Immanuel Kant, Hannah Arendt und das runde Leder - Impressionen einer Reise nach Kaliningrad im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2018 ...

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Immanuel Kant, Hannah Arendt und das runde Leder - Impressionen einer Reise nach Kaliningrad im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2018 ...
Immanuel Kant, Hannah Arendt und das runde Leder
        Impressionen einer Reise nach Kaliningrad im Vorfeld der
                    Fußballweltmeisterschaft 2018
                                  VON GERHARD BARKLEIT
Niemand hätte es für möglich gehalten, dass im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft die
Direktflüge aus der Hauptstadt des amtierenden Weltmeisters in einen Austragungsort von
immerhin vier Vorrundenspielen eingestellt würden. Es blieben zwei Varianten, nämlich über
Warschau oder über Minsk. Wer sich für Warschau entschieden hatte, war mehr als acht
Stunden unterwegs, wurde dafür aber mit einer Überraschung belohnt. Die jungen und
hübschen Beamtinnen lassen sich auf ein lockeres Gespräch ein. Nur wer die deprimierenden
Kontrollen zu Sowjetzeiten erlebt hat, kann das als Fortschritt regelrecht genießen. Nach dem
Verlassen des Terminals ein Blick zurück auf das neue Abfertigungsgebäude – recht ansehnlich
für einen schwach frequentierten Regionalflughafen unweit des Kurischen Haffs.

Erscheint ab 18. Juni 2018 in mehreren Folgen unter dem Titel
Kaliningrad zwischen Kant und Fußball-WM
im Internet-Blog Oiger von Heiko Weckbrodt
[https://oiger.de/]

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Bald rollt der Ball
Die Stadtrundfahrt am folgenden Tag hielt zwei weitere Überraschungen bereit. Ein Blick
durch die Absperrung der Großbaustelle eines Fußballstadions für die in Kürze beginnende
Weltmeisterschaft, auf der von den Außenanlagen des Stadions noch nichts zu sehen war, rief
Erstaunen hervor. Hier sollen am 16. Juni Kroatien und Nigeria das zweite Vorrundenspiel der
Gruppe D austragen, fragten wir. „Wir Russen sind manchmal ein wenig faul“, beruhigte uns
die Reiseleiterin mit einem Hauch von Selbstironie. „Zu Sowjetzeiten haben wir die
Fünfjahrpläne auch immer erst an den letzten drei Tagen erfüllt.“ Das Stadion für etwas mehr
als 30.000 Zuschauer wurde der Münchner Allianz-Arena nachempfunden.

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Eine vom Deutsch-Russischen Austausch und dem Auswärtigen Amt unterstützte
Nichtregierungsorganisation für Fußballkultur in Osteuropa, der Fankurve-Ost e.V.1, widmet
sich auch der Weltmeisterschaft 2018. Dabei werden auch die zum Teil skurrilen
Amtsmaßnahmen unter die Lupe genommen, mit denen die russischen Behörden versuchen,
das Land während der WM glänzen zu lassen. In Kaliningrad, dem einstigen Königsberg, finde
„ein regelrechter Frühjahrsputz statt“, heißt es in einem der Newsletter. Das Ergebnis hätten
die Regional-Beamten allerdings als unbefriedigend empfunden, vor allem „die verwirrenden
und hässlichen Werbeschilder“. Geschäftsinhaber, die der Aufforderung nicht folgen wollten
oder konnten, die Werbung nach den Vorgaben eines von der Stadt beauftragten
Architekturbüros zu gestalten, gaben ihre Geschäfte auf. Auch die von Mythen umwobenen
Potemkinschen Dörfer wurden als Hilfe in der Not wieder zum Leben erweckt. Die Ruine einer
ehemaligen Papierfabrik, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand und die sich auf dem Weg
zum Stadion befindet, sei mit Folien aufgehübscht worden, auf denen Fenster mit
Blumenkästen abgebildet sind.2

Ähnliches planen die Behörden mit dem Haus der Räte, in dessen unmittelbarer Nähe die für
15.000 Besucher angelegte Fan-Zone entsteht. „Das nie vollendete und heute vernachlässigte
Gebäude wird für die Zeit der WM kurzerhand mit einem riesigen Banner abgedeckt.“
„Dom Sowjetow“ ist die spektakulärste Investruine im Zentrum der Stadt.

