Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie - SPECIAL ISSUE 7 - RKI
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NOVEMBER 2021 GESUNDHEITSBERICHTERSTATTUNG DES BUNDES 7 SPECIAL ISSUE GEMEINSAM GETRAGEN VON RKI UND DESTATIS Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie 1
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS Journal of Health Monitoring · 2021 6(S7) DOI 10.25646/9178 Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung Robert Koch-Institut, Berlin in Deutschland während der COVID-19-Pandemie. Elvira Mauz, Sophie Eicher, Diana Peitz, Stephan Junker, Heike Hölling, Julia Thom Ein Rapid-Review Abstract Robert Koch-Institut, Berlin Der vorliegende Rapid Review untersucht, wie sich die psychische Gesundheit von Erwachsenen in der Allgemeinbevölkerung Abteilung für Epidemiologie und Gesundheits- monitoring in Deutschland während der COVID-19-Pandemie verändert hat. Mittels systematischer Literaturrecherche wurden zum Stand 30.07.2021 68 Publikationen eingeschlossen. Die Eingereicht: 20.09.2021 zugrundeliegenden Studien wurden nach ihrer Eignung für repräsentative Aussagen für die Allgemeinbevölkerung und Akzeptiert: 17.10.2021 zur Abschätzung zeitlicher Veränderungen klassifiziert. Zusätzlich wurden Beobachtungszeitraum und Operationalisierung Veröffentlicht: 17.11.2021 von Outcomes betrachtet. Die erste Infektionswelle und das Sommerplateau wurden von 65 % der Studien abgebildet. Im Forschungsdesign besonders geeignete Studien zeigten gemischte Ergebnisse, die in der Tendenz auf eine größtenteils resiliente erwachsene Bevölkerung mit einem Anteil vulnerabler Personen hinweisen. Eine überwiegend negative Entwicklung von psychischer Gesundheit beschrieben Ergebnisse aus verzerrungsanfälligeren Studiendesigns. Routinedatenanalysen zeigten Einbußen in der ambulanten und vor allem stationären Versorgung, vermehrte Nutzung eines Krisendienstes, gemischte Ergebnisse für ambulante Diagnosen, Arbeitsunfähigkeit und Sterblichkeit sowie Hinweise auf Verschiebungen im Diagnosespektrum. Da die aktuelle Evidenz nicht eindeutig ist, sollten verallgemeinernde Aussagen zugunsten einer differenzierten Betrachtung reflektiert werden. Forschungsbedarf besteht in Bezug auf den weiteren Pandemieverlauf, spezifische Risikogruppen und die Prävalenz psychischer Störungen. COVID-19-PANDEMIE · SARS-COV-2 · PSYCHISCHE GESUNDHEIT · PSYCHISCHE STÖRUNGEN · RAPID REVIEW 1. Einleitung dem Infektionsgeschehen, der Wegfall von Schutzfakto- ren für die psychische Gesundheit (z. B. soziale und Frei- Die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen Maß- zeitaktivitäten, Zugang zu Versorgungsangeboten), Belas- nahmen des Infektionsschutzes bergen als multidimensi- tungen durch Infektionsschutzmaßnahmen [5–7], der onaler Stressor auf verschiedenen Ebenen Risiken für die Verlust von Angehörigen [4] sowie unmittelbare, körper- psychische Gesundheit der Bevölkerung [1–3]. Das indivi- liche, neurologische und psychische Symptome einer duelle Erleben von Unsicherheit und Ängsten gegenüber COVID-19-Infektion [8] können negative Folgen für die Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 2
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS psychische Gesundheit haben. Längerfristige Konsequen- Stabilisierung der Wirtschaft und zur sozialen Sicherung zen [1, 2] werden im Fall einer durch die Pandemie beding- unterschieden sich zwischen den Ländern. ten, wirtschaftlichen Rezession diskutiert [9–11]. Durch Da die Forschung sehr schnell auf die Krisenlage die Zunahme bereits vor der Pandemie bestehender Risi- reagierte, liegen inzwischen sowohl eine hohe Anzahl empi- kofaktoren können auch zusätzliche Belastungen für die rischer Arbeiten als auch eine breite Streuung der einge- psychische Gesundheit entstehen, wie etwa durch eine setzten Forschungsmethodik vor [31]. Der hohe Bedarf an höhere Gefahr von häuslicher Gewalt [11–13] oder ver- gesicherten Erkenntnissen als Grundlage evidenzbasierter mehrter Einsamkeit [14, 15] im Zuge der Kontaktbeschrän- politischer Entscheidungen (u. a. zur Minimierung von Risi- kungen und weitreichenden Schließungen. Grundsätzlich ken und Anpassung von Versorgungsangeboten) lassen ist erwartbar, dass mit längerer Dauer beziehungsweise verstehen, weshalb schnelle Lösungen für eine umgehende Chronifizierung von Belastungen eine erfolgreiche Bewäl- Datenerhebung oder zeitnahe Publikation der Arbeiten tigung erschwert wird [10]. noch vor dem qualitätssichernden Peer-Review auf Preprint- Vor diesem Hintergrund prognostizierte der britische Servern genutzt werden. Diese Praxis macht es jedoch erfor- Psychiatriefachverband bereits im Mai 2020 einen „Tsunami derlich, zur Beschreibung des Forschungsstandes die Güte psychischer Störungen“ [17]. Auch in Deutschland rechnen und Generalisierbarkeit der vorliegenden Arbeiten für die Expertinnen und Experten mit einer Zunahme psychischer Allgemeinbevölkerung zu prüfen. Belastungen und Störungen [3, 18, 19]. Die aktuelle Befund- Der vorliegende Rapid Review untersucht daher unter lage zur Entwicklung der psychischen Gesundheit der Berücksichtigung der jeweiligen Forschungsmethodik der Bevölkerung während der COVID-19-Pandemie ist insge- vorliegenden Studien, wie sich die psychische Gesundheit samt jedoch heterogen und aufgrund ihrer methodischen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung in Deutschland Vielfalt schwer bewertbar. So finden Studien aus anderen während der COVID-19-Pandemie entwickelt hat. Ländern sowie internationale Übersichtsarbeiten zum einen (teilweise extrem) steigende psycho-soziale Belas- 2. Methode tungen und eine nachfolgende Zunahme psychischer Stö- rungen [20–26], zum anderen aber auch keinen dauerhaf- Vor dem Hintergrund zeitlicher und personeller Limitatio- ten Anstieg von Psychopathologie [27–30]. Neben der nen orientiert sich die Methodik des vorliegenden Reviews Inkonsistenz der Ergebnisse internationaler Arbeiten wer- an den Standards, die das Kompetenznetz Public Health den Rückschlüsse für Deutschland auch durch wesentliche zu COVID-19 zur Durchführung eines Rapid Reviews im Unterschiede zwischen den Ländern im Pandemieverlauf Kontext der aktuellen Pandemie vorschlägt [32, 33]. erschwert. Insbesondere die Entwicklung der Fall- und Todeszahlen, die resultierende Belastung des Gesundheits- systems sowie die Maßnahmen zum Infektionsschutz, zur Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 3
