PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Cover: Ausstellung ‹Geld›, Stapferhaus, Lenzburg u S. 21 Agenda-Partner Foto: Anita Affentranger des Monats Kultur im Raum Basel Januar 2015 | Nr. 302 CHF 8.40 | EUR 7.00 ProgrammZeitung Menschen, Häuser, Orte, Daten
Immer wieder anfangen dagm a r bru n n e r Editorial. Das optimistische Wort passt zum neuen Jahr – und ist zudem der Name einer Institution, die eher Negatives auszugleichen hat: Neustart. So heisst eine Be- ratungsstelle für straffällige Menschen und deren Ange- hörige. Seit vierzig Jahren widmet sie sich diesem gesell- schaftlich heissen Eisen, das vielfältige Emotionen aus- löst, oft auf Kosten der Sachlichkeit. Gegründet wurde der Trägerverein Neustart 1975 von engagierten Juristinnen und Juristen, um Straffällige (ob im Vollzug oder bereits entlassen) mit kostenloser Rechtsberatung zu unterstützen und ihre gesellschaftliche Integration nach einer Straftat zu begleiten. Angeboten werden u.a. professionelle Unter stützung bei Finanzfragen, bei der Arbeits- und Wohnungs- suche, die Vermittlung von Anwaltspersonen, Gefängnis- ungewisse Zukunft (S. 10), das Elsass kämpft wohl vergeb- besuche, psychosoziale Betreuung und Support, auch von lich um mehr Souveränität (S. 13) und das Haus der Reli Familienmitgliedern. Zudem sind freiwillige Bewährungs- gionen in Bern wagt trotz Widerständen den Dialog (S. 26). helferInnen im Einsatz. Im Baselbiet bleiben nach Niggi Ullrichs unerwartetem Rund 160 Menschen pro Jahr nehmen in unserer Region Rücktritt viele Fragen offen (S. 18/19). Wir danken an die- diese Dienste in Anspruch, bei etwa einem Drittel geht es ser Stelle dem gewieften Vernetzer für seine geschätzten um die gerichtlich angeordnete Bewährungshilfe. Oberstes Kulturtaten, von denen auch die ProgrammZeitung profi- Ziel ist es, durch soziale Integration Rückfälle zu vermei- tieren durfte, indem er seine BL-Veranstalter zu günstiger den. Die Beratungsstelle mit drei ausgebildeten Fachleuten Werbung bei uns animierte. Und wünschen ihm zum Neu- erarbeitet ihre Hilfsangebote individuell und unentgeltlich; start in andern Gefilden alles Gute! die Arbeit wird durch Spenden (2/3) und Subventionen Ein Buch, das ‹Anfänge› zum Thema macht, ist soeben er- (1/3) finanziert. In seinem Jubiläumsjahr will der Verein schienen, verfasst vom Basler Journalisten Jean-Martin seine Aktivitäten stärker in die Öffentlichkeit tragen und Büttner (Tages-Anzeiger), der in jüngeren Jahren auch mal hat deshalb eine Vortragsreihe konzipiert, die an fünf Aben- für die ProgrammZeitung in die (noch nicht digitalen) Tas- den verschiedene Aspekte von Delinquenz und Strafrecht ten griff. Seine Sammlung kurzer Texte zum Zeitgeschehen beleuchtet. Ferner ist ein Benefizanlass mit dem Satire- ist ein Beweis für lust- und gehaltvolles Schreiben – und Duo Bachmann & Bardelli programmiert. beste Lektüre zum Start ins neue Jahr! Um Jubiläen, Veränderung und Neustarts in der Region 40 Jahre Verein Neustart, Referate: ab Di 20.1., 19 h, Unternehmen Mitte, und darüber hinaus geht es auch im vorliegenden Heft. So 1. Stock, Eintritt frei u S. 52, www.vereinneustart.ch feiern etwa die Solothurner Filmtage ihr 50-jähriges Beste- Jean-Martin Büttner, ‹Anfänge. Und so weiter›, Echtzeit Verlag, Basel, 2014. hen (S. 7), die IGNM geht mit frischen Ideen in eine allerdings 167 S., gb., CHF 32l Hauskultur Die ProgrammZeitung kann sich übrigens, wie andere regional und thematisch ausgerichtete db. Die schwindende Leserschaft von Presse- Magazine nicht über schwindende Abos bekla- Erzeugnissen ist mittlerweile ein Dauerthema, gen; allerdings ist der Zuwachs bescheiden. Aber und dass auch die Basler Zeitung zu den ‹Opfern› immerhin! Dass wir nach 2 Jahren die Heftpreise gehört, liegt nicht nur an der digitalen Konkur- moderat anpassen (Jahresabo CHF 82 statt 78), renz. Doch nicht der Auflagen- und Aboschwund, machen wir mit zusätzlichem Inhalt wett: auf 96 sondern der Niveau-Absturz des Blattes und sei- Seiten finden Sie eine sorgfältig erarbeitete, um- Inhalt ne Folgen seit dem Blocher-Regime sind Thema fassende Übersicht über das Kulturleben im Redaktion 5 eines Dokumentarfilmes, den Edgar Hagen dem- Raum Basel. Gerne erinnern wir auch daran, nächst präsentieren wird. ‹Die Übernahme› stelle dass wir unsere Einnahmen selbst erwirtschaf- Kultursplitter 28 «die Vorgänge auf dem Medienplatz Basel als ten (ohne Sponsoren und Subventionen). Kulturszene 29 beispielhaft für die Entwicklungen auch in an- Abschliessend gratulieren wir unseren Partner- dern Regionen der Schweiz dar», heisst es in einer magazinen Juli (Aargau) und Coucou (Winter- Agenda 55 Mitteilung der Aktionsgruppe ‹Rettet Basel›. Mit- thur) zum 5- bzw. 2-jährigen Durchhalten; deren Kurse 89 schnitte aus einem Podium und Einzelinterviews Kulturtipps finden Sie auf S. 28. Und unserer vermitteln einen Eindruck von den Mechanis- Leserschaft wünschen wir einen angenehmen Impressum 89 men, die letztlich zur Zerstörung von demokrati- Aufbruch ins neue Jahr! Ausstellungen & Museen 90 | 92 schen Strukturen führen. Der Filmstart ist bei Dokfilm ‹Die Übernahme› u s. Tagespresse Drucklegung dieses Heftes noch offen. Essen & Trinken 94 | 95 Januar 2015 | ProgrammZeitung | 3
Redaktion Was tun wir hier? a l f r e d s c h l i e nge r 7 Sol heure 50! a l f r e d s c h l i e nge r 7 Achterbahn und Tornado a l f r e d s c h l i e nge r 8 Fiction & Football dagm a r bru n n e r 8 Freak-Show? a l f r e d s c h l i e nge r 9 Was gehen mich die andern an? a l f r e d s c h l i e nge r 9 Licht-Streber a l f r e d z i lt e n e r 10 Forum für Konzerte und Diskussionen a l f r e d z i lt e n e r 10 Wilde Welten a l f r e d z i lt e n e r 11 Camerata Variabile dagm a r bru n n e r 11 Trilogie mit Musik aus Basel a l f r e d z i lt e n e r 12 Musikentdeckungen dagm a r bru n n e r 12 Vielfältiger CH-Sound dagm a r bru n n e r 13 Unmut im Elsass pe t e r bu r r i 13 Ein rauschhafter Traum von Zeit i ng o s ta r z 14 Unternehmenslust dagm a r bru n n e r 14 Freiheit, Recht und Ritual i ng o s ta r z 15 «Die Liebe ist das Wichtigste!» d oro t h e a koe l bi ng 16 Lese-Animation dagm a r bru n n e r 16 Wortkunst, Sprachzauber dagm a r bru n n e r 17 Sehnsuchtsorte dagm a r bru n n e r 17 Kraftvoller Grenzüberwinder h e l m u t bü rge l 18 Kampfgenosse dé si r é e m e i se r 18 BL-Kulturpolitik am Scheideweg d om i n iqu e spi rgi 19 Eine Botschaft für die Kultur m a rt i n z i ng g 20 Basler Geschichte dagm a r bru n n e r 20 Money, money, money … dagm a r bru n n e r 21 Messerscharf a l a i n c l au de s u l z e r 21 Sinnlicher Kosmos i r i s k r e t z s c h m a r 22 Schöpfen und Schreiben n a n a b a de n be rg 22 Fantastische Profiteure wa lt e r be u t l e r 23 Körperkunst dagm a r bru n n e r 23 Der experimentierfreudige Reporter m ic h a e l b a a s 2 5 Gesamtkunstwerk dagm a r bru n n e r 25 Dialog der Kulturen dagm a r bru n n e r 26 Life or Style ru d ol f bus sm a n n 26 Filmstill aus ‹Les petites fugues› Und plötzlich diese Übersicht t i l o r ic h t e r 27 von Yves Yersin, 1979 u S. 7
