PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN

 
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PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Cover: Ausstellung ‹Geld›, Stapferhaus, Lenzburg u S. 21   Agenda-Partner
Foto: Anita Affentranger                                      des Monats

                                                                            Kultur
                                                                            im Raum Basel
                                                                                 Januar 2015 | Nr. 302
                                                                                                         CHF 8.40 | EUR 7.00

                                                                            ProgrammZeitung
                                                                                                                               Menschen, Häuser, Orte, Daten
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Immer wieder anfangen
dagm a r bru n n e r

                     Editorial. Das optimistische Wort passt zum neuen
                  Jahr – und ist zudem der Name einer Institution, die eher
                  Nega­tives auszugleichen hat: Neustart. So heisst eine Be-
                  ratungsstelle für straffällige Menschen und deren Ange-
                  hörige. Seit vierzig Jahren widmet sie sich diesem gesell-
                  schaftlich heissen Eisen, das vielfältige Emotionen aus-
                  löst, oft auf Kosten der Sachlichkeit. Gegründet wurde der
                  Trägerverein Neustart 1975 von engagierten Juristinnen
                  und Juristen, um Straffällige (ob im Vollzug oder bereits
                  entlassen) mit kostenloser Rechtsberatung zu unterstützen
                  und ihre gesellschaftliche Integration nach einer Straftat
                  zu begleiten. Angeboten werden u.a. professionelle Unter­
                  stützung bei Finanzfragen, bei der Arbeits- und Wohnungs-
                  suche, die Vermittlung von Anwaltspersonen, Gefängnis-                  ungewisse Zukunft (S. 10), das Elsass kämpft wohl vergeb-
                  besuche, psychosoziale Betreuung und Support, auch von                  lich um mehr Souveränität (S. 13) und das Haus der Reli­
                  Familienmitgliedern. Zudem sind freiwillige Bewährungs-                 gionen in Bern wagt trotz Widerständen den Dialog (S. 26).
                  helferInnen im Einsatz.                                                 Im Baselbiet bleiben nach Niggi Ullrichs unerwartetem
                  Rund 160 Menschen pro Jahr nehmen in unserer Region                     Rücktritt viele Fragen offen (S. 18/19). Wir danken an die-
                  diese Dienste in Anspruch, bei etwa einem Drittel geht es               ser Stelle dem gewieften Vernetzer für seine geschätzten
                  um die gerichtlich angeordnete Bewährungshilfe. Oberstes                Kulturtaten, von denen auch die ProgrammZeitung profi-
                  Ziel ist es, durch soziale Inte­gration Rückfälle zu vermei-            tieren durfte, indem er seine BL-Veranstalter zu günstiger
                  den. Die Beratungsstelle mit drei ausgebildeten Fachleuten              Werbung bei uns animierte. Und wünschen ihm zum Neu-
                  erarbeitet ihre Hilfsangebote individuell und unentgeltlich;            start in andern Gefilden alles Gute!
                  die Arbeit wird durch Spenden (2/3) und Subventionen                    Ein Buch, das ‹Anfänge› zum Thema macht, ist soeben er-
                  (1/3) finanziert. In seinem Jubiläumsjahr will der Verein               schienen, verfasst vom Basler Journalisten Jean-Martin
                  seine Aktivitäten stärker in die Öffentlichkeit tragen und              Büttner (Tages-Anzeiger), der in jüngeren Jahren auch mal
                  hat deshalb eine Vortragsreihe konzipiert, die an fünf Aben-            für die ProgrammZeitung in die (noch nicht digitalen) Tas-
                  den verschiedene Aspekte von Delinquenz und Strafrecht                  ten griff. Seine Sammlung kurzer Texte zum Zeitgeschehen
                  beleuchtet. Ferner ist ein Benefizanlass mit dem Satire-                ist ein Beweis für lust- und gehaltvolles Schreiben – und
                  Duo Bachmann & Bardelli programmiert.                                   beste Lektüre zum Start ins neue Jahr!
                  Um Jubiläen, Veränderung und Neustarts in der Region                    40 Jahre Verein Neustart, Referate: ab Di 20.1., 19 h, Unternehmen Mitte,
                  und darüber hinaus geht es auch im vorliegenden Heft. So                1. Stock, Eintritt frei u S. 52, www.vereinneustart.ch
                  feiern etwa die Solothurner Filmtage ihr 50-jähriges Beste-             Jean-Martin Büttner, ‹Anfänge. Und so weiter›, Echtzeit Verlag, Basel, 2014.
                  hen (S. 7), die IGNM geht mit frischen Ideen in eine allerdings         167 S., gb., CHF 32l

            Hauskultur                               Die ProgrammZeitung kann sich übrigens, wie
                                                     andere regional und thematisch ausgerichtete
db. Die schwindende Leserschaft von Presse-          Magazine nicht über schwindende Abos bekla-
Erzeugnissen ist mittlerweile ein Dauerthema,        gen; allerdings ist der Zuwachs bescheiden. Aber
und dass auch die Basler Zeitung zu den ‹Opfern›     immerhin! Dass wir nach 2 Jahren die Heftpreise
gehört, liegt nicht nur an der digitalen Konkur-     moderat anpassen (Jahresabo CHF 82 statt 78),
renz. Doch nicht der Auflagen- und Aboschwund,       machen wir mit zusätzlichem Inhalt wett: auf 96
sondern der Niveau-Absturz des Blattes und sei-      Seiten finden Sie eine sorgfältig erarbeitete, um-       Inhalt
ne Folgen seit dem Blocher-Regime sind Thema         fassende Übersicht über das Kulturleben im               Redaktion                                                  5
eines Dokumentarfilmes, den Edgar Hagen dem-         Raum Basel. Gerne erinnern wir auch daran,
nächst präsentieren wird. ‹Die Übernahme› stelle     dass wir unsere Einnahmen selbst erwirtschaf-            Kultursplitter                                           28
«die Vorgänge auf dem Medienplatz Basel als          ten (ohne Sponsoren und Subventionen).                   Kulturszene                                              29
beispielhaft für die Entwicklungen auch in an-       Abschliessend gratulieren wir unseren Partner-
dern Regionen der Schweiz dar», heisst es in einer   magazinen Juli (Aargau) und Coucou (Winter-              Agenda                                                   55
Mitteilung der Aktionsgruppe ‹Rettet Basel›. Mit-    thur) zum 5- bzw. 2-jährigen Durchhalten; deren          Kurse                                                    89
schnitte aus einem Podium und Einzelinterviews       Kulturtipps finden Sie auf S. 28. Und unserer
vermitteln einen Eindruck von den Mechanis-          Leserschaft wünschen wir einen angenehmen                Impressum                                                89
men, die letztlich zur Zerstörung von demokrati-     Aufbruch ins neue Jahr!                                  Ausstellungen & Museen                             90 | 92
schen Strukturen führen. Der Filmstart ist bei       Dokfilm ‹Die Übernahme› u s. Tagespresse
Drucklegung dieses Heftes noch offen.                                                                         Essen & Trinken                                   94 | 95
                                                                                                                                        Januar 2015 |   ProgrammZeitung | 3
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Redaktion
Was tun wir hier? a l f r e d s c h l i e nge r            7
Sol heure 50! a l f r e d s c h l i e nge r                7
Achterbahn und Tornado a l f r e d s c h l i e nge r       8
Fiction & Football dagm a r bru n n e r                    8
Freak-Show? a l f r e d s c h l i e nge r                  9
Was gehen mich die andern an?
a l f r e d s c h l i e nge r                              9
Licht-Streber a l f r e d z i lt e n e r                  10
Forum für Konzerte und Diskussionen
a l f r e d z i lt e n e r                                10
Wilde Welten a l f r e d z i lt e n e r                   11
Camerata Variabile dagm a r bru n n e r                   11
Trilogie mit Musik aus Basel a l f r e d z i lt e n e r   12
Musikentdeckungen dagm a r bru n n e r                    12
Vielfältiger CH-Sound dagm a r bru n n e r                13
Unmut im Elsass pe t e r bu r r i                         13
Ein rauschhafter Traum von Zeit i ng o s ta r z           14
Unternehmenslust dagm a r bru n n e r                     14
Freiheit, Recht und Ritual i ng o s ta r z                15
«Die Liebe ist das Wichtigste!»
d oro t h e a koe l bi ng                                 16
Lese-Animation dagm a r bru n n e r                       16
Wortkunst, Sprachzauber dagm a r bru n n e r              17
Sehnsuchtsorte dagm a r bru n n e r                       17
Kraftvoller Grenzüberwinder h e l m u t bü rge l          18
Kampfgenosse dé si r é e m e i se r                       18
BL-Kulturpolitik am Scheideweg d om i n iqu e spi rgi 19
Eine Botschaft für die Kultur m a rt i n z i ng g         20
Basler Geschichte dagm a r bru n n e r                    20
Money, money, money … dagm a r bru n n e r                21
Messerscharf a l a i n c l au de s u l z e r              21
Sinnlicher Kosmos i r i s k r e t z s c h m a r           22
Schöpfen und Schreiben n a n a b a de n be rg             22
Fantastische Profiteure wa lt e r be u t l e r            23
Körperkunst dagm a r bru n n e r                          23
Der experimentierfreudige Reporter m ic h a e l b a a s 2 5
Gesamtkunstwerk dagm a r bru n n e r                      25
Dialog der Kulturen dagm a r bru n n e r                  26
Life or Style ru d ol f bus sm a n n                      26
                                                               Filmstill aus ‹Les petites fugues›
Und plötzlich diese Übersicht t i l o r ic h t e r        27   von Yves Yersin, 1979 u S. 7
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
50 Jahre Solothurner Filmtage
                                           Filmstills aus ‹Höhenfeuer› von Fredi M. Murer (oben)
                                                        und ‹Home› von Ursula Meier

