ProgrammZeitung Halbtaxabo für Kinojugend Neue Leitplanken für die Kultur 10 Jahre Gundeldinger Feld
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1001 Ausgehtipps | Neu: Kursangebote ProgrammZeitung CHF 6.90 | EUR 5.00 Oktober 2010 | Nr. 255 Kultur im Raum Basel Halbtaxabo für Kinojugend Neue Leitplanken für die Kultur 10 Jahre Gundeldinger Feld
Im OktOber In den kInOs Na putu Entwickeln Sie sich berufsbegleitend in den Bereichen Design und Kommunikation weiter. Zwischen uns Schweizweit einmalige Zertifikatslehrgänge mit Start Januar 2011: das Paradies: aktuell und berührend CAS Art Direction Kompetenzerweiterung Kreativleitung Infos unter: www.hslu.ch/artdirection CAS Brand Design Multimediale Markengestaltung au revoir Infos unter: www.hslu.ch/branddesign taipei CAS Buchgestaltung Von der Buchkunst zum iPad Die Grossstadt- Infos unter: www.hslu.ch/buchgestaltung Komödie aus CAS Event Design Fernost: So frech kann junges Kino sein! Storytelling für Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Infos unter: www.hslu.ch/eventdesign Jetzt anmelden und einsteigen! www.trigon-film.org George Gruntz Concert Jazz Band Matterhorn Matters QUODLIBET – DIE SAISON 2010 / 2011 Saisonstart Freitag, 3. Dezember 2010 Komponisten Cornelius Cardew, Frederick Carillho, Jürg Frey, Aleksandra Gryka, Georg Friedrich Haas, Lars Heusser (UA), Heinz Holliger, Bo Nilsson, Marianne MGB Jazz 3 Schuppe (UA), Jakob Ullmann, Christian Wulff, Marc Yeats (UA) u.a. Mein bl aues Kl avier Interpreten Asasello Quartett, Duo Barras / Demierre, Schweizer Lieder Duo Jaggi / Hurt, Katarina Weber, Ensemble Phœnix Basel, KunstProjekt und Vokalensemble Aachen, Sylvia Nopper, Philipp Thomas, Matthias Würsch u.a. i No ëm a n n lm Na de r O e er li v yd Sch n Mitgliederbeitrag: Fr. 60.– / 30.– pro Jahr bei freiem Eintritt in alle 9 Konzerte. Einzeleintritte Fr. 30.– / 20.–. Studierende der Musik-Akademie Basel: Eintritt frei. MGB 6265 Ein Projekt des Bestellung des detaillierten Saisonprogramms: Tel. 0033 389 701136, ignm_basel@yahoo.de www.musiques-suisses.ch
Fremdem zugeneigt dagm a r bru n n e r Editorial. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen steht die Abstim- mung über das Wahl- und Stimmrecht für die ausländische Wohnbevölke- Hauskultur rung noch bevor – und der Ausgang ist ungewiss. Wird ‹mehr Demokratie› möglich oder überwiegen die Ängste davor? Wie bereit sind wir zur Parti- db. Zwar ist die WoZ farbig geworden, und pen- zipation? sionierte Edelfedern haben das Internetportal Dem ‹Fremden› sind im vorliegenden Heft einige Artikel gewidmet. Mit ‹Journal21› für Qualitätstexte gegründet – doch Partizipationsfragen und dem interkulturellen Dialog zugunsten von Kin- sonst siehts in der Schweizer Presse düster aus. dern und Jugendlichen befasst sich seit 50 Jahren die entwicklungspoliti- Fast vierzig Entlassungen gab es wieder bei sche Organisation ‹terre des hommes schweiz› (u S. 7). Das Historische Tamedia, die meisten Tageszeitungen haben Museum thematisiert die Zu- und Abwanderung in Basel (u S. 25). Ein res- Lesende verloren, und auch der neue, angeblich pektvoller Umgang mit Andersartigem ist auch für die Schweizer Kompo- liberale Chefredaktor der Basler Zeitung ist kei- nistin Mela Meierhans zentral; ihre Komposition ‹Rithaa› setzt sich mit isla- ne Lichtgestalt; ganz ungeniert ziehen er und mischen Trauerritualen auseinander (u S. 11). Was der Einbruch radikaler andere über Minderheiten, Menschenrechte religiöser Vorstellungen in eine Liebesbeziehung bedeuten kann, erzählt und Intellektuelle her. Das wird dann Debatten- der Film ‹Na putu› von Jasmila Zbanic (u S. 9). kultur genannt. Ob das längerfristig in Basel In ungewohnte Klangwelten entführt uns der aus Polen stammende Multi- ankommt, ob damit Geld verdient werden kann mediakünstler Tomek Kolczynski in seiner Soloperformance ‹Mein Vogel› und ob die alte Redaktion den neuen Kurs mit- (u S. 11), und Einblicke in einen ganz und gar fremden Kosmos gibt Verena fährt bzw. überlebt, darf man bezweifeln. Es ist Stössinger in ihrem ersten Kinderbuch (u S. 16). Spartenübergreifendes bie- kein Geheimnis, dass sich bereits verschiede- ten zudem das Medienkunstfestival Shift zum Thema ‹Lost and Found› nenorts Widerstand formiert hat und an Alter- (u S. 18) sowie die neue Produktion von Cornelia Huber, die sich ebenfalls nativen gearbeitet wird. Die ProgrammZeitung auf dem Dreispitzareal ausbreitet (u S. 13). In Riehen schlagen zwei Ausstel- indes kennt ihre Grenzen, aber auch ihre Stär- lungen Brücken zwischen Kunst und (Mode-)Design (u S. 19). Unweit davon ken. Und kooperiert seit drei Jahren mit der startet der Burghof in Lörrach mit einem bunten Programm von bewährt BaZ in Sachen Agenda – ein täglicher Lichtblick bis experimentell in die neue Saison (u S. 21). Die Coupole in Saint Louis für die Kulturszene. erlebt heuer ihren 10. Geburtstag (u S. 20), ebenso das Gundeldinger Feld, Eine erfreuliche Medienaktion ist das ‹Kultur- auf dem alles Mögliche nachhaltig gedeiht (u S. 22). café› von Radio DRS 2 in unserem Haus. Mitte Der Entwurf des lange erwarteten Kulturleitbilds beglückt nicht nur September startete sie mit zahlreichen Live- (u S. 16, 17) und der Raum (oder Wille?) für grosse Popkonzerte fehlt Sendungen und allerlei Prominenz aus nah und (u S. 12). Doch das neue Musikerwohnhaus der Stiftung Habitat (u S. 26) ferner. Zwar hallt es in der Kaffeehalle nicht und das neue Halbtax-Kinoabo für Junge werden garantiert gut ankommen wenig, aber die bisher unbekannten Radioköpfe (u S. 8). Und wer sich für Stadt- und Regionalentwicklung interessiert, wird einmal zu sehen und etwas vom Radioalltag die Aktivitäten der ‹IBA Basel 2020› verfolgen (u S. 26). Beim Blättern wer- mitzukriegen, ist doch ein besonderes Erlebnis. den Sie weitere Themen entdecken. Ein solches ist jeweils auch der ‹Hörpunkt-Tag› am 2. des Monats. Am 2. Oktober findet er zum Thema ‹Kultur kultivieren› statt, und eingela- den sind u.a. Schweizer Kulturmedien, die aus ihrem Alltag und von ihren regionalen Eigen- heiten berichten und je eine Künstlerpersön- lichkeit ihrer Wahl präsentieren. Die Pro- grammZeitung wird ebenfalls Red’ und Ant- wort stehen und bringt als Gast den Musiker und Audiodesigner Tomek Kolczynski mit (u S. 11). Besuchen Sie uns – live im Kulturcafé! ‹Hörpunkt-Tag DRS 2: Sa 2.10., 9–19 h, Unternehmen Mitte Gespräch mit der ProgrammZeitung: 10 h Tomek Kolczynski, ‹Mein Vogel› Oktober 2010 | ProgrammZeitung | 3