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS 2.1 Literaturrecherche (4) Auswertungsdesign: ausschließlich Zusammenhangs analysen ohne Bericht von Häufigkeiten bzw. deren Gesucht wurde anhand der PECO-Kriterien (Population: All- Veränderungen in der Allgemeinbevölkerung gemeinbevölkerung in Deutschland; Exposition: COVID-19- (5) Zielpopulation: Subgruppen jenseits der o. g. ausge- Pandemie; Comparison: vor/nach bzw. nach COVID-Aus- wählten soziodemografischen Merkmale (z. B. Perso- bruch in Deutschland; Outcome: Psychische Gesundheit) nen mit bereits bestehenden psychischen Störungen, mit folgenden Ein- und Ausschlusskriterien: Gesundheitspersonal, Studierende) Einschlusskriterien Systematische Recherche Suchgrundlage bildete die von der Bibliothek des Robert (1) Zielpopulation: Allgemeinbevölkerung in Deutschland Koch-Instituts im Zuge der COVID-19-Pandemie erstellte (sowie Subgruppen nach Region, Alter, Familienstand, Literaturdatenbank (Zugriff 30.07.2021). In diese werden Erwerbstätigkeit) seit Beginn der Pandemie wöchentlich alle Publikationen (2) Altersgruppe: Erwachsene eingepflegt, die mittels mehrerer Suchstrings (Annex Tabel- (3) Beobachtungszeitraum: während der COVID-19-Pan- le 1) in den Datenbanken PubMed und Embase sowie den demie zusätzlich durchsuchten Preprintservern arXiv, bioRxiv, (4) Abgebildete Konstrukte: Psychische Gesundheit als ChemRxiv, medRxiv, Preprints.org, Research Square und Haupt-Outcome Social Science Research Network (SSRN) identifiziert wer- (5) Publikation eines zeitlichen Vergleichs (gegenüber den. Die Literaturdatenbank wurde mit zwei durch Filter- Messzeitpunkten vor Pandemiebeginn oder während begriffe festgelegten Suchstrings (Annex Tabelle 1) nach der Pandemie) Texten zur psychischen Gesundheit durchsucht. Alle hier- (6) Publikationssprache: Deutsch/Englisch durch extrahierten Texte wurden über einen dritten Such- string nach ihrem Bezug auf Deutschland gefiltert. Ausschlusskriterien Handrecherche (1) Publikationstyp: Reviews, Stellungnahmen, Comments, Vor dem Hintergrund des akuten Informationsbedarfs mit Letters to the Editor entsprechend schneller Entwicklung von wissenschaft (2) Methodologie: qualitative Daten lichen Publikationen sowie anderen Disseminationsforma- (3) Darstellung der Studienmethodik: nicht ausreichend ten zum Beispiel Berichte, Studienwebsites, Pressemittei- transparent dargestellte Methodik in publizierten Abs- lungen oder auch Reporte von Krankenkassen ist davon tracts oder auf Postern auszugehen, dass nicht alle Befunde beziehungsweise Pub- likationen zur Entwicklung der psychischen Gesundheit in Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 4
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS der deutschen Allgemeinbevölkerung während der COVID-19- Titel-, Abstract- und Volltextsichtung Pandemie bereits in internationalen Datenbanken gelistet Nach Pilotierung der Vorgehensweise im Review-Team und sind. Aufgrund dessen wurde die Literaturrecherche um Ausschluss von Dubletten erfolgte der Titel- und Abstract- folgende Bereiche erweitert: screen durch eine erfahrene Person (EM). Mehr als 20 % der Titel wurden zusätzlich durch mindestens eine weitere (1) Systematische Suche in der Datenbank der Weltge- Person des Teams geprüft. War die Einschätzung zum Ein- sundheitsorganisation (WHO) „COVID-19. Global lite- oder Ausschluss bezogen auf eine Publikationen unein- rature on coronavirus disease“ (Zugriff 10.06.2021; deutig, erfolgte konservativ kein Ausschluss. Alle verblie- Suchstring siehe Annex Tabelle 1) benen Publikationen wurden als Volltext von mindestens (2) Webseiten COVID-19-bezogener Studien in der All- zwei Personen gesichtet. Die in diesem Schritt uneindeu- gemeinbevölkerung, gelistet auf der Webseite des tigen Publikationen wurden im Team von drei Personen Rats für sozialwissenschaftliche Daten (RatSWD)[34] diskutiert und in einem iterativen Prozess anhand der oben (letzte Aktualisierung bereits identifizierter Studien genannten Kriterien ein- oder ausgeschlossen. Im Zuge 30.07.2021) dieses Prozesses erfolgte die erste Datenextraktion der ein- (3) Publikationen und Literaturlisten aus dem Kompetenz- zelnen Publikationen. Informationen wurden systematisch netz Public Health zu COVID-19 [35] (letzte Aktualisie- in eine hierfür erstellte Tabelle übertragen. Für Einzelpub- rung 30.07.2021) likationen wurde die jeweilige Datengrundlage (Primärda- (4) Suche via Suchmaschine Google (Zugriff bis 08.07.2021; tenerhebung, Routinedaten) identifiziert, anhand derer eine Suchstring siehe Annex Tabelle 1); Pressemeldungen Gruppierung der Publikationen erfolgte. und aktuelle Reporte bzw. Studien von u. a. Leistungs- trägern und -erbringern des Gesundheitssystems (z. B. 2.2 Klassifizierung der eingeschlossenen Publikationen Krankenkassen, Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland, Krankenhausstatistik) Für eine aussagekräftige Zusammenfassung der Befund- (5) Screening von Literaturverzeichnissen von COVID-19- lage vor dem Hintergrund der eingesetzten Forschungs- bezogenen Reviews, Stellungnahmen und Policy methodik und dem daraus resultierenden Geltungsbereich Briefs auf relevante Studien und Publikationen (Stand der empirischen Ergebnisse wurden die eingeschlossenen 10.06.2021) Publikationen wie folgt in dreifacher Hinsicht systemati- (6) Screening nach relevanten COVID-19-bezogenen Stu- siert: dien und Publikationen, gelistet auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychothera- 1) Beobachtungszeiträume pie, Nervenheilkunde und Psychosomatik (DGPPN) Um einschätzen zu können, inwiefern der aktuelle For- (Zugriff 10.06.2021) [36]. schungsstand Aussagen über den gesamten Pandemie- Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 5