6 | ProgrammZeitung | Januar 2015
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Was tun wir hier?
a l f r e d s c h l i e nge r

   Der Venedig-Sieger fordert heraus – als philosophisch-
   sinnliche Meditation über das Leben.
Die Filme von Roy Andersson gehören zum Aussergewöhn-
lichsten, was je auf einer Leinwand zu sehen war. Mit
‹Songs from the second floor› (2000) kehrte er nach 30 Jah-
ren Kinoabstinenz zurück. (1970 hatte er mit ‹A swedish
love story› den Goldenen Bären an der Berlinale gewon-
nen.) 2007 folgte ‹You, the living›. Jetzt legt er mit ‹A pigeon
sat on a branch reflecting on existence› den – vorläufigen –
Abschluss seiner Trilogie über die conditio humana im
Spätkapitalismus vor. Das filmische Triptychon ist eine so
liebevolle wie bitterböse Zeitsatire, eine Passionsgeschich-
te von abgründiger Komik, eine heillose Symphonie des
Scheiterns. Und doch keine Sekunde zynisch. Denn den
vom Leben geprügelten Gestalten gehört trotz aller Er-
bärmlichkeit das ganze Mitgefühl des Filmautors. Eben
wurde das jüngste Werk in Venedig mit dem Goldenen
Löwen ausgezeichnet. Das ist erklärungsbedürftig.
Denn Andersson verstösst praktisch gegen alle Regeln des
narrativen Kinos. Kaum Bewegung, kein Schnitt, kein
Schwenk, kein Zoom, die Kamera meist starr fixiert in gros-
sen Plansequenzen. So reiht der Autor in seiner Meditation             die einfach nie in Pension gehen können. Die Welt ist ein                              Filmstill aus
                                                                                                                                                              ‹A pigeon sat
über eine philosophierende Taube 39 Tableaux lose anein-               Hamsterrad, und ewig muss man sich verkaufen. Jede                                     on a branch
ander, nicht als lineare Geschichte, sondern assoziativ ver-           Sequenz kann auch abgeschlossen für sich stehen, man                                   reflecting on
knüpft und mit einem stimmungsdichten inneren Sog. Das                 durchquert sie wie eine Bildergalerie.                                                 existence›

Publikum soll und darf das Puzzle selber zusammensetzen.               Mehr als an den konventionellen Film erinnert das an The-
Das muss man auch aushalten.                                           ater und Malerei, an Künstler wie Breughel und Bunuel,
   Tröstende Komik. Im Zentrum stehen zwei Ritter von                  Kafka und Beckett, Otto Dix und Edward Hopper. Die Ein-
der ganz und gar traurigen Gestalt, die als Scherzartikel-             samkeit zieht als seltsam wärmendes Gefühl durch diesen
verkäufer durch die Lande ziehen. Sie wollen etwas Spass               Film. Der Trost liegt allenfalls in der Komik. Und in der un-
in eine triste, auch farblich fahle Welt bringen und haben             sterblichen Sehnsucht. Soll man hier schon einzelne Bilder
doch selber immer ein Heulen im Gesicht. Vampirzähne,                  entschlüsseln? Wohl besser nicht. Ohne Dechiffrierkrücken
Lachsack und Monstermasken sind die Hauptattraktio-                    wirkt das Abenteuer dieses höchst seltsamen Films verstö-
nen in ihrem schlichten Missionsköfferchen. Von Ferne                  render – und nachhaltiger.
erinnern sie an die schwer gealterten Laurel & Hardy,                  Der Film läuft ab Do 15.1. in einem der Kultkinos u S. 50

           Sol heure 50!                             tät: Während 20 Jahren der legendäre Pionier
                                                     Stephan Portmann, dann über 25 Jahre sein
                                                                                                                Die ersten 20 Jahre blieben die Filmtage ein
                                                                                                                wenig ein Fremdkörper in Solothurn. Das hat
            a l f r e d s c h l i e nge r
                                                     Schüler und heutige Chef der Sektion Film im               sich gründlich geändert. Es ist eine einheimi-
            Die Filmtage jubilieren.                 Bundesamt für Kultur, Ivo Kummer, und seit 2011            sche Fangemeinde von DauerkartenbesitzerInnen
Es sind wahre Sonnenstunden, wenn in Sol-            die Filmwissenschaftlerin Seraina Rohrer.                  herangewachsen. Am Wochenende, wenn auch
(h)eure im kalten Januar die Leinwände im Dauer-     Das Jubiläumsprogramm wird besonders reich-                sehr viele Auswärtige anreisen, drohen die Film-
betrieb glühen. In diesem Jahr bereits zum 50.       haltig. Mit ‹Höhenfeuer›, ‹Home› und ‹Les petites          tage fast am eigenen Erfolg zu ersticken, und das
Mal. Die Werkschau des Schweizer Filmschaf-          fugues› werden drei der besten Schweizer Filme             Publikum steht sich in der Winterkälte vor den
fens ist in diesen fünf Dekaden einen sehr erfolg-   aller Zeiten präsentiert. Zudem kann das Publi-            Kassen schon mal die Beine in den Bauch. Basler
reichen Weg gegangen. Vor 12 Jahren wurden           kum aus einer Auswahl von 15 weiteren Schwei-              Filmschaffende waren bei den Preisverleihun-
erstmals über 40’000 Eintritte gezählt, seit 2013    zer Filmen seinen Liebling erküren. Eröffnet wird          gen in den letzten Jahren schon mehrfach beson-
sind es bereits über 60’000. Die Solothurner Film-   die Werkschau mit dem Erstling von Claudia                 ders erfolgreich: Fanny Bräuning mit ‹No more
tage gehören inzwischen zu einem der wichtigs-       Lorenz, dem Familiendrama ‹Unter der Haut›. Paul           smoke signals› (2009), Nicola Bellucci mit ‹Nel
ten Kulturanlässe der Schweiz.                       Riniker bringt seinen Spielfilm ‹Usfahrt Oerlike›          giardino dei suoni› (2010) und Anna Thommen
Über 200 Filme aller Genres und Längen werden        mit Jörg Schneider und Matthias Gnädinger zur              mit ‹Neuland› (2014).
innert einer Woche gezeigt: Dokumentar-, Spiel-,     Weltpremiere. Solothurn hat sich aber auch zum             50. Solothurner Filmtage: Do 22. bis Do 29.1.,
Experimental-, Kurz- und Animationsfilme so-         Ort der nationalen Filmpolitik entwickelt; so fin-         www.solothurnerfilmtage.ch
wie Musikclips. Erst drei Direktoren standen         den zahlreiche Diskussionen und Workshops zu               Nominationen Schweizer Filmpreis: Mi 28.1.
                                                                                                                Vorverkauf: www.starticket.ch
dem Festival bisher vor und sorgten für Kontinui­    verschiedenen Themen statt.

                                                                                                                                           Januar 2015 |   ProgrammZeitung | 7
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Achterbahn und Tornado
a l f r e d s c h l i e nge r