Donnerstag, 21.10.10, 20.00h Freitag, 22.10.10, 20.00h raum33, Basel Information: www.raum33.ch Weitere Vorstellungen & Reservation: www.theatermarie.ch Theater Marie Lesung zum Briefwechsel Herzzeit Ingeborg Bachmann und Paul Celan Theater Marie Aarau info@theatermarie.ch +41 (0)62 843 05 25 Ein Portrait zweier Liebender www.theatermarie.ch HAGENTALERSTRASSE 45 CH-4055 BASEL +41 (0)61 336 30 61 WWW.HIC-BASEL.CH HECHT IMMO CONSULT AG Geschätzte Liegenschaften. Bewertung von Wohn-, Geschäfts- und Industrieliegenschaften Vermittlungen Kauf- und Verkaufsberatung Tanz EinEr dEr schillErndstEn VirtuosEn unsErEr ZEit In. Bern FESTIVAL TANZ INTErNATIoNAL 20.10. – 14.11. 2010 DAmpFZENTrALE BErN The Classical Company Switzerland CIe Maguy MarIn (F) | Ivo DIMChev (BUL/B) | JérôMe Bel (F) | CIe ranDoM SCreaM / DavIS FreeMan (USA/B) | Bern: BalleTT (CH) | SChweIzer Tanz- unD ChoreograFIepreIS 2010 | anna huBer, huBer/ThoMeT (CH) | niGEl KEnnEdY, ViolinE ChrIS leuenBerger, Igor DoBrICIC, roger Sala reyner (CH/SrB/E) | olIvIer DuBoIS (F) | CeCIlIa Bengolea & FrançoIS ChaIgnauD (F) | CuquI Jerez (E) | zoo/ThoMaS hauerT (CH/B) | lIquID loFT/ChrIS harIng & JIn XIng DanCe orchEstra oF liFE & Band Bach / ViValdi tournEE 2010 TheaTre (A/CHN) | leS BalleTS C De la B/lISI eSTaraS (B/IL) | anTonIa Baehr (D) | young ChoreographerS proJeCT (CHN) | Cao FeI (CHN) | yan Jun (CHN) Vorverkauf: www.starticket.ch Infos: www.dampfzentrale.ch sa, 27.11.2010, 19.30 h, stadtcasino BasEl ticketcorner Vorverkauf: tel. 0900 800 800 (chF 1.19/min) Vorverkaufsstellen: sBB, Manor, die Post
Inhalt Für eine solidarische Welt. Die Bewegung ‹Terre des hommes› entstand vor 50 Jahren. 7 Halbtax ins Kino. Die Kultkinos lancieren ein attraktives Abo-System für junge Leute in Ausbildung. 8 Sommervögel. Schräges Kino mit Aussenseitern. 8 Was kann die Liebe tragen? Der Film ‹Na putu› thematisiert den Einbruch des Religiösen in eine moderne Beziehung. 9 Italienische Nacht mit Nordlicht. Jazz by Off Beat präsentiert Paolo Fresu und Enrico Pieranunzi. 10 Streifzüge. Das Tango-Theater ‹Desvíos›. 10 Kulturszene 28 Raum für das Fremde. Mela Meierhans komponiert eine Annäherung an islamische Trauerrituale. 11 Plattform.bl 50 Dialog mit dem Papagei. Tomek Kolczynskis Solo ‹Mein Vogel›. Pop-Paläste am Horizont? Grosse Popkonzerte sind in Basel 11 Agenda 59 rar geworden, Guy Morin hofft auf ein Eventareal. 12 Kurse Die Wirklichkeit, ein Vexierbild. Cornelia Huber kreiert spartenübergreifend einen vielschichtigen Kosmos. 13 83 Backlist. Christian Ludwig Liscows ‹Elende Scribenten›. 14 Der Weg ins Freie. Anne Tylers Roman ‹Verlorene Stunden›. 14 Mobil mit Büchern. Der Verleger Urs Engeler macht anders Ausstellungen 84 Museen weiter – mit einem Internet-Verlag. 15 Hügelkonform denken. Gedichte von und zu Werner Lutz. 15 85 Fremde Welt. Verena Stössingers erstes Kinderbuch. 16 Kunstpause. Wo bleibt die Literatur im Kulturleitbild? Bars 16 Baustellenreport der Kulturpolitik. Basels Kulturleitbild 86 geht in die Vernehmlassung. Der Blick zurück als ein Schritt nach vorn. Das 4. Shift Festival 17 Restaurants 86 zeigt Medienkunst zum Thema ‹Lost & Found›. 18 Computerspiele als Kunstform. Pro Helvetia fördert Gamedesign. 19 Couture & Culture. Zwei Ausstellungen schlagen Brücken zwischen Kunst und (Mode-)Design. 19 Basels Bühnenfester nach Frankreich. Das Théâtre La Coupole in Saint-Louis feiert seine erste Dekade. 20 Wunderkammern. Basels kleinste Galerie ‹deuxpiece›. 20 Reiche Kulturkost. Der Burghof Lörrach startet vielseitig wie immer in seine 13. Spielzeit. 21 Dem Perfektionismus entkommen. 10 Jahre nach dem Start blüht im Gundeldinger Feld die Quartierkultur. 22 Und wir sind doch selbstlos. Jeffrey Inabias ‹The Gift Economy› untersucht die Dynamik des Gebens. 24 Erfahrungen von Fremde. Das Historische Museum lenkt den Blick auf Basels Zu- und Abwanderung. 25 Ein Haus für die Musik. Die Stiftung Habitat hat eine ideale Wohn- und Übungswelt für MusikerInnen geschaffen. 26 Architektur-Mekka. Trinationale ‹Architekturtage› und der Start der ‹IBA Basel 2020›. 26 Kultour-Mix. Kurzmeldungen, Tipps und Hinweise. 27 Cover: ‹Radio-Kulturcafé DRS 2›, Foto: E.T. Studhalter u S. 3
Cantate Basel Antonín Dvořák www.baselnord.bs.ch Svatební košile (Die Geisterbraut) Hugo Wolf Elfenlied / Der Feuerreiter Danuta Dulska, Sopran/Luca Martin, Tenor/Marian Krejcik, Bass/ Cantate Konzertchor Collegium Musicum Basel Leitung Tobias von Arb Samstag 23. Oktober ’10 19.30 Sonntag 24. Oktober ’10 17.00 Martinskirche Basel Georg Baselitz Fr.55.- / 42.- / 28.- / Nummeriert / Abendkasse / Ermässigungen / Vorverkauf: Bider & Tanner mit Musik Wyler Tel. 061 206 99 96 oder: w w w.cantatebasel.ch S A M M L U N G W Ü RT H 24.09.2010 – 27.03.2011 Au-delà des frontières, ensemble – Forum Würth Arlesheim Gemeinsam über Grenzen Dornwydenweg 11 wachsen CH-4144 Arlesheim Mo–So 11–17 h / Eintritt frei Veranstaltungen zum Auftakt: www.forum-wuerth.ch Offene Tür & Ausstellung IBA meets IBA Fr 15.10. 16-24 Uhr, Sa 16.10. 10-17 Uhr Auftakt-Matinée mein b a s e l n o r d Sa 16.10. 11-12.30 Uhr kurzfilmwettbewerb G e s u c h t w e r d e n b ewe G te b ilder zum l ebensraum b asel n ord IBA Basel 2020 Voltastrasse 30 CH-4056 Basel Gesamtpreissumme : chf 5000 Tel. +41 61 385 80 80 ei n s e n d e s c h l u s s : 3 1 . ok to b e r 2 0 1 0 info@iba-basel.net www.iba-basel.net w w w. k u r z filme-baselnord.bs.ch ProgrammZeitung Baselitz 60x139 sw.indd 1 17.08.10 08:49 UNSER EVENTMAGAZIN Von Montag bis Freitag um 18.40 h und 19.50 h neu mit über 20 Beiträgen. Mehr als 1000 Event- Berichte unter www.telebasel.ch/waslauft auf
Für eine solidarische Welt dagm a r bru n n e r Die Bewegung ‹Terre des hommes› feiert ihren 50. Geburts- tag. Ein Buch von Antoine de Saint-Exupéry gab der Orga- nisation den Namen: ‹Terre des hommes› (Welt der Men- schen), das auf Deutsch unter dem Titel ‹Wind, Sand und Sterne› erhältlich ist und Einblick in des Dichters humanis- tische Gedanken gibt. Als das Hilfswerk ‹Terre des hommes› 1960 gegründet wurde (fünf Jahre später als ‹Helvetas›), sah Entwicklungshilfe freilich anders aus als heute. In den Kirchen etwa standen noch sogenannte ‹Negerkässeli›, wel- che die Gläubigen zum Spenden für Afrika ermunterten ... Das Elend in den Flüchtlingslagern während des Algerien- kriegs motivierte Edmond Kaiser zum Handeln. Um notlei- denden Kindern schnell und direkt zu helfen, rief er ‹Terre des hommes› ins Leben und brachte Hunderte schwerkran- ker Kinder zur Pflege in die Schweiz; spätere Aktionen gal- ten Kindern in Vietnam, Biafra, Bangladesh, Palästina, Kambodscha und Libanon. Parallel dazu entstanden Ar- beitsgruppen, u.a. in Genf und Basel, sowie eine Bewegung in weiteren europäischen Ländern. Doch Kaisers Konzept war zunehmend umstritten, da es kein nachhaltiges ent- wicklungspolitisches Ziel verfolgte. Hilfe zur Selbsthilfe war gefragt, nicht nur der kurzfristige humanitäre, euro- zentrisch-paternalistische Einsatz. So kam es 1972 zu einer Spaltung der Schweizer