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS verlauf seit März 2020 erlaubt, wurden die Beobachtungs- Vollerhebung ohne Stichprobenziehung ab [39]. Sie liegen zeiträume der eingeschlossenen Studien in Abständen von bei unterschiedlichen Datenhaltern auf verschiedenen Ebe- halben Monaten erfasst – unabhängig davon, ob für diese nen vor und sind dabei unterschiedlich repräsentativ für auch einzeln Ergebnisse berichtet wurden – und deren Ver- ihre bevölkerungsbezogene Grundgesamtheit. So bilden teilung über den Gesamtzeitraum betrachtet. Eingeschlos- Daten von beispielsweise einer einzelnen Klinik oder Kran- sen wurden Zeiträume, zu denen aus den jeweiligen kenkasse deren Versorgungsgeschehen verzerrungsfrei ab, Monatshälften für mindestens eine Woche Daten vorlagen. können aber von anderen Kliniken oder Krankenkassen War dies für keine der Monatshälften der Fall, wurde die sowie von der bundesweiten stationären Versorgung oder Studie dem Zeitraum zugeordnet in dem die meisten Stu- Gesamtheit gesetzlich krankenversicherter Personen abwei- dientage lagen. Zur Klassifizierung der Beobachtungszeit- chen [40]. räume wurde die Entwicklung der Pandemie in Deutsch- In Primärdatenerhebungen wird eine Stichprobe der land in Anlehnung an Schilling et al. [37] sowie Tolksdorf Zielpopulation in eine Studie einbezogen. Die beste Annä- et al. [38] in vier Phasen (Welle 1 – 3 und Sommerplateau herung an eine für die Allgemeinbevölkerung in Deutsch- 2020) eingeteilt und mit den Fall- und Todeszahlen von land repräsentative Schätzung erlauben Zufallsstichpro- COVID-19 illustriert (Abbildung 2). ben (Probability-Stichproben). Diese können (a) aus der Gesamtpopulation mit bekannter Auswahlwahrschein- 2) Studiendesign der Datengrundlage lichkeit [41] oder (b) aus einem Access-Panel mit gege- Es wurden zwei Kriterien für die Beurteilung herangezogen, benenfalls geschichtetem Stichprobenplan gezogen wer- inwiefern sich das Studiendesign der in den Publikationen den [41, 42]. Dabei werden die gezogenen Personen zur analysierten Daten für Rückschlüsse auf die Entwicklung Teilnahme eingeladen und motiviert. Zur Teilnehmenden- der psychischen Gesundheit in der Allgemeinbevölkerung gewinnung schwer erreichbarer Bevölkerungsgruppen während der COVID-10-Pandemie eignete: sind idealerweise Maßnahmen implementiert [41]. Mög- liche Verzerrungen durch das Studiendesign (Designef- Kriterium 1: Repräsentativität der Datengrundlage für die fekte) sowie die Nicht-Teilnahme bestimmter Bevölke- Allgemeinbevölkerung rungsgruppen (Non-Response) können identifiziert und Zur Beurteilung der Eignung der Datengrundlage einer Pub- in der Datenanalyse zum Beispiel mit Gewichtungsfak- likation für repräsentative Schätzungen in der Allgemein- toren berücksichtigt werden [43]. Im Gegensatz dazu bevölkerung wurden Primärdatenerhebungen von Routine- nehmen in Studien mit Non-Probability-Stichproben daten abgegrenzt. (Stichproben ohne Zufallsauswahl) interessierte Perso- Routinedaten fallen im Zuge der standardmäßigen nen auf eigene Initiative teil, indem sie nicht-personali- Dokumentation und Abrechnung in Versorgungsprozes- sierten und vorrangig medial verbreiteten Einladungen sen oder in amtlichen Statistiken an und bilden diese als folgen [41]. Damit hängt die Teilnahme unter anderem Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 6
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS vom Auffinden der Studie, der eigenen Motivation oder erhebungen mit jeweils identischem Studiendesign [46, dem Zugang zum bereitstellenden Medium ab. Diese 47]. In diesen Studien werden zu verschiedenen Zeitpunk- Stichproben können so in methodisch nicht kontrollier- ten erhobene Kennwerte auf Gruppenebene zwischen zwei barer Weise durch Selektionseffekte systematisch verzerrt Stichproben miteinander verglichen. In einmalig durchge- sein und stellen daher weniger verlässliche Informations- führten, repräsentativ angelegten Querschnittstudien ist quellen für die Allgemeinbevölkerung dar [41, 42]. In einer eine Einschätzung zeitlicher Veränderung über den Ver- Methodenstudie vor der Pandemie fand sich zum Bei- gleich mit Normstichproben, anderen Referenzerhebungen spiel in einer solchen Stichprobe eine circa 2,5-fache sowie retrospektiven Abfragen möglich. Allerdings müssen Überrepräsentation von psychisch belasteten Teilneh- einschränkend mögliche Fehlerquellen wie Recall-Bias, menden [44]. Um das Risiko von verzerrten Schätzungen Modeeffekte oder abweichende Stichprobenzusammenset- zu vermeiden beziehungsweise die Unsicherheit der zung in die Interpretation einbezogen werden [48]. Reprä- Schätzungen beurteilen zu können, wird von der Nutzung sentativ gezogene Kohorten- beziehungsweise Längs- von Non-Probability-Stichproben zur Untersuchung der schnittstudien bieten die Möglichkeit, Veränderungen in psychischen Gesundheit der Allgemeinbevölkerung wäh- spezifischen Bevölkerungsgruppen über intraindividuelle rend der COVID-19-Pandemie aus methodischer Sicht Verläufe zu identifizieren, können aber aufgrund des Dro- sogar explizit abgeraten [45]. Dennoch wird diese prag- pouts von Personen über die Zeit an Repräsentativität ver- matische Form der Stichprobenziehung häufig genutzt lieren [47, 49]. und Ergebnisse entsprechender Studien finden Eingang in den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs. Um Synopse der Kriterien: Einteilung in Studientypen dessen Differenzierung zu ermöglichen, wurden im vor- Zur Einschätzung, inwiefern sich die Studienmethodik der liegenden Review daher Probability- von Non-Probability- den Publikationen zugrundeliegenden Daten zur Beurtei- Stichproben unterschieden. lung zeitlicher Veränderungen während der Pandemie in der Allgemeinbevölkerung eignet, wurden insgesamt sie- Kriterium 2: Abschätzung zeitlicher Veränderungen ben Studientypen durch eine Kombination der beiden oben während der Pandemie aufgeführten Kriterien formuliert (Annex Tabelle 2): Wesentliche Voraussetzung für eine belastbare Einschät- Innerhalb der Primärdatenerhebungen (Kategorie I) zung von Veränderung über die Zeit sind wiederholte Mess erfolgte eine Einteilung der Studien mit zufällig gezogener zeitpunkte, die identisch sind in Bezug auf das Studiende- Stichprobe in Trendstudien mit Zufallsziehung aus der All- sign (d. h. bzgl. Stichprobe, Erhebungsmodus etc.) und die gemeinbevölkerung (Studientyp A) oder einem Access Messung des Outcomes [46]. Zu diesem Zweck besonders Panel (Studientyp B). Dem Studientyp C wurden einmalig geeignet sind Trendstudien, das heißt wiederholte und durchgeführte Querschnitterhebungen mit Zufallsstich- repräsentativ angelegte Querschnitt- oder auch Panel- proben zugeordnet, bei denen der zeitliche Vergleich über Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 7