1
    Vgl. https://us16.campaign-rchive.com/?u=655ed6543724ad0031c42d4be&id=0a34964e74.
2
    https://www.sports.ru/tribuna/blogs/konigsbergen/1637593.html.
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Immanuel Kant, Hannah Arendt und das runde Leder - Impressionen einer Reise nach Kaliningrad im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2018 ...
Der Stadionbau habe in den vergangenen Monaten für einige negative Schlagzeilen gesorgt.
Die Entscheidung, das Stadion auf der Oktober-Insel zu bauen, die sich wegen ihres moorigen
Bodens für Bauprojekte nicht besonders eignet, führte in der Tat zu ernsthaften Problemen.
Der Untergrund musste vor Baubeginn mit Sand verstärkt werden. Doch der verwendete Sand
hatte nicht die nötige Qualität. Die dadurch verursachten Verzögerungen führten zu einer
Neuvergabe des Bauauftrags sowie Ermittlungen wegen des Verdachts von Korruption gegen
die Inhaber des Baukonzerns Summa. Diese seien Ende März in Untersuchungshaft
genommen worden. Rund 9,8 Millionen Euro sollen sie beim Bau der Arena veruntreut haben.
Bereits 2017 seien einige Mitarbeiter von lokalen Behörden sowie der Bauminister des Oblast
Kaliningrad verhaftet worden.3

Ein Koffer für Hannah Arendt
Doch zurück zu den eigenen Erlebnissen! Auf uns warteten weitere Überraschungen. Die
unangenehmen sind den gegenwärtigen Friktionen in den deutsch-russischen Beziehungen
geschuldet.
Die weltweit bekannte Philosophin Hannah Arendt, Namenspatronin des in Dresden
beheimateten Instituts für Totalitarismusforschung, verbrachte ihre Kindheit und frühe
Jugendzeit in Königsberg, im heute nicht mehr existierenden Hause ihres Großvaters.
Anlässlich ihres 110. Geburtstags wurde am 14. Oktober 2016 ein Denkmal eigeweiht. Der
israelische Bildhauer Ram Katzir hatte einen steinernen Koffer aus echtem Jerusalemer
Kalkstein gefertigt und vor dem Museum für Stadtgeschichte am Friedländer Tor aufgestellt.
Diese Arbeit ist einer gemeinsamen Initiative des in Berlin beheimateten und international
besetzten Vereins „Freunde Kants und Königsberg“ sowie dem Freundeskreis des Dresdner

3
Vgl. https://us16.campaign - archive.com/?u=655ed6543724ad0031c42d4be&id=0a34964e74.
                                                                                         4
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Hannah-Arendt-Instituts zu verdanken, die auch einen Teil der finanziellen Mittel aufbrachten.
Als Zeichen der Verbundenheit mit seiner Vaterstadt beteiligte sich auch der Autor, bis zum
Sommer 2008 Mitarbeiter des Hannah-Arendt-Instituts, an der Finanzierung. Die Dresdner
hatten ihre Zuwendung mit der Auflage versehen, dass die Namen der Sponsoren an der
Rückseite des Denkmals sichtbar sein müssen.
Der Königsberger Express berichtete über den festlichen Akt, an dem als prominente deutsche
Teilnehmer der Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer und der Generalkonsul Dr.
Michael Banzhaf teilnahmen. Aus Moskau war Professor Alexander Filippov angereist,
Philosoph und Soziologe sowie Chefredakteur der Zeitschrift „Soziologische Rundschau“.
Swetlana Kolbanjowa, Autorin des Beitrages, sah das Ereignis als „großen Anstoß, damit der
Name Arendt in Kaliningrad zu neuen Klängen kommt“.4 Wo ist der „Hannah-Arendt-Koffer“,
fragten wir, als wir am Friedländer Tor vorüberfuhren. „Eingemottet im Fundus einer
Zweigstelle des staatlichen Museums für Gegenwartskunst in der Defensionskaserne
Kronprinz am Litauischen Wall“, tönte es von rechts. Die zur Stimme gehörende junge Dame
entpuppte sich als gelernte Philosophin mit einem Faible für Hannah Arendt. Sie habe den
Koffer im vergangenen Jahr eher zu fällig dort entdeckt, erklärte sie.

