PRESS REVIEW Wednesday, June 30, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

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PRESS REVIEW Wednesday, June 30, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
PRESS REVIEW

         Daniel Barenboim Stiftung
Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal

        Wednesday, June 30, 2021
PRESS REVIEW Wednesday, June 30, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
PRESS REVIEW                                                   Wednesday, June 30, 2021

Auswärtiges Amt, BSA
Grußwort von Staatsministerin Michelle Müntefering beim Konzert Jerusalem Symphony Orchestra mit
Bochumer Symphonikern

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Deutsche und Russen bringen gemeinsam Richard Wagners Oper „Rheingold“ in den Ural in zwei
Bergbaumetropolen

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die Gohrischer Schostakowitsch-Tage finden diesmal in Hellerau statt, bieten aber wie gewohnt Ur-
und Erstaufführungen

Süddeutsche Zeitung
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat eine Reform beschlossen, die eher ein Reförmchen ist

Der Tagesspiegel
Komponist und Pianist: Frederic Rzewski ist tot

The New York Times
Igor Levit on Frederic Rzewski: “The People’s Composer”

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Binding-Kulturpreis an ID_Frankfurt

Berliner Zeitung
Heute wäre der Dichterfürst ein Fall für MeToo, aber seit Jahrhunderten sieht man ihm alles nach.
Gedanken für unzeitgemäßen Schulstoff
PRESS REVIEW Wednesday, June 30, 2021 - Daniel Barenboim Stiftung Barenboim-Said Akademie & Pierre Boulez Saal
Internet
Quelle:    Auswärtiges Amt vom 29.06.2021 (Internet-Publikation, Berlin)

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                    Grußwort von Staatsministerin Michelle Müntefering
                    beim Konzert Jerusalem Symphony Orchestra mit
                    Bochumer Symphonikern, Beitrag zum Festjahr
                    „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“
                    Sehr geehrte Damen und Herren,
                    liebe Musikerinnen und Musiker,
                    lieber Steven Sloane
                    Shalom! Glückauf!
                    Wie schön, Sie alle hier zu haben, bei uns in Bochum. Uns das zu einem wirklich wunderbaren An-
                    lass, 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.
                    Als der Österreicher Gustav Mahler Ende des 19. Jahrhunderts seine 2. Symphonie vollendete, die
                    Sie heute spielen, war er erster Kapellmeister am Stadt-Theater in Hamburg. Ganz Europa kannte
                    ihn. Und dennoch schlugen ihm immer wieder offene Ablehnung und Hass entgegen. Denn er war
                    Jude.
                    In einem Brief schrieb er:
                    „Mein Judentum verwehrt mir, wie die Sachen jetzt in der Welt stehen, den Eintritt in jedes Hofthea-
                    ter. Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen.“
                    2021 feiern wir das jüdische Kulturerbe und würdigen den Einfluss jüdischer Künstlerinnen und
                    Künstler auf die Kulturgeschichte Deutschlands.
                    Das ist gut so. Denn das Judentum war immer ein fester Bestandteil deutscher und europäischer
                    Kultur.
                    Es hat unsere Kunst, Musik und Literatur ungemein bereichert.
                    Unsere Kulturgeschichte ohne das Judentum ist schlicht und ergreifend nicht vorstellbar.
                    Und doch zeigen die Erfahrungen Mahlers wie so vieler anderer, dass sich der Antisemitismus wie
                    ein roter Faden durch diese 1700-jährige Geschichte zieht.
                    Er gipfelte im dunkelsten Kapitel, der millionenfachen Ermordung der europäischen Jüdinnen und
                    Juden durch die Nationalsozialisten.
                    Und auch heute, mehr als 75 Jahre nach der Shoah, müssen Jüdinnen und Juden in unserem Land
                    um ihr Leben fürchten. Das ist unerträglich.
                    Ich bin überzeugt: Der Kampf gegen rechte Hetze und Antisemitismus ist entscheidend, auch für
                    unsere Demokratie.
                    Dazu gehörten Taten, klare Gesetze gegen Hass und Hetze. Und dazu gehört auch, die Erfahrung
                    der Gemeinsamkeit, der Gleichwertigkeit der Menschen. Kulturelle Bildung kann hier so viel bewir-
                    ken, wenn sie ganz besonders junge Menschen beteiligt und zusammenbringt. Denn: Echte
                    Freundschaften sind das beste Gegenmittel im Kampf gegen den Hass.
                    Meine Damen und Herren,
                    Ich bin dankbar für die engen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Sie sind über die
                    letzten Jahrzehnte stetig gewachsen und ich kann es kaum erwarten, in wenigen Tagen schon wie-
                    der in Ihrem Land zu Gast zu sein.
                    Und ja: Diese engen Verbindungen zwischen unseren Ländern sind tatsächlich wunderbar. Des-
                    halb fördern wir als Auswärtiges Amt den kulturellen Austausch, die Musik ist dabei eine starke, ei-
                    gene Kraft.
                    Das spüre ich auch jedes Mal, wenn ich mit Musikerinnen und Musikern spreche, aus Israel und
                    der arabischen Welt, die gemeinsam an der Barenboim-Said-Akademie studieren.

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Umso schöner, dass das Jerusalem Symphony Orchestra zum ersten Mal seit 10 Jahren wieder in
Deutschland ist und dass ich sie alle hier in Bochum begrüßen darf. Seien Sie uns herzlich willkom-
men.
Sicher spielt es sich in diesen Hallen anders, als in der Elbphilharmonie oder auf dem Gendarmen-
markt - aber ich hoffe, dass Sie gerade hier etwas Besondres mitnehmen können. Die Atmosphäre
des Ruhrgebiets. Die Tradition der Solidarität und des Miteinanders. Gerade nach dieser Zeit, in
der wir alle Gespürt haben, wie sehr uns Kunst und Kultur ein Lebenselixier sind.
Danke, dass Sie hier sind.
Sie haben jemanden an Ihrer Seite, der diese Traditionen nicht nur kennt, sondern auch lebt. Ei-
nen, der Brücken zwischen Menschen baut.
Lieber Steven Sloane, dass Du heute am Dirigentenpult stehst, ist ein echtes Heimspiel. Du hast
das musikalische Leben hier in dieser Stadt geprägt. Bochum hat dir so viel zu verdanken.
Und ich kann dir nur eines sagen: So ganz lassen wir dich nicht los. Das siehst Du heute und, da
bin ich sicher, auch in Zukunft.
Heute aber sagen wir von Herzen Danke Steven Sloane, dem Künstler, und auch dem Menschen.
Eines wird ganz sicher bleiben: Das Brückenbauen, zwischen Deutschland und Israel, zwischen
den Menschen mit der Kraft der Musik.
Lieber Steven Sloane, verehrte Damen und Herren,
„Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten? [...] In wessen Leben dieser Ruf einmal ertönt ist
– der muss eine Antwort geben“
Das schrieb Mahler über seine zweite Symphonie. Es sind die großen Fragen unseres Lebens.
Mahler gab seine Antwort mit Musik.
Ich könnte mir für den heutigen Abend kaum ein besseres Werk vorstellen als dieses Stück.
Ich danke allen Beteiligten und wünsche ein Konzert.