Institu- tion, und seither treten zwei Organisationen mit fast identischen Namen auf: Kaisers Stiftung ‹Terre des hommes-Kinderhilfe› in Lausanne sowie die heute unter dem Dachverband ‹terre des hommes schweiz/Terre des Hommes Suisse› zusammengefassten Vereine mit Sitz in Basel und Genf. Langfristig und gemeinsam helfen. Alle Einrichtungen arbeiten eigenständig mit unterschiedlichen, sich ergän- Jugendliche in Südafrika Foto: Katrin Haunreiter zenden Schwerpunkten, und kooperieren punktuell: ‹terre des hommes schweiz› in Basel entwickelt und reali- siert in Zentral- und Lateinamerika sowie Afrika Projekte für Jugendliche mit Partnerorganisationen vor Ort; die einer Tagung. Die Sinfonietta spielt Richard Strauss’ ‹Don Schwerpunkte bilden psychosoziale Unterstützung, Ge- Quixote› und eine Komposition des Schweizers Norbert waltprävention und Jugendpartizipation. In der Schweiz Moret. Die Tagung schliesslich widmet sich der Frage, ob engagiert sich die Institution für Jugendprogramme gegen bzw. weshalb Jugendpartizipation in der Entwicklungs- Rassismus, Diskriminierung und Gewalt, etwa mit dem zusammenarbeit sinnvoll ist. ‹imagine›-Musikfestival. ‹Terre des Hommes Suisse› in Genf Jubiläumskonzert mit der Basel Sinfonietta: Sa 23.10., 19.30, Stadtcasino setzt sich, ebenfalls mit Partnern vor Ort, besonders für Basel u S. 57 Kinder und Frauen in benachteiligten Bevölkerungsgrup- Tagung ‹Lösung Jugendpartizipation›: Fr 26.11., 10–17.15 h, Atrio Vulcanelli, pen in den Ländern des Südens ein. In der Schweiz sensibi- Erlenmattstr. 5, www.terredeshommesschweiz.ch lisiert sie Jugendliche für die Problematik des Nord-Süd- Mehr zum Thema ‹Helfen› bzw. ‹Spenden› u S. 24 Gefälles. Die ‹Terre des hommes-Kinderhilfe› in Lausanne schliesslich ist auf Gesundheits- und Kinderschutzprojekte Ausserdem. Ende September erhielt die Historikerin, Slavis- spezialisiert. tin, Kunsthistorikerin und Autorin Helena Kanyar Becker den Zur Geschichte und den aktuellen Vorhaben und Partnern diesjährigen Wissenschaftspreis der Stadt Basel. Demnächst er- der Bewegung kann man u.a. in der Jubiläumszeitung von scheint ihr Buch über die freiwilligen Engagierten der Schweizer ‹terre des hommes schweiz› (oder auf deren Website) mehr Kinderhilfe, die oft entgegen der helvetischen Flüchtlingspolitik erfahren. Ihren 50. Geburtstag feierte sie mit verschiede- agierten – mutige ‹vergessene Frauen›. nen Anlässen während des ganzen Jahres. In Basel findet ‹Vergessene Frauen›. Humanitäre Kinderhilfe und die offizielle Flücht- das Schlussbouquet statt, mit einem Jubiläumskonzert und lingspolitik 1917–1948. Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft (BBG 182). Mit Beiträgen div. AutorInnen. Schwabe Verlag Basel. Ca. 248 S. mit Abb., br., CHF 58 Oktober 2010 | ProgrammZeitung | 7
Halbtax ins Kino a l f r e d s c h l i e nge r Die Kultkinos lancieren ein attraktives Abo-System für junge Leute in Ausbildung. Kinobesuche gehören nachweislich zu den beliebtesten Frei- Sommervögel a l f r e d s c h l i e nge r zeitaktivitäten junger Menschen. Gleichzeitig ist das Budget von Leuten in Ausbildung meistens beschränkt. Jetzt machen die Kultkinos SchülerIn- Schräges (Un)Wohlfühlkino mit Aussen- nen, Lehrlingen und Studierenden ein attraktives und günstiges Angebot, seitern. Paul Riniker ist einer der begnadetsten das für alle sechs Kinosäle von Atelier, Club und Camera gilt. Sie gehen da- Dokumentarfilmer der Schweiz, über 70 Dokus bei von der Beobachtung aus, dass Jugendliche gerne gruppenweise Filme hat er bisher produziert und dabei oft bislang schauen. Und so haben die Kultkinos ein Gruppen-Abo mit sechs einfachen verborgene Seiten des menschlichen Zusam- Regeln entwickelt: menlebens ausgeleuchtet, einfühlsam, berüh- 1. Fünf Personen in Ausbildung bilden eine Gruppe. 2. Die organisierende rend, aufklärend. Jetzt legt der 64-Jährige sei- Kontaktperson der Gruppe erhält das Abo gratis. 3. Die vier weiteren Mit- nen ersten Spielfilm vor, der zum Abschluss des glieder zahlen für sechs Kinoeintritte 55 Franken. Wenn die Gruppe den jüngsten Festivals in Locarno sehr wohlwollend Gesamtbetrag von 220 Franken durch alle fünf Mitglieder teilt, kostet der aufgenommen wurde. Einzeleintritt noch 7.30. Das bedeutet praktisch Halbpreis. 4. Das Abo ist In ‹Sommervögel› findet ein höchst ungewöhn ein Jahr lang gültig, und zwar in allen regulären Vorstellungen der ganzen liches Paar zueinander. Da ist Res (Roeland Woche, auch am Wochenende. 5. Beim Kauf werden die Namen und Mail- Wiesnekker), der neue Abwart auf einem Cam- adressen der Gruppe hinterlegt. Die Tickets werden en bloc bezogen, die pingplatz am Bielersee, der nach einem längeren Gruppe besucht also die sechs Vorstellungen, die sie auswählt, immer ge- Knastaufenthalt wieder Tritt fassen will im meinsam. 6. Das Abo ist unter Auszubildenden übertragbar. Wer mal ver- Leben draussen. Ihm begegnet Greta (Sabine hindert ist, kann also sein Ticket einer Kollegin weitergeben. Timoteo), eine verhaltensauffällige, kindlich Leichter Zugang zu Kulturwelten. Es ist zum Neidischwerden! Warum direkte 33-jährige Frau, die noch immer bei ist zu unseren Ausbildungszeiten noch niemand auf diese glänzende Idee ihren Eltern wohnt. Landläufig würde man sie, gekommen? Vorbild für das neue Gruppen-Abo, so erklärt Kultkino-Mit- auch wegen ihrer körpersprachlichen Eigen arbeiter Tobias Faust, war das SchülerInnen-Abo des Theater Basel, mit heiten, wohl als behindert bezeichnen. Dabei dem viele Jugendliche den Zugang zum Theater finden. Nun hoffen die ist sie einfach unverblümt gefühlsecht, radikal Studiokinobetreiber, dass junge Menschen möglichst frühzeitig entdecken, offen und ehrlich und ganz und gar schutzlos in dass es noch eine Kinowelt jenseits der Steinen gibt. Gleichzeitig darf man ihrer vehementen Zuneigung. Greta verliebt sich betonen, dass das neue Kultkino-Gruppen-Abo wesentlich flexibler ist als Hals über Kopf in den abweisenden Ex-Knasti, das SchülerInnen-Theaterabo. Die jungen Leute sind während eines gan- der natürlich mit einer Behinderten nichts zu zen Jahres völlig frei, an welchen Terminen sie gemeinsam ins Kino gehen tun haben will. wollen. Die Herausforderung wird sein, zu fünft einen solchen Termin zu Riniker inszeniert in frischer Unbekümmertheit finden. Ich würde jede Wette eingehen, dass es Gruppen geben wird, die eine Gratwanderung der speziellen Art. Er stürzt pro Jahr gleich mehrere dieser neuen Abos buchen werden. das Publikum einerseits in das zwangsläufige Das Gruppen-Abo ist, wie Tobias Faust auf Nachfrage hin bestätigt, auch Unbehagen an dieser ungewöhnlichen Bezie- für ganze Schulklassen geeignet. So wie sich Lehrpersonen mit ihren Klas- hung und trägt anderseits schamlos dick auf mit sen entscheiden