Deutsche Mutter-Sprache in dänischsprachiger Literatur - De ...

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Stephan Michael Schröder
Deutsche Mutter-Sprache in
dänischsprachiger Literatur
Abstract: Angesichts einer jahrhundertelangen engen kulturellen Interferenz ist
Deutsch in der dänischsprachigen Literatur zwar nicht selten, hat aber in der
Literaturgeschichtsschreibung kaum Aufmerksamkeit erregt oder ist nur als Aus-
druck der konkreten Mehrsprachigkeit im dänischen Reich reflektiert worden. Der
Beitrag analysiert anhand zweier Romane aus der dänischen Literatur der 1930er
Jahre und der Gegenwartsliteratur, welche literarischen Funktionen die Deutsch-
sprachigkeit von Mutterfiguren in dänischen Texten erfüllt, wenn die Mutterfigur
die Fokalisierungsinstanz oder gar die Mutter des Ich-Erzählers ist. Vor dem Hin-
tergrund des in der dänischen Kultur weitverbreiteten Muttersprachenmythos
problematisiert eine solche manifeste Diglossie die Fiktion einer auf einer exklusi-
ven nationalen Gemeinschaft beruhenden Monolingualität. Zugleich wird immer
auch eine autoreflexive Dimension des Werkes aufgerufen, wenn die Sprache der
Mutter, aber nicht die Muttersprache des dänischen Erzählers, Deutsch ist.

Keywords: Multilingualität; Dänemark; Literatur; Muttersprache; literarische
Funktion von Multilingualität

Bislang ist die Geschichte der deutschen Sprache in der dänischen Literatur
kaum erforscht. Nur wenige Beiträge widmen sich dem Thema (vgl. Feigs 1969;
Winge 1983; Winge 1992; Holzapfel 1993, vor allem 41–49; Paul 2001; Friis 2007),
wobei jedoch häufig – so z. B. bei Winge (1983, 100) – das Phänomen der Bi- oder
Multilingualität in der dänischen Literatur lediglich als Widerspiegelung einer
historischen Sprachsituation perspektiviert wird. Mündliche Mehrsprachigkeit
wird so mit Multilingualität in der Literatur gleichgesetzt, die Frage nach den
literarischen Funktionen von Mehrsprachigkeit ausgeblendet.
     Diese Forschungslücke vermag eigentlich nicht zu überraschen. Verblüfft
hätte es angesichts der dänischen Identitätsgeschichte eher, wenn ausgerech-
net die dänische Literaturgeschichtsschreibung ihren Gegenstand nicht als
konstituierend monolingualen behandelt hätte. Dass diese Monolingualität im
dänischen Fall wie in den meisten Fällen ein Phantasma ist, macht schon ein
flüchtiger Blick in die Literaturgeschichte deutlich, selbst wenn man sich aus-
schließlich auf deutschsprachige Einschläge konzentriert: Denn da gibt es nicht
nur die bislang im Zentrum der spärlichen Forschung stehenden makkaronischen
Formen in Holbergs Dramen oder die deutschsprachigen Passagen in der däni-

   Open Access. © 2021 Stephan Michael Schröder, published by De Gruyter.              This work
is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International
License. https://doi.org/10.1515/9783110642032-016
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schen Gegenwartsliteratur, die mittlerweile sogar in Konkurrenz mit Englisch
getreten sind und dessen Funktion als Gegensprache wahrnehmen. (Vgl. Friis
2007) Deutsch wurde eigentlich immer in der dänischen Literatur ‚gesprochen‘
oder zitiert, nicht nur im Zuge des Versuches im 18. Jahrhundert, das vermeint-
lich Eigene sprach- bzw. kulturpatriotisch auszudifferenzieren, sondern auch in
der Literatur des – allerdings schwach ausgeprägten – high modernism, in der
regionalen Literatur nördlich und südlich der Grenze oder in der programmatisch
hybriden postmodernen Literatur in einer globalisierten Welt.
     Deutsch ist allerdings für das Dänische nicht einfach eine Nachbarsprache
wie z. B. das Schwedische. In einem der bekanntesten dänischen Lieder, Peter
Fabers Den tapre Landsoldat (1848, Der tapfere Soldat) aus dem Ersten Schleswig-
schen Krieg 1848–1850, heißt es:

      Til Peer og til Poul
      han [= der Deutsche] siger: ‚Du bis faul‘,
      og skjælder man ham ud paa Dansk, saa siger han: ‚Hols Maul!‘
      For Folk, som taler alle Sprog, er det nu lige fedt,
      men Fanden heller inte for den, der kun kan eet. (Faber 1848, o. Pag.)1

      [Zu Peder und Povl
      sagt der Deutsche: ‚Du bis faul‘,
      und schimpft man ihn auf Dänisch aus, dann sagt er: ‚Hols Maul!‘
      Für Leute, die alle Sprachen sprechen, ist das nun wurscht,
      aber zum Teufel nicht für den, der nur eine kann.]

Nicht nur wird hier Monolingualität zur dänischen Norm verklärt, sondern dies
geschieht in expliziter, zugleich konstitutiver Abgrenzung vom personalen wie
lingualen Deutschen. Die Invektive wird zudem stracks vergolten und dabei – wie
so häufig in dänischen Texten – die deutsche Sprache misshandelt (vgl. die zahl-
reichen Beispiele in Holzapfel 1993, 41–49). Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts war
das Deutsche zunehmend, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als das – auch
lingual – Andere codiert worden, trotz aller engen sprachlichen Verwandtschaft.
Unter anderem der Verlust des deutschsprachigen Landesteils nach dem Zweiten
Schleswigschen Krieg 1864 führte dann endgültig dazu, dass das ‚Einsprachig-
keitsnormativ‘ (Tidigs 2014, 91) bzw. das ‚monolinguale Paradigma‘ (Yildiz 2012,
3–4) in der dänischen Gesellschaft wie in der Literatur und Literaturwissenschaft
zu einer identitätskonstituierenden Selbstverständlichkeit wurde, die selbst für
europäische Nationalstaaten außergewöhnlich ist.

1 Alle Übersetzungen aus dem Dänischen stammen auch im Folgenden vom Autor dieses Auf-
satzes.
Deutsche Mutter-Sprache in dänischsprachiger Literatur         189

     Eine Geschichte des Deutschen in der dänischen Literatur ist zweifellos ein
Forschungsdesiderat für die dänische Germanistik wie für die deutschsprachige
Skandinavistik gleichermaßen. Hier möchte ich mich auf einen einzigen Aspekt
konzentrieren: Welche literarische Funktion wird erfüllt, wenn die Mutter der
Fokalisierungsinstanz oder besser noch des Ich-Erzählers in einem dänischen
Werk Deutsch spricht? Diese Fragestellung ist aus zweierlei Gründen von
besonderem Interesse: Zum einen muss eine deutsche, im dänischsprachigen
Text als solche manifeste Mutter-Sprache ein Skandalon darstellen, denn eine
solche Diglossie hinterfragt gleichermaßen die Idee einer exklusiven nationalen
Gemeinschaft wie die Hegemonialität einer Sprache als Muttersprache, als die
das Dänische durch so unterschiedliche Autoren wie N. F. S. Grundtvig, Johan
Ludwig Heiberg oder Søren Kierkegaard ideologisch überhöht worden ist (zu der
Konstruktion einer ,Muttersprache‘ im Kontext der Monolingualisierung in der
Neuzeit und der Konstruktion homogener Nationalstaaten vgl. Yildiz 2012, 6–14;
Gal 2006, 13–27; Dembeck 2014, 10–24). Zum anderen müsste eine deutschspra-
chige Mutter aber auch notwendig eine Selbstreflexion des literarischen Textes
in Bezug auf seine Genealogie aufrufen: Denn wenn die Sprache der Mutter des
Erzählers Deutsch ist, warum liegt der Text dann auf Dänisch vor – und was für
Konsequenzen hat dies? In solchen Texten – so ist zu erwarten – wird also nicht
nur per se die Erwartungshaltung unterlaufen, dass Literatur monolingual ist,
sondern zugleich auch die Prämisse dieser Annahme problematisiert.
     Der tendenzielle Skandaloncharakter solcher Texte mag der Grund sein,
warum es in der dänischen Literatur nur wenige Texte zu geben scheint, deren
Diglossie auf den manifesten Diskurs einer deutschsprachigen Mutter zurück-
zuführen ist. Üblicherweise ‚sprechen‘ solche Mütterfiguren nur Dänisch, d. h.
solche Texte sind Beispiel für Sternbergs Kategorie der ‚referentiellen Restriktion‘.
(Sternberg 1981, 223–224). So hatte z. B. die Mutter des Ich-Erzählers in Erling
Jepsens Kunsten at græde i kor (2002, Die Kunst, im Chor zu weinen) eine deutsche
Mutter, d. h. ist mit Deutsch als Mutter-Sprache aufgewachsen, und hat zudem
ihre Kindheit in Hamburg verbracht (vgl. Jepsen 2007, 11) – aber innerhalb der
Diegese spricht sie nie Deutsch, und ebenso wenig wird angedeutet, dass sie feh-
lerhaftes Dänisch oder auch nur mit Akzent spreche.
     Das erste Beispiel betrifft den Diskurs einer Mutter mütterlicherseits, nämlich
der Großmutter des Protagonisten in Knuth Beckers Det daglige Brød (1932, Das
tägliche Brot), dem ersten Band von Beckers Pentalogie über Kai Gøtsche.2 Die