50 Jahre Solothurner Filmtage Filmstills aus ‹Höhenfeuer› von Fredi M. Murer (oben) und ‹Home› von Ursula Meier 6 | ProgrammZeitung | Januar 2015
Was tun wir hier? a l f r e d s c h l i e nge r Der Venedig-Sieger fordert heraus – als philosophisch- sinnliche Meditation über das Leben. Die Filme von Roy Andersson gehören zum Aussergewöhn- lichsten, was je auf einer Leinwand zu sehen war. Mit ‹Songs from the second floor› (2000) kehrte er nach 30 Jah- ren Kinoabstinenz zurück. (1970 hatte er mit ‹A swedish love story› den Goldenen Bären an der Berlinale gewon- nen.) 2007 folgte ‹You, the living›. Jetzt legt er mit ‹A pigeon sat on a branch reflecting on existence› den – vorläufigen – Abschluss seiner Trilogie über die conditio humana im Spätkapitalismus vor. Das filmische Triptychon ist eine so liebevolle wie bitterböse Zeitsatire, eine Passionsgeschich- te von abgründiger Komik, eine heillose Symphonie des Scheiterns. Und doch keine Sekunde zynisch. Denn den vom Leben geprügelten Gestalten gehört trotz aller Er- bärmlichkeit das ganze Mitgefühl des Filmautors. Eben wurde das jüngste Werk in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Das ist erklärungsbedürftig. Denn Andersson verstösst praktisch gegen alle Regeln des narrativen Kinos. Kaum Bewegung, kein Schnitt, kein Schwenk, kein Zoom, die Kamera meist starr fixiert in gros- sen Plansequenzen. So reiht der Autor in seiner Meditation die einfach nie in Pension gehen können. Die Welt ist ein Filmstill aus ‹A pigeon sat über eine philosophierende Taube 39 Tableaux lose anein- Hamsterrad, und ewig muss man sich verkaufen. Jede on a branch ander, nicht als lineare Geschichte, sondern assoziativ ver- Sequenz kann auch abgeschlossen für sich stehen, man reflecting on knüpft und mit einem stimmungsdichten inneren Sog. Das durchquert sie wie eine Bildergalerie. existence› Publikum soll und darf das Puzzle selber zusammensetzen. Mehr als an den konventionellen Film erinnert das an The- Das muss man auch aushalten. ater und Malerei, an Künstler wie Breughel und Bunuel, Tröstende Komik. Im Zentrum stehen zwei Ritter von Kafka und Beckett, Otto Dix und Edward Hopper. Die Ein- der ganz und gar traurigen Gestalt, die als Scherzartikel- samkeit zieht als seltsam wärmendes Gefühl durch diesen verkäufer durch die Lande ziehen. Sie wollen etwas Spass Film. Der Trost liegt allenfalls in der Komik. Und in der un- in eine triste, auch farblich fahle Welt bringen und haben sterblichen Sehnsucht. Soll man hier schon einzelne Bilder doch selber immer ein Heulen im Gesicht. Vampirzähne, entschlüsseln? Wohl besser nicht. Ohne Dechiffrierkrücken Lachsack und Monstermasken sind die Hauptattraktio- wirkt das Abenteuer dieses höchst seltsamen Films verstö- nen in ihrem schlichten Missionsköfferchen. Von Ferne render – und nachhaltiger. erinnern sie an die schwer gealterten Laurel & Hardy, Der Film läuft ab Do 15.1. in einem der Kultkinos u S. 50 Sol heure 50! tät: Während 20 Jahren der legendäre Pionier Stephan Portmann, dann über 25 Jahre sein Die ersten 20 Jahre blieben die Filmtage ein wenig ein Fremdkörper in Solothurn. Das hat a l f r e d s c h l i e nge r Schüler und heutige Chef der Sektion Film im sich gründlich geändert. Es ist eine einheimi- Die Filmtage jubilieren. Bundesamt für Kultur, Ivo Kummer, und seit 2011 sche Fangemeinde von DauerkartenbesitzerInnen Es sind wahre Sonnenstunden, wenn in Sol- die Filmwissenschaftlerin Seraina Rohrer. herangewachsen. Am Wochenende, wenn auch (h)eure im kalten Januar die Leinwände im Dauer- Das Jubiläumsprogramm wird besonders reich- sehr viele Auswärtige anreisen, drohen die Film- betrieb glühen. In diesem Jahr bereits zum 50. haltig. Mit ‹Höhenfeuer›, ‹Home› und ‹Les petites tage fast am eigenen Erfolg zu ersticken, und das Mal. Die Werkschau des Schweizer Filmschaf- fugues› werden drei der besten Schweizer Filme Publikum steht sich in der Winterkälte vor den fens ist in diesen fünf Dekaden einen sehr erfolg- aller Zeiten präsentiert. Zudem kann das Publi- Kassen schon mal die Beine in den Bauch. Basler reichen Weg gegangen. Vor 12 Jahren wurden kum aus einer Auswahl von 15 weiteren Schwei- Filmschaffende waren bei den Preisverleihun- erstmals über 40’000 Eintritte gezählt, seit 2013 zer Filmen seinen Liebling erküren. Eröffnet wird gen in den letzten Jahren schon mehrfach beson- sind es bereits über 60’000. Die Solothurner Film- die Werkschau mit dem Erstling von Claudia ders erfolgreich: Fanny Bräuning mit ‹No more tage gehören inzwischen zu einem der wichtigs- Lorenz, dem Familiendrama ‹Unter der Haut›. Paul smoke signals› (2009), Nicola Bellucci mit ‹Nel ten Kulturanlässe der Schweiz. Riniker bringt seinen Spielfilm ‹Usfahrt Oerlike› giardino dei suoni› (2010) und Anna Thommen Über 200 Filme aller Genres und Längen werden mit Jörg Schneider und Matthias Gnädinger zur mit ‹Neuland› (2014). innert einer Woche gezeigt: Dokumentar-, Spiel-, Weltpremiere. Solothurn hat sich aber auch zum 50. Solothurner Filmtage: Do 22. bis Do 29.1., Experimental-, Kurz- und Animationsfilme so- Ort der nationalen Filmpolitik entwickelt; so fin- www.solothurnerfilmtage.ch wie Musikclips. Erst drei Direktoren standen den zahlreiche Diskussionen und Workshops zu Nominationen Schweizer Filmpreis: Mi 28.1. Vorverkauf: www.starticket.ch dem Festival bisher vor und sorgten für Kontinui verschiedenen Themen statt. Januar 2015 | ProgrammZeitung | 7
Achterbahn und Tornado a l f r e d s c h l i e nge r Filmstills aus Xavier Dolans ‹Mommy› ist eine Hymne auf Emotionen und wilde Mutterliebe. ‹Mommy› Fiction & Football Der Frankokanadier Xavier Dolan gilt als Wunderkind und Maniac der dagm a r bru n n e r Filmszene. Das ist nicht ganz unverständlich. Mit 17 schreibt er sich innert Neues Kino & Flutlicht Festival. drei Tagen das Drehbuch zu ‹J’ai tué ma mère› von der Seele, zwei Jahre Das Neue Kino Basel startet zukunftsorientiert später verfilmt er es als Autodidakt, spielt gleich auch die Hauptrolle und ins neue Jahr: Es zeigt fünf ausgewählte Science- zeichnet für Kostüme und Produktion verantwortlich. Inzwischen hat der Fiction-Filme, die das Verhältnis der Menschen 25-Jährige vier weitere Kinofilme realisiert, und der jüngste, ‹Mommy›, zu sich selbst, zur Erde und zur Technik wider- wurde wieder in Cannes uraufgeführt und preisgekrönt. Dolan knüpft spiegeln. Einer der ersten Filme des Genres war dabei thematisch an seinen Erstling an und fokussiert auf eine exzessive Georges Méliès ‹Voyage dans la Lune› von 1902, Mutter-Sohn-Beziehung, die er durch alle Höhen und Tiefen schleudert. der auf Romanen von Jules Verne und H.G. Wells Eine Achterbahnfahrt der Sonderklasse. basierte. Er erzählt mit