können, das SchülerInnen-Theaterabo für die ganze Klasse den Klischees des Wohlfühlkinos. Der Ex-Knasti in Anspruch zu nehmen und das Theater allenfalls auch im Unterricht zu und Mörder erweist sich als Seele von Mensch, einem Schwerpunktthema werden zu lassen, so kann es für interessierte und Greta ist natürlich viel gewiefter, als die über- Lehrkräfte auch Sinn machen, ihren SchülerInnen ein Fenster zum an- behütenden Eltern es ihr zutrauen. Schlicht um- spruchsvollen und vielseitig unterhaltenden Film zu öffnen. Dass Klassen- werfend aber, wie überzeugend Sabine Timoteo grössen sich nicht immer durch fünf teilen lassen, wird dabei für die Abo- die verhaltensauffällige Greta spielt. Ein Schalk, Vergünstigung kein Problem schaffen, betont Tobias Faust. Interessierte ein Charme, eine trotzige Verletzlichkeit bis in sollen sich bei den Kultkinos melden, man wird kulante Lösungen finden. die unkontrollierbaren Spasmen des Körpers und Programm, Infos Kultkino u S. 37 der Seele hinein. Dass bei aller hollywoodesk- ironischen Versöhnlichkeit des Schlusses auch ein Unbehagen zurückbleiben muss, gehört zum spielerisch-aufklärerischen Konzept dieses Films. ‹Sommervögel› läuft ab Okt. in einem der Kultkinos. Filmstill aus ‹Sommervögel› 8 | ProgrammZeitung | Oktober 2010
Was kann die Liebe tragen? a l f r e d s c h l i e nge r Filmstill aus ‹Na putu› ‹Na putu› thematisiert den Einbruch des Religiösen in eine ihre Arbeit häufig getrennt von ihm, allein im Hotelbett moderne Beziehung. Wie Menschen als Liebende zuei- liegt, neben sich aufs Kopfkissen. Das ist von einer sanften, nanderfinden, ist ein Urstoff des Kinos. Nicht ganz so oft berührenden Komik und verleiht der subtilen Beziehungs- zeigen uns Filme die Kehrseite, wie Liebende sich wieder geschichte auch eine schöne Leichtigkeit. Irritiert streift verlieren. ‹Na Putu – Zwischen uns das Paradies› themati- Luna später durch das wahhabitische Zeltlager, wo Frauen siert eine solche Verlustgeschichte, obwohl sich die beiden und Männer strikt getrennt sind. Und begegnet dabei über- Hauptfiguren zweifellos noch lieben. Was ist nur passiert raschend eigenständigen Geschlechtsgenossinnen. zwischen Luna und Amar, den beiden privilegierten Mit- Innerlich zerrissene Kultur. Es ist diese Vielschichtigkeit dreissigern, die in ihrem sinnlich erfüllten Zusammensein in den Wahrnehmungen und Handlungssträngen, die dem nur noch auf das Kinderglück als Eltern zu warten scheinen? Film seine Tiefe und Feinheit gibt. Die schmerzhafte Ver- Was kann eine Liebe tragen – und wann wird es zu viel? gangenheit von Krieg, Völkermord und Vertreibung spielt Jasmila Zbanic entwirft in ihrem hoch aktuellen Zweit- unaufdringlich und eindringlich zugleich in die Gegenwart lingsfilm ein modernes, urbanes Szenario im heutigen hinein. Dem islamistischen Gebaren stehen entspannte Sarajevo. Die hübsche Luna (Zrinka Cvitesic) ist als Flight muslimische Familienfeste gegenüber. Auf dem Markt von Attendant oft in der Luft, und doch ist sie die Geerdetere Sarajevo mischen sich unverschleierte Frauen wie Luna mit der beiden. Amar (Leon Lucev) arbeitet als Fluglotse im muslimischen Schleierträgerinnen und christlichen Non- Tower am Boden und spült die Traumata der jüngsten nen. Der Dogmatik der Strenggläubigen steht die reflexar- Kriegsvergangenheit auf dem Balkan allzu gerne mit Alko- tige Terroristen-Hysterie der westlich Orientierten gegen- hol weg. Als er am Arbeitsplatz beim Trinken ertappt wird, über. In Lunas Geschichte spiegelt sich das gegenseitige hat dies seine Suspendierung vom Dienst zur Folge. Amars Misstrauen in einer innerlich zerrissenen Kultur. Existenz kommt ins Rutschen. Beim gemeinsamen River Was hat die Liebe auszuhalten? Wie gerät sie aus der Drafting mit Freunden trifft er auf einen Militärkameraden Balance? ‹Na Putu› zeigt das am Beispiel des Einbruchs aus der Zeit des Kriegs. Der hat sich inzwischen zum radikaler religiöser Vorstellungen in das Leben eines Wahhabiten, dem bekennenden Mitglied einer dogmati- modernen Paares. In ihrem ersten Spielfilm, dem grandio- schen Richtung im Islam, gewandelt und bietet Amar eine sen ‹Grbavica›, der auch in Sarajevo spielte und in Berlin vor Arbeitsstelle als Computerfachmann in einem abgelegenen vier Jahren den Goldenen Bären gewonnen hat, erzählte wahhabitischen Sommercamp an. Jasmila Zbanic ebenfalls eine hoch gefährdete Beziehungs- Unter dem fundamentalistischen Einfluss beginnt Amar geschichte, jene zwischen einer Mutter und der Tochter, die sich zu verändern, lehnt nun plötzlich vorehelichen Sex ab erfahren muss, dass sie das Kind einer Vergewaltigung im und predigt ein reaktionäres Frauenbild. Das wirkt zeit Krieg ist. Auch in ihrem neuen Film gelingt es der jungen weise etwas schematisch und vorhersehbar. Die junge bos- Regisseurin, die Verheerungen des Krieges sichtbar zu nische Regisseurin, selbst eine säkulare Muslimin, fokus- machen, ohne ihn zu zeigen. Und für diesen Schmerz, siert auch viel mehr auf die Reaktionen und das Empfinden diesen Verlust des Gleichgewichts findet sie ausgesucht der Frau. Und sie findet dafür durchgehend so sensible wie schöne, anspielungsreiche Bilder, die man nicht so leicht packende Bilder. Ganz zu Beginn filmt Luna ihren Körper vergisst. mit dem Handy, tastet ihn quasi ab bis zum Bauchnabel, ‹Na putu› läuft ab Okt. in einem der Kultkinos. zum Kinderwunsch. Als Amar neben ihr schläft, filmt sie sein Schnarchen – und legt die Aufnahme, wenn sie, durch Oktober 2010 | ProgrammZeitung | 9
Italienische Nacht mit Nordlicht ru e di a n k l i Enrico Jazz-Leuchttürme. Der sardische Trompeter Paolo Fresu ten würdigt und dennoch seine improvisatorische Geniali- Pieranunzi und der römische Pianist Enrico Pieranunzi sind wahre tät ausspielt. Da steckt ein ganzes Leben Erfahrung mit den (links), Paolo Fresu Leuchttürme des italienischen Jazz. Beide sind – zum wichtigsten Jazzmusikern seiner Generation dahinter. Glück! – nicht zum ersten Mal in Basel. Enrico Pieranunzi Vor gut zwei Jahren trat Paolo Fresu zusammen mit dem ist ein ebenso kreativer wie erfahrener Pianist mit Dutzen- schwedischen Pianisten Jan Lundgren und Richard Gal den eingespielter CDs, er hat auch eine klassische Ausbil- liano in Basel auf. Nun begleitet er den Schweden nicht dung. Die Abgrenzung zur sogenannt klassischen Musik etwa mit dessen eigenem Trio, sondern bildet mit ihm ein war (und ist) in der italienischen Jazzszene weder mar- neues Quartett, in dem auch Landsmann Lars Danielson kant noch erwünscht. Bezüge etwa zur Renaissance- und (Bass) und der New Yorker Clarence Penn (Drums) mitwir- Barockmusik findet man leicht, sowohl bei Pieranunzi als ken. Lundgren ist ein eigentlicher Pionier der nordischen auch bei Fresu oder dem Meister dieses