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30.6.2021                                             https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467217/12

        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                        Mittwoch, 30.06.2021

                                    Goldsucher in der Panzerschmiede
        Deutsche und Russen bringen gemeinsam Richard Wagners Oper „Rheingold“ in den
        Ural in zwei Bergbaumetropolen. Von Kerstin Holm, Jekaterinburg

        Die von der Berli­ner Produk­ti­ons­fir­ma RCCR orga­ni­sier­te deutsch-russi­sche Orches­ter­aka­de­mie an der
        Phil­har­mo­nie der russi­schen Indus­trie­stadt Jeka­te­rin­burg beschert der Region seit länge­rem schon
        kultu­rel­le Groß­er­ ­eig­nis­se, im vergan­ge­nen Jahr sogar das welt­weit einzi­ge Beet­ho­ven-Festi­val mit inter­-
        na­tio­na­ler Spit­zen­be­set­zung. Als Höhe­punkt des laufen­den Jahres der deut­schen Kultur in Russ­land
        konzi­pier­te RCCR jetzt eine erste hoch­klas­si­ge, halb­sze­ni­sche Auffüh­rung von Richard Wagners
        „Rhein­gold“ an der Swerd­lowsker Phil­har­mo­nie sowie in der russi­schen Panzer­schmie­de Nisch­ni Tagil,
        die das Auswär­ti­ge Amt groß­zü­gig unter­stütz­te, und zu der Katha­ri­na Wagner als Leite­rin der Bayreu­-
        ther Fest­spie­le ein Gruß­wort beisteu­er­te. Für das Projekt arbei­te­ten Wagner-Exper­ten aus Deutsch­land
        mit russi­schen Kolle­gen vor Ort. Wohl­weis­lich ging man nicht von der Origi­nal­or­ches­ter­grö­ße von 123
        Musi­kern aus, sondern von der soge­nann­ten Cobur­ger Fassung für einen redu­zier­ten Klang­kör­per ohne
        Wagnertu­ben und Basstrom­pe­ten, der frei­lich auf gut sech­zig Instru­men­ta­lis­ten aufge­stockt wurde.
        Und weil die Themen von Wagners Gesamt­kunst­werk – unser Verhält­nis zur Natur, unsere ewig wach­-
        sen­den Ansprü­che – so aktu­ell sind, betei­lig­ten die Musi­ker beider Länder sich auch an ökostra­te­gi­-
        schen Rahmen­ver­an­stal­tun­gen.

        Die Ural-Region um Jeka­te­rin­burg, die vielen Gästen mit ihren alten Beton­funk­ti­ons­bau­ten „typisch
        russisch“ vorkommt, lebt vom Berg­bau, der die Land­schaft zerklüf­tet und Gewäs­ser vergif­tet. Bei einer
        Diskus­si­on über Umwelt­fra­gen, ausge­rich­tet von der Jeka­te­rin­bur­ger Berg­bau-Univer­si­tät, bekun­de­ten
        die russi­schen Instru­men­ta­lis­ten, sie bemüh­ten sich durch den Verzicht auf Plas­tik­tü­ten und Einweg­ge­-
        schirr um Müll­ver­mei­dung, doch ihre Möglich­kei­ten der Einfluss­nah­me seien gering. Umso mehr seien
        die großen Rohstoff­kon­zer­ne gefor­dert, statt in Fußball in Umwelt­tech­no­lo­gie zu inves­tie­ren, mahnte
        der slowe­nisch­stäm­mi­ge Posau­nist Tine Bizajl. Russi­sche Berg­bau-Studen­ten berich­te­ten, dass seit
        diesem Jahr in ihrer Region neu entwi­ckel­te Droh­nen Daten zur Luft-, Wasser- und Boden­qua­li­tät
        sammel­ten. Der Univer­si­täts­rek­tor Alexej Dusch­kin beton­te, Russ­land gehe beim Umwelt­schutz durch­-
        aus eigene Wege und bringe insbe­son­de­re seine im inter­na­tio­na­len Vergleich dünne Besied­lung in Stel­-
        lung. Russ­lands Problem, dass viele jünge­re Menschen ans Emigrie­ren denken, wie die Gäste aus
        Deutsch­land auch in Jeka­te­rin­burg fest­stel­len konn­ten, gerät so wenigs­tens klima­po­li­tisch zum Vorteil.

        Zu den Quel­len der Gold­ge­win­nung bega­ben sich die Sänger­so­lis­ten bei einem Besuch in der nahe Jeka­-
        te­rin­burg gele­ge­nen Stadt Berjo­sow­ski, wo 1745 die russi­sche Gold­grä­be­rei begann und wo die Helden
        des Musik­dra­mas sich selbst als Gold­wä­scher versuch­ten. Die Instru­men­ta­lis­ten, die das Schmie­de­ge­-
        häm­mer klang­lich zu verge­gen­wär­ti­gen hatten, wurden durch das histo­ri­sche Eisen- und Kupfer­werk
        von Nisch­ni Tagil geführt, das, 1725 gegrün­det von dem Unter­neh­mer­klan der Demi­dows, den Nibe­lun­-
        gen des Urals, bis in die Pere­stro­j­ka­zeit funk­tio­nier­te und als Frei­licht­in­dus­trie­mu­se­um eine gran­dio­se
        Thea­ter­ku­lis­se abgibt. Um die Schät­ze des Wagner­sounds mit seinen seidi­gen Schich­tun­gen und
        ahnungs­vol­len Leit­mo­ti­ven nuan­ciert erstrah­len zu lassen, erar­bei­te­te der Diri­gent Chris­toph Stöcker
        die Produk­ti­on, selbst Bayreuth-erfah­ren wie auch der Geiger Andre­as Neufeld, der ihm am Konzert­-
        meis­ter­pult zur Seite stand. Dass das Orches­ter auf der Bühne zurück­ge­setzt und hinter einem trans­pa­-
        ren­ten Projek­ti­ons­vor­hang agier­te, erzeug­te, wie schon die über Pedal­tö­nen aufbau­en­de Welt­schöp­-
        fungs­mu­sik des Vorspiels ohren­fäl­lig machte, oben­drein einen Wagne­ri­schen Misch­klang.

        Das Eröff­nungs­stück der „Ring“-Tetra­lo­gie zeigt, dass die Glück­li­chen durch ihre Arro­ganz selbst jene
        Rache-Ener­gi­en mobi­li­sie­ren, die ihnen am Ende zum Verhäng­nis werden. Der Regis­seur Georg Blüml
        klei­det die drei Rhein­töch­ter – betö­rend gesun­gen von Solis­tin­nen des Phil­har­mo­niecho­res – in schul­-
        ter­freie Hoch­zeits­ro­ben und lässt sie in ihrem erotisch-wäss­ri­gen Element, das auch Video­wo­gen des
        Medi­en­künst­lers Lille­van veran­schau­li­chen, Schwimm­be­we­gun­gen voll­füh­ren und mit Oliver Zwarg als
        brüns­ti­gem Albe­rich ihr hohn­la­chen­des Spiel trei­ben. Mit seinem mäch­ti­gen Bass­ba­ri­ton, der zwischen

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        schwar­zem Furor, geschmei­di­gem Parlan­do und fahlem Sprech­ge­sang alle Ausdrucks­re­gis­ter zieht,
        sowie der Schau­spiel­lust, mit der er die aus Ernied­ri­gung erwach­sen­de Ener­gie seiner Figur zele­briert,
        macht Zwarg die Auffüh­rung vor einem infol­ge der Corona-Aufla­gen mit 75 Prozent voll­be­setz­ten Saals
        zum Thea­ter­er­eig­nis.

