PRINZIPIEN UND AUFGABEN DER IDEENGESCHICHTE IM LESSICO INTELLETTUALE EUROPEO - Brill

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Riccardo Pozzo
                                Consiglio Nazionale delle Ricerche, Rom

              PRINZIPIEN UND AUFGABEN
                DER IDEENGESCHICHTE
          IM LESSICO INTELLETTUALE EUROPEO
                  E STORIA DELLE IDEE

1. TRANSLATIO          STUDIO RUM

Über einige Prinzipien und Aufgaben der Ideengeschichte im Lessico Intel/ettuale
Europeo 1 findet man auf Englisch in Marco Sgarbis schillerndem Buch zur Trans-
latio Studiorum Auskunft. 2 Denn das vor kurzem erschienene Buch versammelt
sowohl definitorische als auch operative Vorschläge, die von Tullio Gregory und

      Das "Istituto per il Lessico Intellertuale Europeo e la Storia delle Idee (ILIESI)" wurde im Jahre 1964
      gegründet und stellt sieh auf seiner Internetseite  [04.10.2014] folgendermaßen
      vor: "The Istituto per il Lessieo Intellettuale Europeo e Ja Storia delle Idee (lLIESI) is dedicated to
      the history of cultural and scientific terminology. ILIESI focuses on the phenomenon of cultural
      migration, which accompanies the whole history of civilizations while involving continuous relations
      and reciprocal exchanges among diverse cultures, and thUS translations (in their widest sense) of texts
      and modules from one to another context, be it linguistic, economie, political, or cultural. Its re-
      searchers investigate several epochs under the assumption that at the root of the history of philosophy
      and of the sciences and more generally of the history of ideas lie textual corpora that have been de-
      veloped in the context of each discipline over the centuries. Historieal semantie tools consider tech-
      nical uses and ambiguities, synchronie and diachronie inter-relations, translations and transpositions
      across lexical fields. The specificity of their methodology requires keeping elose to texts, individual
      terms and lexical families. Hence the publication oflexica, indiees and concordances, the setting-up
      of data-bases and scientific data processing applied to technical terminology in the humanities. Cur-
      rent lines of research embrace the history of European cultural terminology in connection with the
      Greek, Latin, Hebrew and Arab tradition, the history of Ideas, ICT methods for textual analysis.
      Agora (ICT Policy Suppon), Open Scholarly Communities on the Web (CostAction 32), and PHerc
      (ERC Starting Grant) are the EC projects it is now hosting. ILIESI is partner with philosophers,
      historians of science and linguists all over Europe and the US and with research teams of the CNRS,
      CSIC, CNPq, MPI and the Library ofCongress." Vgl. A. Liburdi: Ptr una storia tlei Lessico Intellet-
      tuale Europeo. Rom: Lessieo intellettuale europeo 2000; dies.: Ii Lessico Intel/ettuale Europeo dai 2001
      al2006. Da Centro di studio a Istituto. Rom: Lessico intellettuale europeo 2007.
  2   M. Sgarbi: Translatio Studiorum. Ancient, Medievai and Modern Bearers ofInteilectual History (Brill's
      Studies in Intellectual History, Bd. 217). Leiden: Bri1l2012.

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einer Anzahl von Mitarbeitern und Assoziierten am Lessico Intellettuale Europeo
aus Italien und dem Ausland ausgearbeitet wurden. In seinem Leitartikel unter
dem Titel Tramlatio Studiorum erinnert Gregory daran, dass "every culture has
come to be by means of a continuous translation and rewriting of preceding mean-
ings, a sequel of translations and transformations." Demnach sei die translatio stu-
diorum "a continuous transposition of texts - texts considered in the widest
meaning [j ... ] rewritings, translations, interpretations, and metamorphosis." Denn
es gehe um die Rekonstruktion bestimmter Momente in der

      translation of written texts from me one to the other geographie, politieal and
      linguistie context within the horizon and the limits of the formation of Euro-
      pean culture, in respect to whieh the translationes have often been the mark of
      crisis and palingenesis. 3