Genres, Gianluigi Traditionen und Fresu ein Kosmopolit, dessen Klasse und Trovesi. Als Pieranunzi sich vor zwei Jahren des neapoli- Persönlichkeit dem Nordlicht bestimmt einige schillernde tanischen Komponisten Domenico Scarlatti (1685–1757) Tupfen verleihen wird. Auf das erste Treffen dieser vier annahm, schien er allerdings einen neuen Trend auszu- grossartigen Musiker darf man sich freuen. lösen. Plötzlich wurde auch ein Giacomo Puccini aktuell, Off beat-Konzert ‹Italian Night›: Di 26.10., 19.30, Stadtcasino Basel u S. 41 dann im internationalen Bereich etwa Beethoven, den der CDs: Paolo Fresu, Songlines / Night and day (Tuk); Jan Lundgren Trio, französische Akkordeonist Richard Galliano schon lange European Standards (ACT); Enrico Pieranunzi plays Domenico Scarlatti im Auge hatte. (Cam Jazz) Aber Pieranunzi ist ein Vollblutjazzer, und was er mit den Scarlatti-Vorlagen anstellte, setzte Massstäbe. Der Römer schafft die Quadratur des Kreises, indem er den Komponis- Streifzüge alle drei in der Tango-Kammeroper ‹Señor Ritor- cimientos› im Gare du Nord erleben, damals mit Dabei parodiert es unter Verwendung der Gau- nersprache Lunfardo die sogenannte Porteña- c h r i s t oph e r z i m m e r dem Kammerorchester Concertino Basel. Nun Kultur der HafenbewohnerInnen von Buenos Das Tango-Theater ‹Desvíos›. Der argenti- folgt mit ‹Desvíos› ein musikalisches Tango-The- Aires. Eine folgerichtige Verbindung, haben nische Bandoneonist und Komponist Marcelo ater, zu dem wieder Nisinman die Musik und doch Lunfardo und Tango gemeinsame Ursprün- Nisinman, der u.a. in Basel bei Detlev Müller- Carlos Trafic den Text beigesteuert haben, und ge in diesem von Armut, Verzweiflung und Siemens studiert hat, ist ein gefragter Virtuose, in dem sowohl der Autor als auch Araceli Fernán- Heimweh geprägten Lebensraum eingewander- der schon mit Gary Burton, Gidon Kremer oder dez erneut spielend und singend auf der Bühne ter Unterschichten. der Tangosängerin Amelita Baltar aufgetreten stehen werden. ‹Desvíos› lässt, so die Autoren, eine Vision von ist. In seinen Kompositionen entwickelt er den Das spanische Wort ‹Desvíos› bedeutet soviel wie Buenos Aires erklingen, auf einer Reise durch Tango Astor Piazzollas weiter und öffnet diesen Umleitungen, Umlenkungen, Ausbiegungen. Es den instrumentalen, gesungenen und gespro- zur zeitgenössischen Musik hin. zielt auf die Hauptfigur dieses satirischen Tango- chenen Tango, die «vom ungeklärten Geheimnis Eine langjährige künstlerische Zusammenarbeit Theaters in lockerer Szenenfolge, einen einzel- menschlicher Existenz und menschlichen Wahn- verbindet Nisinman auch mit dem argentini- gängerischen Mann, der durch das nächtliche sinns» erzählt. schen Regisseur, Schauspieler und Autor Carlos Buenos Aires schweift. Es schildert Alltagssze- ‹Desvíos›: Fr 1., Sa 2. und Fr 8.10., 20.15, Theater Basel, Trafic und der spanischen Sopranistin Araceli nen, aber auch die Umwege und Absurditäten Kleine Bühne, mit Projektionen der dt. Übersetzung Fernández González. Bereits 2004 konnte man des grossen Ganzen, von Leben, Liebe und Tod. 10 | ProgrammZeitung | Oktober 2010
Raum für das Fremde a l f r e d z i lt e n e r Mela Meierhans komponiert eine Annäherung an islamische Trauer rituale. ‹Rithaa› ist arabisch und heisst ‹Klagen›. ‹Rithaa – ein Jenseits Dialog mit dem reigen II› heisst ein neues Werk von Mela Meierhans, das sie im Auftrag des Gare du Nord verfasst hat und nach der Uraufführung in Berlin auch Papagei a l f r e d z i lt e n e r in Basel zeigt. Es ist der zweite Teil einer ‹Jenseitstrilogie›, die dem Ver hältnis unterschiedlicher Kulturen zum Tod nachspürt. Der erste, ‹Tante Tomek Kolczynskis Soloperformance ‹Mein Hänsi – ein Jenseitsreigen›, war 2007 ebenfalls im Gare du Nord zu Vogel›. In den letzten Jahren hat der in Basel sehen. Damals hatte sich die in Zug geborene Komponistin mit traditio ausgebildete Musiker und Audiodesigner Tomek nellen, heute teilweise vergessenen Bestattungsbräuchen im Wallis und Kolczynski (Kold, Jg. 1973) vor allem als Theater- der Innerschweiz beschäftigt und neben einem Instrumental-Ensemble, musiker gearbeitet. Nun kehrt er mit dem szeni- das ihre eigene Musik spielte, den Jodlerklub Wiesenberg mit seinem schen Konzert ‹Mein Vogel› zu seinen Anfängen ‹Naturjuitz› auftreten lassen. zurück. Das Stück zeigt den Dialog eines Mannes Mit ‹Rithaa› setzte Mela Meierhans ihre Recherche im islamischen Kultur- – Kold selbst – mit seinem Papagei. Der ist offen- kreis fort. 2008 beschäftigte sie sich als ‹artist in residence› in Kairo ein bar erst seit Kurzem in Gefangenschaft und – so gehend mit der arabischen Musik und mit volkstümlichen ägyptischen der Pressetext – «imitiert lautstark und unbere- Trauerritualen. Zwar hat Mohammed den Beruf der Klagefrauen verboten, chenbar» die Klänge in seiner neuen Umgebung. doch in Ägypten existieren sie bis heute. Die Klagefrau Nawal Noah ist Diese Konstellation habe etwas Autobiografi- denn auch eine Protagonistin von ‹Rithaa›. Meierhans lässt sie allerdings sches, merkt der Musiker an: Einerseits habe nicht leibhaftig auftreten: Sie ist in einem Film der Zürcherin Sandra Gysi er einige Jahre einen Papagei gehabt, der gern präsent, der einfühlsam und zurückhaltend die Stationen des islamischen Geräusche nachahmte, anderseits sei er selber Trauerrituals begleitet. Da der Beruf der Klagefrau vom Aussterben bedroht in eine neue Welt verpflanzt worden, als er mit ist, ist dieser Film auch ein historisches Dokument. sieben Jahren aus seiner Geburtsstadt Danzig in Respektvolle Spurensuche. Den zweiten musikalischen Pol des Abends die Schweiz kam. Der Vogel ist allerdings rein bildet die palästinensische Oud-Spielerin, Sängerin und Komponistin fiktiv; seinen Part übernimmt der Laptop. Kamilya Jubran, welche die Tradition ihrer Heimat in der Begegnung mit Ihn interessiere der Computer als elektronischer zeitgenössischer Musik – etwa mit dem Schweizer Jazztrompeter Werner Resonanzraum, erklärt Kolczynski, er sei in der Hasler – weiterentwickelt. Sie interpretiert vorislamische Trauergedichte. Lage, Klänge zu verändern, neu zu kombinieren Und schliesslich kommt die Partitur von Mela Meierhans hinzu, eine Kom- und zu Klangflächen und -wolken zu vergrös- position für die Mezzosopranistin Leslie Leon (die schon in ‹Tante Hänsi› sern. (Das veranschaulicht im Übrigen das Video mitgewirkt hat) und ein Instrumental-Ensemble, in dem neben zwei Alp- ‹Klanggeld› auf Youtube: Mithilfe des Laptops hörnern auch der Santur, ein persisches Hackbrett, erklingt. verwandelt Kolczynski das Schaben, Klappern Meierhans versteht ‹Rithaa› als respektvolle Annäherung an eine uns frem- und Klingen von Münzen auf einer mit einem de Kultur, als Versuch einer Spurensuche. Ihre