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS retrospektive Abfragen oder Vergleiche mit anderen Refe- Die eingesetzten Inventare zur Messung der Indikato- renzerhebungen ohne Berücksichtigung möglicher Design ren beinhalten unterschiedliche Analyse- und Interpretati- unterschiede stattfand. Kohortenstudien mit Zufallsstich- onsmöglichkeiten sowohl mit Blick auf das zu messende probe in nicht zufällig ausgewählten Regionen sowie ohne Konstrukt als auch auf pandemiebedingte Veränderungen Stichprobenaufstockung zum Ausgleich von Dropout wur- über die Zeit: Nicht-standardisierte Items oder Einzelitems den dem Studientyp D zugeordnet. Primärdatenerhebun- etablierter Inventare besitzen wegen fehlender Studien zu gen mit Non-Probability-Stichproben wurden unterteilt in Reliabilität und Validität für die Messung des Konstrukts Längsschnittstudien mit mehrfach befragten Teilnehmen- eine eingeschränkte Aussagekraft [50]. Dagegen sind stan- den (Studientyp E) und Querschnittstudien (Studientyp F). dardisierte Messinventare für ein definiertes Konstrukt vali- Eine Unterteilung von Routinedaten (Kategorie II) erfolgte diert und erlauben – bei vergleichbarem Studiendesign – nicht, da diese in der Regel zu verschiedenen Zeitpunkten den Abgleich mit früheren Studien und idealerweise mit vorliegen und – bei gleicher Kodierung und Analyse – über Referenzwerten aus Normstichproben. Zu diesen zählen die Zeit verglichen werden können. auch Screeninginstrumente, in denen aktuell vorliegende Als vergleichsweise verlässliche Schätzungen für Ver- Symptome einer psychischen Störung abgefragt und so änderungen der psychischen Gesundheit in der Allge- Personen mit hoher Symptombelastung identifiziert wer- meinbevölkerung während der Pandemie können die Stu- den können. Die Häufigkeit einer psychischen Störung, wie dientypen A, B, D und eingeschränkt auch C, sowie sie in einem standardisierten klinischen Interview diagnos- Routinedaten den für Verzerrungen anfälligeren Studien- tiziert würde, kann damit jedoch sowohl über- als auch typen E und F gegenübergestellt werden. unterschätzt werden [siehe z. B. 51]. Dokumentierte Diag- nosen im Versorgungsgeschehen (inkl. bei Arbeitsunfähig- 3) Operationalisierung von Outcomes psychischer keitsmeldungen) setzen die Inanspruchnahme ärztlicher Gesundheit oder psychotherapeutischer Leistungen sowie Erkennen Zur Einschätzung, wie umfangreich und valide das facet- und Dokumentation psychischer Störungen durch die tenreiche Thema psychische Gesundheit in den einge- Behandelnden voraus, wodurch unter anderem Personen schlossenen Studien erfasst wurde, wurden die Outcomes mit ungedecktem Behandlungsbedarf nicht abgebildet wer- psychischer Gesundheit anhand des gemessenen Kons- den [52–54]. trukts sowie dessen Operationalisierung klassifiziert. Unterteilt wurden (a) Indikatoren positiver psychischer 2.3 Systematische Extraktion von Studienergebnissen Gesundheit, (b) Indikatoren psychischer Belastung, (c) Indikatoren einer akuten Symptomatik einer psychischen Die bereits in einem ersten Schritt aus den Publikationen Störung und (d) Indikatoren von Versorgungsgeschehen extrahierten zentralen Ergebnisse wurden in tabellari- und Mortalität. scher Form gemäß den hier aufgelisteten Kriterien (Annex Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 8
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS Tabelle 3, Tabelle 4) aufbereitet sowie im Text dargestellt. Repräsentativität der Stichprobenziehung für die Die systematisierte Datenextraktion erfolgte unter Quali- Allgemeinbevölkerung und Abschätzung zeitlicher tätssicherung durch mindestens jeweils zwei weitere unab- Veränderungen während der Pandemie hängige Personen (Annex Tabelle 3). In den Review konnten 44 Publikationen aus 25 Primärda- tenerhebungen (Kategorie I) und 24 Publikationen basie- 3. Ergebnisse rend auf 18 Routinedatenquellen (Kategorie II) einbezogen 3.1 Literaturrecherche werden (Tabelle 1). Unter den Primärdatenerhebungen wurden insgesamt Insgesamt wurden über die unterschiedlichen Suchstrate- 16 Publikationen aus sechs Trendstudien mit zufällig gezo- gien 1.843 Publikationen mit Bezug auf Deutschland iden- gener Stichprobe aus der Allgemeinbevölkerung (Studi- tifiziert (Stand 30.07.2021). Mit Hilfe eines mehrstufigen entyp A), fünf Publikationen aus zwei Trendstudien mit Eine Vielzahl von Studien Ein- und Ausschlussprozesses (Abbildung 1) konnten 68 zufällig gezogener Stichprobe aus einem Access-Panel mit divergierender Publikationen in den Review aufgenommen werden. (Studientyp B) sowie drei weitere repräsentativ angelegte Forschungsmethodik Querschnittstudien mit jeweils einer Publikation (Studi- untersuchte die Entwicklung 3.2 Klassifizierung der eingeschlossenen Studien entyp C) identifiziert. Zwei Publikationen entstammten einer Kohortenstudie mit zufälliger Ausgangsstichprobe psychischer Gesundheit Beobachtungszeiträume in nicht zufällig ausgewählten Regionen (Studientyp D). während der Zum Stand der Recherche bezogen sich die Beobach- Auf Non-Probability-Stichproben basierten vier Längs- COVID-19-Pandemie. tungszeiträume größtenteils auf die Zeit der ersten Infek- schnittstudien mit fünf Publikationen (Studientyp E) sowie tionswelle der COVID-19-Pandemie, die im Vergleich mit neun Querschnittstudien mit 13 daraus hervorgegange- den späteren Wellen noch relativ niedrige Inzidenz- und nen Publikationen. Todeszahlen von mit SARS-CoV2 infizierten Personen auf- Innerhalb der Primärdaten lagen damit in den für Aus- wies (Abbildung 2). Ab der zweiten Märzhälfte lagen mehr sagen mit Blick auf die Allgemeinbevölkerung als verläss- als 20 Studien in jeder Monatshälfte vor. Für das Som- lich eingeschätzten Studientypen A, B, C und D insgesamt merplateau 2020 zwischen der ersten und der zweiten 26 Publikationen aus 12 Studien vor. Dem gegenüber stan- Welle lagen ebenfalls veröffentlichte Daten aus mindes- den 18 Publikationen aus 13 Studien in den eher verzer- tens 13 Studien vor. Mit dem Jahreswechsel 2020/2021 rungsanfälligen Studientypen E und F. Unter Berücksichti- nahm die Anzahl an Studien jedoch stark ab: Während für gung aller Studienkategorien zeigte sich, dass damit mehr die zweite Welle im Jahr 2020 noch acht bis neun Studien als zwei Drittel aller Publikationen (50 von 68) und Studien in den jeweiligen Monatshälften zur Verfügung standen, beziehungsweise Datenquellen (30 von 43) den eher als waren es im Jahr 2021 für die zweite und dritte Welle nur verlässlich eingeschätzten Studientypen (A, B, C, D, Rou- noch ein bis fünf Studien. tinedaten) zugeordnet werden konnten. Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 9