        Der Himmels­pa­tri­arch Wotan (majes­tä­tisch: Geert Smits), der für seine Palast­im­mo­bi­lie erst gar nicht
        und dann nur mit von Albe­rich abge­press­tem Raub­gold zu zahlen bereit ist, erhebt den Hoch­mut zum
        ökono­mi­schen Prin­zip, inspi­riert dadurch aber auch den macht­gie­ri­gen Riesen Fafner (von fins­te­rer
        Eleganz: Łukasz Koniecz­ny) zum Bruder­mord und hat auch seine status­be­wuss­te Gattin Fricka (mit
        könig­li­chem Schmelz: Elena Zhid­ko­va) infi­ziert. Der geschmei­di­ge Tenor und der listi­ge Charme von
        Markus Schä­fer als Loge, dessen Erschei­nung mit Video­flam­men unter­legt wird, macht die Figur des
        Versu­chers und Problem­lö­sers zum Publi­kums­lieb­ling, und der bestens aufge­leg­te Ferdi­nand von Both­-
        mer gab einen jugend­lich beseel­ten Meis­ter­schmied Mime. Doch auch russi­sche Sänger­so­lis­ten gehör­-
        ten zum Cast, etwa die junge lyri­sche Sopra­nis­tin Vikto­ria Masl­juko­wa aus dem sibi­ri­schen Kras­no­jarsk
        als entführ­te Jugend­göt­tin Freia oder der impo­nie­ren­de Bari­ton Maxim Schly­kow von der Jeka­te­rin­-
        bur­ger Oper als gewit­ter­er­zeu­gen­der Donner. Die Regie, die Ring, Burg und Riesen­schlan­ge per Video,
        den Blitz indes nur in der Saal­be­leuch­tung Ereig­nis werden ließ, führte auf eine Weise durch die musi­-
        ka­li­sche Erzäh­lung, die an Konzert­büh­nen Schule machen könnte.

        Nach den Proben gingen viele Sänger und Instru­men­ta­lis­ten aus Deutsch­land, obwohl sie kein Russisch
        können, in die Oper, um Niko­lai Rimski-Korsa­kows „Zaren­braut“ zu erle­ben, am freien Nach­mit­tag sah
        man sie im Kunst­mu­se­um, wo neben Ikonen und Gemäl­den Eisen­ab­güs­se bekann­ter Marmor- oder
        Bron­ze­skulp­tu­ren zu bewun­dern sind, eine Spezia­li­tät der Region. Der Mime-Sänger von Both­mer, der,
        wie er sagt, viele russi­sche Freun­de hat, aber nie zuvor in Russ­land war, findet, Koope­ra­tio­nen wie die
        beim „Rhein­gold“, bei der man einan­der auch ohne Worte verste­he, seien gerade jetzt wich­tig. Kultur
        müsse Verstän­di­gung dort herstel­len, wo die Poli­tik versa­ge. Von Both­mer lobt aber auch die Quali­tät
        der Jeka­te­rin­bur­ger Oper sowie die Jeka­te­rin­bur­ger selbst, die, wie man merke, ihre Kultur schät­zen
        und pfle­gen. Auch der polnisch­stäm­mi­ge Fafner-Darstel­ler Koniecz­ny schwärmt, bei seinem ersten
        Besuch in Russ­land hätten die Menschen ihn ange­nehm über­rascht.

        Zum Abschluss wird Wagners Musik­dra­ma in Nisch­ni Tagil aufge­führt, der Haupt­pro­duk­ti­ons­stät­te
        russi­scher Panzer, deren masku­li­ner Ruppig­keit die einer Fern­seh­se­rie entnom­me­ne Redens­art „Tagil
        gibt den Ton an“ (Tagil rulit) huldigt. Im ausver­kauf­ten Beton­bau der Phil­har­mo­nie sitzen die Musi­ker
        auf offe­ner Bühne, auf dem Video­schirm über ihnen dreht sich der bluti­ge Gold­ring, den Sänger­so­lis­ten
        bleibt nur ein schma­ler Lauf­steg. Doch auch diese stati­sche­re Darbie­tung verzau­bert das Publi­kum,
        Zwarg verwan­delt sich trotz Frack durch sugges­ti­ve Kiefer­be­we­gun­gen und Hüpfer in jene Kröte, als die
        Albe­rich von Wotan und Loge gefan­gen genom­men wird. Als die Solis­ten nach der Vorstel­lung die
        Lobby durch­que­ren, bran­det ihnen Jubel entge­gen, was es in seinem Haus noch nicht gege­ben habe,
        wie der Phil­har­mo­nie­di­rek­tor versi­chert. Ende August soll die Produk­ti­on in Blai­bach im Baye­ri­schen
        Wald und auf der Seebüh­ne des Klos­ters Alders­bach gezeigt werden.

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        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                        Mittwoch, 30.06.2021

                             Ein Mann voll Angst schreibt Mutmacher
        Die Gohrischer Schostakowitsch-Tage finden diesmal in Hellerau statt, bieten aber wie
        gewohnt Ur- und Erstaufführungen.

        Schon Ort und Zeit für die insge­samt sieben Konzer­te geben zu denken: Nur kurz nach dem acht­zigs­ten
        Jahres­tag des deut­schen Über­falls auf die Sowjet­uni­on fanden die Inter­na­tio­na­len Scho­sta­ko­witsch-
        Tage Gohrisch im Fest­spiel­haus Heller­au statt, wo bis 1992 die Sowje­ti­sche Armee resi­dier­te und wo vor
        1945 Poli­zei­ein­hei­ten gedrillt worden waren, die gewiss keine frei­heit­li­che Grund­ord­nung zu vertei­di­-
        gen hatten. Ein produk­ti­ver Kontrast zur Kunst, die nun hier zu erle­ben war.

        Verur­sacht hat den Umzug an den Stadt­rand von Dres­den die noch immer schwer kalku­lier­ba­re
        Entwick­lung der Pande­mie. Im idyl­li­schen Gohrisch in der Säch­si­schen Schweiz war eine verläss­li­che
        Planung bis vor Kurzem noch nicht möglich. So fehlte der Bezug zum schaf­fens­bio­gra­phi­schen Ort, an
        dem Scho­sta­ko­witsch 1960 sein achtes Streich­quar­tett kompo­niert hatte.

        Die Säch­si­sche Staats­ka­pel­le als fester Koope­ra­ti­ons­part­ner steu­ert alljähr­lich ein Sonder­kon­zert bei,
        dies­mal im Dresd­ner Kultur­pa­last unter der versier­ten Leitung von Vladi­mir Jurow­ski und mit dem
        konge­nia­len Leoni­das Kava­kos als Solist im ersten Violin­kon­zert, das aus ideo­lo­gi­schen Ängs­ten lange
        Zeit in der Schub­la­de verwahrt blei­ben musste. Das Stück klang damals, 1948, auf dem Höhe­punkt
        stali­nis­ti­scher Forma­lis­mus-Tribu­na­le, nicht „posi­tiv“ genug, und noch heute spürt man darin einen
        Welt­schmerz, der sich resi­gna­tiv nach innen rich­tet. Just diese Drama­tik inne­rer Verzweif­lung findet
        sich – mitun­ter gera­de­zu episch – in vielen Streich­quar­tet­ten von Scho­sta­ko­witsch. Fünf­zehn hat er
        geschrie­ben, da könnte man meinen, im zwölf­ten Jahr­gang der Scho­sta­ko­witsch-Tage wären die hier
        alle schon mindes­tens einmal gespielt worden. Doch allein an diesem Juni-Wochen­en­de gab es fünf
        Quar­tet­te zum ersten Mal bei diesem Musik­fest.