reizvollen technischen Plädoyer gegen Ausgrenzung. Der 15-jährige Steve (Antoine Olivier Pilon) Tricks von einer tollkühnen Expedition und dem leidet unter einer Affektstörung samt ADHS, neigt zu rasenden Wutan Fortschrittsglauben jener Zeit. Das Neue Kino zeigt fällen, wobei er jede Kontrolle verliert, und lebt seit dem Tod des Vaters eine wiedergefundene handkolorierte und von in Heimen. Als er einen Brand legt, bei dem ein Mitinsasse schwer verletzt der französischen Popgruppe Air vertonte Fassung wird, ist er auch dort nicht mehr tragbar und wird zur alleinerziehenden des Kurzfilms in Kombination mit einer Doku- Mutter Diane (Anne Dorval) abgeschoben. Diese ist selbst aus ähnlichem mentation über Méliès Werdegang, die Entste- Holz geschnitzt, reizt die Gefühlspalette bis in die Extreme aus, greift gerne hung, Wiederentdeckung und Restaurierung des auch mal in die vulgäre Schublade und überschäumt gleichzeitig vor hef- Films (2011). Weitere visuelle Abenteuer verspre- tiger Liebe zu ihrem schwierigen Sohn. Sie lieben und sie schlagen sich chen Filme von Hermann Zschoche (1972), Ridley – eine Traumpaarung für den Emotionsfetischisten Dolan. Im Trio mit der Scott (1982/2007) und Werner Herzog (2005). stotternden Nachbarin Kyla (Suzanne Clément), deren eigenes Trauma Zwei Science-Fiction-Experten aus Wien geben sachte angedeutet wird, entfacht das enfant terrible des jungen Autoren- Kurzeinführungen. – films einen wahren Wirbelsturm der Gefühle. Schon zum zweiten Mal gibt es in Basel das Flut- Und dafür zieht Dolan alle filmischen Register. Im quadratischen 1:1-For- licht Fussball Film Festival. Im Zentrum stehen mat gefilmt, reisst er die Leinwand plötzlich auf in die Breite, wenn’s heftig, 6 Dokumentar-, 4 Spiel- und etliche Kurzfilme, wild und schön wird. Er badet förmlich in Pop-Heulern, die die Stimmun- begleitet von Eröffnungsparty, Sonntagsbrunch gen der Figuren nach aussen stülpen. Zeitlupe, Hall, Überbelichtung, und Lesung mit Poetry Slam. An zwei Podien Unschärfe – oder plötzliche, erschreckende Stille, kein Mittel ist dem Hoch- äussern sich zudem der bekannte Autor Charles begabten zu schade, seine Hymne zu orchestrieren. Unweigerlich wird man Lewinsky und andere Gäste zu politischen bzw. als Zuschauende hineingesogen in diesen Tornado. Unverkennbar ist, wie jüdischen Aspekten des Fussballs. der Filmer sein Personal liebt, gerade auch, wenn es sich völlig daneben ‹Auf zu neuen Welten!›, Science-Fiction-Filme: benimmt. Bei aller Drastik, bei allem Pathos ist ‹Mommy› ein herzhaftes ab Do 8.1., 21 h, Neues Kino, Klybeckstr. 247, Plädoyer gegen Ausgrenzung und für das Ausleben starker Gefühle. Wer www.neueskinobasel.ch möchte da dem furiosen Jungtalent und seinen ausgezeichneten AkteurIn- Flutlicht Fussball Film Festival: Fr 16. bis So 18.1., Bar du Nord, www.flutlichtfestival.ch. Bild u S. 55 nen wirklich ankreiden, dass dieses Fest der Affekte vielleicht ein halbes Stündchen zu lang geraten ist? Ausserdem: 2. Arlesheimer Kurzfilmfestival: Fr 30.1. bis So 1.2., www.trotte-arlesheim.ch (Thema: Blau) Der Film läuft derzeit in einem der Kultkinos. 8 | ProgrammZeitung | Januar 2015
Was gehen mich die andern an? a l f r e d s c h l i e nge r Freak-Show? ‹Durak› erzählt packend vom Riss in einer Mietskaserne – und in der russischen Gesellschaft. a l f r e d s c h l i e nge r Der Film des 33-jährigen Russen Juri Bykow wirft uns gleich zu Beginn mit ‹Im Keller› von Ulrich Seidl. rasanten, hyperrealistischen Bildern hinein ins Elend einer vernachlässig- Nach seiner ‹Paradies›-Trilogie (‹Glaube›, ‹Liebe›, ten Mietskaserne, wo Gewalt und Alkohol das dürftige Leben der randstän- ‹Hoffnung›) kehrt der österreichische Filmer Ulrich digen Bewohner beherrschen. Hierher wird eines Nachts der junge Klemp- Seidl zur dokumentarischen Form zurück, mit ner Dimitri (Artiom Bystrow) wegen eines Rohrbruchs gerufen – und ent- der er ursprünglich bekannt geworden ist, und deckt einen Riss, der durchs ganze Haus geht und es in Kürze zum Einsturz steigt hinunter in die Keller der Alpenrepublik. bringen könnte. Das Leben von 800 Menschen steht auf dem Spiel. Was er da vorfindet ist schrecklich gewöhnlich Dimitri setzt sofort alles in Bewegung, um die Mieterschaft zu evakuieren, bis schauderhaft: reglose Jugendliche im tristen platzt ins opulente Fest der Bürgermeisterin, die mit den Notabeln der Partykeller, musizierende Alt-Nazis, die Hitler- Stadt gerade ihren 50. Geburtstag feiert, und versucht ihnen den Ernst der Bilder abstauben, Modelleisenbahn-Freaks, ver- Lage klarzumachen – erfolglos. Was dabei zutage tritt, ist ein ganz präzis hinderte Opernsänger und Scharfschützen, Sado- gezeichneter Sumpf von Schlampigkeit, Korruption und widerlichstem maso-Fetischisten und Fitness-Süchtige. Sozialdarwinismus. Sollen diese Säufer doch verrecken, meint ein Verant- Wie freizügig die Porträtierten von ihren Obses- wortlicher, dann sei man diesen Abschaum los. sionen erzählen, kann einen beim Faschisten ge- Werte-Zersetzung. Das russische Wort ‹Durak› steht für ‹Idiot›. Und die- nauso erstaunen wie bei der Masochistin, die ser Dimitri ist in der Tat unverkennbar eine Dostojewski-Figur, die sich ganz beruflich bei der Caritas misshandelte Frauen praktisch und spontan für grundsätzliche menschliche Werte wie Gemein- betreut. Eine verheiratete Domina sagt mit einem sinn und Solidarität einsetzt. Was diesen Film so kraftvoll und authentisch lasziven Beben in der Stimme: «Ich liebe meinen macht: Er zeigt nicht nur den Riss zwischen Arm und Reich im ‹modernen› Ehesklaven abgöttisch», lässt ihn nackt mit der neokapitalistischen Russland, sondern auch quer durch Dimitris eigene Zunge die Toilette putzen und hängt ihn mit den Familie. Mit Frau und Kind wohnt er beengt bei den Eltern. Auch hier sorgt Hoden am Seilzug auf. die allgegenwärtige Korruption für Zerwürfnisse. Die Mutter verflucht den Dieser Film wird sein Publikum spalten. Die einen Vater, weil er als Bauarbeiter nicht wie alle andern Material mitlaufen lässt. werden Ulrich Seidl wohl einen mutigen Auf- Die Frau liegt Dimitri in den Ohren, dass sein Fernstudium zum Ingenieur klärer nennen, der es wagt, den Blick in mensch- ohne Schmiergeld eh nichts bringt. So wird die Kontamination durch die liche Abgründe zu öffnen. Der Keller als Ort des Zersetzung gemeinschaftlicher Werte und die vorherrschende Selbstbedie- Verbotenen, der Angst, des Unterbewussten, viel- nungsmentalität erlebbar bis in den privatesten Bereich. leicht einer ganzen Gesellschaft. Die Fälle Fritzl Die spannende Entlarvung der korrupten Verhältnisse inszeniert der Regis- und Kampusch haben sich ja inzwischen als eine seur im Hinterzimmer des Geburtstagsfestes wie einen sprachgewaltigen keineswegs nur österreichische Ungeheuerlich- Theater-Showdown. Das hat die Steifheit und Zerbrechlichkeit eines bers- keit erwiesen. tenden Rituals. Haarscharf balanciert Bykow hier auf der Kante zur Satire. Andere werden vielleicht erschreckt bis ange Sonst aber herrscht ein realistischer Blick und Ton vor. Schlicht grossartig widert sein vom voyeuristischen Blick auf das setzt dies die Hauptfigur mit jeder Faser ihres Seins und Handelns um. durchaus Erwartbare in den Untiefen unserer Artiom Bystrow ist für diese Leistung in Locarno mit dem Silbernen Leo- Eigenheime. Und von der Mitleidlosigkeit, mit der parden als bester Darsteller ausgezeichnet worden. Filmstill aus die sich selbst Ausstellenden hier ausgestellt wer Der Film läuft ab Do 8.1. in einem der Kultkinos u S. 50 ‹Durak› den. Wer mag, kann sich selber ein Urteil bilden. Der Film läuft ab derzeit in einem der Kultkinos. Fotobuch dazu: Ulrich Seidl, ‹Im Keller›, Benteli Verlag, 2014. 