Musik hält sich zurück, lässt Mikrophon versehenen Metallplatte in eine viel- dem Fremden Raum ohne die Behauptung, das ganz Andere zu verstehen fältige Klangwelt.) oder etwas darüber zu wissen. Dazu passt, dass ‹Rithaa› auf grossen szeni- In ‹Mein Vogel› entwickelt sich aus den Geräu- schen Aufwand verzichtet. Den Film von Sandra Gysi begleiten Projektio- schen, die der Mann erzeugt, und den Imitatio- nen kurzer islamischer Texte in Arabisch, Deutsch und Englisch, tänzeri- nen des ‹Vogels› ein komplexer musikalischer sche Begegnungen arabischer Kalligrafie mit westlichen Schriftzeichen. Dialog. Dafür erarbeitet Kold zusammen mit Farben gliedern den Abend, den Stationen des Trauerrituals entsprechend. dem Filmer Edgar Hagen eine musikalische und ‹Rithaa – ein Jenseitsreigen II›: Mi 13.10., 20 h (Premiere), Gare du Nord u S. 57 szenische Grundstruktur – die allerdings genug Weitere Aufführungen: Fr 15. bis Mo 18.10., 20 h Raum lässt für Improvisationen. Das Bühnenbild besteht aus einer käfig-ähnlichen Skulptur von Boris Rebetez, deren Elemente auch zur Klang erzeugung dienen. Darin befindet sich eine von Oguz Özlü dirigierte Videokamera, welche die Aktivitäten des Musikers auf eine Leinwand im Hintergrund projiziert; die Kostüme steuert Claudia Güdel bei. Solo ‹Mein Vogel›: Mi 27. und Do 28.10., 20 h, Gare du Nord u S. 57 ‹Rithaa – ein Jenseitsreigen II› Foto: Ute Schendel Oktober 2010 | ProgrammZeitung | 11
Pop-Paläste am Horizont? m ic h a e l g a s se r tieren, dass Pop halt der freien Marktwirtschaft unterliegt. Läuft nicht viel, dann liegt das – so die Lehrmeinung – an der mangelnden Nachfrage. Wenig Worte, kaum Taten. Und Basel? Im kürzlich veröf- fentlichten Kulturleitbild stehen gerade mal ein paar dürre Sätze zu Pop und Rock, kaum mehr als eine wohlwollende Absichtserklärung, den Bereich zu fördern. Kümmert sich die Stadt lieber um grosse Museumsprojekte und überlässt den Pop sich selbst, sprich den Privaten? Guy Morin, Basels Stadtpräsident, bestreitet das vehement: «Auf keinen Fall.» Man nehme keine Wertungen vor und sei sehr wohl auch an der Populärkultur interessiert. Das zeige sich etwa da- ran, dass die Kaserne im nächsten Jahr mit insgesamt 1,46 Millionen Franken vom Kanton alimentiert werde. «Zudem erhält auch der Rockförderverein RFV von uns Gelder.» 390’000 Franken im 2011, um genau zu sein. Ob Basel bei Popkonzerten mit dem alten Rivalen Zürich wirklich nicht mitzuhalten vermag, könne er nicht beurtei- len, sagt Morin. Er wisse aber, dass sich der RFV sehr be- müht, Basel vermehrt als Popstadt zu positionieren und aktuelle Veranstaltungen zu präsentieren. «Und man sagt mir, dass wir einen Schritt vorwärts gemacht haben.» Morin, der privat eher klassischen Klängen lauscht, gesteht offen, dass er kein intimer Kenner der Popmusik ist. Dafür ist er bestens informiert, was in ‹seinen› Spielstätten läuft. Zum Volkshaus, das in einer städtischen Liegenschaft domiliziert ist, kann er keine Stellung beziehen. Das Ge- bäude soll ja demnächst veräussert werden. Da sei nun eine neunköpfige Jury am Zug, sie soll entscheiden, an wen das Brandhärd Grosse Popkonzerte sind in Basel rar geworden. Guy Haus im Baurecht abgegeben wird: Zum Zuge kommen Morin erhofft Abhilfe durch ein Eventareal. Die Klage ist dürfte wohl eine der beiden Gruppierungen um Thomas altbekannt: In Sachen Popkonzerten spielt Basel in der Dürr (Act Entertainment) bzw. Matthias Müller (AVO- Regionalliga. Sicher, Spielstätten wie das Volkshaus oder Session). Was zumindest die Befürchtungen zerstreut, dass das Parterre bemühen sich redlich, interessante Acts in die das Volkshaus als vor nicht allzu langer Zeit gewonnener Stadt zu locken. Was ihnen durchaus gelingt, aber halt nur Pop-Spielort bereits wieder verloren geht. punktuell. Bei den mehrtägigen Events sieht die Lage bes- Kein passender Spielort. Dass Basel nicht als Eventstadt ser aus: Sowohl die AVO-Session als auch das Open Air ‹Im wahrgenommen wird, habe noch andere Gründe. «Die Fluss› oder das Stimmen-Festival ennet der Grenze, stellen Stadt hat sehr wohl den Willen, dass es wieder mehr Gross- eine alljährliche Musikbereicherung dar. Das war’s dann konzerte gibt. Dafür wäre aber ein neuer und grosser Ver- aber schon mit den Lichtblicken. Dass im alten Fussballsta- anstaltungsort nötig», betont Morin. Zufall oder nicht: dion zu St. Jakob einst Bands wie die Rolling Stones, Pink Plötzlich macht ja ein Projekt von sich reden, das in genau Floyd oder U2 aufspielten, erscheint wie eine Mär aus einer diese Bresche springen will. Die Losinger Construction AG längst verblichenen Epoche. Megakonzerte finden heute – hat Pläne, bis 2015 ein Eventareal neben dem St. Jakobpark trotz Abschaffung der Billettsteuer – anderswo statt. hinzuklotzen. Gleich mit zwei Hallen – die grössere soll für Weit fataler ist, dass selbst jene Basler Häuser, die sich einst 15’000 Personen Platz bieten. Und damit selbst das Zürcher Pop und Rock auf die Fahne geschrieben haben, zuneh- Hallenstadion in den Schatten stellen. Er kenne bislang we- mend weniger davon wissen wollen: Die Kaserne hat sich der das Projekt noch den Businessplan, erklärt Morin. Aber Theater und Tanz zugewandt, wirklich klingende Namen er ist offen. Und gespannt. Ob das gelinde gesagt sehr ambi- aus dem Popbereich sind dort bestenfalls noch alle paar tioniert dimensionierte Projekt nicht eine blosse Schimäre Monate zu erleben, das Sudhaus wartet auf einen neuen ist, sei dahingestellt. Wichtiger scheint vielen Popfans, dass Veranstalter, ums Schiff ist es verdächtig still geworden, sich nach allzu langer Stille endlich wieder etwas regt. das Sommercasino ist für die Jugend da, in der Kuppel wird Mehr zum Kulturleitbild u S. 16, 17 bloss noch abgetanzt, und das Hirscheneck gibt sich mit sei- 25 Jahre Avo-Session: Fr 22.10. bis So 14.11., Messe Basel, www.avo.ch ner Nischen-Rolle zufrieden. Dem geneigten Konzertpubli- Abb.: Die Basler Hip Hop-Formation Branhärd tauft ihre neue CD ‹Blackbox› kum über 30 bleibt häufig nichts anderes übrig, als nach – auch für Schulkinder (16.10., Kaserne Basel). Mehr zu diesem Education Zürich auszufliegen, um seine Bedürfnisse zu stillen. Dort Projekt: www.rfv.ch, Foto: zVg ist nicht alles besser, aber einiges. Nun kann man argumen- 12 | ProgrammZeitung | Oktober 2010