                                                                                  Filmstills aus
    Xavier Dolans ‹Mommy› ist eine Hymne auf Emotionen und
    wilde Mutterliebe.
                                                                                  ‹Mommy›
                                                                                                         Fiction & Football
Der Frankokanadier Xavier Dolan gilt als Wunderkind und Maniac der                                                dagm a r bru n n e r
Filmszene. Das ist nicht ganz unverständlich. Mit 17 schreibt er sich innert                               Neues Kino & Flutlicht Festival.
drei Tagen das Drehbuch zu ‹J’ai tué ma mère› von der Seele, zwei Jahre                            Das Neue Kino Basel startet zukunftsorientiert
später verfilmt er es als Autodidakt, spielt gleich auch die Hauptrolle und                        ins neue Jahr: Es zeigt fünf ausgewählte Science-
zeichnet für Kostüme und Produktion verantwortlich. Inzwischen hat der                             Fiction-Filme, die das Verhältnis der Menschen
25-Jährige vier weitere Kinofilme realisiert, und der jüngste, ‹Mommy›,                            zu sich selbst, zur Erde und zur Technik wider-
wurde wieder in Cannes uraufgeführt und preisgekrönt. Dolan knüpft                                 spiegeln. Einer der ersten Filme des Genres war
dabei thematisch an seinen Erstling an und fokussiert auf eine exzessive                           Georges Méliès ‹Voyage dans la Lune› von 1902,
Mutter-Sohn-Beziehung, die er durch alle Höhen und Tiefen schleudert.                              der auf Romanen von Jules Verne und H.G. Wells
Eine Achterbahnfahrt der Sonderklasse.                                                             basierte. Er erzählt mit reizvollen technischen
    Plädoyer gegen Ausgrenzung. Der 15-jährige Steve (Antoine Olivier Pilon)                       Tricks von einer tollkühnen Expedition und dem
leidet unter einer Affektstörung samt ADHS, neigt zu rasenden Wutan­                               Fortschrittsglauben jener Zeit. Das Neue Kino zeigt
fällen, wobei er jede Kontrolle verliert, und lebt seit dem Tod des Vaters                         eine wiedergefundene handkolorierte und von
in Heimen. Als er einen Brand legt, bei dem ein Mitinsasse schwer verletzt                         der französischen Popgruppe Air vertonte Fassung
wird, ist er auch dort nicht mehr tragbar und wird zur alleinerziehenden                           des Kurzfilms in Kombination mit einer Doku-
Mutter Diane (Anne Dorval) abgeschoben. Diese ist selbst aus ähnlichem                             mentation über Méliès Werdegang, die Entste-
Holz geschnitzt, reizt die Gefühlspalette bis in die Extreme aus, greift gerne                     hung, Wiederentdeckung und Restaurierung des
auch mal in die vulgäre Schublade und überschäumt gleichzeitig vor hef-                            Films (2011). Weitere visuelle Abenteuer verspre-
tiger Liebe zu ihrem schwierigen Sohn. Sie lieben und sie schlagen sich                            chen Filme von Hermann Zschoche (1972), Ridley
– eine Traumpaarung für den Emotionsfetischisten Dolan. Im Trio mit der                            Scott (1982/2007) und Werner Herzog (2005).
stotternden Nach­barin Kyla (Suzanne Clément), deren eigenes Trauma                                Zwei Science-Fiction-Experten aus Wien geben
sachte angedeutet wird, entfacht das enfant terrible des jungen Autoren-                           Kurzeinführungen. –
films einen wahren Wirbelsturm der Gefühle.                                                        Schon zum zweiten Mal gibt es in Basel das Flut-
Und dafür zieht Dolan alle filmischen Register. Im quadratischen 1:1-For-                          licht Fussball Film Festival. Im Zentrum stehen
mat gefilmt, reisst er die Leinwand plötzlich auf in die Breite, wenn’s heftig,                    6 Dokumentar-, 4 Spiel- und etliche Kurzfilme,
wild und schön wird. Er badet förmlich in Pop-Heulern, die die Stimmun-                            begleitet von Eröffnungsparty, Sonntagsbrunch
gen der Figuren nach aussen stülpen. Zeitlupe, Hall, Überbelichtung,                               und Lesung mit Poetry Slam. An zwei Podien
Unschärfe – oder plötzliche, erschreckende Stille, kein Mittel ist dem Hoch-                       äussern sich zudem der bekannte Autor Charles
begabten zu schade, seine Hymne zu orchestrieren. Unweigerlich wird man                            Lewinsky und andere Gäste zu politischen bzw.
als Zuschauende hineingesogen in diesen Tornado. Unverkennbar ist, wie                             jüdischen Aspekten des Fussballs.
der Filmer sein Personal liebt, gerade auch, wenn es sich völlig daneben                           ‹Auf zu neuen Welten!›, Science-Fiction-Filme:
benimmt. Bei aller Drastik, bei allem Pathos ist ‹Mommy› ein herzhaftes                            ab Do 8.1., 21 h, Neues Kino, Klybeckstr. 247,
Plädoyer gegen Ausgrenzung und für das Ausleben starker Gefühle. Wer                               www.neueskinobasel.ch

möchte da dem furiosen Jungtalent und seinen ausgezeichneten AkteurIn-                             Flutlicht Fussball Film Festival: Fr 16. bis So 18.1.,
                                                                                                   Bar du Nord, www.flutlichtfestival.ch. Bild u S. 55
nen wirklich ankreiden, dass dieses Fest der Affekte vielleicht ein halbes
Stündchen zu lang geraten ist?                                                                     Ausserdem: 2. Arlesheimer Kurzfilmfestival: Fr 30.1. bis
                                                                                                   So 1.2., www.trotte-arlesheim.ch (Thema: Blau)
Der Film läuft derzeit in einem der Kultkinos.

8 | ProgrammZeitung | Januar 2015
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Was gehen mich die andern an?
                                                            a l f r e d s c h l i e nge r

             Freak-Show?                                                          ‹Durak› erzählt packend vom Riss in einer Mietskaserne –
                                                                                  und in der russischen Gesellschaft.
             a l f r e d s c h l i e nge r                                     Der Film des 33-jährigen Russen Juri Bykow wirft uns gleich zu Beginn mit
           ‹Im Keller› von Ulrich Seidl.                                       rasanten, hyperrealistischen Bildern hinein ins Elend einer vernachlässig-
Nach seiner ‹Paradies›-Trilogie (‹Glaube›, ‹Liebe›,                            ten Mietskaserne, wo Gewalt und Alkohol das dürftige Leben der randstän-
‹Hoffnung›) kehrt der österreichische Filmer Ulrich                            digen Bewohner beherrschen. Hierher wird eines Nachts der junge Klemp-
Seidl zur dokumentarischen Form zurück, mit                                    ner Dimitri (Artiom Bystrow) wegen eines Rohrbruchs gerufen – und ent-
der er ursprünglich bekannt geworden ist, und                                  deckt einen Riss, der durchs ganze Haus geht und es in Kürze zum Einsturz
steigt hinunter in die Keller der Alpenrepublik.                               bringen könnte. Das Leben von 800 Menschen steht auf dem Spiel.
Was er da vorfindet ist schrecklich gewöhnlich                                 Dimitri setzt sofort alles in Bewegung, um die Mieterschaft zu evakuieren,
bis schauderhaft: reglose Jugendliche im tristen                               platzt ins opulente Fest der Bürgermeisterin, die mit den Notabeln der
Partykeller, musizierende Alt-Nazis, die Hitler-                               Stadt gerade ihren 50. Geburtstag feiert, und versucht ihnen den Ernst der
Bilder abstauben, Modelleisenbahn-Freaks, ver-                                 Lage klarzumachen – erfolglos. Was dabei zutage tritt, ist ein ganz präzis
hinderte Opernsänger und Scharfschützen, Sado-                                 gezeichneter Sumpf von Schlampigkeit, Korruption und widerlichstem
maso-Fetischisten und Fitness-Süchtige.                                        Sozialdarwinismus. Sollen diese Säufer doch verrecken, meint ein Verant-
Wie freizügig die Porträtierten von ihren Obses-                               wortlicher, dann sei man diesen Abschaum los.
sionen erzählen, kann einen beim Faschisten ge-                                   Werte-Zersetzung. Das russische Wort ‹Durak› steht für ‹Idiot›. Und die-
nauso erstaunen wie bei der Masochistin, die                                   ser Dimitri ist in der Tat unverkennbar eine Dostojewski-Figur, die sich ganz
beruflich bei der Caritas misshandelte Frauen                                  praktisch und spontan für grundsätzliche menschliche Werte wie Gemein-
betreut. Eine verheiratete Domina sagt mit einem                               sinn und Solidarität einsetzt. Was diesen Film so kraftvoll und authentisch
lasziven Beben in der Stimme: «Ich liebe meinen                                macht: Er zeigt nicht nur den Riss zwischen Arm und Reich im ‹modernen›
Ehesklaven abgöttisch», lässt ihn nackt mit der                                neokapitalistischen Russland, sondern auch quer durch Dimitris eigene
Zunge die Toilette putzen und hängt ihn mit den                                Familie. Mit Frau und Kind wohnt er beengt bei den Eltern. Auch hier sorgt
Hoden am Seilzug auf.                                                          die allgegenwärtige Korruption für Zerwürfnisse. Die Mutter verflucht den
Dieser Film wird sein Publikum spalten. Die einen                              Vater, weil er als Bauarbeiter nicht wie alle andern Material mitlaufen lässt.
werden Ulrich Seidl wohl einen mutigen Auf-                                    Die Frau liegt Dimitri in den Ohren, dass sein Fernstudium zum Ingenieur
klärer nennen, der es wagt, den Blick in mensch-                               ohne Schmiergeld eh nichts bringt. So wird die Kontamination durch die
liche Abgründe zu öffnen. Der Keller als Ort des                               Zersetzung gemeinschaftlicher Werte und die vorherrschende Selbstbedie-
Verbotenen, der Angst, des Unterbewussten, viel-                               nungsmentalität erlebbar bis in den privatesten Bereich.
leicht einer ganzen Gesellschaft. Die Fälle Fritzl                             Die spannende Entlarvung der korrupten Verhältnisse inszeniert der Regis-
und Kampusch haben sich ja inzwischen als eine                                 seur im Hinterzimmer des Geburtstagsfestes wie einen sprachgewaltigen
keineswegs nur österreichische Ungeheuerlich-                                  Theater-Showdown. Das hat die Steifheit und Zerbrechlichkeit eines bers-
keit erwiesen.                                                                 tenden Rituals. Haarscharf balanciert Bykow hier auf der Kante zur Satire.
Andere werden vielleicht erschreckt bis ange­                                  Sonst aber herrscht ein realistischer Blick und Ton vor. Schlicht grossartig
widert sein vom voyeuristischen Blick auf das                                  setzt dies die Hauptfigur mit jeder Faser ihres Seins und Handelns um.
durchaus Erwartbare in den Untiefen unserer                                    Artiom Bystrow ist für diese Leistung in Locarno mit dem Silbernen Leo-
Eigenheime. Und von der Mitleidlosigkeit, mit der                              parden als bester Darsteller ausgezeichnet worden.
                                                            Filmstill aus
die sich selbst Ausstellenden hier ausgestellt wer­                            Der Film läuft ab Do 8.1. in einem der Kultkinos u S. 50
                                                            ‹Durak›
den. Wer mag, kann sich selber ein Urteil bilden.
Der Film läuft ab derzeit in einem der Kultkinos.
Fotobuch dazu: Ulrich Seidl, ‹Im Keller›, Benteli Verlag,
2014. 168 S., 61 farb. Abb., 20 x 30 cm, gb., CH 48,
www.benteli.ch
Ausserdem: ‹Ulrich Seidl und die bösen Buben.
A Director at work›, Dokumentarfilm von Constantin
Wulff, www.dschointventschr.ch
Ausstellung ‹Ulrich Seidl. Stills 2001–2014›:
bis Sa 14.2., Ostlicht, Galerie für Fotografie, Wien,
www.ostlicht.at