168 S., 61 farb. Abb., 20 x 30 cm, gb., CH 48, www.benteli.ch Ausserdem: ‹Ulrich Seidl und die bösen Buben. A Director at work›, Dokumentarfilm von Constantin Wulff, www.dschointventschr.ch Ausstellung ‹Ulrich Seidl. Stills 2001–2014›: bis Sa 14.2., Ostlicht, Galerie für Fotografie, Wien, www.ostlicht.at Januar 2015 | ProgrammZeitung | 9
Forum für Konzerte und Diskussionen a l f r e d z i lt e n e r Die IGNM Basel hat ein neues Ko-Präsidium mit frischen Ideen. «Die IGNM Basel ist kein Konzertveranstalter, sondern ein Forum für zeit- genössische Musik», betont die Sängerin Marianne Schuppe, die seit Saison beginn mit dem Komponisten Lukas Langlotz die Basler Ortsgruppe der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) leitet. Die beiden folgen auf Jürg Henneberger, der nach 16 Jahren zurückgetreten ist. Der Forum- Gedanke ist Langlotz ebenfalls wichtig: Natürlich werden auch in den kom- menden Spielzeiten sechs bis acht Konzerte mit zeitgenössischer Musik statt finden, nach den Aufführungen will der Verein aber vermehrt Möglichkeiten zur Vertiefung und Diskussion schaffen; bei einem Glas Wein soll das Publi kum in informellen Gruppen ins Gespräch kommen. Licht-Streber Unsinnige Subventionsstreichung. Auch das Saisonprogramm wollen Langlotz und Schuppe neu konzipieren. In den letzten Jahren hat jeweils ein a l f r e d z i lt e n e r Vorstandsmitglied für ein Konzert eine Carte blanche erhalten. Das ergab Basler Stockhausen-Festival. ein vielfältiges, doch wenig kohärentes Bild des aktuellen Musikschaffens. Der auf Zeitgenössisches spezialisierte Basler Bass- Neu soll die Spielzeit vom Vorstand gemeinsam gestaltet und dabei thema- Sänger Michael Leibundgut hat sich vor allem als tisch ausgerichtet werden – mit mal mehr, mal weniger offensichtlichen Interpret der Musik des 2007 gestorbenen Karl- inhaltlichen Verbindungen zwischen den Konzerten. Als mögliches Thema heinz Stockhausen einen Namen gemacht. Er war nennt Langlotz ‹Gegensätze›. Dabei könnte es etwa um komponierte und u.a. beteiligt an der spektakulären Urauffüh- improvisierte Musik gehen und um den zunehmend breiter werdenden rung der Oper ‹Mittwoch› aus dem Zyklus ‹Licht› Bereich dazwischen. (mit dem legendären Streichquartett im Helikop Weitere Anliegen sind die Suche nach neuen Aufführungsräumen, wobei ter) in Birmingham und bei einer mehrtägigen, auf der Gare du Nord natürlich zentral bleibt, und die Zusammenarbeit mit drei Räume verteilten Aufführung von ‹Samstag› anderen Kulturinstitutionen, vor allem mit der Musik-Akademie und ihrem in München. Nun organisiert er mit weiteren Mit auf zeitgenössische Musik spezialisierten, hervorragenden Ensemble Dia- gliedern der künstlerischen Stockhausen-Fami- gonal. Auch mit dem Festival ‹ZeitRäume› will man koproduzieren. lie das Festival ‹Striving for Light› und zeigt Stock Allerdings hängt die kommende Saison nach der formalistisch begründe- hausen in einem ganz anderen, kammermusika- ten, inhaltlich unsinnigen Streichung der kantonalen Subvention noch in lischen Rahmen. Der Titel, ein Zitat aus dessen der Luft. Im April müssen Schuppe und Langlotz ihre Pläne dem Basler Werk ‹Capricorn›, ist zu übersetzen mit ‹zum Kulturbeauftragten Philippe Bischof vorlegen, der, wenn er einverstanden Licht strebend› und kann wohl für das ganze ist, Swisslos die Finanzierung empfiehlt. Allerdings muss die IGNM die Denken und Schaffen Stockhausens stehen. Unterstützungsgelder jedes Jahr neu beantragen. Es dürfte auch Aussen- Das Festival kombiniert an drei Abenden Kompo- Videostill aus stehenden klar sein, dass damit eine vernünftige, längerfristige Planung sitionen für Elektronik bzw. (als Schweizer Erst- ‹Capricorn› von unmöglich wird. Hier muss, meine ich, dringend eine andere Lösung Nicole Miescher aufführungen) für Bass-Stimme und Elektroni- (oben) gefunden werden. sche Musik. Der erste bringt ein frühes Stück, das Nächste IGNM-Konzerte: Fr 16.1., 20 h, Ackermannshof (‹Wendungen› von Michel Roth, 1960 vollendete ‹Kontakte› sowie ‹Capricorn› aus Karlheinz Originaldokumente von Arnold Schönberg und Otto Nebel) Stockhausen, Do 29.1., 20 h, Gare du Nord (Distractfold Ensemble, Manchester) u S. 35, 41 dem Werk ‹Sirius›. Im zweiten sind zwei Stücke aus Foto: zVg dem Zyklus ‹Klang – Die 14 Stunden des Tages› zu hören: ‹Havona› basiert auf Texten aus dem 1955 in den USA erschienenen Buch ‹Urantia›, einer Kosmologie, die Stockhausens Denken stark be- einflusst hat. In ‹Cosmic Pulses› rotieren 24 Klang- schleifen in 24 Tempi und 24 verschiedenen Registern im Raum. Zu den Vokalstücken wer- den Videos der Künstlerin Nicole Miescher die Konturen des Raums auflösen. Die Klangregie übernehmen Kathinka Pasveer, Weggefährtin und Nachlassverwalterin des Kom- ponisten, und der Tontechniker Igor Kavulek, ein langjähriger Mitarbeiter Stockhausens. Eine von Roman Brodbeck moderierte Podiumsdiskussion mit Pasveer und Leibundgut eröffnet schliesslich die ‹Stockhausen-Nacht›, in der nochmals alle vier Kompositionen erklingen. Stockhausen-Festival ‹Striving for Lights›: Do 8. bis Sa 10.1., Gare du Nord u S. 41 10 | ProgrammZeitung | Januar 2015