Die Wirklichkeit, ein Vexierbild ja n a u l m a n n Cornelia Huber kreiert spartenübergreifend einen viel- schichtigen Kosmos. Seit April wirkt Cornelia Huber in einem Atelier im alten Zollfreilager auf dem Dreispitzareal. Jetzt wird dieses Atelier zum Anfangs- und Ausgangspunkt einer Performance mit dem Titel ‹My life between›. Räum- liche Inszenierungen sind zentrale Bestandteile von Hubers Arbeiten, und das ehemalige Zollfreilager bietet kurz vor dem Start des Umbaus zum Kunstfreilager die ideale Platt- form für ihre neue, gross angelegte Arbeit. Rund zwei Monate vor der Premiere des Stücks haben Huber und ihr Team angefangen, die Örtlichkeiten zu ver- ändern und die Installationen für das Stück zu bauen. Im Atelier, in zwei Hallen und weiteren kleineren Räumen wird fieberhaft geschweisst, gehämmert, gestrichen, ge- näht und arrangiert. Die Baumaterialien bestehen aus Abfall, die auf dem Areal selbst zu finden sind: Aus Holz paletten und Karton entsteht ein Hallen füllendes Laby- Cornelia Huber rinth. Ein Brockenhaus stellt alte Möbel zur Verfügung; um ihnen die gewünschte verkohlte Patina zu verpassen, leiht man sich bei der Feuerwehr das nötige Flammgerät. Auch Gegenstände reisen von Performance zu Performance mit, Versatzstücke aus früheren Performances von Cornelia werden mit neuen Bedeutungen aufgeladen und scheinen Huber sind in den Interieurs wiederzufinden: ein weiss so selbst verschiedene Zustände durchzumachen, bis sie angemalter Zweig, ein Schuh, ein Puppenkopf. Manche irgendwann verschwinden. Gang durch eine Seelenlandschaft. Was findet nun in die- sen Räumen statt? Die gesamte Inszenierung dauert zwei- einhalb Stunden. Gesetzt sind alleine Anfang und Ende. Dazwischen wandert man frei durch die bildhaften Interi- eurs, die von einer Cellistin, einem Perkussionisten, Tänze- rinnen und Schauspielern bespielt werden. Musik, Bewe- gung, Text, Licht und Video sind ihre Medien. Durchschreitet man diese Szenerien, so ist es, wie wenn man in einen Menschen schlüpfen würde, in sein Gehirn blicken könnte und in eine materialisierte Version seiner inneren Bilder und Zustände katapultiert würde. Dieses gegen Aussen gestülpte Innere eröffnet Raum für Raum Aspekte einer fiktiven Person J.M. Sie befindet sich im Moment des Aufbruchs, ist also nicht mehr da, wo sie schon mal war, weiss aber auch noch nicht, wohin sie gehen wird. Das Publikum macht sich auf eine Reise durch die Erinne- rungen und Gefühle dieser Person. Auf diesem Gang durch eine Seelenlandschaft blitzen aber auch immer wieder Bil- der auf, die längst Teil des kollektiven Gedächtnisses ge- worden sind. Die Wirklichkeit wird zu einem Vexierspiel, die verschiedenen Perspektiven der bespielten Räume sind ihr Vehikel. Das Thema nämlich, das Hubers Performances variieren, ist die Wirklichkeit mit ihren vielschichtigen An- sichten und Konstruktionen. ‹My life between. Eine transdisziplinäre Inszenierung um die Vielschichtigkeit von Wirklichkeit›: Di 26.10., 19.30 (Premiere), Zollfreilager, Dreispitzareal. Weitere Aufführungen: Fr 29. bis So 31.10., 19.30, sowie im November u S. 32 Catriona Guggenbühl Foto: Cornelia Huber Oktober 2010 | ProgrammZeitung | 13
Der Weg ins Freie rom a n be nz Backlist Buchbesprechung. Für Liam Pennywell scheint das Leben keine Über raschungen mehr bereitzuhalten. Soeben ist dem 60-jährigen Lehrer ge- a dr i a n p ort m a n n kündigt worden, und er zieht aus finanziellen Gründen in eine kleinere Die ‹elenden Scribenten›. Schlechte Bücher Wohnung am Stadtrand von Baltimore. Mit seinen Habseligkeiten und gibt es bekanntlich viele. Das ist bedauerlich. Büchern hat er sich schnell eingerichtet. Was bleibt ihm zu tun? «Er hatte Und wenn ich von Zeit zu Zeit unvorbereitet an alle traditionellen Pflichten des Lebens erfüllt – war ewachsen geworden, eines gerate, verursacht das einigen Ärger. Aber hatte Arbeit gefunden, geheiratet und Kinder gekriegt –, und jetzt würde es es gibt ein Gegenmittel: Die Lektüre von Christian ruhig um ihn werden.» Ludwig Liscows Satire ‹Die Vortrefflichkeit und Doch wie er sich irrt, beschreibt die US-amerikanische Autorin Anne Tyler Nohtwendigkeit der elenden Scribenten›. Diese in ihrem neuen Roman ‹Verlorene Stunden›. Zunächst wird Liam in der ers- Schrift von 1734, die sich als Verteidigung der ten Nacht in seiner neuen Wohnung überfallen und niedergeschlagen. Als schlechten Autoren ausgibt, geht ziemlich offen- er im Krankenhaus aufwacht, kann er sich nicht an den Vorfall erinnern. siv vor: Sie räumt ein, dass die Vorwürfe der Kri- Dafür sieht er sich von seiner Ex-Frau sowie seinen Töchtern umgeben, die tiker zutreffen; aber sie tut das nur, um sogleich in den nächsten Stunden mehr aus Pflichtbewusstsein denn aus Mitgefühl zu beweisen, dass die vermeintlichen Mängel in ein Auge auf ihn haben. Der wiederbelebte Kontakt mit seiner Familie führt Wahrheit Vorzüge sind. Liam in einem ersten Schritt aus seiner selbstgewählten Einsamkeit. Seine So bestreitet der Verfasser nicht, dass die besag- jüngste Tochter im Teenageralter zieht für die Sommerferien gar bei ihm ten Bücher weitgehend unvernünftig sind. Aber ein, um sich den strengen Regeln der Mutter zu entziehen. er konstatiert, dass die Menschheit ohne Ver- Die Gedächtnislücke verunsichert Liam intensiv, er fühlt sich von einem nunft bestens über die Runden kommt. Wenn es Teil der eigenen Geschichte abgeschnitten. Daher versucht er nach seiner aber möglich ist, ohne jede Vernunft Völker zu Entlassung aus dem Krankenhaus, die vollständige Erinnerung wiederzu- regieren, Seelen zu bekehren und Rechtshändel erlangen, und lernt dabei die über zwanzig Jahre jüngere Eunice kennen. zu entscheiden, weshalb soll es dann nicht er- Während er es eben noch unwahrscheinlich fand, «dass sich in seinem laubt sein, ohne Vernunft ein Buch zu schreiben? Leben etwas Neues ergeben würde», fühlt er sich nun immer stärker zu der Und das ist erst der Auftakt. Denn die Vernunft unkonventionellen Frau hingezogen, die ein ebenso isoliertes Leben zu ist nicht nur entbehrlich, sie ist geradezu schäd- führen scheint wie er selbst. Dank ihren unverblümten Fragen nach seiner lich: «Ein Bürger muss gehorchen, und ein Christ bisherigen Existenz reift bei Liam die Erkenntnis, dass seine Amnesie wohl muss glauben», ist da zu lesen. «Wer seiner Ver- nicht nur die jüngste Vergangenheit betrifft: «Was ist mit all den anderen nunft nachhängt, der taugt zu beidem nicht.» Dingen, die ich vergessen habe: meine Kindheit, meine Jugend, die erste Die Vernunft kann zu Widerspenstigkeit oder Ehe, die zweite Ehe, das Heranwachsen meiner Töchter?» gar zur Rebellion führen, und deshalb tun die Anne Tyler erzählt mit einer faszinierenden Beiläufigkeit von den Verände- Kritisierten gut daran, dieses zweifelhafte Ver- rungen, die Liam erfährt. Vordergründig beschränkt sich der Roman dar- mögen der Seele zu verachten. Zudem ist das auf, die Erlebnisse seiner Hauptfigur im Laufe eines Sommers wiederzuge- Schreiben auf diese Weise auch weniger müh- ben, doch hält er zudem akribisch fest, wie sich Liams Selbstwahrnehmung sam: «Unsere Absicht ist, ein Buch zu schreiben. allmählich ändert und er sich mit seinem bisherigen Leben versöhnt. Fast Diesen Zweck erreichen wir, wenn wir so viel unmerklich gibt Liam seine Zurückgezogenheit auf und findet eine ihm un- Papier, als dazu nötig ist, mit Buchstaben be- bekannte Freude am Alltäglichen wie beispielsweise an den kindlich-ernst- mahlen. Ob der Sinn, der aus diesen Buchstaben haften Gesprächen mit seinem kleinen Enkel. Mit sparsamen sprachlichen herauskommt (…), vernünftig ist, oder nicht, Mitteln und treffenden Dialogen stellt Anne Tyler letztlich die Frage, was es daran ist uns wenig gelegen. Wollten wir alles heisst zu leben. Und so wird am Ende nicht nur Liam Pennywell zu einem nach der Vernunft abmessen: so müssten wir bewussteren Menschen, sondern vielleicht auch der oder die Lesende. denken; und das Denken greift den Kopf an, Anne Tyler, ‹Verlorene Stunden›. Aus dem Amerikanischen von Simone Jakob. nimmt viel Zeit weg, und nützet doch, wenn Verlag Kein & Aber, Zürich, 2010. 