2 Das zwischen 1932 und 1961 erschienene Werk ist „omfangsmæssigt den største episke præ-
station i dansk litteratur nogensinde“ [„vom Umfang her die größte epische Leistung in der dä-
nischen Literatur jemals“], so Moestrup 1981, 258.
190          Stephan Michael Schröder

aus Posen stammende Großmutter eines Kais in den Kinderjahren bedient sich
durchweg einer dänisch-deutschen Mischsprache: „Den er jo auch for mig die
Klokker ringe!“ [„Es ist ja auch für mich, dass die Glocken schlagen.“] (Becker
1933, 158) „Hvorledes kan die Drenge mit die Bukser løbe wen du dem paa have?“
[„Wie können die Jungen mit den Hosen weglaufen, wenn du sie an hast?“] (Becker
1933, 275) „Wen Sine fertig mit Opvasken er og have sin Kaffe drikket, dan skal hun
und Kai straks gaa!“ [„Wenn Sine fertig mit dem Abwasch ist und ihren Kaffee
getrunken hat, dann soll sie und Kai sofort gehen!“] (Becker 1933, 277) Diese
Mischsprache wird nicht nur in der direkten Rede, sondern auch in der erleb-
ten Rede verwendet (z. B.: „Den er so schøn, so schøn den kleine Lotteri, og Fru
Paysen har saa frydet sig derover lige fra den Dag, Posten kom med det“ [Becker
1933, 159] [„Die ist so schön, so schön die kleine Lotterie, und Frau Paysen hat sich
so darüber gefreut seit dem Tag, als die Post mit ihr kam“]). Sie verweist immer
auf eine Äußerung oder zumindest eine Äußerungsabsicht der Großmutter. Auch
wenn das Dänische als master code erkennbar ist, sind die Äußerungen, wie die
Zitate zeigen, doch stark vom Deutschen geprägt.
    Es liegt nahe, dieser Multilingualität schlicht die Funktion zuzuschreiben,
dass hier Authentizität zur Erzeugung eines Wirklichkeitseffektes suggeriert
werden soll, zumal wenn man den Diskurs der Großmutter im Kontext anderer
Abweichungen vom Standarddänischen im Roman betrachtet, wenn z. B. jüti-
scher Dialekt wiedergegeben oder in Auswandererbriefen Dänisch und Englisch
gemischt werden.3 Dazu passt, dass die Mischsprachigkeit des Romans sich
höchstens auf die erlebte Rede erstreckt, d. h. eingehegt wird und insofern weder
die Erzählerrede affiziert noch gar die linguale Position der extradiegetisch-hete-
rodiegetischen Erzählerinstanz problematisiert.
    Bei genauerer Untersuchung ist die Funktion der Mehrsprachigkeit im
Diskurs der Großmutter jedoch weitaus komplexer und weist sowohl eine metony-
mische als auch eine symbolische Dimension auf. Metonymisch wird verwiesen
auf die fremde Herkunft der Großmutter, letzten Endes der ganzen Familie, die in
dem Provinznest Vendelby als Außenseiter einen neuen Anfang versucht. Als die
Großmutter und die Eltern des kleinen Kai einmal während eines Besuches mit
einer Bekannten aus früheren Zeiten Deutsch reden (was aber nur in der Erzähler-
rede mitgeteilt wird), kommentiert das lauschende dänische Dienstmädchen, dies
klinge wie eine „Kinesersprog“ [„Chinesensprache“] (Becker 1933, 190). Gerade
die hyperbolische Form dieser Aussage – schließlich hört das Dienstmädchen