        Darüber hinaus aber waren, was viel erstaun­li­cher ist, wieder zahl­rei­che deut­sche Erst- und sogar
        Urauf­füh­run­gen im Programm zu erle­ben. Zu verdan­ken ist dies der akri­bi­schen Arbeit im Moskau­er
        Scho­sta­ko­witsch-Insti­tut, wo die Musik­wis­sen­schaft­le­rin Olga Digons­ka­ja immer wieder klei­ne­re und
        größe­re Schät­ze zutage fördert, die bislang unge­hört gewe­sen sind. Darun­ter Finger­übun­gen aus
        Studen­ten­ta­gen ebenso wie kriegs­be­dingt entstan­de­ne Roman­zen und Lieder, die Scho­sta­ko­witsch nach
        Vorla­gen von Bizet, Rossi­ni, Mussorg­ski sowie von sowje­ti­schen Kompo­nis­ten für Violi­ne, Cello und
        Gesangs­stim­me arran­giert hatte. Unter­halt­sa­me Mutma­cher und propa­gan­dis­ti­sche Kampf­lie­der, die
        nun erst­mals in Deutsch­land zu hören gewe­sen sind und seiner­zeit zumeist durch soge­nann­te Konzert­-
        bri­ga­den von mili­tä­ri­schen Last­wa­gen herab gesun­gen worden sind, um Lenin­grads Front­kämp­fer zu
        stär­ken.

        Neben solcher Gebrauchs­mu­sik war Scho­sta­ko­witsch nahezu stän­dig auf der Suche nach neuen Opern­-
        stof­fen und wurde beim Italie­ner Gaeta­no Braga fündig, dessen Sere­na­de „Der Engel Lied“ ein ähnli­-
        ches Thema aufgreift wie Anton Tschechows Novel­le „Der schwar­ze Mönch“. Darauf basie­ren Skiz­zen
        zu einer gleich­na­mi­gen Oper, die Scho­sta­ko­witsch aber nicht weiter­ver­folg­te. Die Fassung für zwei
        Sing­stim­men, Violi­ne und Klavier zeigte, wie weit diese Skiz­zen gedie­hen sind. In ihnen steckt durch­aus
        drama­ti­sches Poten­ti­al.

        Als veri­ta­ble Urauf­füh­rung ist Scho­sta­ko­witschs Bear­bei­tung von Ludwig van Beet­ho­vens Klavier­so­na­te
        c-Moll („Pathé­tique“) für Streich­or­ches­ter vorge­stellt worden. Inter­pre­tiert von der aus der Dresd­ner
        Staats­ka­pel­le rekru­tier­ten kapel­le 21 unter der Leitung ihres eins­ti­gen Kontra­bas­sis­ten Petr Popel­ka,
        der längst als Diri­gent für Furore sorgt, klang das Adagio canta­bi­le über­haupt nicht mehr nach arran­-
        gier­ter Klavier­mu­sik, sondern entfal­te­te die Wucht der „Egmont“-Ouver­tü­re. Auch als Bear­bei­ter war
        Scho­sta­ko­witsch ein Perfek­tio­nist.

https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467217/14                                                                                1/2
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        Drei Fugen für Klavier solo, die noch gar nicht ins Werk­ver­zeich­nis aufge­nom­men worden sind, sowie
        frühe Klavier­stü­cke und ein Scher­zo op. 1a waren 2020 anstel­le der pande­mie­be­dingt ausge­fal­le­nen
        Scho­sta­ko­witsch-Tage in einem klei­nen Online-Festi­val gestreamt worden (F.A.Z. vom 7. Juli 2020).
        Jetzt konn­ten sie erst­mals live vor Publi­kum aufge­führt werden und zeig­ten virtuo­se Verspielt­heit sowie
        frühes Form­be­wusst­sein des Kompo­nis­ten, wobei auch Bezüge zu Bach und Debus­sy nicht zu über­hö­-
        ren sind. Dmitri Masle­jew stell­te diese furio­sen Arbei­ten vor, Juli­an­na Awde­je­wa ergänz­te das
        Programm mit präzi­ser Rase­rei in Scho­sta­ko­witschs einsät­zi­ger erster Klavier­so­na­te op. 12 sowie mit
        den eben­falls noch nie öffent­lich aufge­führ­ten Prälu­di­en und Fugen. Ein spätes Prälu­di­um wurde durch
        Krzysz­tof Meyer vervoll­stän­digt und um eine Fuge ergänzt.

        Skep­ti­ker mögen fragen, ob wirk­lich jede Studi­en­ar­beit öffent­li­cher Vorstel­lung würdig ist, doch Olga
        Digons­ka­ja zeigte sich über­zeugt, „dass jede einzel­ne Note, die dieser Kompo­nist geschrie­ben hat, es
        wert ist, aufge­führt zu werden“. Weil die Leite­rin des Moskau­er Scho­sta­ko­witsch-Archivs schon in den
        vergan­ge­nen Jahren wich­ti­ge Fund­stü­cke und Ausgra­bun­gen zur Ur- oder Erst­auf­füh­rung nach
        Gohrisch gege­ben hat, wurde sie nun mit dem Inter­na­tio­na­len Scho­sta­ko­witsch-Preis geehrt. Ihre
        Arbeit werde sie fort­set­zen, zumal das Archiv gewiss weite­re Entde­ckun­gen berge: ein Anreiz für künf­ti­-
        ge Scho­sta­ko­witsch-Tage, die dann wieder in Gohrisch statt­fin­den sollen.

        Der Ausflug nach Heller­au war jedoch mehr als ein bloßer Ersatz. Eine enorme Inten­si­tät stell­te sich an
        diesem Ort ein. Wie etwa vom Quatu­or Danel das zweite und fünfte Streich­quar­tett von Scho­sta­ko­-
        witsch schier skulp­tu­ral heraus­ge­feilt wurde, über­aus genau, aber ohne akade­misch zu wirken, das
        bewies Leiden­schaft und Sach­kennt­nis zugleich. Wie das legen­dä­re Boro­din-Quar­tett war das Quatu­or
        Danel nun schon mehr­fach beim Festi­val zu Gast. Das Boro­din-Quar­tett, das früher noch mit Scho­sta­-
        ko­witsch selbst gear­bei­tet hatte, kam in teils neuer Beset­zung, die noch Fein­stim­mungs­be­darf hat, um
        die eigene Histo­rie fort­zu­schrei­ben. Der Geiger Gidon Kremer, zum drit­ten Mal dabei, zeigte sich dank­-
        bar, dass neben Scho­sta­ko­witsch auch dessen Freund Miec­zysław Wein­berg wieder zu seinem Recht
        kam. Micha­el Ernst

https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467217/14                                                               2/2
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       In­halt­lich dünn

       Die Stif­t ung Preu­ß i­s cher Kul­t ur­b e­s itz hat ei­n e Re­f orm be­s chlos­s en, die eher ein Re­f örm­c hen ist

       Es war, als ha­b e die Stif­t ung Preu­ß i­s cher Kul­t ur­b e­s itz (SPK) ein­m al mehr de­m ons­t rie­ren wol­l en, war­u m ih­re Re­-
       form so dring­l ich ist: Zwei The­m en stan­d en auf der Ta­g es­o rd­n ung, als der Stif­t ungs­rat der SPK sich am Diens­t ag
       traf: die Rück­g a­b e der Be­n in-Bron­z en und der Um­b au der ei­g e­n en In­s ti­t u­t i­o n. Zu bei­d en Fra­g en wur­d e nur Va­-
       ges ver­a b­s chie­d et.