                                                                                                                                          Januar 2015 |   ProgrammZeitung | 9
PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
Forum für
                                                                           Konzerte und Diskussionen
                                                                           a l f r e d z i lt e n e r

                                                                               Die IGNM Basel hat ein neues Ko-Präsidium mit frischen Ideen.
                                                                           «Die IGNM Basel ist kein Konzertveranstalter, sondern ein Forum für zeit-
                                                                           genössische Musik», betont die Sängerin Marianne Schuppe, die seit Saison­
                                                                           beginn mit dem Komponisten Lukas Langlotz die Basler Ortsgruppe der
                                                                           Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) leitet. Die beiden folgen
                                                                           auf Jürg Henneberger, der nach 16 Jahren zurückgetreten ist. Der Forum-
                                                                           Gedanke ist Langlotz ebenfalls wichtig: Natürlich werden auch in den kom-
                                                                           menden Spielzeiten sechs bis acht Konzerte mit zeitgenössischer Musik statt­
                                                                           finden, nach den Aufführungen will der Verein aber vermehrt Möglichkeiten
                                                                           zur Vertiefung und Diskussion schaffen; bei einem Glas Wein soll das Publi­
                                                                           kum in informellen Gruppen ins Gespräch kommen.
             Licht-Streber                                                     Unsinnige Subventionsstreichung. Auch das Saisonprogramm wollen
                                                                           Langlotz und Schuppe neu konzipieren. In den letzten Jahren hat jeweils ein
                a l f r e d z i lt e n e r
                                                                           Vorstandsmitglied für ein Konzert eine Carte blanche erhalten. Das ergab
           Basler Stockhausen-Festival.                                    ein vielfältiges, doch wenig kohärentes Bild des aktuellen Musikschaffens.
Der auf Zeitgenössisches spezialisierte Basler Bass-                       Neu soll die Spielzeit vom Vorstand gemeinsam gestaltet und dabei thema-
Sänger Michael Leibundgut hat sich vor allem als                           tisch ausgerichtet werden – mit mal mehr, mal weniger offensichtlichen
Interpret der Musik des 2007 gestorbenen Karl-                             inhaltlichen Verbindungen zwischen den Konzerten. Als mögliches Thema
heinz Stockhausen einen Namen gemacht. Er war                              nennt Langlotz ‹Gegensätze›. Dabei könnte es etwa um komponierte und
u.a. beteiligt an der spektakulären Urauffüh-                              improvisierte Musik gehen und um den zunehmend breiter werdenden
rung der Oper ‹Mittwoch› aus dem Zyklus ‹Licht›                            Bereich dazwischen.
(mit dem legendären Streichquartett im Helikop­                            Weitere Anliegen sind die Suche nach neuen Aufführungsräumen, wobei
ter) in Birmingham und bei einer mehrtägigen, auf                          der Gare du Nord natürlich zentral bleibt, und die Zusammenarbeit mit
drei Räume verteilten Aufführung von ‹Samstag›                             anderen Kulturinstitutionen, vor allem mit der Musik-Akademie und ihrem
in München. Nun organisiert er mit weiteren Mit­                           auf zeitgenössische Musik spezialisierten, hervorragenden Ensemble Dia-
gliedern der künstlerischen Stockhausen-Fami-                              gonal. Auch mit dem Festival ‹ZeitRäume› will man koproduzieren.
lie das Festival ‹Striving for Light› und zeigt Stock­                     Allerdings hängt die kommende Saison nach der formalistisch begründe-
hausen in einem ganz anderen, kammermusika-                                ten, inhaltlich unsinnigen Streichung der kantonalen Subvention noch in
lischen Rahmen. Der Titel, ein Zitat aus dessen                            der Luft. Im April müssen Schuppe und Langlotz ihre Pläne dem Basler
Werk ‹Capricorn›, ist zu übersetzen mit ‹zum                               Kulturbeauftragten Philippe Bischof vorlegen, der, wenn er einverstanden
Licht strebend› und kann wohl für das ganze                                ist, Swisslos die Finanzierung empfiehlt. Allerdings muss die IGNM die
Denken und Schaffen Stockhausens stehen.                                   Unterstützungsgelder jedes Jahr neu beantragen. Es dürfte auch Aussen-
Das Festival kombiniert an drei Abenden Kompo-           Videostill aus    stehenden klar sein, dass damit eine vernünftige, längerfristige Planung
sitionen für Elektronik bzw. (als Schweizer Erst-        ‹Capricorn› von   unmöglich wird. Hier muss, meine ich, dringend eine andere Lösung
                                                         Nicole Miescher
aufführungen) für Bass-Stimme und Elektroni-             (oben)            gefunden werden.
sche Musik. Der erste bringt ein frühes Stück, das                         Nächste IGNM-Konzerte: Fr 16.1., 20 h, Ackermannshof (‹Wendungen› von Michel Roth,
1960 vollendete ‹Kontakte› sowie ‹Capricorn› aus         Karlheinz         Originaldokumente von Arnold Schönberg und Otto Nebel)
                                                         Stockhausen,      Do 29.1., 20 h, Gare du Nord (Distractfold Ensemble, Manchester) u S. 35, 41
dem Werk ‹Sirius›. Im zweiten sind zwei Stücke aus       Foto: zVg
dem Zyklus ‹Klang – Die 14 Stunden des Tages› zu
hören: ‹Havona› basiert auf Texten aus dem 1955
in den USA erschienenen Buch ‹Urantia›, einer
Kosmologie, die Stockhausens Denken stark be-
einflusst hat. In ‹Cosmic Pulses› rotieren 24 Klang-
schleifen in 24 Tempi und 24 verschiedenen
Registern im Raum. Zu den Vokalstücken wer-
den Videos der Künstlerin Nicole Miescher die
Konturen des Raums auflösen.
Die Klangregie übernehmen Kathinka Pasveer,
Weggefährtin und Nachlassverwalterin des Kom-
ponisten, und der Tontechniker Igor Kavulek, ein
langjähriger Mitarbeiter Stockhausens. Eine von
Roman Brodbeck moderierte Podiumsdiskussion
mit Pasveer und Leibundgut eröffnet schliesslich
die ‹Stockhausen-Nacht›, in der nochmals alle
vier Kompositionen erklingen.
Stockhausen-Festival ‹Striving for Lights›:
Do 8. bis Sa 10.1., Gare du Nord u S. 41