Schon im Jahre 2006 hatte Gregory in Origini della terminologia filosofica modema
auf folgende zwei Beispiele hingewiesen. Als Boemius im 6. Jahrhundert Aristoteles
ins Latein von Cicero übersetzte, tat er dies erstens, weil er die klassische lateinische
Sprache aufrechterhalten und zweitens ebendiese klassische Sprache mit Einbezie-
hung der neuen Paradigmata der aristotelischen Philosophie transkribieren wollte.
Als Kant sich für das Wiederbeleben von griechischen Termini wie phenomenon
und noumenon entschloss, tat er dies aus ähnlichen Erwäggründen. Einerseits
wollte er auf die Tradition der von Meister Eckhart und Martin Luther initiierten
Philosophieschreibung auf Deutsch zurückgreifen und diese andererseits im Kon-
text seiner eigenen kopernikanischen Revolution neugestalten. 4

2.   SPRACHE DER PHILOSOPHIE

Die Sprache der Philosophie ist bis in die Neuzeit das Lateinische. Erst im 18.
Jahrhundert setzen sich vernakuläre Ausdrücke durch. Von Wolff über Meier bis
Kant gibt es eine kontinuierliche Entwicklung. Nimmt man außer der Wort- auch
die Begriffsgeschichte in Angriff, so ist offensichtlich, dass das Zeitalter der Auf-
klärung gerade in Bezug auf die Entstehung einer logischen Fachsprache in
Deutschland als Geburtsdatum der meisten Termini gelten muss. In der Vorrede
zum ersten Band vom Lambert-Index hat Norbert Hinske zunächst der Logik das
Vorrecht gegeben, weil man ihren Wortschatz besser überblicken kann. Im Hin-
blick auf die Frage nach den Erstbelegen, ist deshalb die 1982 in Trier begonnene
lexikalische Erschließung des logischen Sprachguts als eine unentbehrliche Ergän-

     3 T. Gregory: Translatio Studiorum. In: Sgarbi: Translatio Studiorum, S. 9.
     4 Ders.: Origini della terminologiafilosofica moderna (Lessico Intellettuale Europeo Opuscula, Bd. 1),
       Firenze: L. S. Olschki 2006, S. 39f, 57f.

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Prinzipien und Aufgaben der Ideengeschichte                                        75

zung zum Deutschen Worterbuch zu sehen. Seit 1992 besteht ein Kooperations-
abkommen zwischen dem Lessico Intellettuale Europeo und der mit der Erstellung
der Indices "Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung (FMDA)"
beauftragten Kam-Arbeitsstelle der Universität Trier. 5
   In der Tat kann man Tullio Gregory nur zustimmen, wenn er in der Vorrede
zum ersten Band der lateinischen Abteilung vom Lessico filosofico dei secoli XVII e
XVII! den das neuzeitliche Latein betreffenden Forschungsstand folgendermaßen
schildert:

   gli studi su11atino moderno hanno privilegiato aspetti stilistici e formali, 1a-
   sciando da parte, come di scarso rilievo, 1a vasta produzione in cui esso ha tro-
   vato alcune delle sue phI vitali espressioni: vogliamo dire 1e opere di carattere
   610s06co e scienti6co, tecnico e pratico e le traduzioni ove la lingua 1atina -
   gia arricchita dagli usi e dal1essico tardomedievale - e stata impegnata a de-
   scrivere realta. 6