Einen entscheidenden Beitrag, den Namen Hannah Arendt in Kaliningrad zum Klingen zu
bringen, leistete der stellvertretende Direktor des Instituts für Kantforschung an der
gleichnamigen staatlichen Universität. Während zweier Forschungsaufenthalte am Dresdner
Hannah-Arendt-Institut hatte er sich mit Leben und Werk der Namensgeberin und deren

4
    Königsberger Express Nr. 11/16 S. 15.
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geistiger Nähe zu Kant beschäftigt. Über die Jahre ist Aleksej zu einem Freund geworden. Da
Hannah Arendt in ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ das
nationalsozialistische Dritte Reich und die Sowjetunion unter Stalin zu Prototypen dieser Art
politischer Herrschaft erklärte, missbilligten große Teile des Lehrkörpers jedwedes
Engagement zur Popularisierung dieser Denkerin in Kaliningrad. Der stellvertretende Direktor
wurde zunehmend gemobbt. Die Auflösung des Instituts für Kantforschung und die Gründung
einer Academia Kantiana genannten Nachfolgeeinrichtung am 24. Mai 2017 ließen ihn die
Universität verlassen.
Beim abendlichen Treffen in der Lobby unseres Hotels erzählt er, wie es ihm nun gehe. „Ich
habe einen zeitlich begrenzten Vertrag mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften, eine Mitarbeit an der neuen Edition einer Akademie-Ausgabe von Kants
Schriften.“ Daneben habe er „eine institutionelle Verbindung mit der Moskauer Hochschule
für Wirtschaft“, wo er in der Zeitschrift „Soziologitscheskoje Obosrenie" eine Rubrik zu
Hannah Arendt leite. Dort habe er „leider keine Vollstelle, nur akademische Affiliation“. Das
Verlassen der Kaliningrader Universität sehe er als Chance, sich wissenschaftlich weiter zu
profilieren. „Sehen Sie“, sagt er, „in Moskau kann man, anders als hier, zu Hannah Arendt
forschen“. Und in Deutschland profitiere er von „Kant-Forschung auf höchstem Niveau“.
Die Academia Kantiana
Die aus Moskau kommende Professorin Nina Dmitrijewa spricht ein vorzügliches Deutsch und
sieht als profilbestimmende Schwerpunkte ihrer Einrichtung die Kant-Rezeption in Russland,
den Neukantianismus Ende des 19./Anfang des 20.Jahrhunderts sowie die Aktualität der Ideen
Kants in Politik und Wissenschaft sowie natürlich Kant-Vorlesungen. Sie wolle versuchen, die
Academia Kantiana auch international zu vernetzen, wofür jährliche Sommerschulen für
Studenten und junge Wissenschaftler ein geeignetes Mittel seien. Aber sowohl die
Finanzierung, als auch das Interesse daran seien ein noch zu lösendes Problem. Auch sei es
hierzulande noch nicht üblich, Zweisprachigkeit zu fordern, also russisch und Englisch. Die
Nachfrage, ob es nicht zwingend sei, dass man an einer Academia Kantiana den Namensgeber
auch in Originalsprache lesen können müsse, beantwortete sie mit ihrer Erfahrung, dass man
zum einen internationale Kurse nur in Englisch anbieten könne. Zum anderen gewönnen aber
die Kursteilnehmer die Einsicht, die deutsche Sprache lernen zu müssen.
Auf Hannah Arendt angesprochen, erklärte sie, Forschungen zu Hannah Arendt schließe sie
nicht aus, hätten aber zurzeit auch keine Priorität. Auf meine früheren erfolglosen Aktivitäten
zur Initialisierung einer Zusammenarbeit zwischen dem Hannah-Arendt-Institut und der Kant-
Universität verweisend, betonte ich, wie hilfreich Hannah Arendt bei der Aufarbeitung der
Vergangenheit von Diktaturen sein könne – nicht nur in Deutschland, sondern auch in
Russland. Bei diesen meinen Worten ging ein deutlich sichtbarer Ruck durch ihren Körper -
nonverbale, aber entschiedene Zurückweisung einer solchen Zumutung.
Das Deutsch-Russische Haus
Wenngleich ein auf Abwege geratener stellvertretender Direktor wohl kaum als alleinige
Ursache für die Abwicklung eines Universitätsinstituts angesehen werden kann, so ist die
Schließung des verdienstvollen deutsch-russischen Hauses tatsächlich öffentlich personifiziert
worden. Andrej Portnjagin, nach deutschen Vorgängern erster russischer Direktor dieses im
März 1993 eingeweihten Begegnungszentrums, antwortete offen auf die Frage nach den
Gründen der Schließung dieser Kultur- und Begegnungsstätte, bei der alle Mitarbeiter