3 Z.B.: „A er bange, do er fo bette!“ (Becker 1933, 283); „Do vil ski’ vil do… do ka’ faa en gul
Sodavand, ka’ do!“ (Becker 1933, 348); „Ja, hva’ ski’, A ku’ jo int’ lyw’ mig fra det!“ (Becker 1933,
352); „Peter og jeg har haft saa forfærdeligt meget at make“ (Becker 1933, 138).
Deutsche Mutter-Sprache in dänischsprachiger Literatur   191

tagtäglich die Großmutter sprechen – indiziert die metonymische Funktion der
Multilingualität, schlichtweg Fremdheit zu konnotieren.
     Interessanter ist indes die symbolische Funktion. Wer des Deutschen mächtig
ist, wird sich an mancherlei Implausibilitäten im Diskurs der Großmutter stören,
an Deklinationsfehlern wie an Formen, die im Deutschen wie im Dänischen falsch
sind (wobei im ersten Satz eventuell eine Interferenz mit dem Niederdeutschen
vorliegen könnte): „Saa ligge nu ganz stille mit die Beine…“ (Becker 1933, 422);
„und der er grønne Pulver in en lille Papæske, den skal han die fremder Menschen
bede om, wen hans Mave ikke virke…“ (Becker 1933, 422); „… komme nu Sofie…
Maden er fertig“ (Becker 1933, 130); „Du komme ikke und se til mig, i Gaar var
du her kun in Gaar Morges!“ (Becker 1933, 231); „Gott in Himmel, var jeg død!“
(Becker 1933, 375); „Ack, lade mig in Friede!“ (Becker 1933, 376) Der Sprachge-
brauch der Großmutter ist weder code switching noch code mixing, sondern bricht
tendenziell die Regeln beider Sprachen, ohne deshalb unverständlich zu sein.
Wer als dänischer Leser aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse diese sprach-
lichen Implausibilitäten nicht wahrnimmt, wird zumindest über die narrative
Unwahrscheinlichkeit stolpern, dass Kais Mutter, die Tochter der Großmutter, in
direkter Rede nur perfektes Dänisch spricht – was entweder implizit die Ideali-
sierung von ‚Muttersprache‘ hinterfragt oder aber Folge einer referentiellen Res-
triktion ist. Letzteres würfe allerdings die Frage auf, warum dann nicht auch der
Diskurs der Großmutter einer solchen Restriktion unterworfen worden ist? Die
tendenzielle Regellosigkeit auf der Ebene des großmütterlichen Sprachgebrauchs
findet so ihre Entsprechung auf der Ebene des Erzählens selbst, wenn dort eben-
falls keinem verbindlichen Regelsystem gefolgt wird.
     Mit Hilfe u. a. der großmütterlichen Multilingualität wird so symbolisch ein
Horizont markiert, in dem der Bruch mit Regeln tendenziell möglich ist, ohne
dass das Verstehen eingeschränkt wird. Schmitz-Emans hat bekanntlich darauf
hingewiesen, dass Vielsprachigkeit in der Literatur nicht nur als Regelverstoß
gedeutet werden kann, sondern auch als ein „subversiver Hinweis darauf, daß
es für den Sprachgebrauch keine verbindlichen Regeln, in der Welt der Sprachen
kein wirkliches System gibt“ (Schmitz-Emans 2004, 15). Der kindliche Kai, so ist
hinzuzufügen, kann – anders als ein idealer Leser – nicht die über das code mixing
hinausgehenden prinzipiellen Regelverstöße oder gar die potentielle Regellosig-
keit des großmütterlichen Diskurses erkennen. Aber deren privatsprachliche Form
vermag in ihrer Konkurrenz zu dem hegemonialen Sprachgebrauch des Standard-
dänischen einen utopischen Horizont zu markieren, der das von oppressiven
Regeln und Verboten bestimmte pietistische Alltagsmilieu transzendiert. Somit
hat der großmütterliche Diskurs die gleiche transgressive Funktion im Roman,
wie es sonst nur sexuelle Beziehungen in dem Provinznest mit seinem piefigen
Milieu haben.
192        Stephan Michael Schröder