       Wie vie­l e der rund 500 Bron­z en aus der Samm­l ung des Eth­n o­l o­g i­s chen Mu­s e­u ms in Ber­l in nach Ni­g e­r ia ge­h en
       und un­t er wel­c hen Kon­d i­t io­n en, das soll nun erst beim nächs­t en Tref­fen ent­s chie­d en wer­d en. Vor­l äu­f ig wur­d e
       nur die all­g e­m ei­n e Be­reit­s chaft zur Rück­g a­b e be­s chlos­s en. Stif­t ungs­p rä­s i­d ent Her­m ann Par­z in­g er wur­d e au­ß er­-
       dem er­m äch­t igt, mit den zu­s tän­d i­g en Stel­l en in Ni­g e­r ia Ver­h and­l un­g en zu füh­ren. Doch die­s e Ver­h and­l un­g en
       führt das Aus­wär­t i­g e Amt be­reits seit Mo­n a­t en. We­n ig Kon­k re­t es gab es auch zur Re­form der SPK. „Dys­f unk­t io­-
       nal“ hat­t e der Wis­s en­s chafts­rat die Stif­t ung vor ei­n em Jahr in ei­n em Gut­a ch­t en ge­n annt. Nach zwei Jah­ren Eva­-
       lu­ie­r ung hat­t e er nicht drin­g en­d en Re­form­b e­d arf dia­g nos­t i­z iert, son­d ern eher Re­form­u n­f ä­h ig­keit. Die wich­t igs­-
       te Emp­feh­l ung hat­t e denn auch dar­i n be­s tan­d en, den un­ü ber­s icht­l i­c hen Misch­kon­z ern ab­z u­s chaf­fen, zu dem
       au­ß er den grö­ß­t en Ber­l i­n er Mu­s e­e n auch die Staats­b i­b lio­t hek, das Ge­h ei­m e Staats­a r­c hiv und di­ver­s e In­s ti­t u­t e
       ge­h ö­ren, und ihn in klei­n e­re, au­t o­n o­m e Ein­h ei­t en zu zer­t ei­l en. Doch die Idee leb­t e nur so lan­g e, bis je­m and da­-
       für das Wort der „Zer­s chla­g ung“ ge­f un­d en hat­t e, und bis ein an­d e­rer die­s e an­g eb­l i­c he „Zer­s chla­g ung“ der Preu­-
       ßen­s tif­t ung gar mit dem Stür­z en von Denk­m ä­l ern in Ver­b in­d ung ge­b racht hat­t e.

       Es über­rascht da­h er nicht, dass der Stif­t ungs­rat nach ei­n em Jahr in­t er­n er De­b at­t en nun ein Re­form­kon­z ept be­-
       schlos­s en hat, in dem von Auf­s pal­t ung eben­s o we­n ig die Re­d e ist wie da­von, der Stif­t ung ei­n en an­d e­ren Na­m en
       zu ge­b en. Statt der vom Wis­s en­s chafts­rat ver­l ang­t en ra­d i­k a­l en Schrit­t e, be­s chränkt man sich im We­s ent­l i­c hen
       auf zwei Maß­n ah­m en: In Zu­k unft soll ein „Kol­l e­g i­a l­o r­g an“ die SPK lei­t en, in dem Ver­t re­t er der ein­z el­n en Häu­s er
       sit­z en. Die von Mi­c ha­e l Eis­s en­h au­e r ge­l ei­t e­t e Ge­n e­ral­d i­rek­t i­o n der Staat­l i­c hen Mu­s e­e n, ei­n e seit Jah­ren als
       hem­m end kri­t i­s ier­t e Hier­a r­c hie­e be­n e zwi­s chen der von Her­m ann Par­z in­g er ge­l ei­t e­t en Haupt­ver­wal­t ung und
       den ein­z el­n en Mu­s e­e n wird ab­g e­s chafft.

       Doch wer sich das Kol­l e­g i­a l­o r­g an als ei­n e Art de­m o­k ra­t i­s ches Füh­r ungs­kol­l ek­t iv vor­s tellt, täuscht sich. Das Amt
       des Prä­s i­d en­t en, Her­m ann Par­z in­g er, wird nicht an­g e­t as­t et. Er wird sich zwar mit den Ver­t re­t ern der Häu­s er ab­-
       stim­m en müs­s en, aber als Vor­s it­z en­d er des Kol­l e­g i­a l­o r­g ans dürf­t e er auch wei­t er­h in das letz­t e Wort ha­b en. Wäh­-
       rend die­s e dem neu­e n Gre­m i­u m auf Zeit an­g e­h ö­ren sol­l en, wird er dort lang­f ris­t ig blei­b en; und wäh­rend die­s e
       das Amt ne­b en­b ei er­l e­d i­g en, bleibt Par­z in­g er wei­t er­h in Voll­z eit­p rä­s i­d ent. Bis­h er ist die jetzt be­s chlos­s e­n e Struk­-
       tur kaum mehr als ei­n e Skiz­z e auf ei­n er Pa­p ier­s er­v i­e t­t e. Die ent­s chei­d en­d en Fra­g en wer­d en erst noch „ge­p rüft“:
       Kön­n en die Häu­s er end­l ich selbst über Per­s o­n al und Haus­h alt ent­s chei­d en? Wie weit reicht die Macht des Prä­s i­-
       den­t en? Sol­l en die Mu­s e­e n „Clus­t er “bil­d en oder au­t o­n om sein?

       Bei den üb­r i­g en Be­s chlüs­s en des Stif­t ungs­rats han­d elt es sich grö­ß­t en­t eils um Ap­p el­l e, die seit Jah­ren zu hö­ren
       sind: Die Stif­t ung sol­l e „ech­t en Mehr­wert“ bie­t en, sprich: grö­ß er sein als die Sum­m er ih­rer Tei­l e. Es wird mehr
       in­t er­d is­z i­p li­n ä­re Ar­b eit ge­for­d ert, an­d e­rer­s eits sol­l en die Ein­r ich­t un­g en stär­ke­re Pro­f i­l e ent­w i­c keln und „ge­z iel­-
       ter ih­re Pu­b li­k a an­s pre­c hen“. Ver­ä n­d ern soll sich in Zu­k unft auch die Zu­s am­m en­s et­z ung des Stif­t ungs­rats. Bis­-
       her wa­ren dort sämt­l i­c he Bun­d es­l än­d er ver­t re­t en. Weil de­ren fi­n an­z i­e l­l e Bei­t rä­g e in den letz­t en Jahr­z ehn­t en auf
       teils win­z i­g e Sum­m en ge­s chrumpft sind, wird die Zahl der Län­d er­ver­t re­t er re­d u­z iert. Ih­re Sit­z e sol­l en Ex­p er­t en
       über­n eh­m en, die we­d er aus der Po­l i­t ik noch aus den In­s ti­t u­t io­n en stam­m en. No­m i­n ell hat Kul­t ur­s taats­m i­n is­t e­-
       rin Mo­n i­k a Grüt­t ers die­s es Gro­ß­p ro­j ekt vor En­d e der Le­g is­l a­t ur­p e­r i­o de ge­ra­d e noch ab­h a­ken kön­n en. Doch in­-
       halt­l i­c he Fül­l un­g en feh­l en eben­s o wie per­s o­n el­l e Ver­ä n­d e­r un­g en. Ver­b es­s e­r un­g en bei der SPK sind kaum zu er­-
       war­t en.Jörg Häntz­s chel

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        Mittwoch, 30.06.2021, Tagesspiegel / Kultur

        Wut und Zärtlichkeit
        Komponist und Pianist: Frederic Rzewski ist tot
        Von Christiane Peitz

                                                                                                    © Imago Frederic Rzewski

        Bach, Beethoven, Rzewski. Rzewski wer? Als der Pianist Igor Levit 2015 sein Album mit Variationszy-
        klen herausbrachte, fügte er zwei der anspruchsvollsten Klassiker des Genres, Bachs Goldberg- und
        Beethovens Diabelli-Variationen ein weiteres Monsterwerk hinzu, das hierzulande eher unbekannt
        war. „The People United Will Never Be Defeated“ von Frederic Rzewski basiert auf dem chilenischen
        Revolutionslied „¡El pueblo unido, jamás será vencido!“ und spinnt es in 36 Variationen fort. Eine
        Stunde lang, an der Grenze der Unspielbarkeit, eine Herausforderung für jeden Pianisten.