Die besondere Bedeutung der lateinischen Terminologie liegt auf der Hand, und
selbst die Qualität und die Wichtigkeit der auf Lateinisch verfassten Werke ist ein
Zeichen dafür, wie die lateinische Sprache von der Renaissance bis zum Ende des
18. Jahrhunderts in Zusammenwirkung und nicht in Emgegensetzung zu den Na-
tionalsprachen als die Sprache der Republique des Lettres gewirkt hat. Man denke
z. B. an Bacons Hauptwerk: Es erschien zunächst 1,605 auf Englisch mit dem Titel
The Two Bookes 0/Proficience and Advancement ofLearners, Divine and Humane,
fand aber eine breite Leserschaft erst mit der 1623 erschienenen lateinischen Fas-
sung De dignitate et augmentis scientiarum, welche die englische Vorlage wesentlich
vermehrte und verbesserte. Ins Italienische wurde Bacons Werk erst 1788 übersetzt,
während die erste deutsche Übersetzung des ersten Teils, des Neuen Organon 1793
auf Bestreben von Salomon Mairnon veranlasst wurde.?
    Lateinisch sind also die Titel der bisher dreizehn Kolloquien des Lessico Intel-
lettuale Europeo, die bereits eine Nomenklatura für ein ideales Lexikon Europas
ausmachen:
    Experientia (LIE, Bd. 91)
    Idea (LIE, Bd. 51)
    Locus-Spatium (LIE, Bd. 122)
    Machina (LIE, Bd. 98)
    Materia (LIE, Bd. 112)

  5 N. Hinske: Vorrede. In: Lambert-Index, Bd. 1: Stellenindex zu Johann Heinrich Lamben .Neues Or-
    ganon 1" (Forschungen und Marerialien zur deutschen Aufklärung, Abt. III, Bd. 31.1), Stuttgart-
    Bad Cannstatt: Frornmann-Holzboog 1983, S. VII.
  6 T. Gregory: Presentazione. In: LtsSico filosofico dei secoli XVII e XVIII XVIII Sezione /atina, Bd. 1,
    hg. von M. Fattori (Lessico Intellettuale Europeo Bd. 57), Roma: Ed. ddl'Ateneo 1992, S. VII.
  7 M. FattorilM. L. Bianchi: Introduzione. In: ebd., S.   xv.

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      Natura (LIE, Bd. 105)
      Ordo (LIE, Bde 20-21)
      Phantasia-Imaginatio (LIE, Bd. 46)
      Ratio (LIE, Bd. 61)
      Res (LIE, Bd. 26)
      Sensus (LIE, Bd. 66)
      Signum (LIE, Bd. 77)
      Spiritus (LIE, Bd. 32)

Die Datenbänke vom lstituto per il Lessico Intellettuale Europeo e Storia delle Idee
vom italienischen Consiglio Nazionale delle Ricerche wurden 1964 initiiert. Da-
durch zählt das Institut wohl zu den ernsten digitalen Bibliotheken auf der Welt
- obwohl das Syntagma zu jener Zeit noch nicht da war. In den achtziger Jahren
wurden die Datenbänke rur die Erstellung des Lessico filosofico dei secoli XVII e
XVIII umgestellt, welches zunächst rur die lateinische Sprache in vier Bänden er-
schien, allerdings erst die Einträge zu den Buchstaben A-B enthielt. 8 Seitdem hat
es eine TEl Migration gegeben; und heutzutage besitzen die Datenbänke eine au-
tonome Struktur, die von Lessico-Forschern je nach Bedürfnis ausgeweitet wird.
In der Regel handelt es sich bei den Werken um Originaldrucke, oft mit den Bil-
dern der Originalausgabe und nicht um kritische Editionen. Bibliographische Me-
tadaten werden gemäß den Anweisungen von Europeana und der World Digital
Library bereitgestellt.

3.   DEUTSCHE BEGRIFFSSPRACHE

Da vor einigen Monaten die Edition von Kants lateinischen Schriften rur die neue
Ausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften dem Lessico
Intellettuale Europeo anvertraut wurde, erscheint es angebracht, hier einige Argu-
mente zur Einruhrung über die Prinzipien der lexikalischen Erschließung anhand
der deutschen Begriffssprache vorzulegen.
   Grob gerechnet vollzieht sich die Ausbildung einer eigenständigen deutschen
Begriffssprache auf dem Gebiet der Philosophie im Schaffenszeitraum von Chris-
tian Thomasius bis Immanuel Kant, also in einer Zeitspanne von etwa hundert
Jahren mit zahlreichen interessanten Zwischenschritten, Episoden und Etappen. 9
Nachdem sich diese neue Begriffssprache im Zeitalter des Kritizismus durchgesetzt
hatte, sah es lange so aus, um ein Bild von Norbert Hinske zu benutzen, als sei sie