10 | ProgrammZeitung | Januar 2015
Wilde Welten
a l f r e d z i lt e n e r

                                                                                                                                                          ‹Das All-
   Helena Winkelman bringt ein Musiktheater                       komponiert hat. Wer in dem Instrument auch eine phalli-                                 machtsrohr›,
                                                                                                                                                          Foto: zVg
   zu Adolf Wölfli.                                               sche Symbolik vermutet, liegt richtig: Sexualität und Re-
In das vielfältige Universum des vor 150 Jahren geborenen         ligion standen im Zentrum von Wölflis Fantasien; auch
schizophrenen Künstlers Adolf Wölfli führt Helena Winkel-         davon erzählt das Stück.
mans neues Musiktheater ‹Das Allmachtsrohr›, das nun im           Winkelman schildert die intensive Zusammenarbeit mit der
Gare du Nord gastiert. Es entstand im Auftrag des Vereins         Regisseurin Meret Matter. Anders als im Musikbetrieb üblich,
Wölfli & Musik und wurde im vergangenen Herbst in Bern            hätten ihre Diskussionen schon während der Entstehung
uraufgeführt.                                                     des Stücks begonnen, und sie habe daraus viel gelernt. So
Wölfli (1864–1930) ist vor allem durch seine surrealen,           hat Matter etwa die Textfolge verändert, weil das Theater
reich ornamentierten Farbstiftzeichnungen und Collagen            eine andere, ruhigere Dramaturgie benötigt als ein rein
berühmt geworden. Für das Libretto zu ihrem Stück hat             musikalisches Werk.
sich Winkelman aber auch mit seinen Schriften befasst.            ‹Das Allmachtsrohr›: Mi 21. bis Fr 23.1., 20 h, Gare du Nord u S. 41
Ihre Hauptquelle ist das mehrere hundert Seiten starke
Buch ‹Von der Wiege bis zum Graab›, eine Verbindung von
autobiografischen Elementen, bunt illustrierten Berichten
von imaginären Forschungsreisen, Kinderreimen und seiten­
langen Aufzählungen. Alle diese Elemente finden sich auch                                                        Camerata variabile
in Winkelmans Textcollage. Dazu kommen Berichte des                                   db. Im Zeichen der Liebeskunst steht die Jubiläumssaison der
Psychiaters Walter Morgenthaler, der bereits 1921 ein Buch                            Camerata variabile. Das Basler Ensemble feiert sein 20-jähriges
über den ‹geisteskranken› Künstler veröffentlicht hat. Wölfli                         Bestehen mit Konzerten, die bekannte Kammermusikwerke und
wird dargestellt vom Turntable-Performer Joke Lanz; drei                              Uraufführungen kombinieren. Nach dem Auftakt zur ‹Dauer der
SchauspielerInnen verkörpern Menschen aus seiner Um­                                  Liebe› im letzten November sind die nächsten vier Veranstaltun-
gebung, Figuren aus seinen Fantasien und seine inneren                                gen der ‹Liebeswerbung›, dem ‹Liebesleid›, ‹Liebe und Weisheit›
Stimmen.                                                                              und der ‹Liebesfreud› gewidmet; die Auftragswerke stammen von
   Zwischen Sex und Religion. Viele der Bilder Wölflis ent-                           Daniel Glaus, Marina Khorkova, Garth Knox und Laurent Mett-
halten Noten. Die Kompositionen erinnern an Märsche und                               raux. Die Camerata variabile ist – nomen est omen – eine flexible
Volkstänze, wie er sie in seiner Jugend im Emmental wohl                              Formation, die gerne in wechselnder Besetzung und mit grosser
gehört haben mag. Winkelman hat einige davon verarbeitet                              konzeptioneller Freiheit spielt. Sie ist heute im Gare du Nord domi-
und dabei versucht, die Wölfli-typischen Eigenheiten dieser                           ziliert und wird von Helena Winkelman (siehe auch Text oben)
Musik hörbar zu machen. Die Mitglieder des Trios Steam-                               geleitet. Am Jubiläumsprogramm wirken GastmusikerInnen mit,
boat Switzerland, eigenwillige Grenzgänger zwischen allen                             im nächsten Konzert z.B. der Cellist Thomas Demenga. Das Kern­
Stilen, sind dafür die richtigen Interpreten. Zu ihnen stos-                          ensemble besteht neben Winkelman aus Christoph Dangel, Karin
sen die Klarinettistin Karin Dornbusch und Winkelman mit                              Dornbusch, Stefka Perifanova und Isabelle Schnöller.
der Geige. Wölfli, so die Komponistin, habe in seiner Jugend                          Camerata variabile: So 11.1., 17 h (Liebeswerbung), Do 12.2., 20 h
selbst eine Geige besessen; die Klarinette steht für das titel-                       (Liebesleid), So 29.3., 17 h (Liebe und Weisheit), Do 4.6., 20 h (Liebesfreud),
gebende ‹Allmachtsrohr›, eine Papiertröte, mit der Wölfli                             Gare du Nord u S. 41, www.camerata-variabile.ch u S. 35
                                                                                      Ausserdem: ‹Liebe, Lebensfreude und Verdruss›, Griechische Musik zu Lyrik
                                                                                      des 6. Jh. v.Chr.: Di 13.1., 19.30, Leonhardskirche. Mit Ensemble Melpomen
                                                                                      (u.a. Arianna Savall), www.famb.ch

                                                                                                                                      Januar 2015 |   ProgrammZeitung | 11
Trilogie mit Musik aus Basel
a l f r e d z i lt e n e r

                                                                                         sieben Sätze beziehen sich auf Bilder von Schweizer Malern,
                                                                                         darunter Paul Klee, Giovanni Segantini, Louis Soutter und
                                                                                         Böcklin mit seinem ‹Spiel der Najaden›. Solistin ist die
                                                                                         Westschweizer Cellistin Estelle Revaz. Sie übernimmt auch
                                                                                         den Solopart in Ernst Blochs ‹Schelomo›. Max Regers ‹Vier
                                                                                         Tondichtungen nach Arnold Böcklin› umrahmen den Abend.
                                                                                         Das Programm wird auch auf CD eingespielt.
                                                                                            Streikender Tod. Das zweite Konzert leistet einen Beitrag
                                                                                         zur Wiederentdeckung Hans Hubers. Es kombiniert dessen
                                                                                         ebenfalls von Bildern Böcklins angeregte Zweite Sinfonie
                                                                                         – «ein tolles Stück», schwärmt Agudin – mit der Kammer­
                                                                                         oper ‹Der Kaiser von Atlantis› von Viktor Ullmann. Der Ein­
                                                                                         akter des jüdischstämmigen Komponisten ist im KZ There-
                                                                                         sienstadt entstanden. 1944 wurde Ullmann in Auschwitz
                                                                                         ermordet, die Partitur hatte er Freunden anvertraut, die
                                                                                         das Lager überlebten. 1975 wurde das Stück erstmals auf-
                                                                                         geführt.
Facundo                                                                                  Erzählt wird vom Tod, der in Streik tritt; die Menschen kön-
Agudin, Foto:            Das Orchester Musique des Lumières präsentiert Musik            nen nicht mehr sterben, und die Erde wird zur Hölle – ein
Aline Fournier
                         von Basler Komponisten.                                         Bild für das KZ. Ullmanns Musik verbindet Einflüsse von
                      Mit einer besonderen Konzertreihe kommt das Orchester              Gustav Mahler und Kurt Weill mit Elementen der Trivial-
                      Musique des Lumières nach Basel. Das 2004 als Orchestre            musik. Aufgrund des Manuskripts, das in der Paul Sacher-
                      Symphonique du Jura gegründete Ensemble hat einen Dop-             Stiftung aufbewahrt wird, hat Agudin mit Lisandro Abadie
                      pelsitz im jurassischen Boncourt und in Basel. Gründer und         eine eigene Fassung erstellt, die auch auf CD erscheinen
                      Leiter ist der argentinische Dirigent Facundo Agudin. Vor 17       soll. – Eine Aufführung von Hermann Suters Oratorium ‹Le
                      Jahren ist hierher gekommen, um an der Schola Cantorum             Laudi›, einer Vertonung des ‹Sonnengesangs› von Franz von
                      Basiliensis zu studieren.                                          Assisi, komplettiert die Trilogie.
                      Es sei das erste Mal, erzählt er, dass sein Orchester innert       Konzerte mit Musique des Lumières u S. 38
                      weniger Wochen gleich mehrfach in Basel auftrete. Der              Sa 31.1., 20.15, Martinskirche (Bloch, Pflüger, Reger)
                      Grundgedanke war, an drei Abenden Werke von drei Basler            Do 5.3., 20.15, Martinskirche (Huber, Ullmann)
                                                                                         Fr 27.3., 20.15, Volkshaus (Suter)
                      Komponisten aufzuführen. Zwei der Programme bringen
                      zudem Musik, die von bildender Kunst, vor allem Arnold
                      Böcklin, inspiriert ist. So steht im Zentrum des Januar-Kon-
                      zerts die Uraufführung von Andreas Pflügers 2013 entstan-
                      denem Auftragswerk ‹Pitture› für Cello und Orchester. Die

   Musikentdeckungen                                 dirigierte als Schweizer Erstaufführungen u.a.
                                                     Werke von Bach, Beethoven und Brahms. Den heute
                                                                                                             Das 2. Festival Giacinto Scelsi beleuchtet die
                                                                                                             Gedankenwelt, Lyrik und Musik des eigenwilligen
                 dagm a r bru n n e r                fast Vergessenen, der Basels Musikleben interna-        italienischen Adligen, Mystikers und Komponis-
        Musikausstellung und -festivals.             tional verknüpfte, kann man nun in Dokumen-             ten (1905–1988). Die Pianistin Marianne Schroe­
Noch in seinem 200. Geburtsjahr wurde eine           ten und Konzerten kennenlernen. –                       der hat ein hochkarätiges Ensemble zusammen-
Ausstellung zu Ehren des Geigers, Komponisten        Der jüdischen Musiktradition ist das Festival           gestellt, das bisher unbekannte frühe Werke und
und Dirigenten Ernst Reiter eröffnet. Der aus        ‹Mizmorim› gewidmet, das jährlich stattfinden           mehrere sehr späte Stücke spielen wird und Ein-
dem Badischen stammende Musiker (1814–1875)          soll. Die 30-jährige Klarinettistin Michal Lew­         blick in Scelsis Freundeskreis gibt, zu dem u.a.
liess sich u.a. bei Louis Spohr ausbilden, unter-    kowicz aus Israel, die an der Schola Cantorum           der belgische Dichter und Maler Henri Michaux
richtete dann in Würzburg und Strassburg und         Basiliensis studiert, hat es mit teils prominenter      gehörte.
kam 1836 nach Basel. Hier wirkte er vielfältig am    Unterstützung organisiert und lädt zu einer             Ausstellung ‹Ernst Reiter, Violinist, Componist,
Auf- und Ausbau verschiedener musikalischer          musikalischen Reise ein, in deren Mittelpunkt           Musik-Director›: bis Sa 28.2., Unibibliothek Basel,
Einrichtungen mit, die immer noch existieren:        Komponisten der Neuen Jüdischen Schule stehen.          Schönbeinstr. 20