        Rzewski vereint darin Protest und Avantgarde, Virtuosität und musikalischen Aufschrei. Auf die volks-
        liedhaft tänzerische Melodie folgt die Entfesselung, einschließlich Klavierdeckelschlägen und lauten
        Rufen des Pianisten. Ein Hymnus auf die Kraft der Gemeinschaft, auf ihre Anfeindungen, das Standhal-
        ten, die Vision einer besseren Welt. Das Visionäre eher geflüstert, als utopische Skizze – Rzewski war
        kein Illusionär.

        Der US-amerikanische Komponist, 1938 in Massachusetts geboren, hatte in den 1970ern in Italien ge-
        lebt und bei Luigi Dallapiccola studiert, später lehrte er unter anderem im belgischen Lüttich. Den Va-
        riationszyklus zum Anti-Pinochet-Lied schrieb er nicht zufällig zum 200. Geburtstag der USA – Pino-
        chet hatte sich mit Hilfe der CIA an die Macht geputscht.

        Bei der New Yorker Uraufführung 1976 saß eine Freundin am Klavier, Ursula Oppens. Später engagierte
        sich auch der Pianist Marc-André Hamelin für das Werk, und neben Igor Levit zuletzt der Komponist
        selbst, als er sich 2019 beim Berliner Märzmusik-Festival selbst an die Tasten setzte, mit 80 Jahren. So
        wurde „The People United…“ zum bekanntesten Werk des Tonkünstlers, der Musik immer auch als Po-
        litikum verstand.

        Wenn es die Posaunen von Jericho nicht schon in der Bibel gegeben hätte, Rzewski hätte sie wohl er-
        funden. Er spielte den Verhältnissen ihre eigene Melodie vor, indem er sie zertrümmerte und neu zu-

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        sammensetzte. In „Coming Together“ von 1972 wob er Gefängnisbrief- Passagen des militanten Aktivis-
        ten Sam Melville ein – Melville war ein Jahr zuvor beim Attica-Gefängnisaufstand ums Leben gekom-
        men. Rzewskis „Dreams“-Zyklus ist wiederum von Kurosawas gleichnamigem Episodenfilm inspiriert.

        Igor Levit spielte 2015 die Uraufführung von „Dreams II“. Auch dieses Stück lebt von Wut und Zärtlich-
        keit, und ein Lied von Woody Guthrie ist auch darin versteckt. Elektronik, Jazz, Rock, Improvisation,
        serielle Musik: Rzewski hatte keine Scheu, die Stile und Genres zu mischen, auch hier sprengte er
        Grenzen. „Realität ist beides, rational und irrational“, hat er einmal gesagt, und dass auch die Schöp-
        fung aus Chaos und Ordnung bestehe.

        Die ihn kannten, rühmen seine Improvisationskunst, und seinen Humanismus. „Rest in Peace, dear
        Frederic. Rest in Peace, dear friend. I am devastated.“ Ruhe in Frieden, ich bin am Boden zerstört, twit-
        terte Igor Levit am vergangenen Samstag. Da ist sein Freund Frederic Rzewski im italienischen Mon-
        tiano gestorben, mit 83 Jahren. Es gibt noch viel zu entdecken in seinem Werk.Christiane Peitz

https://epaper.tagesspiegel.de//webreader-v3/index.html#/476655/24-25                                                  2/2
30.6.2021                                               Igor Levit on Frederic Rzewski: ‘The People’s Composer’ - The New York Times

                             https://www.nytimes.com/2021/06/29/arts/music/frederic-rzewski-igor-levit.html

Igor Levit on Frederic Rzewski: ‘The People’s Composer’
Rzewski, who died on Saturday, could be a prickly contrarian. But for some young artists, including Levit, he was an essential inspiration.

By Igor Levit Interview by Joshua Barone

June 29, 2021

The composer Frederic Rzewski, who died on Saturday at 83, left behind a complicated legacy. He wrote intensely political works but didn’t identify as a political artist.
In the hours after his death was announced, some musicians described him on social media as warm and encouraging, others as prickly and sometimes troubling. Yet
his stature in the field is immense, with contributions to the piano repertoire like “The People United Will Never Be Defeated!” — a titanic set of variations on Sergio
Ortega and Quilapayún’s Chilean resistance song “¡El pueblo unido jamás será vencido!” He also had a widespread influence on a younger generation of performers
and composers. Among them is the pianist Igor Levit, who elevated “The People United” to the realm of Bach’s “Goldberg” and Beethoven’s “Diabelli” Variations on a
celebrated 2015 recording. In an interview, Levit said, “I cannot overstate the importance of this man in my life,” and he shared memories as thorny as Rzewski
himself. These are edited excerpts from the conversation.

My first year at university, a classmate and I would go to the library and listen to recordings of all kinds. We went in alphabetical order, and at some point we
reached the letter R. There was this album by Marc-André Hamelin: a Hyperion recording of him playing Rzewski. I had never heard the name before, but I
listened to “The People United,” and it completely blew me away. It was like seeing “Star Wars” for the first time.

I went immediately to the librarian and asked her to buy the sheet music. Then I went to the computer room, and somehow through a website I discovered
Frederic’s email address. So I simply wrote him, something like: “My name is Igor, I’m a student in my first semester, and I just listened to this piece, and I really
want to learn it. Meanwhile, would you write something for me?”

A couple of days later he gave me this response: “Dear Igor, thank you for this email. I appreciate your words. Regarding your question, if you can find someone
who will pay for it, I’ll do it.” So I did, and that’s how I ended up premiering the second book of his Nanosonatas. This was the first time I received sheet music
where it said “For Igor Levit.”

                                                   Rzewski, who was also an accomplished pianist who performed works by the likes of
                                                   Stockhausen and Boulez, at the Kitchen in 2003. Hiroyuki Ito/Getty Images

We eventually met in Berlin. He was playing at the MaerzMusik festival, and he asked me to meet him at an Austrian restaurant. The first thing he said to me was
not “Hello” but “Are you hungry?” I said no, then he said, “Well they make great knödel with goulash.” I said I wasn’t hungry, but then he called the waiter and said,
“This young man wants the knödel with goulash.” So they brought a plate, and before I could touch it his fork was already in my knödel. He just wanted to have a
second plate of goulash.

He wasn’t too enthusiastic about me then. The first time he heard me was different. It took me a couple of years to be able to pull off “People,” but once I did I
couldn’t get enough. He came to Heidelberg, Germany, to hear me play it, and afterward he came backstage. He didn’t say congrats. The only thing he told me was:
“Can you just stand up and leave in the future? All this business about ending a piece in a long silence, what B.S. The piece is not about that. You play the last
octave, you close the music, you leave, life goes on.” It takes a lot of courage to do that; but I did, and the effect on the audience was so much greater. It was a total
breakthrough.

This is a piece written by a man whose main source of inspiration was life itself. He was the embodiment of the Nina Simone idea that artists have to reflect their
own time. And “People” has this unbelievable ability to make every listener believe it’s about him or her. I’ve never experienced a neutral reaction. You’re either for
it or against it, and this is what makes great music great. It is so awake, so hopeful, so alive, so uplifting. That’s why I believe it belongs up there with “Diabelli” and
the “Goldbergs.” I used Bach and Beethoven to give “The People United” the biggest possible platform. In a way, that’s why I learned the “Goldberg” Variations, to
make that project possible.