     Das sich im Sprachgebrauch der Großmutter andeutende utopische Potential
bleibt indes auf die Figurenebene beschränkt, insofern sie die primäre Bezugs-
person der Hauptfigur Kai ist, und führt nicht zu einer systematischen selbst-
reflexiven Kritik des Romans an dem ihm zugrundeliegenden sprachlichen oder
literarischen Regelsystem. Trotz der oben beschriebenen praktizierten Freiheiten
im multilingualen Erzählen ist der Diskurs der Großmutter zu eingehegt, und
auch die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählerinstanz lädt nicht dazu ein,
die Problematisierung der Groß-Mutter-Sprache auf den literarischen Text als
Ganzes zu beziehen.
     Ganz anders verhält es sich mit Knud Romers Roman Den som blinker er bange
for døden (2006, Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod). Der in Dänemark mehr-
fach ausgezeichnete und auch international erfolgreiche Text ist nach seinem
Erscheinen vor allem als autofiktionales Werk, als Schlüsselroman und als rigo-
rose Abrechnung mit dem Kindheitsdänemark eines Autors rezipiert worden, der
als Sohn einer dem Alkohol verfallenen deutschen Mutter im provinziellen und
xenophoben Nykøbing/Falster aufgewachsen ist. Die identischen Namen von Ich-
Erzähler und Autor plus die epitextuellen Rahmungen des Romans durch eine
Vielzahl von häufig provokanten Autorinterviews haben einer solchen Deutung
zweifellos Vorschub geleistet. Die Tatsache, dass der Roman von zahlreichen
deutschen Texteinschüben durchsetzt ist, ist dabei allerdings in den Rezensionen
nicht zum Thema gemacht worden.
     Wie bei Beckers Text ließe sich unmittelbar vermuten, dass mit Hilfe der
deutschen bzw. dänisch-deutschen Textpassagen schlicht ein Wirklichkeitseffekt
erzeugt werden soll, so wenn die Mutter mit folgenden Äußerungen zitiert wird:
„So, Kinder, nu sætte sig og have rigtig fornøjelse!“ [„So, Kinder, nun setzt Euch
hin und vergnügt Euch richtig!“] (Romer 2006, 73); „sådan en Marzipan gibt’s
nicht in Dänemark“ [„so ein Marzipan gibt’s nicht in Dänemark“] (Romer 2006,
124); „[a]ch, wie sehe ich aus, hvordan er jeg endt sådan her“ [„ach, wie sehe ich
aus, wie bin ich hier gelandet“] (Romer 2006, 166); „ach was seid ihr doch für
Menschen, pisseland, pisse, pisse, pisseland!“ (Romer 2006, 167); „Esskastanien,
sådan noget hat man ikke i Dänemark“ [„Esskastanien, sowas hat man nicht in
Dänemark“] (Romer 2006, 168). Dass ein Wirklichkeitseffekt erzielt werden soll,
indem Äußerungen wie die obigen oder deutsche Texte und Konversationen in
ihrer (binnenfiktionalen) ‚Originalsprache‘ wiedergegeben und so keiner referen-
tiellen Restriktion unterworfen werden, ist nicht völlig von der Hand zu weisen.
Allerdings ist auffällig, dass ‚deutschsprachige‘ Dokumente ebenso auf Dänisch
zitiert (vgl. z. B. Romer 2006, 137, 140) oder eine direkte Rede gelegentlich in däni-
scher Sprache ist, obwohl sie nach der Fiktionslogik auf Deutsch sein müsste
(vgl. z. B. Romer 2006, 101). Die Authentizitätsfiktion in Den som blinker er bange
for døden tritt hinter die Intentionen zurück, der deutschen Mutter lingual ihre
Deutsche Mutter-Sprache in dänischsprachiger Literatur   193