so wurde er etwa Konzertmeister der Conzert­         Es sind vier Konzerte zu hören, darunter ein inter-     Festival ‹Mizmorim›: Sa 17./So 18.1., Stadtcasino,
                                                                                                             www.mizmorimfestival.com
gesellschaft (der späteren AMG), Dirigent des        aktives für Kinder, sodann Lieder von Viktor Ull-
Basler Gesangvereins und Leiter des von ihm          mann und eine Uraufführung von Menachem                 Festival Giacinto Scelsi: Do 8. bis Sa 10.1., Prediger-
                                                                                                             kirche und Stadtcasino, www.scelsifestival.com
mitbegründeten Männerchors Basler Liedertafel.       Wiesenberg. Als ‹Mizmorim› werden biblische/
                                                                                                             Mit Michiko Hirayama, Rohan de Saram, Felix Renggli,
Er komponierte zahlreiche Lieder, Kammer- und        spirituelle Gesänge bezeichnet, sie drücken die         Matthias Würsch, Alexander Gabrys u.a. u S. 53
Kirchenmusik, eine Oper sowie Festmusiken und        Verbindung zwischen Glaube und Kunst aus. –

12 | ProgrammZeitung | Januar 2015
Vielfältiger CH-Sound
dagm a r bru n n e r

   Festival Suisse Diagonales Jazz und Ausstellung ‹Oh Yeah!›.
Der Schweizer Jazz-Nachwuchs tourt durchs Land. Alle zwei Jahre organi-
                                                                                                                Unmut im Elsass
siert der 2002 gegründete Verein Suisse Diagonales Jazz mit Sitz in Bern                                                  pe t e r bu r r i
unter Mitwirkung von Veranstaltern aus allen Landesteilen ein Festival, an                                    Die Gebietsreform sorgt für Wirbel.
dem sich zehn aufstrebende professionelle Jazzformationen präsentieren.                                   Als Aufwertung der Regionen und Massnahme
Damit sollen den jungen Musikschaffenden überregional Auftrittsmöglich-                                   zur Dezentralisierung verkauft die französische
keiten verschafft, der Austausch zwischen den Clubs gefördert und insge-                                  Regierung ihre nun eben beschlossene Gebiets-
samt die Jazz-Szene gestärkt werden. An der 7. Ausgabe sind rund 50 Kon-                                  reform. Zudem will man die Verwaltungskosten
zerte in 21 Jazzclubs zu hören. Die ausgewählten Bands erhielten vorgängig                                verringern. Ab 2017 soll es in Frankreich nur noch
in Workshops Tipps von Fachleuten in Sachen Kommunikation, Medien­                                        13 statt 22 Regionen geben. Das Elsass, Lothrin-
arbeit und Tourneeplanung.                                                                                gen und die Champagne-Ardenne werden zu
Zum Auftakt der Tour in Zürich gibt es ein Podium zur Internet-Nutzung                                    einer Mammutregion fusioniert, die fast andert-
für JazzmusikerInnen und einen Konzertteil mit bekannten Namen: Erika                                     halbmal so gross ist wie die Schweiz und 5,5
Stucky mit einem Blech-Septett und die Band Hildegard Lernt Fliegen. Im                                   Millionen Köpfe zählt. Wie in der Grande Nation
Raum Basel sind diesmal vier Konzerte von drei Gruppen aus der Zentral­                                   üblich, hat die betroffene Bevölkerung dazu nichts
schweiz, der Romandie und dem Tessin zu erleben.                                                          zu sagen.
   Pop im Museum. In die Geschichte der Schweizer Popmusik eintauchen                                     Obwohl relativ kleinräumig, stellt das Elsass im
kann man in Bern; das Museum für Kommunikation bietet einen facetten-                                     künftigen Gebilde immerhin ein Drittel der Ein-
reichen Einblick in die Entwicklung der letzten 60 Jahre. Die Ausstellung                                 wohnerschaft. Doch zwischen Altkirch und Wis-
‹Oh Yeah!› dokumentiert erstmals das nationale Popmusikschaffen anhand                                    sembourg befürchten viele einen kulturellen
von vielen Originalobjekten sowie mit Ton- und Filmmaterial aus allen                                     Identitäts- und politischen Machtverlust. Denn
Epochen. Zu sehen sind etwa die Trompete von Hazy Osterwald, die Jeans-                                   das Elsass ist heute die einzige konservativ re-
uniform von Toni Vescoli oder eine Auswahl Gold- und Platinauszeichnun-                                   gierte Region und gleichzeitig eine der produk-
gen für Krokus. In fünf Zeitfenstern treten die prägenden Akteure auf: vom                                tivsten im Land – auch wegen ihrer wirtschaft­
Tanzorchester und den Hawaii-Bands über die ‹Halbstarken›- und die Beat-                                  lichen Verflechtung mit Deutschland und der
gruppen bis zur Rock- und Mundartszene und den VertreterInnen von Hip                                     Schweiz.
Hop und Techno.                                                                                           Dazu kommen historisch bedingte Besonderhei-
Als verbindendes Element führt die Stimme von Popradio-Pionier FM                                         ten, so etwa das von über 600’000 Menschen
François Mürner durch die Ausstellung. Per Kopfhörer kann man seinen                                      nach wie vor gesprochene Elsässerditsch, das
versierten Ausführungen zu Musik- und Zeitgeschichte lauschen. Ferner                                     aus Pariser Sicht bis weit in die Fünfzigerjahre
sind 75 Schweizer Musiktitel in einer ‹Sound Lounge› sowie 42 Musikvideos                                 als Sprache des Feindes galt und eliminiert wer-
von aktuellen Bands zu geniessen.                                                          ‹Oh Yeah!›,
                                                                                                          den sollte. Aber auch, dass im Elsass der Protes-
7. Festival Suisse Diagonales Jazz: Sa 10.1. bis So 15.2., www.diagonales.ch               Gold- und      tantismus verbreiteter ist als im übrigen Land
Do 15./Fr 16.1., 19.30, Meck-à-Frick, und Fr 6./Sa 7.2., 20 h, Kulturscheune, Liestal      Platinaus-     und dass es da keine Trennung von Kirche und
                                                                                           zeichnungen
Ausserdem: Semesterkonzerte von Jazz-Studierenden: Mo 26. bis Sa 31.1., Jazzcampus Basel
                                                                                           für Krokus,
                                                                                                          Staat gibt. Als nämlich Frankreich 1905 diesen
Ausstellung ‹Oh Yeah! Popmusik in der Schweiz›: bis So 19.7., Museum für Kommunikation,    © Museum       Schritt vollzog, gehörte das Gebiet – mit Teilen
Helvetiastr. 16, Bern, www.mfk.ch. Publikation dazu mit 200 Pop-Fotos von 1957–2014,       für Kommu-     Lothringens – zum Deutschen Reich. Noch heute
Chronos Verlag, Zürich. 240 S., br., CHF 38                                                nikation /
                                                                                           Hannes Saxer
                                                                                                          werden die Bischöfe von Strassburg und Metz
                                                                                                          vom französischen Präsidenten ernannt, der da-
                                                                                                          bei den Vorschlägen des Vatikans folgt.
                                                                                                          Als Zückerchen will Paris das am äussersten
                                                                                                          Rand der neuen Grossregion gelegene Strass-
                                                                                                          burg zu deren Hauptstadt machen. Dagegen
                                                                                                          wehren sich die Mitfusionierten, da die Europa-
                                                                                                          stadt in ihren Augen schon genug privilegiert ist.
                                                                                                          Doch die nächstgrösseren Städte Nancy, Metz,
                                                                                                          Reims oder Troyes (da sind wir schon kurz vor
                                                                                                          Paris!) sind deutlich kleiner. Und Reims ist zwar
                                                                                                          die Metropole des Champagners, aber heute nicht
                                                                                                          einmal Hauptstadt seiner Region. Im Übrigen
                                                                                                          wird das einst elsässische, jetzt autonome Terri-
                                                                                                          toire de Belfort zur Grossregion Bourgogne/
                                                                                                          Franche-Comté geschlagen. Im Elsass (und nicht
                                                                                                          nur dort) herrscht Unmut, aus verständlichen
                                                                                                          Gründen.