     8 Lessico filosofico dei secoli XVII e XVIII Sezione latina (Lessico Intellettuale Europeo, Bde. 57, 63,
       73,86), Firenze: 1992-1999.
     9 Vgl. PhilosophicalAcademic Programs olthe German Enlightenmmt, hg. von S.-K. Lee/R. Pozzo/M.
       Sgarbi/D. von Wille (Forschungen und Materialien zur Universitätsgeschichte, Abt. I, Bd. 4), Stutt-
       gart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2012, S. XIf.

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Prinzipien und Aufgaben der Ideengeschichte                                       77

wie Pallas Athene unmittelbar dem Haupt des Zeus entstiegen. 10 Dieses Problem
zu thematisieren ist nun die Aufgabe meines Beitrags. Was ursprünglich einmal
mit zäher Mühe erarbeitet werden musste, gewann um das Ende des 18. Jahrhun-
derts rasch den Anstrich des fraglos Selbstverständlichen. Jedenfalls ist die exakte
begriffsgeschichtliche Erforschung jenes Weges von Thomasius bis Kant erst über-
raschend spät in Gang gekommen. Mittlerweile liegt auch bereits eine ganze An-
zahl EDV-erzeugter Indices für diesen Zeitraum vor. Allerdings machen die beiden
großen begriffsgeschichtlich orientierten Lexika der Gegenwart, das Historische
 Wörterbuch der Philosophie und die Geschichtlichen GrundbegrifJe,ll von EDV-ba-
sierten Forschungen und ihren Ergebnissen nur selten Gebrauch.
   Das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Aufklärung, bedeutet für Deutsch-
land zugleich das Zeitalter eines einschneidenden Umbruchs, ja geradezu einer
terminologischen Revolution auf dem Feld der Wissenschaftssprache. Während
die Philosophie in Frankreich und in England längst zu ihrer Muttersprache ge-
funden hat, begibt sie sich in Deutschland, in der Mitte Europas, nur zögernd auf
diesen Weg. Epochemachende Werke der Philosophie erscheinen nach wie vor auf
Lateinisch, erinnert sei nur an Christian WolfE Psychologia empirica (1732), der
Gründungsakt der Psychologie als empirische Wissenschaft, an Alexander Gottlieb
Baumgartens Aesthetica (1750-1758), der Gründungsakt der Ästhetik, und an
Kants berühmte Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et prin-
cipiis (1770),12 bis zu einem gewissen Grade der Gründungsakt der kritischen Phi-
losophie.
   Die Lage hatte sich mit der Neubearbeitung des Grimmschen Deutschen Wörter-
buchs nicht gebessert. Denn im Vorwort zum 1983 publizierten ersten Band er-
klären die Herausgeber zur Belegdatierung, dass im "Unterschied vom älteren
Werke [... ] jeder Beleg datiert" würde, was nur zu willkommen wäre. Allerdings
bilden nach wie vor "die bereits den früheren Bänden des Wörterbuchs zugrunde"
liegenden Quellen den Kernbestand der kritischen Neubearbeitung. "Dieser Be-
stand wurde ergänzt insbesondere für die ältere Sprache, um der Wortdarstellung
ein möglichst tragfähiges Fundament zu geben, und für die Gegenwart. "13
   Es ist allerdings befremdlich, wenn die Mitarbeiter des von den Gebrüdern
Grimm initiierten Projekts eines Deutschen Wörterbuchs für philosophische Termini