Sprech- und damit Subjektposition (vgl. Motakef 2014, 394–395) zurückzugeben,
die ihr im Laufe ihres Lebens in Nykøbing/Falster verwehrt worden war, und dies
mit einem Positionswechsel für die Leser zu verbinden. Denn durch seine fremd-
sprachlichen Einschübe vermittelt der Text einem dänischen Durchschnittsleser
genau jene Erfahrung von Fremdheit und Unverständnis, die sowohl die Mutter
als auch der Ich-Erzähler als ‚Deutschenkind‘ machen mussten. Wenn 2012
laut Statistik weniger als 30 % der Dänen nach eigener Einschätzung eine Kon-
versation auf Deutsch bestreiten konnten (Languages spoken in countries of the
European Union), dürfte der ostentative Verzicht auf glossing und Übersetzungen
(mit Ausnahme zweier Briefe, die in Endnoten in Übersetzungen wiedergegeben
werden) bei vielen dänischen Lesern dazu führen, dass manche deutschsprachi-
gen Passagen, Zitate und komplexe Wortwitze nur indexikalisch gedeutet werden
können. Hätte Romer den Roman tatsächlich auf Deutsch und damit tendenziell
monolingual geschrieben, wie er ursprünglich geplant hatte (vgl. Syberg 2006),
wäre dieser Effekt nicht zu realisieren gewesen.
     Die Wahl des Dänischen als Romansprache kulminiert im impliziten Protest
gegen den nationalistisch aufgeladenen Muttersprachenmythos, der die Grund-
lage für die Ausgrenzung der Mutter als ‚Deutsche‘ gewesen ist. Wenn der Roman
in der Sprache des so verhassten Nykøbing/Falster vorgelegt wird und eben nicht
in der Sprache der Mutter des fiktiven wie abstrakten wie realen Autors geschrie-
ben ist, so weil auf diese Weise der Muttersprachenmythos performativ unter-
laufen wird: Auch wenn der Autor eine andere Mutter-Sprache hatte, kann er
dennoch als dänischsprachiger Autor reüssieren.
     Das Raffinement des Romans liegt indes darin, dass in ihm selbstreflexiv das
Scheitern dieses – auf der Ebene des realen Autors – autobiographisch motivierten
lingualen empowerment-Strebens reflektiert wird. Auf die Anfeindungen in Nykø-
bing/Falster hatte die Mutter reagiert, indem sie – obwohl Widerstandskämpferin
im Dritten Reich – mit Eisernem Kreuz und das Preußenlied intonierend durch die
Kleinstadt zog. Im Roman wird diese provokative Polarisierung gewissermaßen
zunächst reproduziert, wenn der Mutter eine Sprech- und Subjektposition zurück-
gegeben wird, wenn deutsche Passagen den dänischen master text aufbrechen.
     Dieses Projekt ist jedoch gleichermaßen in Hinblick auf Prämisse wie Resul-
tat für den Leser erkennbar problematisch. Denn das Resultat kann – trotz aller
implizit-performativen Kritik am Muttersprachenmythos – letzten Endes doch
nur eine Verdoppelung einer sprachlich konstituierten identitären Positionierung
bzw. des nationalsprachlichen Codes sein und keinesfalls eine Auflösung der
prinzipiellen Polarität, die der Ausgrenzung der Mutter zugrundelag. Die Utopie
des fiktiven Erzählers hingegen würde wohl jener polyglotten Polyphonie inei-
nander übergehender Sender ähneln, die er beim Radiohören erlebt – das erste
Mal in seiner Kindheit, wo er sich seinem dänischen Vater und seiner deutschen
194          Stephan Michael Schröder