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS Abbildung 1 Systematische Recherche: Identifikation von Veröffentlichungen über Zusatz-/Handrecherche: Identifikation zusätzlicher Flussdiagramm zu den Ein- und Ausschlüssen Literaturdatenbanken/Preprint-Server Veröffentlichungen über andere Suchwege der Literaturrecherche Quelle: Eigene Darstellung Datenbank mit COVID-19-bezogenen WHO-Datenbank „COVID-19. Global literature on Veröffentlichungen coronavirus disease“ (n = 511) (Stand 30.07.2021): n = 236.723 Webseiten COVID-19-bezogener Studien in der Allgemeinbevölkerung, gelistet auf der Webseite des Ausschluss über Filter 1* & 2* Rats für sozialwissenschaftliche Daten (RatSWD) n = 212.576 (n = 24) Identifizierung Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 (n = 12) Veröffentlichungen identifiziert Google-Recherche: Fachverbände, Leistungserbringer, mit Suchstring Kostenträger (n = 52) „Psychische Gesundheit“: n = 24.147 Literaturverzeichnisse: Reviews, Stellungnahmen und Policy Briefs (n = 78) Studienergebnisse Ausschluss über Filter 3* Webseite der DGPPN unter COVID-19 (n = 39) n = 24.020 unterschieden sich unter anderem in Abhängigkeit vom Veröffentlichungen mit Suchstring „Deutschland“: n = 1.127 eingesetzten Studiendesign. Ausschluss Dubletten n=9 n = 717 Veröffentlichungen für Titel- und Abstract-Screening: n = 1.118 Screening Manueller Ausschluss n = 1.012 Ausschluss: n = 680 Veröffentlichungen für Manueller Ausschluss Volltextanalyse: n = 106 Zielpopulation (n = 29) Auswertungsdesign (n = 16) Methodik (n = 1) Publikationstyp (n = 28) Erratum (n = 1, eingeschlossen Geeignet für Einschluss Geeignet für Einschluss ohne Zählung) in den Review: n = 31 in den Review: n = 37 Eingeschlossen In den Review eingeschlossene Veröffentlichungen n = 68 * Erläuterung: Filter 1, 2, 3 siehe Annex Tabelle 1 Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 10
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS Abbildung 2 Infektionen pro 100.000 EW Tote pro 100.000 EW Welle 1 Sommerplateau 2020 Welle 2 Welle 3 Anzahl der in den Review eingeschlossenen 500 25 Studien und Entwicklung der Covid-19-Pande- 400 20 mie in Deutschland nach Inzidenz und Toten pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner 300 15 Quelle: Meldungen von SARS-CoV2 Fällen 200 10 ans RKI, eigene Recherche 100 5 Anzahl Studien 40 30 20 10 MRZ H1 2020 MRZ H2 2020 APR H1 2020 APR H2 2020 MAI H1 2020 MAI H2 2020 JUN H1 2020 JUN H2 2020 JUL H1 2020 JUL H2 2020 AUG H1 2020 AUG H2 2020 SEP H1 2020 SEP H2 2020 OKT H1 2020 OKT H2 2020 NOV H1 2020 NOV H2 2020 DEZ H1 2020 DEZ H2 2020 JAN H1 2021 JAN H2 2021 FEB H1 2021 FEB H2 2021 MRZ H1 2021 MRZ H2 2021 APR H1 2021 APR H2 2021 MAI H1 2021 MAI H2 2021 JUN H1 2021 JUN H2 2021 JUL H1 2021 JUL H2 2021 Infektionen Tote EW = Einwohnerinnen und Einwohner Anmerkungen: Daten: RKI Meldestand 25.08.2021, eigene Recherche; eigene Berechnungen und Darstellung. Eingeschlossen wurden alle an das RKI gemeldeten Fälle mit den Altersangaben von 0 bis 120. Die Einteilung der Phasen erfolgte angelehnt an Schilling et al. [37] sowie Tolksdorf et al. [38] Eingeschlossene Publikationen Kategorie Studientyp Anzahl Studien bzw. Datenquellen Anzahl Publikationen Referenzen Gesamt 43 68 zzgl. Erratum [14, 16, 55 – 121] I Primärdatenerhebungen Gesamt 25 44 [14, 16, 55 – 97] A 6 16 [16, 55 – 69] B 2 5 [70 – 74] C 3 3 zzgl. Erratum [75 – 78] D 1 2 [79, 80] Tabelle 1 E 4 5 [81 – 85] Eingeschlossene Studien und Publikationen F 9 13 [14, 86 – 97] nach Kategorie und Studientyp II Routinedatenanalysen Quelle: Eigene Darstellung Gesamt 18 24 [98 – 121] Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 11
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS 3.3 Klassifizierung und Ergebnisse bezogen auf die 2018 unverändert [72, 73], nahm jedoch bis Anfang Juni Outcomes psychischer Gesundheit 2020 ab [73]. Eine Studie des Studientyps C berichtete auch für die (a) Indikatoren positiver psychischer Gesundheit Lebenszufriedenheit in den Monaten Mai und Juni 2020 Für Indikatoren positiver psychischer Gesundheit wurden eine Verringerung gegenüber 2019, die sich vor allem bei Ergebnisse zu Lebenszufriedenheit, Wohlbefinden und Frauen, Personen mit minderjährigen Kindern sowie mit Resilienz aus insgesamt acht Studien in 16 Publikationen niedriger Bildung zeigte [78]. berichtet (Annex Tabelle 3, Tabelle 4). Die Messung erfolg- Arbeiten des Studientyps F berichteten ausschließlich te sowohl mit Einzelitems als auch mit standardisierten von Rückgängen in der Lebenszufriedenheit im April bezie- Inventaren. Bis auf Studientyp D liegen für diese Indikato- hungsweise Mai 2020 [97], im Wohlbefinden in den ersten ren aus allen Studientypen Ergebnisse vor. Aprilwochen [95] und für beide Indikatoren seit Oktober Trotz zunehmender Belastung Für die ersten Pandemiemonate wurden auf Basis von 2020 gegenüber früheren Monaten in der Pandemie [86]. zeigten die Ergebnisse in der Studientyp A bis Juli 2020 gegenüber den Vorjahren eine Eine intraindividuelle Verringerung von Lebenszufrieden- Tendenz eine relativ stabile stabile Lebenszufriedenheit [16, 62] sowie ein stabiles Wohl- heit sowie positiven und negativen Affekten wurde zudem psychische Gesundheit der befinden [16, 56, 65, 67] berichtet. Eine spätere Erhebung von März bis Mai 2020 aus dem Studientyp E bei Erwerbs- zeigte für Januar und Februar 2021 eine nunmehr reduzierte tätigen in Vollzeit konstatiert [84]. erwachsenen Bevölkerung. Lebenszufriedenheit [63, 64] sowie ein leicht verringertes Wohlbefinden [63, 64]. Hinter den in den ersten Pandemie- (b) Indikatoren psychischer Belastung monaten stabilen Mittelwerten der Gesamtgruppe verbar- Die Messung der zu den Indikatoren psychischer Belas- gen sich jedoch gegenläufige Entwicklungen in Subgrup- tung (Annex Tabelle 4) gezählten Gefühle von Ängstlich- pen: Die Lebenszufriedenheit nahm bei Personen mit keit oder Niedergeschlagenheit erfolgte vorwiegend mit niedrigem Einkommen oder niedriger Bildung zu, jedoch Einzelitems aus standardisierten Instrumenten. Ergebnisse bei Selbständigen [66] sowie Personen mit hoher Bildung wurden in sechs Publikationen aus drei Studien berichtet. beziehungsweise hohem Einkommen [65] und insbeson- Unmittelbar auf COVID-19-bezogene Ängste und Belas- dere bei Frauen [67] auch im weiteren Pandemieverlauf [63, tungen wurden sowohl mit Einzelfragen als auch standar- 64] ab. Das Wohlbefinden nahm bei Alleinlebenden zu, war disierten Instrumenten gemessen und aus drei Studien bei Paaren ohne Kinder und Alleinerziehenden unverändert mit vier Publikationen berichtet. Situative Belastung und und reduzierte sich bei Paaren mit Kindern [62]. psychosozialer Stress wurden vor allem mit standardisier- Vergleichbar damit berichteten Arbeiten des Studien- ten Instrumenten erhoben und in insgesamt 13 Publikati- typs B eine durchweg stabile Lebenszufriedenheit von onen aus acht Studien berichtet. Anfang März 2020 bis Mitte Juli 2021 [74]. Zu Beginn der In den Studientypen A und B zeigte sich übereinstim- Pandemie war die Resilienz verglichen mit Werten aus mend eine erhöhte Ängstlichkeit zu Pandemiebeginn, die Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 12