He wrote “Dreams, Part II” for me, and when I played it for the first time at Wigmore Hall in London, in 2015, he came up after the concert and gave me a hug, then
said, “You’re a real [expletive].”

We grew close over the years. I became more brave and outspoken, and he would always support me. He would send me a long email about this or that; last March,
at the start of the pandemic, he wrote one asking who was greater, Kant or Bach? Through him I was introduced to new music: by Morton Feldman, Alvin Curran,
Christian Wolff. I wasn’t even thinking about politics before, but because of his works I began to read about the Spanish Civil War, the Chilean uprising. And
eventually here was a composer I could call, and he would tell me about Pinochet, and we would talk about everything, from Lehman Brothers to the refugee crisis.

He was a real pain in many ways. He didn’t want a publisher because, he said, they’re all terrorists, bloodsuckers and gangsters. He was so contrarian you would
sometimes have better luck talking to a wall. Yet he was always sincere and brave. And, in the most human way, he was always contradicting himself. He lived
through a time when writing for piano was reinvented. This guy premiered Stockhausen’s Klavierstück X and played Boulez’s Second Piano Sonata. But once, when

https://www.nytimes.com/2021/06/29/arts/music/frederic-rzewski-igor-levit.html                                                                                           1/2
30.6.2021                                         Igor Levit on Frederic Rzewski: ‘The People’s Composer’ - The New York Times
we were talking about Stockhausen and Strauss, we said that Stockhausen wasn’t as well known anymore and he said, “Well, Strauss simply wrote better music.”
He thought the greatest music of the 20th century was the “Four Last Songs.”

For a time he was a teacher, but he never liked it. He said he was terrible. I know. I would call him and say something, for example, “Can you help me with Variation
34?” And his response was: “No. Just don’t play it.” I was like, “Are you serious?” Once, I told him that I was thinking about learning Stockhausen’s Klavierstück
VI, which he played, and he said: “No, that was 50 years ago. I can’t help you.”

But his presence, just seeing him and inhaling the music he wrote, was essential to my life. He was a mixture of Marx, Tolstoy and Obi-Wan Kenobi. He was this
defiant Christian, quasi-Jew atheist — everything at the same time.

He wrote this 75-minute-long piece, “Ages,” for me, which I premiered on his 80th birthday at Wigmore Hall. It was supposed to be 40 minutes, but he didn’t care.
I’ve played quite a lot of his other music, too, like the “North American Ballads.” I also want to do “The Road” at some point, but he thought that was a stupid idea;
he didn’t even know if it was a good piece.

He may not have been the most social person, but the music he wrote was the people’s music. He was the people’s composer. That alone is so important. He wrote
for the people out there, and because he didn’t have a publisher he was able to give everyone access to what he wrote. And you look at something like “People.” It is
an absolutely universal piece at its core; it’s not abstract, and people can understand it.

Frederic was never so naïve as to believe that “People” or “Coming Together” would change the world’s political outcomes. But he must have believed in the
possibility of what music can do to people. It can provide people with an idea. A piano piece can’t save the world. But we can. He will not see the beautiful revolution
he was hoping for, but the revolution will come anyway. And when it’s here, his music will sound with it.

https://www.nytimes.com/2021/06/29/arts/music/frederic-rzewski-igor-levit.html                                                                                       2/2
30.6.2021                                             https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467217/14

        F.A.Z. - Feuilleton                                                                                    Mittwoch, 30.06.2021

                                                         Starkes Signal
                                               Binding-Kulturpreis an ID_Frankfurt

        Vereins­ar­beit ist die Verbes­se­rung der Produk­ti­ons­be­din­gun­gen in den freien darstel­len­den
        Küns­ten. Die Mitglie­der von ID_Frank­furt entwi­ckeln ihre Projek­te in kolla­bo­ra­ti­ver und
        soli­da­ri­scher Arbeits­wei­se, unter­stützt von einem wech­seln­den ehren­amt­li­chen Vorstand.
        Das Kura­to­ri­um der Binding-Kultur­stif­tung habe sich mit ID_Frank­furt für eine Orga­ni­sa­ti­-
        on aus dem Bereich der darstel­len­den Künste entschie­den, weil diese in beson­ders hohem
        Maß von der Pande­mie betrof­fen seien. Die von der Binding-Braue­rei mit 50000 Euro
        ausge­stat­te­te Auszeich­nung soll voraus­sicht­lich am 30.​Oktober im Frank­fur­ter Römer über­-
        ge­ben werden. Dann wird auch die im vori­gen Jahr ausge­fal­le­ne Verlei­hung des Prei­ses an
        die Junge Frank­fur­ter Phil­har­mo­nie nach­ge­holt. Bergit Gräfin Douglas, Vorsit­zen­de des
        Stif­tungs­vor­stands der Binding-Kultur­stif­tung, nannte die doppel­te Preis­ver­lei­hung „ein
        star­kes Signal in einer auch für die Binding-Braue­rei sehr schwe­ren Zeit“. F.A.Z.

https://zeitung.faz.net/webreader-v3/index.html#/467217/14                                                                            1/1
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               Mittwoch, 30. Juni 2021, Berli­ner Zeitung /

               Fuck off, Goethe!
               Heute wäre der Dichterfürst ein Fall für MeToo, aber seit Jahrhun-
               derten sieht man ihm alles nach. Gedanken über unzeitgemäßen
               Schulstoff

                 „Goethe in der römischen Campagna“ heißt das Ölbild von Johann Heinrich
                   Wilhelm Tischbein, das um das Jahr 1799 fertiggestellt wurde.AFP/Ben
                                                Stansall

               C. JULIANE VIEREGGE

               M
                             eine ganze Wohnung ausgelegt mit Büchern, Unterlagen, Arbeitsblättern,
                             Merkzetteln. Die Aufgabe, Aufgaben zu erstellen, zwingt mich zur Beschäfti‐
                             gung mit meiner eigenen Arbeit der letzten zwei Jahre (Stoffverteilung Ober‐
                             stufe). Doch, ich bin zufrieden, das ist ein ziemlich seltenes Gefühl. Die Sache
               hat System, Vollständigkeit ohne Überfrachtung, das ist das Wichtigste. Wenn sie es sich jetzt
               auch noch alles merken könnten ...

               Verwöhnter Hofgünstling

               Funktioniert aber nicht. Zumindest nicht, was den „Faust“-Stoff angeht, und das liegt nicht
               nur am Lockdown. „Faust“ ist für ältere und alte (lebenserfahrene) Menschen und nichts für
               Achtzehnjährige. Eine von gefühlt tausend didaktischen Fehlentscheidungen sozusagen – Bil‐
               dungsplan 2021! So muss ich ihnen den Stoff – das literarisch veredelte Jammern auf hohem
               Niveau eines ewig Unzufriedenen, der schon alles hat – in die Gehirne hämmern, der da nicht
               rein will. Und auch nicht reingehört, weil er dem Erlebnishorizont nicht angemessen ist.

               Interessant: Beethoven über Goethe nach ihrem Treffen in Teplitz zu seinem Verleger G.C.
               Härtel: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr – mehr als es einem Dichter ziemt.“ (zitiert nach
               „Beethoven. Briefe und Gespräche“, hrsg. von Max Hürlimann, Zürich 1944, S. 154) Man
               könnte es gar nicht besser formulieren!