Mutter entziehen und seinen eigenen Neigungen folgen konnte (vgl. Romer 2006,
76–77).
    Die Prämisse des empowerment-Strebens ist hingegen eine Identifizierung
mit der Alkoholiker-Mutter, der der Erzähler multilingual produktive Grenzen
zieht, wenn er Sprache als abgrenzenden Identitätsmarker einsetzt. Intertextuell
markiert wird dies durch den Bezug auf Rilkes „Liebes-Lied” (aus: Neue Gedichte,
1907), dessen drei letzte Worte „O süßes Lied“ der Ich-Erzähler für die Todesan-
nonce der Mutter aussucht (Romer 2006, 175). Zitiert werden im Roman nur diese
drei Worte, aber das Gedicht als Ganzes lässt bei aller Verbundenheit der beiden
Saiten, die durch einen Bogenstrich zum Klingen gebracht werden, dennoch eine
gewisse Ambivalenz gegenüber einer allzu symbiotischen Beziehung erkennen.
Die auslautende Zeile „O süßes Lied“ als Evokation des Produktes, das aus dem
Spiel der beiden Saiten entsteht, suggeriert metadiegetisch, dass analog auch
der Roman Den som blinker er bange for døden die Geschichte einer ähnlichen
Ambivalenz zum Klingen bringt, wobei durch die je eigene Tonart der Saiten diese
jedoch distinkt zweistimmig zu hören sind:

      Wie soll ich meine Seele halten, daß
      sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
      hinheben über dich zu andern Dingen?
      Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
      Verlorenem im Dunkel unterbringen
      an einer fremden stillen Stelle, die
      nicht weiterschwingt wenn deine Tiefen schwingen.
      Doch alles was uns anrührt, dich und mich,
      nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
      der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
      Auf welches Instrument sind wir gespannt?
      Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
      O süßes Lied. (Rilke 1907, 3)

Die Exklusion der Mutter aus dem dänischen Milieu setzt sich im Roman noch
postum in den Umständen ihrer Beisetzung fort. Ein deutscher Psalm darf ebenso
wenig gesungen wie der deutsche Familienname genannt werden, und in der
Todesanzeige wird das Rilke-Zitat „O süßes Lied“ zu „O Sübes Lied“ verhunzt
(Romer 2006, 176). Letztere Fehlschreibung des „ß“ als des einzigen, exklusiv
deutschen Buchstabens lässt den Leser allerdings stutzen, denn nicht nur in der
Todesanzeige wird „süß“ verkehrt buchstabiert. Alle deutschen Zitate und Pas-
sagen im Roman sind ansonsten beeindruckend orthographisch korrekt – bis auf
diese einzige Ausnahme: als der Ich-Erzähler nach dem Tod der Mutter das erste
Mal selbst mit einer deutschen Äußerung zitiert wird und dabei „süße Mutti“ statt
mit „ß“ mit „ss“ geschrieben wird (Romer 2006, 172). Der Setzfehler in der Todes-
Deutsche Mutter-Sprache in dänischsprachiger Literatur          195

anzeige findet eine Korrespondenz in der orthographisch inkorrekten Adressie-
rung der Mutter durch den Ich-Erzähler – wobei dies wohlgemerkt die einzigen
Fehler im Deutschen im ganzen Roman sind.
    Das Schreibprojekt des Erzählers mit der deutschen Mutter, so wird hier meta-
sprachlich durch die falsche Buchstabierung markiert, muss ein zutiefst wider-
sprüchliches bleiben: So sehr er sich auch bemühen mag, ihr wenigstens postum
eine Sprech- und Subjektposition zu verschaffen, und so sehr seine Wahl des
Dänischen als Romansprache den Muttersprachenmythos unterlaufen mag, kann
er – gleich in welcher Sprache – als Autor seiner Mutter doch nur eine andere,
nämlich seine Stimme verleihen, sich als Dänischschreibender von der Deutsch-
sprachigen dabei aber auch notwendig abgrenzen.

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     Fordham UP, 2012.

Stephan Michael Schröder, Jg. 1962, seit 2005 Professor für Nordische Philolo-
gie am Institut für Skandinavistik/Fennistik an der Universität zu Köln. Studium
der Skandinavistik, Geschichte und Politischen Wissenschaft in Kiel, Odense und
Minneapolis. M.A. 1988 in Kiel, Promotion 1993 an der FU Berlin, Habilitation
2004 an der HU Berlin. Forschungsschwerpunkt in den skandinavischen Kul-
turen und Literaturen des 16.–20. Jahrhunderts.
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