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS sich im Laufe des Aprils 2020 in allen Bevölkerungsgruppen Pandemie verstärkende psychische Belastung aus. Für April reduzierte [61, 72] und anschließend bis März 2021 [72] bezie- bis Mai 2020 wurde eine erhöhte Ängstlichkeit [97] sowie hungsweise Juli 2021 [59, 60] stabil blieb. Bei Niedergeschla- von COVID-19-spezifischen Ängsten mit anschließendem genheit stagnierte das zu Pandemiebeginn leicht erhöhte Rückgang unter das Ausgangsniveau [93, 94] und für Dis- Niveau [74, 97] bis Ende April 2020 und stieg bis März 2021 tress ein kontinuierlicher Anstieg [14] berichtet. Die Stress- in der jüngsten Altersgruppe weiter an [74]. Während sich belastung wurde für April als moderat [95] beziehungsweise im Studientyp A in der Region Mannheim keine erhöhte psy- für die ersten Monate der Pandemie als sehr hoch [91, 92, chosoziale Belastung für Mai 2020 fand [56], war diese im 94] eingeschätzt, die bis Juli auf stabil hohem Niveau blieb Studientyp B im März 2020 erhöht [74] und veränderte sich [94] beziehungsweise bis September kontinuierlich anstieg im zeitlichen Verlauf: Bis September 2020 reduzierte sich [14]. Für die jeweils ersten 20 Tage des Lockdowns im April die Ängstlichkeit, stieg bis Ende April 2021 (insbesondere beziehungsweise November 2020 wurde die Belastung Über die Zeit stabile Werte bei jungen Erwachsenen) an und reduzierte sich seit Mai unverändert hoch angegeben [90]. in der Gesamtgruppe 2021 wieder [74]. Eine andere Studie des Typs B zeigte im waren zum Teil durch Februar 2021 erhöhte Belastungswerte gegenüber den Som- (c) Indikatoren einer akuten Symptomatik einer gegensätzliche Trends mermonaten 2020 [70, 71]. psychischen Störung Einen Anstieg des Stresserlebens gaben auch Eltern min- Von insgesamt 25 Primärdatenerhebungen setzten 18 Stu- in Subgruppen bedingt. derjähriger Kinder im Studientyp C für den Zeitpunkt der bis- dien standardisierte Screeninginstrumente zur Messung her höchsten Belastung gegenüber Januar 2020 an [76, 77]. einer akuten Symptomatik einer psychischen Störung ein. Längsschnittlich wurde aus Studientyp D für Mai 2020 Ergebnisse wurden in 31 Publikationen berichtet (Annex eine Zunahme der psychosozialen Belastung in allen Alters- Tabelle 3, Tabelle 4). Neben einem Screening allgemeiner gruppen gemessen. Diese war stärker in Regionen mit psychopathologischer Symptome wurde der Fokus in ers- höherer Inzidenz und bei auf COVID-19 positiv getesteten ter Linie auf depressive Symptomatik und Angstsympto- Personen [80]. Dahingehend reduzierten sich in einer Stich- matik gelegt. probe gesunder Erwachsener im Studientyp E intra-indivi- Aus dem Studientyp A wurden entweder keine Verän- duell Alltagsbelastungen zwischen Ende März und Mitte derungen oder Rückgänge in der psychopathologischen Mai 2020 [81, 83]. Auf Gruppenebene fand sich in einer Symptomatik gegenüber Vergleichszeiträumen vor der Pan- anderen Studie dieses Typs ein Rückgang COVID-19-spe- demie berichtet, abgesehen von einem Befund mit höhe- zifischer Ängste von März bis Juni 2020, während längs- ren Mittelwerten in depressiver und Angstsymptomatik im schnittlich bei etwa 10 % der Stichprobe ein Anstieg fest- Mai bis Juni 2020 gegenüber den gleichen Monaten in 2018 gestellt wurde [82]. [55]. Bundesweit blieb die depressive Symptomatik in den Befunde des Studientyps F wiesen für fast alle berich- Monaten nach dem Ausbruchsgeschehen gegenüber den teten Indikatoren eine erhöhte und sich im Laufe der Monaten davor unverändert [57, 58]. Auch in der Region Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 13
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS Mannheim wurde kein Unterschied zu 2018 in der depres- Anteile derjenigen mit aktueller depressiver Symptomatik siven und Angstsymptomatik sowie der Symptomatik einer oder einer generalisierten Angststörung höher als zwei bis somatoformen Störung detektiert [56]. Eine Studie mit zwei sieben Jahre zuvor in der Ausgangsstichprobe [79, 80]. Befragungszeiträumen während der Pandemie (April bis Juni Längsschnittlich nahm die Symptomatik bei Personen im 2020 [16, 65, 67] und Januar bis Februar 2021 [63, 64]) zeigte Altersbereich 18 – 60 Jahre zu, nicht jedoch bei Älteren zwar einen Anstieg von depressiven und Angstsymptomen (ebd.). Dieser intra-individuelle Anstieg zeigte sich am deut- gegenüber 2019, vor allem auf der Ebene von inzidenten lichsten in der jüngsten Altersgruppe (20 – 39 Jahre) sowie Einzelsymptomen [68]. Der gegenüber 2019 signifikant in Regionen mit hohem Infektionsgeschehen und bei Per- höhere Wert entsprach jedoch den Ergebnissen aus 2016 sonen mit einer Testung auf COVID-19 (ebd.). [16, 65, 67]. Mit Blick auf Einzelsymptome wurde für den In Trendauswertungen des Studientyps E fand sich ersten Lockdown 2020 gegenüber dem Vergleichszeitraum eine reduzierte psychopathologische Symptomatik von Die systematische in 2019 ein Rückgang von Müdigkeit/Energiemangel sowie Ende März bis Mitte Mai 2020 gegenüber dem letzten Surveillance psychischer von Konzentrationsschwierigkeiten beschrieben [57, 58]. Messzeitpunkt vor der Pandemie [81, 83], unveränderte Gesundheit ist für Bei zweiwöchentlicher Erhebung wurde im Verlauf der Pan- Psychopathologie in der ersten Lockdownwoche im März ein evidenzbasiertes demie von März bis Juli 2020 ein Rückgang auch im Mit- gegenüber Februar 2020 [85] sowie ein Rückgang der telwert der depressiven Symptomatik in allen Bevölkerungs- depressiven Symptomatik und der generalisierten Angst- Krisenmanagement gruppen beobachtet [59]. Rückgänge wurden zudem für symptomatik im Verlauf von April bis Juni 2020 [82]. Trotz während und nach der psychopathologische Symptome ab Mitte März gegenüber der Befunde, wies die Analyse intra-individueller Verän- COVID-19-Pandemie dem Monat davor beschrieben (außer bei Älteren und bei derung übereinstimmend auf eine Gruppe von etwa 8 % erforderlich. Personen mit niedrigem Einkommen) [69]. [83] bis 10 % [82, 85] der Studienteilnehmenden hin, bei Ergebnisse aus dem Studientyp C basieren auf Verglei- denen im Pandemieverlauf ein Anstieg der psychischen chen mit Normierungsstichproben der jeweiligen Inventare Symptomatik verzeichnet wurde, im Schweregrad depres- und wiesen für Personen über 65 Jahre für April 2020 keine siver Symptome sogar bei 25 % [82]. Bei einer anderen Veränderungen in psychopathologischen Symptomen Gruppe von 8 % bis 9 % entwickelte sich eine zunächst gegenüber 2018 auf [75], während sich in der Gruppe von erhöhte psychische Symptomatik, die sich innerhalb weni- Eltern minderjähriger Kinder ein leichter Anstieg sowohl ger Wochen wieder reduzierte [81, 83, 85]. Ein Großteil für die depressive als auch für die Angstsymptomatik berichtete jedoch eine stabile und teilweise sogar verbes- (retrospektiv eingeschätzt für den Zeitpunkt der subjektiv serte psychische Gesundheit (ebd.). höchsten Belastung) gegenüber 2010 finden ließ [76, 77]. Aus dem Studientyp F wurden fast ausschließlich In der Trendauswertung einer Längsschnittstudie des erhöhte Werte psychopathologischer Symptomatik berich- Studientyps D, das heißt beim Vergleich der Erhebungs- tet. Mitte März bis Mitte April 2020 waren die Mittelwerte zeitpunkte auf Gruppenebene, waren im Mai 2020 die für depressive und Angstsymptome in zwei Stichproben Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 14
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS gegenüber Referenzstichproben vor der Pandemie deutlich Datenquellen berichtet. Ausgewertet wurden verschiedene erhöht und wurden als Hinweis auf einen möglichen Kennwerte der Inanspruchnahme eines Krisendienstes Anstieg [89] beziehungsweise als Ausdruck psychischer (zwei Publikationen aus einer Datenquelle), der ambulan- Belastung [95] interpretiert. Die Häufigkeit einer depressi- ten Versorgung psychischer Störungen (drei Publikationen ven Symptomatik wurde in mehreren Studien im Zeitraum aus zwei Datenquellen), des Arbeitsunfähigkeitsgesche- von März bis Juni 2020 [87, 88, 90–92, 94, 96] zwischen hens aufgrund psychischer Störungen (neun Publikationen 14 % und über 35 % der Teilnehmenden berichtet und über- aus sechs Datenquellen), der stationären Versorgung psy- einstimmend als starker Anstieg in der Bevölkerung [88, chischer Störungen (sieben Publikationen aus sechs Daten- 90–92, 94, 96] beziehungsweise als einen Hinweis darauf quellen) und der Mortalität im Kontext psychischer Störun- [87] interpretiert. Das Niveau wurde als bis Ende Juli 2020 gen (drei Publikationen aus drei Datenquellen). stabil erhöht beschrieben [94] und ein weiterer Anstieg im Eine Zunahme zeigte die Inanspruchnahme des Krisen- November 2020 beobachtet [90]. Ein vergleichbarer star- dienstes TelefonSeelsorge Ende März 2020, die in den fol- ker Anstieg wurde zu Pandemiebeginn für die Symptoma- genden Wochen wieder rückläufig war [117, 118]. Sie betraf tik der generalisierten Angststörung mit einer relativen besonders Beratungsthemen des Spektrums Gesundheit, Häufigkeit von etwa 15 bis 20 % der Teilnehmenden [88, Beziehungen und Gewalt und fiel in Bundesländern mit strik- 90–94, 96] beschrieben. Unmittelbar danach fiel die Sym- teren Maßnahmen des Infektionsschutzes höher aus [118]. ptomatik zwar wieder leicht ab, blieb jedoch im weiteren In der ambulanten Versorgung psychischer Störungen Pandemieverlauf bis Ende Juli [90] beziehungsweise im wurde ein Anstieg hausärztlicher Erstdiagnosen von Angst- zweiten Lockdown im November 2020 [94] auf erhöhtem störungen im Zeitraum März bis Juni 2020 berichtet, der Niveau. Die Werte wurden als bis zu achtfach erhöhte vermehrt Personen im Alter über 30 Jahre sowie mit Diag Anteile gegenüber 2013 [93] beziehungsweise zwei- bis nose von Asthma und COPD betraf [106]. Ein Rückgang zehnfach erhöhte generalisierte Angst gegenüber Referenz- wurde dagegen für ambulante Erstdiagnosen von Depres- stichproben aus 2008 und 2017 [94] in der Bevölkerung sion bei Personen im Alter ≥ 65 Jahre berichtet, bei denen während der Pandemie interpretiert. Im gleichen Zeitraum auch Arztkontakte, Überweisungen und Krankenhausein- fanden sich erhöhte Stichprobenanteile mit der Sympto- weisungen von psychiatrischen beziehungsweise neuro- matik einer Panikstörung [88, 96] oder einer Zwangsstö- logischen Praxen rückläufig waren [107]. Schwankungen rung [96] gegenüber Prävalenzen aus 2012 beziehungs- zeigten sich bei der Zahl der Behandlungsfälle bei ärzt weise 2013. lichen und psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Fachärztinnen und -ärzten für Psycho- (d) Indikatoren von Versorgungsgeschehen und Mortalität somatische Medizin und Psychotherapie. Diese sank von Ergebnisse zu Indikatoren des Versorgungsgeschehens Mitte März bis Ende Mai sowie von November bis Ende und der Mortalität wurden in 24 Publikationen aus 18 des Jahres 2020 unter das Vorjahresniveau [121]. Im Juni Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 15
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS 2020 zeigte sich nur in diesen beiden Arztgruppen ein Klinikverbund berichtete einen Rückgang teilstationärer deutlicher Zuwachs. Rückgänge waren auch zu verzeich- und stationärer Aufnahmen von Mitte März bis Ende Mai nen bei psychotherapeutischen Einzel- und Gruppenthe- 2020 [102], der verschiedene Hauptdiagnosegruppen unter- rapien sowie Substitutionstherapie bei Drogenabhängig- schiedlich stark betraf. Zugleich sank die Verweildauer sta- keit, die ab Mitte März 2020 durchgängig unter dem tionärer Fälle mit F-Diagnose in einem weiteren Klinikver- Niveau von 2019 blieb [121]. bund erheblich ab [111]. Für psychiatrische Notfälle zeigte Entwicklungen der Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychi- sich im Zeitraum von Pandemiebeginn bis Ende Mai ein scher Störungen (AU) unterschieden sich zwischen den Rückgang der Vorstellungen [111, 113, 114], nur eine Klinik Krankenkassen. Einen Rückgang des Krankenstandes beob- fand keine Veränderung der absoluten Anzahl psychiatri- achteten BARMER [101] und BKK [103] in den ersten Mona- scher Notfälle [112]. Zugleich wurde eine Zunahme wieder- ten der Pandemie. DAK [104] und AOK [99] fanden eine holter Vorstellungen aufgrund psychiatrischer Notfälle und Abnahme der AU-Fälle im Jahr 2020. Einen Anstieg regis- Veränderungen in Diagnosespektrum und psychopatholo- trierte dagegen die KKH bei den AU-Fällen im ersten Halb- gischem