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entlassen worden seien. Bei einer Veranstaltung, an der auch Vertreter der Stadtverwaltung
anwesend gewesen seien, habe sich der Kulturattaché des deutschen Generalkonsulats
kritisch zur Annexion der Krim durch Russland geäußert.
Daraufhin sei durch das Justizministerium in Moskau eine Prüfung veranlasst worden, bei der
eine weitere Verfehlung zu Tage trat. Eine Schulklasse habe in seinem Haus einen literarischen
Abend veranstaltet, bei dem die ostpreußische Heimatdichterin Agnes Miegel im Mittelpunkt
stand, die in ihren Gedichten auch Adolf Hitler huldigte. Finanzielle Unregelmäßigkeiten, wie
der Öffentlichkeit mitgeteilt worden sei, habe es jedoch nicht gegeben. Die Nutzungsrechte
an der Immobilie seien der (russischen) Gesellschaft der Russlanddeutschen übertragen
worden, die ihren Sitz in Moskau habe. Portnjagin arbeitet seit seiner Entlassung, also seit
etwa einem Jahr, als freiberuflicher Übersetzer und Fremdenführer.

Die Freunde Kants und Königsbergs
Es ist an der Zeit, endlich auf den eigentlichen Zweck der Reise zu sprechen zu kommen, die
als „Kantreise“ einen jährlichen Fixpunkt im Leben des in Berlin ansässigen Vereins „Freunde
Kants und Königsbergs“ bildet. Der Verein wurde am 12. Februar 2011 gegründet, dem
Todestag Kants. Gerfried Horst, der Gründer und charismatische Vorsitzende, setzte sich zum
Ziel, „die alte Königsberger Tradition des Bohnenmahls wieder in Kants Heimatstadt, dem
heutigen Kaliningrad, in Gemeinschaft von Deutschen, Russen und Kant-Freunden aus
anderen Nationen fortzusetzen“. Außerdem wollte er, „das geistige Erbe Königsbergs lebendig
erhalten und Kants Lehren den heutigen Menschen auf verständliche Weise nahebringen“.
Der Verein trage zu Recht den Namen ‚Freunde Kants und Königsbergs‘, da unter den
Mitgliedern mehrere direkte Nachkommen von damaligen Königsberger Freunden Kants
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seien. Dazu gehört auch Marianne Motherby, die charmante stellvertretende Vorsitzende.
Höhepunkt einer jeden Kantreise nach Kaliningrad/Königsberg mit Ausflügen, Vorträgen und
Konzerten ist stets die Feier von Kants Geburtstag am 22. April.
Gerfried Horst beschreibt auf der Homepage des Vereins, wie das Bohnenmahl entstand:
„Kant starb am 12. Februar 1804. Dr. med. William Motherby, der Sohn von Kants Freund
Robert Motherby und selbst ein Freund Kants, lud die 22 Teilnehmer der Geburtstagsfeier von
1803 zu einem ‚Erinnerungsfeste‘ am 22. April 1805 in Kants Wohnhaus ein, das nach dem Tod
des Philosophen in den Besitz eines Gastwirts gekommen war; dort wollten sie in der
gewohnten Umgebung sein Andenken ehren.“
Auch den ungewöhnlichen Namen weiß er zu erklären: „Im Jahre 1814 schlug der Astronom
Friedrich Wilhelm Bessel (1784-1846) vor, denjenigen, der jeweils im nächsten Jahr die Rede