 10 N. Hinske: Zwischen Aufklärung und Vernunftkritik (Forschungen und Materialien zur deutschen
    Aufklärung, Abt. II, Bd. 13). Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1998, S. 35-37.
 11 Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter/K. GrÜnder/G. Gabriel, BasellStuttgart:
    Schwabe 1971-2007; Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache
    in Deutschland, hg. von O. BrunnerIW Conze/R. Koselleck, Stuttgart: Klett-Cotta 1972-1997.
 12 lndici e concordanze degli scritti latini di lmmanuel Kant, hg. von A. LamarralP. Pimpinella (Lessico
    Internazionale Europeo, Bd. 42). Rom: Ed. de!I'Ateneo 1987.
 13 Neubearbeitung des Grimmschen Deutschen Wörterbuchs, Bd. 1, hg. von E. Ade!berg/W. Braun/L. Dü-
    ckert/U. Fratzke/A. HuberlJ. Mantey/G. PfeiferlH. Schmidt/U. Schröter et. al., Leipzig: Hirze!
    1983, S. 5-7.

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meistens Erstbelege bei Kant angeben. Die Begriffe "reiner Verstand" bzw. "reine
Vernunft" fehlen übrigens bei Grimm vollständig. Das von den Mitarbeitern des
Deutschen Wörterbuchs zugrunde liegende Verfahren, Kant als Hauptquelle rur die
philosophische Terminologie heranzuziehen, erscheint als ein gravierender Fehler,
bedeutet es doch eine chronologische Verflachung am Ende des Zeitalters der Auf-
klärung. Man kann beispielsweise auf eine Reihe von Termini aufmerksam ma-
chen, die zwar bei Kant auftauchen, aber bei Georg Friedrich Meier um die Mitte
des Jahrhunderts bereits zu finden sind. Unter anderen hat Norbert Hinske in der
Einleitung zum ersten Band des Kant-Index die folgenden Termini verzeichnet:
amphibolia, analysis, antithesis, dialectica, disciplina; doctrina, paralogismus, apago-
gicus und dogmaticus. 14 Schon vor hundertzehn Jahren hatte Paul Piur darauf auf-
merksam gemacht, dass im Grimmsehen Wörterbuch "die Angaben über
philosophische Termini meist erst bei Kant beginnen, während weder die vor-
Wolffsche noch besonders die außerordentlich reichhaltige nach-Wolffsche philo-
sophische deutsche Sprache irgendwie genauer berücksichtigt wird"; dies "dürfte
schon als ein methodischer Fehler zu bezeichnen sein, der nicht nur rur die Chro-
nologie[,] sondern überhaupt für die Untersuchung der Bedeutungsentwickelung
der Termini und ihrer Ableitungen schlimme Folgen nach sich ziehen kann."15
Beispielsweise findet man im Eintrag "Bewußtsein" aus dem Grimmsehen Wör-
terbuch einen Verweis auf Kant, nicht aber auf Christian Wolff, der als Urheber
des Terminus in seinen Vernünfftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des
Menschen, auch allen Dingen überhaupt (§194-197) aus dem Jahr 1719 gilt. 16
Nicht von ungefähr konzentriert sich die Forschung am Lessico Intellettuale Europeo
zunächst auf die Feststellung von Neologismen.

4.   LATEIN AN DEN HOCHSCHULEN

Und selbstverständlich wurden auch die Lehrveranstaltungen an den deutschen
Universitäten nach wie vor auf Lateinisch angekündigt und in den meisten Fällen
auch gehalten: In Königsberg hat man traditionsgemäß bis 1781 zumindest einen
Typ von Veranstaltungen, nämlich die Repetitoria, in der Regel noch auf Lateinisch
durchgeruhrt, wie z. B. Kants Ankündigungen vom Sommersemester 1781 und
Sommersemester 1783 deutlich machen. (Dank dieser Informationen kann man
unter anderem den Entstehungsprozess der Kantischen Vorlesungsnachschriften

  14 N. Hinske: Vorrede. In: Kant-Index, Bd. 1: Stelleniru/ex und Konkordanz von Georg Friedrich Meier
     "Auszug aus der Vemunftlehre" (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, Abt. III,
     Bd. 5). Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1986, S. VII.
  15 P. Piur: Studien zur sprachlichen Würdigung Christian Wolffi. Halle: Niemeyer 1903, S. 24f.
  16 H. Hohenegger: La terminologia della coscienza in Kant. Pars destruens. In: Coscimza nella filosofia
     della prima modemitiJ, hg. von R. Palaia (Lessico Intdlettuale Europeo, Bd. 119), Firenze: Olschki
     2013, S. 136-168.