Wilde Welten a l f r e d z i lt e n e r ‹Das All- Helena Winkelman bringt ein Musiktheater komponiert hat. Wer in dem Instrument auch eine phalli- machtsrohr›, Foto: zVg zu Adolf Wölfli. sche Symbolik vermutet, liegt richtig: Sexualität und Re- In das vielfältige Universum des vor 150 Jahren geborenen ligion standen im Zentrum von Wölflis Fantasien; auch schizophrenen Künstlers Adolf Wölfli führt Helena Winkel- davon erzählt das Stück. mans neues Musiktheater ‹Das Allmachtsrohr›, das nun im Winkelman schildert die intensive Zusammenarbeit mit der Gare du Nord gastiert. Es entstand im Auftrag des Vereins Regisseurin Meret Matter. Anders als im Musikbetrieb üblich, Wölfli & Musik und wurde im vergangenen Herbst in Bern hätten ihre Diskussionen schon während der Entstehung uraufgeführt. des Stücks begonnen, und sie habe daraus viel gelernt. So Wölfli (1864–1930) ist vor allem durch seine surrealen, hat Matter etwa die Textfolge verändert, weil das Theater reich ornamentierten Farbstiftzeichnungen und Collagen eine andere, ruhigere Dramaturgie benötigt als ein rein berühmt geworden. Für das Libretto zu ihrem Stück hat musikalisches Werk. sich Winkelman aber auch mit seinen Schriften befasst. ‹Das Allmachtsrohr›: Mi 21. bis Fr 23.1., 20 h, Gare du Nord u S. 41 Ihre Hauptquelle ist das mehrere hundert Seiten starke Buch ‹Von der Wiege bis zum Graab›, eine Verbindung von autobiografischen Elementen, bunt illustrierten Berichten von imaginären Forschungsreisen, Kinderreimen und seiten langen Aufzählungen. Alle diese Elemente finden sich auch Camerata variabile in Winkelmans Textcollage. Dazu kommen Berichte des db. Im Zeichen der Liebeskunst steht die Jubiläumssaison der Psychiaters Walter Morgenthaler, der bereits 1921 ein Buch Camerata variabile. Das Basler Ensemble feiert sein 20-jähriges über den ‹geisteskranken› Künstler veröffentlicht hat. Wölfli Bestehen mit Konzerten, die bekannte Kammermusikwerke und wird dargestellt vom Turntable-Performer Joke Lanz; drei Uraufführungen kombinieren. Nach dem Auftakt zur ‹Dauer der SchauspielerInnen verkörpern Menschen aus seiner Um Liebe› im letzten November sind die nächsten vier Veranstaltun- gebung, Figuren aus seinen Fantasien und seine inneren gen der ‹Liebeswerbung›, dem ‹Liebesleid›, ‹Liebe und Weisheit› Stimmen. und der ‹Liebesfreud› gewidmet; die Auftragswerke stammen von Zwischen Sex und Religion. Viele der Bilder Wölflis ent- Daniel Glaus, Marina Khorkova, Garth Knox und Laurent Mett- halten Noten. Die Kompositionen erinnern an Märsche und raux. Die Camerata variabile ist – nomen est omen – eine flexible Volkstänze, wie er sie in seiner Jugend im Emmental wohl Formation, die gerne in wechselnder Besetzung und mit grosser gehört haben mag. Winkelman hat einige davon verarbeitet konzeptioneller Freiheit spielt. Sie ist heute im Gare du Nord domi- und dabei versucht, die Wölfli-typischen Eigenheiten dieser ziliert und wird von Helena Winkelman (siehe auch Text oben) Musik hörbar zu machen. Die Mitglieder des Trios Steam- geleitet. Am Jubiläumsprogramm wirken GastmusikerInnen mit, boat Switzerland, eigenwillige Grenzgänger zwischen allen im nächsten Konzert z.B. der Cellist Thomas Demenga. Das Kern Stilen, sind dafür die richtigen Interpreten. Zu ihnen stos- ensemble besteht neben Winkelman aus Christoph Dangel, Karin sen die Klarinettistin Karin Dornbusch und Winkelman mit Dornbusch, Stefka Perifanova und Isabelle Schnöller. der Geige. Wölfli, so die Komponistin, habe in seiner Jugend Camerata variabile: So 11.1., 17 h (Liebeswerbung), Do 12.2., 20 h selbst eine Geige besessen; die Klarinette steht für das titel- (Liebesleid), So 29.3., 17 h (Liebe und Weisheit), Do 4.6., 20 h (Liebesfreud), gebende ‹Allmachtsrohr›, eine Papiertröte, mit der Wölfli Gare du Nord u S. 41, www.camerata-variabile.ch u S. 35 Ausserdem: ‹Liebe, Lebensfreude und Verdruss›, Griechische Musik zu Lyrik des 6. Jh. v.Chr.: Di 13.1., 19.30, Leonhardskirche. Mit Ensemble Melpomen (u.a. Arianna Savall), www.famb.ch Januar 2015 | ProgrammZeitung | 11
Trilogie mit Musik aus Basel a l f r e d z i lt e n e r sieben Sätze beziehen sich auf Bilder von Schweizer Malern, darunter Paul Klee, Giovanni Segantini, Louis Soutter und Böcklin mit seinem ‹Spiel der Najaden›. Solistin ist die Westschweizer Cellistin Estelle Revaz. Sie übernimmt auch den Solopart in Ernst Blochs ‹Schelomo›. Max Regers ‹Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin› umrahmen den Abend. Das Programm wird auch auf CD eingespielt. Streikender Tod. Das zweite Konzert leistet einen Beitrag zur Wiederentdeckung Hans Hubers. Es kombiniert dessen ebenfalls von Bildern Böcklins angeregte Zweite Sinfonie – «ein tolles Stück», schwärmt Agudin – mit der Kammer oper ‹Der Kaiser von Atlantis› von Viktor Ullmann. Der Ein akter des jüdischstämmigen Komponisten ist im KZ There- sienstadt entstanden. 1944 wurde Ullmann in Auschwitz ermordet, die Partitur hatte er Freunden anvertraut, die das Lager überlebten. 1975 wurde das Stück erstmals auf- geführt. Facundo Erzählt wird vom Tod, der in Streik tritt; die Menschen kön- Agudin, Foto: Das Orchester Musique des Lumières präsentiert Musik nen nicht mehr sterben, und die Erde wird zur Hölle – ein Aline Fournier von Basler Komponisten. Bild für das KZ. Ullmanns Musik verbindet Einflüsse von Mit einer besonderen Konzertreihe kommt das Orchester Gustav Mahler und Kurt Weill mit Elementen der Trivial- Musique des Lumières nach Basel. Das 2004 als Orchestre musik. Aufgrund des Manuskripts, das in der Paul Sacher- Symphonique du Jura gegründete Ensemble hat einen Dop- Stiftung aufbewahrt wird, hat Agudin mit Lisandro Abadie pelsitz im jurassischen Boncourt und in Basel. Gründer und eine eigene Fassung erstellt, die auch auf CD erscheinen Leiter ist der argentinische Dirigent Facundo Agudin. Vor 17 soll. – Eine Aufführung von Hermann Suters Oratorium ‹Le Jahren ist hierher gekommen, um an der Schola Cantorum Laudi›, einer Vertonung des ‹Sonnengesangs› von Franz von Basiliensis zu studieren. Assisi, komplettiert die Trilogie. Es sei das erste Mal, erzählt er, dass sein Orchester innert Konzerte mit Musique des Lumières u S. 38 weniger Wochen gleich mehrfach in Basel auftrete. Der Sa 31.1., 20.15, Martinskirche (Bloch, Pflüger, Reger) Grundgedanke war, an drei Abenden Werke von drei Basler Do 5.3., 20.15, Martinskirche (Huber, Ullmann) Fr 27.3., 20.15, Volkshaus (Suter) Komponisten aufzuführen. Zwei der Programme bringen zudem Musik, die von bildender Kunst, vor allem Arnold Böcklin, inspiriert ist. So steht im Zentrum des Januar-Kon- zerts die Uraufführung von Andreas Pflügers 2013 entstan- denem Auftragswerk ‹Pitture› für Cello und Orchester. Die Musikentdeckungen dirigierte als Schweizer Erstaufführungen u.a. Werke von Bach, Beethoven und Brahms. Den heute Das 2. Festival Giacinto Scelsi beleuchtet die Gedankenwelt, Lyrik und Musik des eigenwilligen dagm a r bru n n e r fast Vergessenen, der Basels Musikleben interna- italienischen Adligen, Mystikers und Komponis- Musikausstellung und -festivals. tional verknüpfte, kann man nun in Dokumen- ten (1905–1988). Die Pianistin Marianne Schroe Noch in seinem 200. Geburtsjahr wurde eine ten und Konzerten kennenlernen. – der hat ein hochkarätiges Ensemble zusammen- Ausstellung zu Ehren des Geigers, Komponisten Der jüdischen Musiktradition ist das Festival gestellt, das bisher unbekannte frühe Werke und und Dirigenten Ernst Reiter eröffnet. Der aus ‹Mizmorim› gewidmet, das jährlich stattfinden mehrere sehr späte Stücke spielen wird und Ein- dem Badischen stammende Musiker (1814–1875) soll. Die 30-jährige Klarinettistin Michal Lew blick in Scelsis Freundeskreis gibt, zu dem u.a. liess sich u.a. bei Louis Spohr ausbilden, unter- kowicz aus Israel, die an der Schola Cantorum der belgische Dichter und Maler Henri Michaux richtete dann in Würzburg und Strassburg und Basiliensis studiert, hat es mit teils prominenter gehörte. kam 1836 nach Basel. Hier wirkte er vielfältig am Unterstützung organisiert und lädt zu einer Ausstellung ‹Ernst Reiter, Violinist, Componist, Auf- und Ausbau verschiedener musikalischer musikalischen Reise ein, in deren Mittelpunkt Musik-Director›: bis Sa 28.2., Unibibliothek Basel, Einrichtungen mit, die immer noch existieren: Komponisten der Neuen Jüdischen Schule stehen. Schönbeinstr. 