halten sollte, durch eine silberne Bohne zu bestimmen, die in einem als Nachtisch gereichten
Kuchen versteckt wurde. So entstand die Tradition des ‚Bohnenkönigs‘. Die ‚Gesellschaft der
Freunde Kants‘ wurde seitdem ‚Bohnengesellschaft‘ genannt und das Festessen an Kants
Geburtstag ‚Bohnenmahl‘.“5
Immanuel Kant in und um Kaliningrad
Die Kaliningrader sind stolz darauf, dass ihre Stadt für würdig befunden wurde,
Austragungsort von Spielen der Fußballweltmeisterschaft zu sein. Die Tatsache, dass vier
Vorrundenspiele der Fußballweltmeisterschaft in Kaliningrad ausgetragen werden, rückt diese
Region zumindest vorübergehend nicht nur in den Blickpunkt von Fans der dort agierenden
Länder, sondern der ganzen Welt. Dennoch ist und bleibt die Exklave eine von der Hauptstadt
durch Ländergrenzen getrennte Provinz, die infolge ihrer 700-jährigen deutschen
Vergangenheit eine besondere Sensibilität für alles Deutsche besitzt. Beides zusammen bildet
einen idealen Nährboden für vorauseilenden Gehorsam von Behörden und Institutionen.
Von vergleichbarer internationaler Bedeutung, so die Hoffnung der regionalen Politik,
könnten weltweit ausstrahlende Feierlichkeiten zum 300. Geburtstag eines der ganz großen
Philosophen in der Wissenschaftsgeschichte werden, nämlich Immanuel Kants am 22. April
2024. Während der fünf Jahrzehnte dauernden Sowjetherrschaft war die gesamte Region ein
militärischer Sperrbezirk, deren Universität weder intellektuelle Brillanz hervorbrachte, noch
solche anzog. Dementsprechend provinziell war das Niveau von universitärer Wissenschaft
und Forschung, was auch für die Kantforschung zutrifft, wie Insider nicht müde werden zu
betonen.
Ein Vortrag von Professor Wladimir Gilmanow, Kultur-, Literatur- und Sprachwissenschaftler
an der Universität seiner Heimatstadt, über Kant als essentieller Code für die Beseitigung der
Globalgefahren rief zumindest bei so manchem Hörer einiges Erstaunen hervor. Gilmanow gilt
in Deutschland als einer der führenden Intellektuellen des Königsberger Gebiets, der sich seit
über 20 Jahren gegen alle Widerstände für freundschaftliche Beziehungen zwischen den
früheren und den heutigen Bewohnern Königsbergs einsetze.6 Er ist ein Wissenschaftler, der
gern und oft über die großen Fragen unserer Zeit spricht. Er habe das, so betonte er, auch
schon in Brüssel vor den Abgeordneten des Europaparlaments getan. Offensichtlich sind seine

5
  Gerfried Horst: Die Gesellschaft der Freunde Kants, https://www.freunde-kants.com/gerfried-horst-die-
gesellschaft-der.
6
  Vgl. http://www.ostpreussen.de/portal/nachrichten/artikel/spitzenvortrag-zum-jubilaeum.html.
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Vorschläge zur Qualifizierung von Akteuren auf den politischen Bühnen aber (noch?) nicht
aufgegriffen worden.