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Prinzipien und Aufgaben der Ideengeschichte                                       79

unter Berücksichtigung der lateinischen Zusätze verfolgen. Man vergleiche z.B.
die Parallelstellen der Logik Philippi und der Logik Busolt, wo es um den "Hori-
zont der Erkenntnis" geht.) Enthält eine Nachschrift lateinische Zusätze, dann
müssen diese aus einem früher gehaltenen Repetitorium stammen, das seinerseits
als Ergänzung zu einer gleichzeitig laufenden Vorlesung abgehalten wurde. (Ein
markantes Beispiel für eine solche Ergänzung anlässlich der Kategorientafel ist in
der Logik Pölitz zu finden.) Bis zum Durchbruch zu einer eigenen allgemein ver-
ständlichen und allgemein anerkannten deutschen Begriffisprache - die unabding-
bare Voraussetzung für den Siegeszug erst der kritischen und dann der
idealistischen Philosophie am Ende des Jahrhunderts -, war ein langer steiniger
Weg zu beschreiten.
   Dass Kant Lateinisch während des Unterrichts sprach, ist durch hunderte von
Stellen in den Reflexionen und in den Vorlesungen belegt. Darüber hinaus machen
die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg 1720-1804 bekannt, dass
Kant Repetitoria auf latino sermone las.!7 So liest man beispielsweise in der Logik
l)ohna-VVundlacken:

   Wenn wir die Philosophie als Inbegriff mehrerer Wissenschaften ansehen, so
   wollen wir erst auf die sogenannten 7 freien Künste sehen: 1. Grammatik, 2.
   Rhetorik, 3. Dialektik, 4. Arithmetik, 5. Musik, 6. Geometrie, 7. Astronomie.
   [Diese Einteilung machte Hrabanus Maurus (zur Zeit Karls des Großen) zum
   Behuf der Theologie. - Man teilte damals alle Wissenschaften in a) obere Fa-
   kultät: 1. Erhaltung der Seligkeit, 2. der Freiheit und des Eigentums, 3. Leben
   und Gesundheit, überhaupt das esse; b) melius esse, die untere Fakultät].!8

5. VON INTELLECTUS PURUS ZUR REINER VERNUNFT
Die Frage ist, welche Instrumente uns heute zur Verfügung stehen, um den Über-
gang vom intellectus purus zum "reinen Verstand" bzw. zur "reinen Vernunft" wis-
senschaftlich zu rekonstruieren? Dazu hat Norbert Hinske die ersten Materialien
zur Verfügung gestellt: "Einen ersten Wink gibt bereits die Häufigkeitsverlaufs-
kurve des lateinischen Lemmas pums (bzw. pure), eines Adjektivs, das innerhalb
der Druckschriften Kants 1770 [... ] wie aus heiterem Himmel auftaucht und mit
seinen 31 Belegstellen einen deutlichen Hinweis auf die neuen Fragestellungen
einer Theorie der ,ratio pura', der ,reinen Vernunft' liefert."!9 Ich werde im Fol-

 17 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg 1720-1804, hg. von M. OberhausenIR. Pozzo (For-
    schungen und Materialien zur Universitätsgeschichte, Abt. I, Bd. 1), Stuttgart-Bad Cannstatt: From-
    mann-Holzboog 1999, S. XXXVII.
 18 I. Kant: Kants Werke, Akademieausgabe Bd. 24, Berlin: de Gruyter 1966, S. 699f.
 19 Hinske: Zwischen Aufkliirungund Vemunftkritik, S. 39, insbes. die Tafel mit der Häufigkeitsverlaufs-
    kurve, S. 162.