20 so wurde er etwa Konzertmeister der Conzert Es sind vier Konzerte zu hören, darunter ein inter- Festival ‹Mizmorim›: Sa 17./So 18.1., Stadtcasino, www.mizmorimfestival.com gesellschaft (der späteren AMG), Dirigent des aktives für Kinder, sodann Lieder von Viktor Ull- Basler Gesangvereins und Leiter des von ihm mann und eine Uraufführung von Menachem Festival Giacinto Scelsi: Do 8. bis Sa 10.1., Prediger- kirche und Stadtcasino, www.scelsifestival.com mitbegründeten Männerchors Basler Liedertafel. Wiesenberg. Als ‹Mizmorim› werden biblische/ Mit Michiko Hirayama, Rohan de Saram, Felix Renggli, Er komponierte zahlreiche Lieder, Kammer- und spirituelle Gesänge bezeichnet, sie drücken die Matthias Würsch, Alexander Gabrys u.a. u S. 53 Kirchenmusik, eine Oper sowie Festmusiken und Verbindung zwischen Glaube und Kunst aus. – 12 | ProgrammZeitung | Januar 2015
Vielfältiger CH-Sound dagm a r bru n n e r Festival Suisse Diagonales Jazz und Ausstellung ‹Oh Yeah!›. Der Schweizer Jazz-Nachwuchs tourt durchs Land. Alle zwei Jahre organi- Unmut im Elsass siert der 2002 gegründete Verein Suisse Diagonales Jazz mit Sitz in Bern pe t e r bu r r i unter Mitwirkung von Veranstaltern aus allen Landesteilen ein Festival, an Die Gebietsreform sorgt für Wirbel. dem sich zehn aufstrebende professionelle Jazzformationen präsentieren. Als Aufwertung der Regionen und Massnahme Damit sollen den jungen Musikschaffenden überregional Auftrittsmöglich- zur Dezentralisierung verkauft die französische keiten verschafft, der Austausch zwischen den Clubs gefördert und insge- Regierung ihre nun eben beschlossene Gebiets- samt die Jazz-Szene gestärkt werden. An der 7. Ausgabe sind rund 50 Kon- reform. Zudem will man die Verwaltungskosten zerte in 21 Jazzclubs zu hören. Die ausgewählten Bands erhielten vorgängig verringern. Ab 2017 soll es in Frankreich nur noch in Workshops Tipps von Fachleuten in Sachen Kommunikation, Medien 13 statt 22 Regionen geben. Das Elsass, Lothrin- arbeit und Tourneeplanung. gen und die Champagne-Ardenne werden zu Zum Auftakt der Tour in Zürich gibt es ein Podium zur Internet-Nutzung einer Mammutregion fusioniert, die fast andert- für JazzmusikerInnen und einen Konzertteil mit bekannten Namen: Erika halbmal so gross ist wie die Schweiz und 5,5 Stucky mit einem Blech-Septett und die Band Hildegard Lernt Fliegen. Im Millionen Köpfe zählt. Wie in der Grande Nation Raum Basel sind diesmal vier Konzerte von drei Gruppen aus der Zentral üblich, hat die betroffene Bevölkerung dazu nichts schweiz, der Romandie und dem Tessin zu erleben. zu sagen. Pop im Museum. In die Geschichte der Schweizer Popmusik eintauchen Obwohl relativ kleinräumig, stellt das Elsass im kann man in Bern; das Museum für Kommunikation bietet einen facetten- künftigen Gebilde immerhin ein Drittel der Ein- reichen Einblick in die Entwicklung der letzten 60 Jahre. Die Ausstellung wohnerschaft. Doch zwischen Altkirch und Wis- ‹Oh Yeah!› dokumentiert erstmals das nationale Popmusikschaffen anhand sembourg befürchten viele einen kulturellen von vielen Originalobjekten sowie mit Ton- und Filmmaterial aus allen Identitäts- und politischen Machtverlust. Denn Epochen. Zu sehen sind etwa die Trompete von Hazy Osterwald, die Jeans- das Elsass ist heute die einzige konservativ re- uniform von Toni Vescoli oder eine Auswahl Gold- und Platinauszeichnun- gierte Region und gleichzeitig eine der produk- gen für Krokus. In fünf Zeitfenstern treten die prägenden Akteure auf: vom tivsten im Land – auch wegen ihrer wirtschaft Tanzorchester und den Hawaii-Bands über die ‹Halbstarken›- und die Beat- lichen Verflechtung mit Deutschland und der gruppen bis zur Rock- und Mundartszene und den VertreterInnen von Hip Schweiz. Hop und Techno. Dazu kommen historisch bedingte Besonderhei- Als verbindendes Element führt die Stimme von Popradio-Pionier FM ten, so etwa das von über 600’000 Menschen François Mürner durch die Ausstellung. Per Kopfhörer kann man seinen nach wie vor gesprochene Elsässerditsch, das versierten Ausführungen zu Musik- und Zeitgeschichte lauschen. Ferner aus Pariser Sicht bis weit in die Fünfzigerjahre sind 75 Schweizer Musiktitel in einer ‹Sound Lounge› sowie 42 Musikvideos als Sprache des Feindes galt und eliminiert wer- von aktuellen Bands zu geniessen. ‹Oh Yeah!›, den sollte. Aber auch, dass im Elsass der Protes- 7. Festival Suisse Diagonales Jazz: Sa 10.1. bis So 15.2., www.diagonales.ch Gold- und tantismus verbreiteter ist als im übrigen Land Do 15./Fr 16.1., 19.30, Meck-à-Frick, und Fr 6./Sa 7.2., 20 h, Kulturscheune, Liestal Platinaus- und dass es da keine Trennung von Kirche und zeichnungen Ausserdem: Semesterkonzerte von Jazz-Studierenden: Mo 26. bis Sa 31.1., Jazzcampus Basel für Krokus, Staat gibt. Als nämlich Frankreich 1905 diesen Ausstellung ‹Oh Yeah! Popmusik in der Schweiz›: bis So 19.7., Museum für Kommunikation, © Museum Schritt vollzog, gehörte das Gebiet – mit Teilen Helvetiastr. 16, Bern, www.mfk.ch. Publikation dazu mit 200 Pop-Fotos von 1957–2014, für Kommu- Lothringens – zum Deutschen Reich. Noch heute Chronos Verlag, Zürich. 240 S., br., CHF 38 nikation / Hannes Saxer werden die Bischöfe von Strassburg und Metz vom französischen Präsidenten ernannt, der da- bei den Vorschlägen des Vatikans folgt. Als Zückerchen will Paris das am äussersten Rand der neuen Grossregion gelegene Strass- burg zu deren Hauptstadt machen. Dagegen wehren sich die Mitfusionierten, da die Europa- stadt in ihren Augen schon genug privilegiert ist. Doch die nächstgrösseren Städte Nancy, Metz, Reims oder Troyes (da sind wir schon kurz vor Paris!) sind deutlich kleiner. Und Reims ist zwar die Metropole des Champagners, aber heute nicht einmal Hauptstadt seiner Region. Im Übrigen wird das einst elsässische, jetzt autonome Terri- toire de Belfort zur Grossregion Bourgogne/ Franche-Comté geschlagen. Im Elsass (und nicht nur dort) herrscht Unmut, aus verständlichen Gründen. Januar 2015 | ProgrammZeitung | 13