304 S., gb., CHF 29.90 man die Wahrheit sagen soll, nichts.» So geht das weiter, Argument für Argument. Je mehr der Verfasser die elenden Scribenten ver- teidigt, desto gnadenloser demaskiert er sie, und desto deutlicher wird Liscow als Frühaufklärer erkennbar. Und mein Ärger über die schlechten Bücher verdampft auf angenehmste Weise. Christian Ludwig Liscow, ‹Die Vortrefflichkeit und Nohtwendigkeit der elenden Scribenten, gründlich erwiesen›, 1734 ‹Backlist› stellt besondere Bücher aus allen Zeiten vor. Baltimore, Maryland USA 14 | ProgrammZeitung | Oktober 2010
Mobil mit Büchern m a rt i n z i ng g Der Verleger Urs Engeler macht weiter: mit einem Internet- Verlag. Letztes Jahr hiess es noch, sein Verlag sei am Ende, werde geschlossen, aus und vorbei. Der Verleger selber, Urs Engeler, formulierte es vorsichtig: Er werde kürzer treten. Auf die Routine von Frühjahrs- und Herbstprogramm wer- de er künftig verzichten müssen, das sei für ein Ein-Mann- Unternehmen zu viel. Sein langjähriger Mäzen (der inzwischen verstorben ist) hatte die Folgen der Wirtschaftskrise zu spüren bekommen und musste sein Engagement beenden. Die Suche nach neuer Unterstützung war erfolglos, Engeler musste sich etwas einfallen lassen, um seine Verlagsarbeit fortsetzen Perlen und Bestseller. Überraschungen gibt es natürlich Urs Engeler, Verleger zu können. Inzwischen ist sein Verlag vermutlich der be- auch hier. Etwa der Gedichtband ‹Heisse Fusionen› von weglichste der Schweiz. Das hat nur am Rande damit zu Christian Filips, ‹roughbook 005›, mit ‹Gesängen von der tun, dass er, der lange Zeit in Kleinhüningen zuhause war Krisis› – die für eine weitere Auflage problemlos verän- (mit einer kleinen Dependance in Weil am Rhein), eine dert, also aktualisiert werden könnten. Preis: CHF 12.50. neue Adresse hat: Er hat sich in die ländliche Diskretion Und kürzlich ist ein neuer Band von Elke Erb erschienen, von Holderbank zurückgezogen, gleich hinter Langen- ‹Meins›, Gedichte aus den Jahren 2003 bis 2009. In Vorbe- bruck, auf Solothurner Boden. reitung ist eine Anthologie, in der sich deutschsprachige Dort arbeitet er, dort ist sein Verlag. Aber anzutreffen ist LyrikerInnen wechselseitig ins Deutsche, in ihre lyrische der Engeler Verlag inzwischen überall und jederzeit – denn Sprache übersetzt haben. Eskortiert werden die Bücher geworben und bestellt wird übers Internet. Engeler verlegt durch einen ‹roughblog› im Internet. mit spürbarer Lust die ‹roughbooks›, eine Reihe von preis- Und weiterhin, betont Urs Engeler, seien die gebundenen günstig und sorgfältig hergestellten Büchern in einem Bücher aus dem früheren Verlag lieferbar, auch sie werden handlichen Format, schnell und unkompliziert gedruckt, direkt aus Holderbank verschickt – am häufigsten ‹Sez Ner› im digitalen Druck statt im Offsetverfahren. Einfache Bro- von Arno Camenisch, das sich zu einem kleinen Bestseller schur, kleine Auflage, günstiger Preis. Die Bestellung geht entwickelt hat. Eben ist von Camenisch ‹Hinter dem Bahn- per klassische Post oder per E-mail direkt an den Verleger, hof› erschienen, als gebundenes Buch, das – anders als die und der verschickt die Bücher selber, ohne Umweg über ‹roughen› Werke – auch über den Buchhandel zu beziehen den Buchhandel. Auch das ist ein Grund für die erstaunlich ist. Ein köstliches Buch übrigens, in einem rätoromanisch niedrigen Preise. Mit 50 verkauften Exemplaren eines kontaminierten Deutsch, 96 Seiten, 25 Franken! Beim Ver- ‹roughbook› hat der Verleger seine Kosten wieder einge- leger und in jeder guten Buchhandlung feil. spielt, und es gibt gar die Möglichkeit, die Produktion im http://www.engeler.de; http://www.roughbooks.ch; Abonnement zu beziehen, Buch für Buch. http://www.zdz-online.com; http://www.engeler-verlag.com Das eine ist eine kleine bibliophile Perle und ent- Die Alchemie des Werner L. Hügelkonform hält Gedichte von Lutz zum Thema Pflanzen, das seine geheimen Wünsche denken andere ist eine Textsammlung über Lutz’ Lyrik. Herausgeber Markus Bundi hat 30 Autorinnen geheimen Künste die magischen Rezepte dagm a r bru n n e r und Autoren eingeladen, zu einem selbstgewähl- Ersatzstoffe Fälschungen Fermente Luzide Lyrik. Was haben die Schreibenden ten Gedicht von Werner Lutz etwas Eigenes bei- das Quecksilber das er in gleiche Teile René Regenass, Dieter Forte, Heinrich Wiesner, zusteuern. Ihre Texte hat er in drei Kategorien zu teilen versucht Ingeborg Kaiser und Werner Lutz gemeinsam? unterteilt, die der chronologischen Entstehung das Licht die Lebendigkeit Sie alle konnten in diesem Jahr einen ‹grossen› von Lutz’ Gedichten folgen. So kann man den ein- seine Magmanächte Geburtstag feiern. Der 80. von Lutz steht Ende nehmend unspektakulären Kosmos dieses sinnes- die komplizierten Formeln Oktober an, doch bereits im September wurde süchtigen Wortzauberers, seinen «unbestechli- seiner Liebe seines Überdrusses er von der örtlichen Lyrikgruppe mit dem Bas- chen und zugleich verbindlichen poetischen und dann das Gold ler Lyrikpreis ausgezeichnet – für sein Werk, das Blick» (Bundi) auf neue Weise kennenlernen. das prächtige Gold auf allem sich im Laufe von 50 Jahren kontinuierlich und Feier für Werner Lutz: Mo 25.10., ab 18.30, Kuppel. was unerreichbar ist ohne Hast entwickelt hat. Dazu gehören Gedich- Mit Apéro und Buchpräsentation Werner Lutz, aus: ‹Schattenhangschreiten›, te ebenso wie Bilder, denn Lutz beherrscht beide Anthologie ‹Von Ort zu Ort verschieden nachdenklich Verlag Im Waldgut Disziplinen, ist Maler und Poet. Nun wird er zum sein›, Hg. Markus Bundi, Edition Isele Geburtstag auf besondere und angemessene Werner Lutz, ‹Gräserstille Einfachheit›, Reihe ‹Lyrik aus Weise geehrt – mit zwei neuen Büchern. der Offizin S.›, Meran (Nr. 15, 5. Jg., 2010) Oktober 2010 | ProgrammZeitung | 15
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