                                                                                     Riccardo Pozzo - 9783957438928
                                                                      Downloaded from Brill.com10/26/2021 05:53:13AM
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genden die These aufstellen, dass dieser Übergang als ein Paradebeispiel der Be-
dingungen und Schwierigkeiten anzusehen ist, die im Allgemeinen den Übergang
vom Lateinischen zum Deutschen in der Philosophie der deutschen Aufklärung
begleitet haben.
   Der Übergang vom intellectus purus zur reinen Vernunft veranlasste sicher man-
che philosophische Frage schon bei Kants Zeitgenossen. Was am meisten verwun-
dert, ist nämlich, dass ein anonymer Übersetzer, der für den empirischen
Psychologen Charles Bonnet einige Auszüge aus Kants Kritik der reinen Vernunft
auf Französisch bereitgestellt hat, "reine Vernunft" durchgängig als entendement
pur, also durch Malebranches Begriff missversteht. 20 Solche Missdeutungen er-
folgten nicht nur in Genf, sondern auch in Berlin. So hat C. G. SeIle Kants Begriff
der Urteilskraft durch raison missverstanden. 21 Ferner sei auf eine Bemerkung aus
einer englischen Besprechung aus dem Jahr 1798 hingewiesen, die bezüglich John
Richardsons 1797 veröffentlichter Übersetzung von Jakob Sigismund Becks Buch
Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof Kant aufAnrathen
desselben unter dem Titel The Principles of Critical Philosophy erschien: Darin kri-
tisiert der Autor, dass die vielen neuen Termini, die von Kant eingeführt wurden
und die Bedeutung, die er den alten zugewiesen habe, seine Metaphysik dem Ver-
ständnis recht schwer zugänglich gemacht hätten. 22 Nun versteht man Kants Äu-
ßerung gegenüber Christian Garve besser, dass es sich mit dem 1781 erschienenen
Buch um eine "ganz neue und bisher unversuchte Wissenschaft, nämlich die Critik
der reinen Vernunft"23 handle, womit sich Kant auch für die ungewohnte Termi-
nologie zu entschuldigen scheint.

6.   SCHLUSS

Zum Schluss sei nochmals betont, dass die Erforschung der Terminologie der deut-
schen Aufklärung die Aufstellung eines neuen, begriffsgeschichtlichen Ansatzes
verlangt. Man muss über die gewiss hohen Standards, die von den Ideenhistorikern

 20   G. H. MüllerIR. Pozzo: Bonnet critico di Kant. Due eahiers ginevrini del 1788. In: Rivista di storia
      dell4filosofia 43, Milano: F. Angeli 1988, S. 131-164, hier S. 139.
 21 G. C. Seile: De la n!alite et de l'idealite des objets de nos connoissances. In: Memoires de l'Acadtmie
    Royak des Sciences et Belles-Lettres, Klasse der Belles-Lettres, 1786-1787. Berlin: Decker 1792.
 22 Anonym. In: The Critical Review 22 (1797), S. 82: "However important Kant's system of philosophis-
    ing may be in itself, or however clearly it hath been explained by Professor Beck in his abstract, the
    representation of it, in the translation before us, surpasses our comprehension. From the many new
    terms introduced by Kant, and the different significations annexed to old ones, his style, otherwise
    verbose and embarrassed, hath rendered his metaphysics hard to be understood." Zitiert in G.
    Micheli: The First English Translations ofKant. In: Ideengeschichte und Wissenschaftsphilosophie. Fest-
    schriftfir Lutz Geldsetzer, hg. von R. Dodel et al., Köln: Dinter, VerI. für Philosophie 1997, S.
    76-104, hier S. 96.
 23 1. Kant: Kants Werke, Akademieausgabe Bd. 10, Berlin: Reimer 1969, S. 340.

                                                                                      Riccardo Pozzo - 9783957438928
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Prinzipien und Aufgaben der Ideengeschichte                           81

des 20. Jahrhunderts aufgestellt wurden, hinausgehen und zwar erstens durch die
Einbeziehung der EDV-gestützten lexikographischen Aufarbeitung des philoso-
phischen Sprachguts und zweitens durch eine Herangehensweise über echte phi-
losophische Fragestellungen anstelle einer bloßen Doxographie.

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