Ein rauschhafter Traum von Zeit i ng o s ta r z Thom Luz erklimmt am Theater Basel den ‹Zauberberg›. Wie man Weltliteratur gegen den Strich bürstet und dennoch zum Leuch- Unternehmenslust ten oder besser zum Klingen bringt, bewies Thom Luz, als er Goethes dagm a r dru n n e r ‹Die Leiden des jungen Werther› in der vorletzten Saison auf die Kleine Fahrbar und Fahraway. Bühne des Theater Basel brachte. Er erzählte die Handlung von hinten nach Das ehemalige Industrieareal der Alusuisse, das vorne, vom Todesdunkel hin zur heiteren Stimmung der ersten Begegnung, Walzwerk in Münchenstein, beherbergt bekannt spielte mit romantischen Wolkenformationen im Bühnenraum und verwob lich einige innovative Kleinbetriebe, die das die Worte mit allerlei instrumentalen und anderen Klängen. Was entstand, Gelände beleben. Etwa die gastfreundliche Fahr- war ein aussergewöhnliches Musiktheater, das feinsinnig und leise ge- bar, die seit bald neun Jahren mit Stil und stimmt der Sprache einen Resonanzraum bot. Geschick für leckere Küche und Atmosphäre in Nun wendet sich der junge Schweizer einem der grossen Romane des letz- zwei Veranstaltungsräumen sorgt, wo man z.B. ten Jahrhunderts zu: Thomas Manns ‹Der Zauberberg›. In seinem Bildungs- einmal monatlich auch tanzen kann. Ins neue roman schildert der Schriftsteller den freiwilligen, siebenjährigen Aufent- Jahr wird mit einem ‹Konzert im Dunkeln› ge- halt des jungen Helden Hans Castorp im Sanatorium Berghof nahe Davos. startet, das von Sandro Schneebeli und Bruno Der Kaufmannssohn erfährt dort die Welt der Kunst, Philosophie, Politik Bieri mit verschiedenen Instrumenten bestritten und Liebe. Er trifft auf eine Gesellschaft, die von der übrigen Welt abge- wird. (Letzterer ist ab und zu in Basels Strassen schlossen ist, deren Repräsentanten eine zu Ende gehende Epoche wider- zu erleben; ein feinsinniger und geistreicher spiegeln. Castorps Bildungsweg mündet folgerichtig nicht in eine gesicher- Bänkelsänger und Hang-Spieler.) Im völlig abge- te bürgerliche Existenz, sondern in die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, dunkelten Raum, ohne visuelle Reize, kommen wo sich seine Spur verliert. Geräusche, Klänge, Stimmen und Musik ganz Hör-Abend. Thom Luz interessiert an Manns Roman der Versuch, Zeit zu anders zur Geltung. erzählen. Darum geht es ihm nicht um eine möglichst genaue Nacherzäh- Auf dieses besondere Konzerterlebnis folgt ein lung der Handlung – was angesichts der Komplexität des Werks ohnehin besonderes Einkaufserlebnis: Ausgesuchte Mode- kaum machbar wäre. Dennoch tauchen natürlich Figuren und Motive des Labels und Geschäfte der Region veranstalten Romans auf, wird eine Situation beschrieben, die ebenso Europa vor dem einen gemeinsamen Lagerverkauf und bieten Ersten Weltkrieg wie unsere Gegenwart meinen kann. hochwertige Ware zu stark reduzierten Preisen «Das Buch kommt mir vor wie ein rauschhafter Traum. Rauschhafte Träume an; ein Schnäppchen-Paradies der feinen Art. – sind sowieso die Spezialität des Autors, der es sogar schafft, in der Rausch- Regelmässig u.a. auf dem Walzwerk-Areal zu haftigkeit noch bürgerlich zu bleiben», bemerkt Luz. Mit der Betonung des Gast ist das ‹FahrAway Zirkusspektakel›. Das Traumcharakters bekennt sich der Theatermann auch zur Rätselhaftigkeit 2010 von fünf jungen Leuten gegründete Unter- des Romans. Statt Erklärungsversuche zu liefern, wird er das Publikum in nehmen ist jeweils im Sommer mit Traktor und den ‹Zauberberg› hineinhören lassen. Es werde ein Hör-Abend, sagt er. Holzwagen quer durch die Schweiz unterwegs Über das Musikkapitel ‹Fülle des Wohllauts› hinaus interessiert ihn die und spielt unter freiem Himmel ein Programm Gesamtkomposition des Werks, dessen Motive, Wiederholungen und Varia mit Artistik, Livemusik, Komik und Theater. Nun tionen bereits einen eminent musikalischen Charakter aufweisen. Mit Probenbild zeigen sie ihr neues Stück ‹Eisenartig› erstmals Schauspiel und Musik leitet Thom Luz eine Expedition, deren Paten ‹Eisenartig›, in einem geschlossenen Raum, einem Zelt in der Foto: Richard Wagner und Arnold Schönberg heissen könnten. Magdalena soeben entstandenen Station Circus auf dem ‹Der Zauberberg›: ab Fr 23.1., 20 h, Theater Basel, Kleine Bühne u S. 44 Steinemann Dreispitz-Areal. Erzählt wird (fast ohne Worte) von einem Schlosser und seinem Gesellen, die in ihrer Metallwerkstatt eines Abends unerwarte- ten Besuch bekommen und von allerlei skurrilen Ereignissen und Kunststücken verzaubert werden. Die zirzensischen Einlagen werden von eigens komponierter Musik live begleitet. Akrobatik, All tag und Poesie verweben sich zu einem traum- haften Geschehen. ‹Konzert im Dunkeln›: Sa 10.1., 20.30; ‹Die Wa(h)renlager›: Fr 23. bis So 25.1., Fahrbar-Depot, Walzwerk, www.fahrbar.li ‹Eisenartig›: ab Sa 17.1., 20 h (Première), bis So 15.3., Station Circus, Walkeweg 1 (Haltestelle Dreispitz), www.zirkusfahraway.ch 14 | ProgrammZeitung | Januar 2015
Freiheit, Recht und Ritual i ng o s ta r z ‹Together›, Foto: Lukas Neue Bühnenstücke an der Kaserne Basel. leuten Geschworene aus dem Publikum, die per Losentscheid Acton Mit drei Produktionen, die ein interessantes Spektrum von ausgewählt werden. «Ein Gerichtsprozess ist jedes Mal aufs dokumentarischer Arbeitsweise, Autorschaft und Textpro- Neue ein menschlicher Versuch, Gerechtigkeit walten zu duktion im freien Theater zeigen, startet die Kaserne Basel lassen», sagt Duyvendak. Die beiden Theatermacher lassen ins neue Jahr. Den Anfang macht ein neues Stück des in ihrer in Genf entstandenen Produktion individuelles Schauspielers und Regisseurs Lorenz Nufer, den man der- Rechtsempfinden und staatlichen Justizapparat aufein zeit auch als Huckleberry Finn am Theater Basel erleben andertreffen. Die Theatergäste erhalten unmittelbar Ein- kann. Er brachte 2013 die tragikomische Farce ‹Uzivo Frau blick in die Mechanismen und die subjektiven Kräfte eines Stirnimaa!› in die Reithalle. Nahm er sich damals Aysl- und Gerichtsverfahrens. Migrationsfragen an, so fokussiert er nun im Familiendrama Gemeinschaftsfragen. Das Interesse des Basler Theater ‹Im Bau› auf das Verhältnis der Gesellschaft zu Gefängnis- manns Marcel Schwald gilt u.a. den Möglich- und Unmög- insassen. «Mein Grundinteresse», sagt Nufer, «ist die Frage lichkeiten von Kommunikation. In seiner letzten an der nach dem freien Willen. (...) Steht es uns wirklich frei, in Kaserne gezeigten Produktion ‹Enfants Terribles› widmete einer bestimmten Situation ‹gut oder böse› zu handeln, eine er sich den sozialen Energien der Kindheit. Nun legt er mit Straftat zu begehen oder nicht?» ‹Together› eine Arbeit vor, die in den Schlund der Geschichte Die gesellschaftlichen Positionen, welche die Liebe einer taucht. Als Inspirationsquelle diente ihm Richard Sennetts Frau zu einem Inhaftierten hervorruft, werden am Beispiel populärwissenschaftlicher Bestseller ‹Together: The Rituals, einer Kleinfamilie verhandelt. An den Reaktionen der Eltern Pleasures and Politics of Cooperation› (2012). Darin spricht wird deutlich, wie unterschiedlich und problematisch – und sich der renommierte Soziologe für verlässliche und rituali dabei doch strategisch bedacht – die Meinungen dazu sein sierte Formen des Umgangs miteinander aus. Er veranschau- können. Tragikomisch und psychologisch kommt dieses licht dies