Gilmanow hob die Warnung Kants vor den Erkenntnissen der „mathematisierten Physik“ und
dessen Forderung hervor, diesen Erkenntnissen mit der nicht rational erklärbaren, aber
fühlbaren „moralischen Hemmung“ zu begegnen, die jeder Mensch besitze. Ethisch
begründete er Wachsamkeit gegenüber der Erkenntnistheorie, so könnte man es in moderner
Terminologie nennen. Als aktuelles Beispiel wählte er Frank J. Tiplers Buch „Physik der
Unsterblichkeit“, das 1995 in deutscher Sprache erschienen ist. Amazon bewirbt dieses Buch
mit einem wahrhaft reißerischen Text: „Die Auferstehung der Toten, die Existenz von Himmel
und Hölle und Gott sind physikalisch belegbar – das ist die These des international
renommierten Physikers Frank J. Tipler. Mit der analytischen Schärfe eines
Naturwissenschaftlers und mit physikalischen Argumenten rekonstruiert er fundamentale
Glaubenssätze der Religion und beweist, dass Gott existiert und dass das ewige Leben des
Menschen nicht Glaubens-, sondern Tatsache ist. Ein Manifest zur Versöhnung von
Wissenschaft und Religion, von Verstand und Gefühl.“7
Der gelernte Physiker fragte sich, ob der Rückgriff auf Kant bei einer Physik der Unsterblichkeit
notwendig oder wenigstens hilfreich ist. Er kommt zu dem Schluss: Weder notwendig noch
hilfreich, da für ihn Tiplers Buch nichts als Scharlatanerie auf höchstem Niveau ist.
Im Stile eines Gurus gab Gilmanow eine Kostprobe der praktischen Anwendung des
kategorischen Imperativs auf, indem er auch haptisch vorführte, wie sehr er sich von der
schönen Frau in der ersten Reihe angezogen fühle. So sehr, dass er sich, ganz im Sinne von
Kant, regelrecht Gewalt antuen müsse, diesem Begehren zu widerstehen. Es gelang ihm. Das
Ganze war zweifellos sehr unterhaltsam, das Potenzial Kant`schen Denkens für die Beseitigung
der Globalgefahren wollte sich dem Hörer allerdings nicht so recht erschließen. Die bereits
zitierte gelernte Philosophin meinte anschließend, dass ein solcher Umgang mit Kant in
Deutschland undenkbar sei.

Festveranstaltung der Universität im Königsberger Dom
Als Einstimmung auf das Bohnenmahl trafen sich die deutschen und die russischen Gäste im
Dom, genossen ein Orgelkonzert und nahmen an einer Festveranstaltung der Universität teil,
auf der herausragende Absolventen ausgezeichnet wurden. Wer bei diesem festlichen Anlass
allerdings auch eine angemessene Kleidung erwartet hatte, sah mit einem gewissen
Befremden auf das lässige Outfit der Laureaten.
In seinem nicht enden wollenden Grußwort betonte Leonard A. Kalinnikow, Professor an der
Universität von Kaliningrad und Vorsitzender der interregionalen Kant-Gesellschaft Russlands,
dass Kant für ihn, der sich fünf Jahrzehnte mit diesem Denker beschäftigt habe, als ein wahrer
Gott dastehe. Das klingt schon merkwürdig, ist er doch wie alle Gesellschaftswissenschaftler
zu Sowjetzeiten durch die hohe Schule des wissenschaftlichen Atheismus gegangen. Als es
noch Leningrad hieß, verwandelte die Sowjetmacht in St. Petersburg einen monumentalen
Sakralbau auf dem Newski-Prospekt in ein Museum für wissenschaftlichen Atheismus. Die
Erinnerungen an einen Bummel entlang dieser prächtigen Straße stiegen auf und ließen sich
nicht ohne weiteres zurückdrängen. Es fiel schwer, sich auf den Festvortrag von Professor

7
    Werbung durch Amazon, aufgerufen am 04.05.2018.
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Immanuel Kant, Hannah Arendt und das runde Leder - Impressionen einer Reise nach Kaliningrad im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2018 ...
Alexej Kruglow aus Moskau zu konzentrieren, der über die Memorialisierung Kants in der
russischen Literatur sprach. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass weitgehend unklar blieb,
weshalb der Referent trotz des von ihm behaupteten „Reichtums und der Vielfalt der Bilder
Kants in der russischen Literatur“ gerade diese Facette der Rezeption herausgesucht hatte.
Auch er wollte, wie so manche russischen Schriftsteller weniger über Kant und dessen Denken,
sondern lieber über dessen Tod reden. Er tat das unter fast allen denkbaren Aspekten,
angefangen bei „Die Philosophie Kants auf dem Friedhof“ über „Kant als Leiche“, über seinen
Schädel und die Totenmaske bis hin zu Büsten und Denkmalen. Am Ende landete er bei
Vorwürfen an die Neukantianer, welche „die Überreste des Weisen umsonst gestört und seine
ehemals revolutionäre Philosophie tot gemacht haben“. Ins Heute zielend stellte er fest, dass
es an uns selbst liege, kein ernsthaftes Gespräch auf Augenhöhe mit diesem Königsberger
Philosophen zu führen, „ohne seine Philosophie platt und tot zu machen“.