                                                                                                                                Januar 2015 |   ProgrammZeitung | 13
Ein rauschhafter Traum von Zeit
i ng o s ta r z

    Thom Luz erklimmt am Theater Basel den ‹Zauberberg›.
Wie man Weltliteratur gegen den Strich bürstet und dennoch zum Leuch-
                                                                                                     Unternehmenslust
ten oder besser zum Klingen bringt, bewies Thom Luz, als er Goethes                                            dagm a r dru n n e r
‹Die Leiden des jungen Werther› in der vorletzten Saison auf die Kleine                                       Fahrbar und Fahraway.
Bühne des Theater Basel brachte. Er erzählte die Handlung von hinten nach                       Das ehemalige Industrieareal der Alusuisse, das
vorne, vom Todesdunkel hin zur heiteren Stimmung der ersten Begegnung,                          Walzwerk in Münchenstein, beherbergt bekannt­
spielte mit romantischen Wolkenformationen im Bühnenraum und verwob                             lich einige innovative Kleinbetriebe, die das
die Worte mit allerlei instrumentalen und anderen Klängen. Was entstand,                        Gelände beleben. Etwa die gastfreundliche Fahr-
war ein aussergewöhnliches Musiktheater, das feinsinnig und leise ge-                           bar, die seit bald neun Jahren mit Stil und
stimmt der Sprache einen Resonanzraum bot.                                                      Geschick für leckere Küche und Atmosphäre in
Nun wendet sich der junge Schweizer einem der grossen Romane des letz-                          zwei Veranstaltungsräumen sorgt, wo man z.B.
ten Jahrhunderts zu: Thomas Manns ‹Der Zauberberg›. In seinem Bildungs-                         einmal monatlich auch tanzen kann. Ins neue
roman schildert der Schriftsteller den freiwilligen, siebenjährigen Aufent-                     Jahr wird mit einem ‹Konzert im Dunkeln› ge-
halt des jungen Helden Hans Castorp im Sanatorium Berghof nahe Davos.                           startet, das von Sandro Schneebeli und Bruno
Der Kaufmannssohn erfährt dort die Welt der Kunst, Philosophie, Politik                         Bieri mit verschiedenen Instrumenten bestritten
und Liebe. Er trifft auf eine Gesellschaft, die von der übrigen Welt abge-                      wird. (Letzterer ist ab und zu in Basels Strassen
schlossen ist, deren Repräsentanten eine zu Ende gehende Epoche wider-                          zu erleben; ein feinsinniger und geistreicher
spiegeln. Castorps Bildungsweg mündet folgerichtig nicht in eine gesicher-                      Bänkelsänger und Hang-Spieler.) Im völlig abge-
te bürgerliche Existenz, sondern in die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs,                   dunkelten Raum, ohne visuelle Reize, kommen
wo sich seine Spur verliert.                                                                    Geräusche, Klänge, Stimmen und Musik ganz
    Hör-Abend. Thom Luz interessiert an Manns Roman der Versuch, Zeit zu                        anders zur Geltung.
erzählen. Darum geht es ihm nicht um eine möglichst genaue Nacherzäh-                           Auf dieses besondere Konzerterlebnis folgt ein
lung der Handlung – was angesichts der Komplexität des Werks ohnehin                            besonderes Einkaufserlebnis: Ausgesuchte Mode-
kaum machbar wäre. Dennoch tauchen natürlich Figuren und Motive des                             Labels und Geschäfte der Region veranstalten
Romans auf, wird eine Situation beschrieben, die ebenso Europa vor dem                          einen gemeinsamen Lagerverkauf und bieten
Ersten Weltkrieg wie unsere Gegenwart meinen kann.                                              hoch­wertige Ware zu stark reduzierten Preisen
«Das Buch kommt mir vor wie ein rauschhafter Traum. Rauschhafte Träume                          an; ein Schnäppchen-Paradies der feinen Art. –
sind sowieso die Spezialität des Autors, der es sogar schafft, in der Rausch-                   Regelmässig u.a. auf dem Walzwerk-Areal zu
haftigkeit noch bürgerlich zu bleiben», bemerkt Luz. Mit der Betonung des                       Gast ist das ‹FahrAway Zirkusspektakel›. Das
Traumcharakters bekennt sich der Theatermann auch zur Rätselhaftigkeit                          2010 von fünf jungen Leuten gegründete Unter-
des Romans. Statt Erklärungsversuche zu liefern, wird er das Publikum in                        nehmen ist jeweils im Sommer mit Traktor und
den ‹Zauberberg› hineinhören lassen. Es werde ein Hör-Abend, sagt er.                           Holzwagen quer durch die Schweiz unterwegs
Über das Musikkapitel ‹Fülle des Wohllauts› hinaus interessiert ihn die                         und spielt unter freiem Himmel ein Programm
Gesamtkomposition des Werks, dessen Motive, Wiederholungen und Varia­                           mit Artistik, Livemusik, Komik und Theater. Nun
tionen bereits einen eminent musikalischen Charakter aufweisen. Mit             Probenbild      zeigen sie ihr neues Stück ‹Eisenartig› erstmals
Schauspiel und Musik leitet Thom Luz eine Expedition, deren Paten               ‹Eisenartig›,   in einem geschlossenen Raum, einem Zelt in der
                                                                                Foto:
Richard Wagner und Arnold Schönberg heissen könnten.                            Magdalena
                                                                                                soeben entstandenen Station Circus auf dem
‹Der Zauberberg›: ab Fr 23.1., 20 h, Theater Basel, Kleine Bühne u S. 44        Steinemann      Dreispitz-Areal. Erzählt wird (fast ohne Worte)
                                                                                                von einem Schlosser und seinem Gesellen, die in
                                                                                                ihrer Metallwerkstatt eines Abends unerwarte-
                                                                                                ten Besuch bekommen und von allerlei skurrilen
                                                                                                Ereignissen und Kunststücken verzaubert werden.
                                                                                                Die zirzensischen Einlagen werden von eigens
                                                                                                komponierter Musik live begleitet. Akrobatik, All­
                                                                                                tag und Poesie verweben sich zu einem traum-
                                                                                                haften Geschehen.
                                                                                                ‹Konzert im Dunkeln›: Sa 10.1., 20.30;
                                                                                                ‹Die Wa(h)renlager›: Fr 23. bis So 25.1.,
                                                                                                Fahrbar-Depot, Walzwerk, www.fahrbar.li
                                                                                                ‹Eisenartig›: ab Sa 17.1., 20 h (Première), bis So 15.3.,
                                                                                                Station Circus, Walkeweg 1 (Haltestelle Dreispitz),
                                                                                                www.zirkusfahraway.ch

14 | ProgrammZeitung | Januar 2015
Freiheit, Recht und Ritual
i ng o s ta r z

‹Together›,
Foto: Lukas          Neue Bühnenstücke an der Kaserne Basel.                     leuten Geschworene aus dem Publikum, die per Losentscheid
Acton             Mit drei Produktionen, die ein interessantes Spektrum von      ausgewählt werden. «Ein Gerichtsprozess ist jedes Mal aufs
                  dokumentarischer Arbeitsweise, Autorschaft und Textpro-        Neue ein menschlicher Versuch, Gerechtigkeit walten zu
                  duktion im freien Theater zeigen, startet die Kaserne Basel    lassen», sagt Duyvendak. Die beiden Theatermacher lassen
                  ins neue Jahr. Den Anfang macht ein neues Stück des            in ihrer in Genf entstandenen Produktion individuelles
                  Schauspielers und Regisseurs Lorenz Nufer, den man der-        Rechtsempfinden und staatlichen Justizapparat aufein­
                  zeit auch als Huckleberry Finn am Theater Basel erleben        andertreffen. Die Theatergäste erhalten unmittelbar Ein-
                  kann. Er brachte 2013 die tragikomische Farce ‹Uzivo Frau      blick in die Mechanismen und die subjektiven Kräfte eines
                  Stirnimaa!› in die Reithalle. Nahm er sich damals Aysl- und    Gerichtsverfahrens.
                  Migrationsfragen an, so fokussiert er nun im Familiendrama         Gemeinschaftsfragen. Das Interesse des Basler Theater­
                  ‹Im Bau› auf das Verhältnis der Gesellschaft zu Gefängnis-     manns Marcel Schwald gilt u.a. den Möglich- und Unmög-
                  insassen. «Mein Grundinteresse», sagt Nufer, «ist die Frage    lichkeiten von Kommunikation. In seiner letzten an der
                  nach dem freien Willen. (...) Steht es uns wirklich frei, in   Kaserne gezeigten Produktion ‹Enfants Terribles› widmete
                  einer bestimmten Situation ‹gut oder böse› zu handeln, eine    er sich den sozialen Energien der Kindheit. Nun legt er mit
                  Straftat zu begehen oder nicht?»                               ‹Together› eine Arbeit vor, die in den Schlund der Geschichte
                  Die gesellschaftlichen Positionen, welche die Liebe einer      taucht. Als Inspirationsquelle diente ihm Richard Sennetts
                  Frau zu einem Inhaftierten hervorruft, werden am Beispiel      populärwissenschaftlicher Bestseller ‹Together: The Rituals,
                  einer Kleinfamilie verhandelt. An den Reaktionen der Eltern    Pleasures and Politics of Cooperation› (2012). Darin spricht
                  wird deutlich, wie unterschiedlich und problematisch – und     sich der renommierte Soziologe für verlässliche und rituali­
                  dabei doch strategisch bedacht – die Meinungen dazu sein       sierte Formen des Umgangs miteinander aus. Er veranschau-
                  können. Tragikomisch und psychologisch kommt dieses            licht dies mit Beispielen aus der Menschheitsgeschichte.
                  ‹Kammerspiel am Küchentisch› daher und wird die Zu-            Schwald greift in seiner Performance historische Szenarien
                  schauenden sicherlich nicht kalt lassen.                       auf und verwendet sie als Handlungsanweisungen. Mit seiner
                     Urteilsfragen. ‹Hamlet› gehört zu den meistgespielten       siebenköpfigen Truppe entwirft er ein Laboratorium mensch­
                  Klassikern auf den Theaterbühnen der Welt. Berühmt ist         lichen Sozialverhaltens. Indem die Darbietung Geschichte
                  die Szene, in welcher der Dänenprinz mit Hilfe einer Schau-    in die Gegenwart holt, zeigt sie auch die permanente Prä-
                  spieltruppe den königlichen Onkel des Mordes an seinem         senz des einmal Geschehenen. Kein Wunder, dass Schwald
                  Vater überführt. Yan Duyvendak und Roger Bernat bringen        von einem Satz Gertrude Steins besonders fasziniert ist:
                  nun in ihrer Produktion ‹Please, Continue (Hamlet)› Shake-     «One day there will be a complete history of everyone who
                  speares Titelhelden vor Gericht. Dort hat dieser sich dafür    ever was or is or will be living.» Und letztlich entlarvt der
                  zu verantworten, dass er Polonius, den Vater seiner Freun-     Theatermacher sein Medium, das eben immer ein rituali-
                  din Ophelia, erstochen hat.                                    siertes Wiederaufführen darstellt.
                  Auf der Bühne trifft ein wechselndes Spielteam auf Vertre-     ‹Im Bau›: Do 8. bis Di 13.1., 20 h (So 19 h)
                  terInnen der Basler und Baselbieter Justiz. Die Grenzen        ‹Please, Continue (Hamlet)›: Di 20. bis Do 22.1., 19 h
                  zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. Theater        ‹Together›: Mi 28.1. bis So 1.2., 20 h (So 19 h)
                  oder Gerichtssaal, das ist hier die Frage. Ob Hamlet schul-    alle Kaserne Basel u S. 42
                  dig und zurechnungsfähig ist, ob seine Tat vorsätzlich
                  geschah oder nicht: Darüber entscheiden neben den Fach-
                                                                                                                                    Januar 2015 |   ProgrammZeitung | 15
«Die Liebe ist das Wichtigste!»
d oro t h e a koe l bi ng