               Abgesehen davon, dass der Dichterfürst heute ganz eindeutig ein Fall für MeToo wäre, profi‐
               tierte er ab seinem 26. Lebensjahr, seit er sich nämlich in Weimar häuslich eingerichtet hatte,
               von seiner Rolle als verwöhnter, verhätschelter Hofgünstling. Der pubertäre Herzog Carl Au‐
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               gust und seine Mama Herzogin Anna Amalia hatten einen Narren an ihm gefressen und taten
               alles, um ihn in Weimar zu halten. Sie machten ihm großzügige Geschenke, zum Beispiel das
               berühmte Gartenhaus im Park an der Ilm.

               Dazu kamen politische Ämter. 1776 ernannte der Herzog seinen Dichterkumpel zum Gehei‐
               men Legionatsrat und Mitglied des Geheimen Consiliums, einem dreiköpfigen Beratergre‐
               mium des Herzogs, mit dem netten Jahressalär von 1200 Talern. Diesem Gremium gehörte
               der Jurist Goethe bis zu dessen Auflösung im Jahr 1815 an und stimmte da 1783 auch explizit
               der Todesstrafe für die ledige Johanna Catharina Höhn zu – aus Verzweiflung über drohende
               Armut und gesellschaftliche Ächtung hatte sie ihr Neugeborenes umgebracht. Ihr Fall, wie
               auch schon der frühere der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt, regten Goethes
               Phantasie an, was sich schließlich in der Konzeption der Gretchentragödie niederschlug. Der
               literarischen Figur allerdings brachte er sehr viel mehr Verständnis und Mitleid entgegen –
               aber das war ja auch Dichtung und nicht Wahrheit.

               An seinen best Buddy Johann Georg Kestner (in dessen Gattin Charlotte Buff sich Goethe so
               verliebte, dass er daraufhin den „Werther“ schrieb) vermeldete er am 14. Mai 1780, dass er
               sein literarisches Schaffen während des Staatsdienstes zurückstellen werde, sich aber „doch
               erlaube [...] nach dem Beispiel des großen Königs, der täglich einige Stunden auf die Flöte
               wandte (gemeint ist Friedrich der Große), auch manchmal eine Übung in dem Talente, das
               mir eigen ist“ (zitiert nach Dieter Borchmeyer: „Weimarer Klassik“, Weinheim 1998, S. 66)

               Johann Wolfgang Goethe war eben ein ganz Schlauer! Zahlreiche Ämter und Ehrenaufgaben
               konnte er dank seiner Verbundenheit mit der Herzogsippe einheimsen, was J. G. Herder zu
               einer ironischen Auflistung aller Goethe'schen Funktionen veranlasste: „Er ist also jetzt Wirk‐
               licher Geheimer Rat, Kammerpräsident, Präsident des Kriegscollegii, Aufseher des Bauwe‐
               sens bis zum Wegebau hinunter, dabei auch Directeur des plaisirs, Hofpoet, Verfasser von
               schönen Festitivitäten, Hofopern, Balletts, Redoutenaufzügen, Inskriptionen, Kunstwerken
               usw., Direktor der Zeichenakademie, [...] kurz, das Faktotum des Weimarschen und, so Gott
               will, bald der Major domus sämtlicher Ernestinischer Häuser, bei denen er zur Anbetung um‐
               herzieht.“ (zitiert nach Nicholas Boyle: „Goethe. Der Dichter in seiner Zeit“, Band I: 1749–1790,
               Frankfurt am Main 2004, S. 392)

               Noch direkter formulierte es der zeitgenössische Journalist und Theaterkritiker Ludwig Börne,
               der Goethe unumwunden als „Despotendichter“ titulierte (siehe Gero von Wilpert: „Die 101
               wichtigsten Fragen: Goethe“, München 2007, S. 121 f.). Nicht einmal das heute von Touristen
               viel besuchte Haus am Weimarer Frauenplan hatte Goethe selbst bezahlt: Herzog Carl August
               überließ es ihm mietfrei, nachdem Goethe von seiner zweijährigen Italienreise zurückgekehrt
               war und keine Lust mehr auf so viel Staatsdienst hatte.

               In Italien war er zu seinen künstlerischen Wurzeln zurückgekehrt und wollte sein Leben wie‐
               der dem Schreiben widmen. Noch von dort aus versicherte er sich der finanziellen Unterstüt‐
               zung durch seinen Brotherrn. Der Plan ging auf: Der Herzog gewährte ihm die erbetene Ver‐
               längerung seines bezahlten Urlaubs, so dass Goethe bis Ostern 1788 in Rom bleiben konnte.
               Noch im selben Jahr und wieder zurück in Weimar, lernte er Christiane Vulpius kennen, die
               bald ein Kind nach dem anderen von ihm bekam. Goethe erhielt das Haus am Frauenplan
               nun sogar geschenkt, offiziell, weil er den Herzog auf zwei Feldzügen begleitet hatte. Im Ge‐
               genzug unterstützte der einflussreiche Dichter seinen herzoglichen Brotgeber bei dessen au‐
               ßerehelichen Eskapaden und kümmerte sich um die Versorgung mehrerer unehelicher Kin‐
               der und deren Mütter.

               Dass Goethe sich selbst als Kind des Olymp ansah, beschenkt mit gottgleicher Schrankenlo‐
               sigkeit und ebensolcher Schaffenskraft, zeigt sich nicht zuletzt im Spiegel seines „Faust“. Wie
               wäre es wohl ohne die schützende Hand der Mächtigen um ihn bestellt gewesen? Das würde
               mich sehr interessieren. Die meisten Künstler, von denen ich weiß, hingen und hängen le‐
               benslang in dem Dilemma zwischen Brotberuf und künstlerischer Selbstverwirklichung fest.

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               Schon die Sammlung von Friedrich Schillers Bitt- und Bettelbriefen „Gnädigster Herr, ich
               habe Familie“ (München, 2009) ist hierfür ein bedrückendes Bespiel.

               Goethes Privilegien indessen stehen einem im Park an der Ilm in Weimar bis heute vor Au‐
               gen: Noch immer zeigt dieses Stück Land am Rand der Altstadt dasselbe Erscheinungsbild,
               wie es unter des Dichters Anleitung angelegt wurde. Jedem Impuls seiner dichterischen, gärt‐
               nerischen oder naturwissenschaftlichen Phantasie konnte er ungehindert nachgeben, Zeit
               und Geld standen ihm ohne Ende zur Verfügung. Er war ein von der Obrigkeit und den litera‐
               rischen Salons gehätschelter Zeitgenosse, der immer nur gerade so viel provozierte, wie es die
               feine Gesellschaft ertrug. Weshalb er die heftigsten Sexstellen aus der Walpurgisnacht-Szene
               entfernte, ehe ihm ein öffentlicher Shitstorm daraus erwachsen konnte.

               Am Ende siegt der Konsens

               Ein Erkunder der dunklen Abgründe menschlicher Existenz war Goethe nicht, auch sein
               Faust schreckt vor diesen immer wieder zurück, und am Ende siegt der Konsens, die Aussöh‐
               nung mit sich selbst und den Anforderungen der Gesellschaft – soweit die wenig innovative
               Moral von der Geschicht’. Goethe war ein Staatsmann. Grenzüberschreitungen gab es nur,
               wenn es um Frauen ging. Gegen die Zwangsrekrutierung von jungen Männern für die preußi‐
               sche Armee, gegen die Fronlasten der Bauern, die Todesstrafe von ledigen Kindsmörderinnen
               wäre er niemals eingetreten. Schiller ging da viel weiter. Aber die Identifikationsfigur des
               deutschen Bürgertums bleibt Goethe. Der Beamte.

               C. Juliane Vieregge ist Autorin und unterrichtet Kreatives Schreiben. Sie lebt in Tübingen.

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