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Das ehemalige Pfarrhaus in Judschen bei Interburg
Ein Zeugnis der Bemühungen der Kaliningrader Gebietsregierung, auch außerhalb Königsbergs
liegende wichtige Orte des Gedenkens an Kant finanziell zu fördern, ist im ehemaligen
Judschen zu besichtigen, heute Wessljolowka. Das ehemalige Pfarrhaus, in dem Kant einige
Jahre als Hauslehrer lebte, soll bis 2024 „auf Hochglanz“ gebracht werden. Noch im Mai 2015
war das Haus dem Verfall preisgegeben und erste Proteste gegen eine Renovierung gab es
auch. „Kant ist ein Trottel“ wurde auf Russisch an die Fassade geschmiert, von einer 17-
jährigen Pädagogikstudentin, wie die Behörden ermittelten.8

Die Pläne für den Wiederaufbau sehen vor, „irgendwann in Wessljolowka ein Museum der
Einwanderer zu schaffen, das von der Geschichte der Besiedlung des ländlichen Ostpreußens
im 18. Jahrhundert und später des Kaliningrader Gebietes zur sowjetischen Zeit erzählen
wird“, sagt Andrej Silber, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Academia Kantiana. So lange
wolle er nicht warten, erklärte Dr. Dirk Loyal als er dem Kunsthistorischen Gebietsmuseum
Exponate seiner Vorfahren spendete, die einst in Judschen lebten.
Das Bohnenmahl
Nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker und prominente Vertreter der Kaliningrader
Bürgergesellschaft zelebrierten als russisch-deutsche Festgemeinde das Bohnenmahl an
aufwändig gedeckten Tischen und ganz im Geiste der sprichwörtlichen russischen
Gastfreundschaft. Auf die Bohnenrede der Kaliningrader Malerin Nelly Smirnjagina hatte
Professor Matthias Weber aus Oldenburg durch seinen Vortrag über Kant in der modernen
Kunst die Freunde Kants und Königsbergs bereits am Vortag bestens eingestimmt. Die Rede
selbst, die Trinksprüche und die lockere Atmosphäre gaben der Hoffnung Nahrung, dass ein

8
    Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 17. Mai 2015, S. 9.
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Rückfall der jungen russischen Eliten in die sowjetischen Denkmuster wenig wahrscheinlich
und ein Bruch alter Freundschaften wahrlich nicht zu befürchten ist. Nur am Rande sei
dennoch vermerkt, dass die gar nicht so selten anzutreffende Vereinnahmung von Kant mit
der Formel „unser Landsmann Kant“ durch Politiker, Wissenschaftler und Journalisten vor Ort
bei so manchem Vertriebenen noch immer Beklemmungen auslöst.

Zurück nach Dresden
Wer der zweisprachigen, also russischen und englischen, Ausschilderung folgt, landet
unweigerlich im Transitraum für die Inlandflüge nach Moskau oder St. Petersburg, den
bevorzugten Zielen der Russen aus dem Kaliningrader Oblast. Wer allerdings russisch spricht
und auch die örtliche Mentalität kennt, fragt das Personal so oft es geht, ob denn die Schilder
auf der Baustelle „Ausreiseterminal“ auch den richtigen Weg weisen. Und nur dieser erreicht
ohne weitere Umwege den Transitraum für Flüge ins Ausland, z. B. Polen oder Litauen, die
benachbarte ehemalige Sowjetrepublik. Doch ist das alles kein Grund zur Beunruhigung, denn
bis zum 16. Juni sind ja noch mehr als nur drei Tage Zeit.

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