsächliche Treffen
dann letztlich schwierig umzusetzen sind: Andrea Tarli war während meines Aufenthaltes
beruflich nicht in Portugal und Maismenos hat sich trotz mehrmaliger Nachfrage nicht mehr
gemeldet. Insbesondere ein Treffen mit Maismenos wäre für meine Forschungsfrage sehr
hilfreich gewesen, da er in seiner Arbeit quasi ausschließlich politisch oder sozialkritisch
motivierte Aussagen trifft. Was mir außerdem nicht recht gelingen wollte, war die Kontak-
taufnahme mit Personen auf der Straße: Ich habe zwar Menschen getroffen, mit denen ich
über Street Art sprechen konnte, allerdings nehme ich aus meiner Perspektive wahr, dass
bereits ein Interesse beziehungsweise eine Offenheit für diese Form der Kunst da sein
muss, um darüber ins Gespräch zu kommen. Mir ist es hingegen nicht gelungen, mit Men-
schen zu sprechen, die sozusagen „direkt“ von der Street Art „betroffen“ sind, nämlich Per-
sonen, die beispielsweise in der Nähe eines Kunstwerkes leben. Lediglich einmal bin ich
kurz mit einem Kioskbesitzer in der Nähe eines Wandbildes in Lissabon ins Gespräch

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gekommen, der mir berichtet hat, ihm sei das Bild noch gar nicht aufgefallen. Allerdings
kann diese Aussage natürlich auch „Ergebnis“ gewertet werden.

Dennoch kann ich abschließend festhalten, dass bestimmte (nicht jede!) Street Art in Portu-
gal durchaus als Ausdruck europäischer Identität gewertet werden kann. Sie ist allerdings
nicht nur das: Sie ist Stimmungsbarometer für die Diskurse innerhalb einer Gruppe, egal ob
lokal, regional oder global motiviert.

                                                                                        17
Literaturverzeichnis

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                                                                                                  18
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