    Thorgevsky & Wiener spielen zu ihrem 25-Jahre-
    Jubiläum eine jiddische Geschichte.
‹Tejbele›, Täubchen, heisst die Hauptfigur in Isaac B. Singers
gleichnamiger Erzählung, die sich Maria Thorgevsky und
Dan Wiener ausgesucht haben. ‹Tejbele› ist der zärtliche
Name, den der Autor einer besonderen Frauenfigur gege-
ben hat, einer vom Leben nicht verwöhnten Träumerin, der
die Liebe über alles geht. Nie lässt sie von ihrer Sehnsucht
nach Zärtlichkeit, nach wahrer Liebe und dem grossen
Glück ab. Sie gibt sich Fantasien und Wesen aus anderen
Welten hin – und deshalb auch dem Hilfslehrer Alchonon,
der sich als Dämon ausgibt, um sie zu verführen.
Genau da beginnt die unaufhaltsame, echte Liebesge-
schichte – welche Welt ist die ‹wahre›? Die ‹normale›, die
wir alle kennen, oder die der unsichtbaren Wünsche und
verborgenen Vorstellungen? Oder gehören die beiden Wel-
ten untrennbar zusammen? «Ganz bewusst haben wir diese
Geschichte ausgewählt», erzählt Dan Wiener, «und mit ein-
fachsten theatralischen und reichen musikalischen Mitteln
wollen wir sie erzählen – die Klänge eines Kontrabasses, ein
Tuch, zwei Stühle, nur wir beide und die Schauspiel- und
Erzählkunst.» Einzelne jiddische Lieder werden Gefühle
unterstreichen, Salomons ‹Lied der Lieder› erklingt in
Wieners Vertonung in hebräischer Sprache.
    Stille Feinheiten. Von Isaac B. Singer spricht Wiener mit                                                                                           ‹Tejbele›,
begeistertem Respekt, wenn er beschreibt, dass dieser sich          Musik war immer ein Element in den Aufführungen des Thea­                           Foto: Jean
                                                                                                                                                        Krähenbühl
nie über seine Figuren stellt und wie lebendig die grosse un-       terduos, das für Kinder wie für Erwachsene spielt: eigene
verstellte Emotionalität der literarischen Vorlage ist. Thor-       und fremde Melodien als Sprache der Seele, so wie das
gevsky & Wiener wollen die erstaunliche und berührende              wandernde Lied in ‹Mountains don’t move, do they?›. Thea-
Geschichte Tejbeles (in eigener Über- und Umsetzung) so             ter bedeutet für die beiden, neue Blickwinkel öffnen und
erarbeiten, wie sie das in ihrer Anfangszeit gemacht haben:         Dinge erleben zu können, die man sonst nie erleben würde.
mit einem Zweierstück. «Back to the roots», lacht Wiener,           Die Reminiszenz an ihren gemeinsamen Anfang wird zu
«ich habe eine Riesenlust, in Ruhe eine einfache, schöne,           einem weiteren frischen Beginn auf dem Weg zu einem
gefühlvolle Liebesgeschichte zu erzählen. Gerade jetzt, in die-     Theater, in dem man sich Geschichten hingeben kann.
ser Zeit der Reizüberflutung auf stille Feinheiten achten und       ‹Tejbele›: Do 8. bis Sa 10.1., 20 h (Basler Premiere), Theater Basel, Kl. Bühne,
durch diese in Kontakt mit dem Publikum kommen.»                    www.wiener.ch

         Lese-Animation                           bracht. Und zur Eröffnung wird die Direktorin
                                                  des Museum der Kulturen, Anna Schmid, Wohn-
                                                                                                              hilfe für Eltern, Schulen und Bibliotheken. Im
                                                                                                              herausgebenden Verlag Baobabbooks sind weite-
                dagm a r bru n n e r
                                                  formen in andern Weltregionen schildern.                    re z.T. preisgekrönte druckkünstlerische Buch-
          Lektüren für Klein und Gross.           Neben Titeln zum Themenschwerpunkt sind                     perlen und Karten erhältlich.
Gegen 2000 neue Bücher für junge Lesende sind     natürlich viele weitere zu entdecken, zum Bei-              34. Basler Jugendbücherschiff: Mo 19.1., 19 h (Vernis-
auf dem diesjährigen Basler Jugendbücherschiff    spiel stellt die Interkulturelle Jugendbibliothek           sage), bis Di 3.2., MS Christoph Merian, Schifflände
ausgestellt und laden zum Stöbern und zur Ver-    Jukibu Bücher in zahlreichen Sprachen zur Ver-              Mo bis Fr 8–12, 14–18 h, Sa/So 10–18 h (Di 3.2. bis 16 h)
                                                                                                              Erzählabend mit Dreiländerfahrt: Fr 30.1., 18.30–22 h
tiefung ein. Zum Sonderthema ‹Wohnen hier und     fügung. Ferner gibt es eine Büchertauschbörse,
                                                                                                              ‹Kolibri›. Kulturelle Vielfalt in Kinder- und Jugend-
anderswo› finden sich zahlreiche Titel, die von   ein Begleitprogramm mit Anregungen für Schu-
                                                                                                              büchern, Leseempfehlungen 2014/15, 21. Ausgabe
Behausungen aller Art, von Behaglichkeit und      len und Familien, einen Malworkshop, Figuren-               2014. 68 S., br., Bezug Schweiz kostenlos,
der Hoffnung auf den eigenen Platz erzählen.      theater und eine Erzählnacht mit Rundfahrten                www.baobabbooks.ch
Auf dem Unterdeck gibt es Bilderbücher für die    im Dreiländereck. –                                         Weitere Lesungen für Familien: Kantonsbibliothek
Kleinen (bis 10 J.) sowie Sachbücher rund ums     Empfehlungen für Kinder- und Jugendbücher,                  Baselland, Liestal, www.kbl.ch
Bauen und Wohnen, auf dem Oberdeck können         die anderen Kulturen offen und respektvoll                  Ausserdem: Basler Büchermarkt der Antiquare:
sich Jugendliche (bis 15 J.) über Architektur,    begegnen, enthält das Verzeichnis ‹Kolibri›. Das            Fr 30.1. bis So 1.2., Schmiedenhof, Rümelinsplatz.
Wohnungseinrichtungen und andere Wohnkul-         aktuelle listet 85 Titel auf, die eine unabhängige          Fr 17–20 h, Sa 11–18 h, So 11–17 h

turen orientieren. Im Foyer sind auf Kartonkis-   Redaktion sorgfältig ausgewählt hat. Die Bro-
ten treffende Aussagen übers Wohnen ange-         schüre ist eine hervorragende Orientierungs­

16 | ProgrammZeitung | Januar 2015
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