mit Beispielen aus der Menschheitsgeschichte. ‹Kammerspiel am Küchentisch› daher und wird die Zu- Schwald greift in seiner Performance historische Szenarien schauenden sicherlich nicht kalt lassen. auf und verwendet sie als Handlungsanweisungen. Mit seiner Urteilsfragen. ‹Hamlet› gehört zu den meistgespielten siebenköpfigen Truppe entwirft er ein Laboratorium mensch Klassikern auf den Theaterbühnen der Welt. Berühmt ist lichen Sozialverhaltens. Indem die Darbietung Geschichte die Szene, in welcher der Dänenprinz mit Hilfe einer Schau- in die Gegenwart holt, zeigt sie auch die permanente Prä- spieltruppe den königlichen Onkel des Mordes an seinem senz des einmal Geschehenen. Kein Wunder, dass Schwald Vater überführt. Yan Duyvendak und Roger Bernat bringen von einem Satz Gertrude Steins besonders fasziniert ist: nun in ihrer Produktion ‹Please, Continue (Hamlet)› Shake- «One day there will be a complete history of everyone who speares Titelhelden vor Gericht. Dort hat dieser sich dafür ever was or is or will be living.» Und letztlich entlarvt der zu verantworten, dass er Polonius, den Vater seiner Freun- Theatermacher sein Medium, das eben immer ein rituali- din Ophelia, erstochen hat. siertes Wiederaufführen darstellt. Auf der Bühne trifft ein wechselndes Spielteam auf Vertre- ‹Im Bau›: Do 8. bis Di 13.1., 20 h (So 19 h) terInnen der Basler und Baselbieter Justiz. Die Grenzen ‹Please, Continue (Hamlet)›: Di 20. bis Do 22.1., 19 h zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. Theater ‹Together›: Mi 28.1. bis So 1.2., 20 h (So 19 h) oder Gerichtssaal, das ist hier die Frage. Ob Hamlet schul- alle Kaserne Basel u S. 42 dig und zurechnungsfähig ist, ob seine Tat vorsätzlich geschah oder nicht: Darüber entscheiden neben den Fach- Januar 2015 | ProgrammZeitung | 15
«Die Liebe ist das Wichtigste!» d oro t h e a koe l bi ng Thorgevsky & Wiener spielen zu ihrem 25-Jahre- Jubiläum eine jiddische Geschichte. ‹Tejbele›, Täubchen, heisst die Hauptfigur in Isaac B. Singers gleichnamiger Erzählung, die sich Maria Thorgevsky und Dan Wiener ausgesucht haben. ‹Tejbele› ist der zärtliche Name, den der Autor einer besonderen Frauenfigur gege- ben hat, einer vom Leben nicht verwöhnten Träumerin, der die Liebe über alles geht. Nie lässt sie von ihrer Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach wahrer Liebe und dem grossen Glück ab. Sie gibt sich Fantasien und Wesen aus anderen Welten hin – und deshalb auch dem Hilfslehrer Alchonon, der sich als Dämon ausgibt, um sie zu verführen. Genau da beginnt die unaufhaltsame, echte Liebesge- schichte – welche Welt ist die ‹wahre›? Die ‹normale›, die wir alle kennen, oder die der unsichtbaren Wünsche und verborgenen Vorstellungen? Oder gehören die beiden Wel- ten untrennbar zusammen? «Ganz bewusst haben wir diese Geschichte ausgewählt», erzählt Dan Wiener, «und mit ein- fachsten theatralischen und reichen musikalischen Mitteln wollen wir sie erzählen – die Klänge eines Kontrabasses, ein Tuch, zwei Stühle, nur wir beide und die Schauspiel- und Erzählkunst.» Einzelne jiddische Lieder werden Gefühle unterstreichen, Salomons ‹Lied der Lieder› erklingt in Wieners Vertonung in hebräischer Sprache. Stille Feinheiten. Von Isaac B. Singer spricht Wiener mit ‹Tejbele›, begeistertem Respekt, wenn er beschreibt, dass dieser sich Musik war immer ein Element in den Aufführungen des Thea Foto: Jean Krähenbühl nie über seine Figuren stellt und wie lebendig die grosse un- terduos, das für Kinder wie für Erwachsene spielt: eigene verstellte Emotionalität der literarischen Vorlage ist. Thor- und fremde Melodien als Sprache der Seele, so wie das gevsky & Wiener wollen die erstaunliche und berührende wandernde Lied in ‹Mountains don’t move, do they?›. Thea- Geschichte Tejbeles (in eigener Über- und Umsetzung) so ter bedeutet für die beiden, neue Blickwinkel öffnen und erarbeiten, wie sie das in ihrer Anfangszeit gemacht haben: Dinge erleben zu können, die man sonst nie erleben würde. mit einem Zweierstück. «Back to the roots», lacht Wiener, Die Reminiszenz an ihren gemeinsamen Anfang wird zu «ich habe eine Riesenlust, in Ruhe eine einfache, schöne, einem weiteren frischen Beginn auf dem Weg zu einem gefühlvolle Liebesgeschichte zu erzählen. Gerade jetzt, in die- Theater, in dem man sich Geschichten hingeben kann. ser Zeit der Reizüberflutung auf stille Feinheiten achten und ‹Tejbele›: Do 8. bis Sa 10.1., 20 h (Basler Premiere), Theater Basel, Kl. Bühne, durch diese in Kontakt mit dem Publikum kommen.» www.wiener.ch Lese-Animation bracht. Und zur Eröffnung wird die Direktorin des Museum der Kulturen, Anna Schmid, Wohn- hilfe für Eltern, Schulen und Bibliotheken. Im herausgebenden Verlag Baobabbooks sind weite- dagm a r bru n n e r formen in andern Weltregionen schildern. re z.T. preisgekrönte druckkünstlerische Buch- Lektüren für Klein und Gross. Neben Titeln zum Themenschwerpunkt sind perlen und Karten erhältlich. Gegen 2000 neue Bücher für junge Lesende sind natürlich viele weitere zu entdecken, zum Bei- 34. Basler Jugendbücherschiff: Mo 19.1., 19 h (Vernis- auf dem diesjährigen Basler Jugendbücherschiff spiel stellt die Interkulturelle Jugendbibliothek sage), bis Di 3.2., MS Christoph Merian, Schifflände ausgestellt und laden zum Stöbern und zur Ver- Jukibu Bücher in zahlreichen Sprachen zur Ver- Mo bis Fr 8–12, 14–18 h, Sa/So 10–18 h (Di 3.2. bis 16 h) Erzählabend mit Dreiländerfahrt: Fr 30.1., 18.30–22 h tiefung ein. Zum Sonderthema ‹Wohnen hier und fügung. Ferner gibt es eine Büchertauschbörse, ‹Kolibri›. Kulturelle Vielfalt in Kinder- und Jugend- anderswo› finden sich zahlreiche Titel, die von ein Begleitprogramm mit Anregungen für Schu- büchern, Leseempfehlungen 2014/15, 21. Ausgabe Behausungen aller Art, von Behaglichkeit und len und Familien, einen Malworkshop, Figuren- 2014. 68 S., br., Bezug Schweiz kostenlos, der Hoffnung auf den eigenen Platz erzählen. theater und eine Erzählnacht mit Rundfahrten www.baobabbooks.ch Auf dem Unterdeck gibt es Bilderbücher für die im Dreiländereck. – Weitere Lesungen für Familien: Kantonsbibliothek Kleinen (bis 10 J.) sowie Sachbücher rund ums Empfehlungen für Kinder- und Jugendbücher, Baselland, Liestal, www.kbl.ch Bauen und Wohnen, auf dem Oberdeck können die anderen Kulturen offen und respektvoll Ausserdem: Basler Büchermarkt der Antiquare: sich Jugendliche (bis 15 J.) über Architektur, begegnen, enthält das Verzeichnis ‹Kolibri›. Das Fr 30.1. bis So 1.2., Schmiedenhof, Rümelinsplatz. Wohnungseinrichtungen und andere Wohnkul- aktuelle listet 85 Titel auf, die eine unabhängige Fr 17–20 h, Sa 11–18 h, So 11–17 h turen orientieren. Im Foyer sind auf Kartonkis- Redaktion sorgfältig ausgewählt hat. Die Bro- ten treffende Aussagen übers Wohnen ange- schüre ist eine hervorragende Orientierungs 16 | ProgrammZeitung | Januar 2015
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