Befund beobachtet, wobei häufiger formale Denk- jahr 2020 [108] und die TK bei AU-Tagen 2020 [119, 120]. störungen, Hoffnungslosigkeit und sozialer Rückzug doku- Auch bei der BKK stieg der Krankenstand im November mentiert wurden, während die Suizidalität unverändert 2020 sowie Anfang 2021 wieder an [103]. Die Falldauer blieb [114]. Unter psychiatrischen Notfällen [114] und psy- nahm laut KKH in 2020 insgesamt zu [109, 110], wobei chiatrischen Konsilen [112], bei denen ein inhaltlicher gemäß DAK kurze Arbeitsunfähigkeitsfälle 2020 abnahmen, Zusammenhang der Beschwerden mit der COVID-19-Pan- während Fälle mit Dauer über sechs Wochen zunahmen demie festgestellt wurde, war der Anteil an Personen mit [104]. Die DAK berichtete für das Jahr 2020 Verschiebun- Suizidversuchen erhöht, gegenüber Fällen ohne Bezug zur gen im Spektrum der AU-begründenden Diagnosen mit COVID-19-Pandemie. Zuwächsen bei Angststörungen, Reaktionen auf schwere Hinweise auf die Veränderung der Sterblichkeit im Kon- Belastungen und Anpassungsstörungen [104]. text psychischer Störungen zeigen sich für die Zahl der Im Bereich der stationären Versorgung von psychischen Todesfälle aufgrund von Rauschgiftkonsum, die 2020 bun- Störungen zeigten sich Rückgänge beim Umfang und Ver- desweit höher lag als 2019 [105]. Dagegen lassen sich für schiebungen in klinischen Merkmalen: Bei AOK-Versicher- Suizidraten der Stadt Leipzig weder Unterschiede zwischen ten sank die Zahl stationärer Fälle in psychiatrischen, psy- verschiedenen Phasen der Infektionsschutzmaßnahmen chotherapeutischen und psychosomatischen Kliniken und (leichte vs. starke Restriktionen) noch zu den zeitlichen Abteilungen von März 2020 bis Februar 2021 unter das Entwicklungen der Vorjahre nachweisen [116]. Die bundes- Niveau von 2019 [100]. Von Mitte März bis Anfang April weiten Suizidraten zeigen in vorläufigen Auswertungen für 2020 fiel der Rückgang von F-Diagnosen im Vergleich zu das Jahr 2020 einen leichten Rückgang der Fälle gegenüber anderen Indikationen eher hoch aus [98]. Auch ein 2019 [115]. Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 16
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS 4. Diskussion die Allgemeinbevölkerung dar, auch wenn sie unter ande- rem wertvolle Hinweise durch die Analysen von Zusam- Vor dem Hintergrund einer umfangreichen und diversen menhängen oder vor allem auf intra-individuelle Verände- Studienlage soll der vorliegende Rapid Review eine zusam- rungen liefern können. Trotz ihrer hohen Sichtbarkeit im menfassende Einschätzung der Entwicklung der psychi- wissenschaftlichen Diskurs, durch eine anteilig hohe Anzahl schen Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in an Publikationen, sollten diese Ergebnisse in den For- Deutschland während der COVID-19-Pandemie ermög schungsstand aus weniger verzerrungsanfälliger Studien lichen. Dafür wurden mit Stand 30.07.2021 68 relevante eingeordnet und vorsichtig interpretiert werden. Routine- Publikationen identifiziert und in den Review eingeschlos- datenanalysen werteten im Vergleich zu Primärdatenerhe- sen. Die den Publikationen zugrundeliegende Datenbasis bungen eine ebenfalls hohe Zahl an Datenquellen aus, aus wurde hinsichtlich des Beobachtungszeitraums, der ange- der jedoch weitaus weniger Publikationen hervorgingen. wandten Forschungsmethodik zur Beantwortung der Fra- Aus dem breiten Themenspektrum psychischer Gesund- gestellung sowie der Inhalte klassifiziert. Auf Basis der heit wurden in den durchgeführten Studien vorrangig Indi- extrahierten zentralen Ergebnisse werden im Folgenden katoren einer aktuellen Symptomatik einer psychischen der Forschungsstand zusammenfassend charakterisiert Störung mittels validierter Screeninginventare operationa- und Forschungsbedarfe abgeleitet. lisiert. An zweiter und dritter Stelle standen Indikatoren Mit Blick auf den Beobachtungszeitraum bezog sich psychischer Belastung und positiver psychischer Gesund- die Datengrundlage von 65 % der eingeschlossenen Pub- heit. Standardisierte diagnostische Verfahren zur Ermitt- likationen auf die erste Infektionswelle und das Sommer- lung der Häufigkeit psychischer Störungen gemäß etablier- plateau 2020. Im Vergleich dazu ist der Informationsstand ter Klassifikationssysteme wurden von keiner Studie für die zweite und dritte Welle von Herbst 2020 bis Som- eingesetzt. Folglich kann insbesondere über die Entwick- mer 2021 etwas beziehungsweise erheblich begrenzter und lung der Häufigkeit psychischer Störungen bisher keine limitiert eine umfassende Bewertung des gesamten Pan- evidenzbasierte Aussage getroffen werden. demieverlaufs. Der Vergleich der Ergebnisse über alle Indikatoren hin- Zum aktuellen Zeitpunkt zeigt sich innerhalb der Primär weg weist auf Abhängigkeiten vom Studiendesign hin: datenerhebungen eine breite Streuung der eingesetzten Überwiegend gemischte Ergebnisse wurden aus den quer- Forschungsmethodik über die hier definierten Studienty- schnittlich angelegten Studientypen A, B und C berichtet, pen A bis F. Mehr als die Hälfte der durchgeführten Stu- die aufgrund einer repräsentativ angelegten Zufallsstich- dien und etwas weniger als die Hälfte daraus hervorgehen- probe als geeignetere Forschungsmethodik für eine ver- der Publikationen entfielen auf die Studientypen E und F. lässliche Schätzung für die Allgemeinbevölkerung einge- Diese stellen aufgrund nicht abschätzbarer Verzerrungen schätzt wurden. In der Tendenz zeigten mehr Ergebnisse der Ergebnisse keine verlässlichen Informationsquellen für in Richtung einer für den Untersuchungszeitraum eher Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 17
Journal of Health Monitoring Psychische Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie FOCUS resilienten erwachsenen Allgemeinbevölkerung mit relativ Zusammenfassend kann die aktuelle wissenschaftliche stabiler psychischer Gesundheit trotz zunehmender Belas- Evidenz als nicht eindeutig gewertet werden. Unter Berück- tung. Erste eingeschlossene Publikationen mit aktuellerer sichtigung der jeweils genutzten Studienmethodik sollten Datenerhebung wiesen auf eine Verschlechterung der daher insbesondere Aussagen einer dramatischen Ver- Lebenszufriedenheit ab dem Jahreswechsel 2020/2021 hin. schlechterung der psychischen Gesundheit der erwachse- Die Notwendigkeit einer sozial differenzierten Betrach- nen Bevölkerung während der COVID-19-Pandemie in tungsweise wurde durch Befunde verdeutlicht, die zeigen, Deutschland zugunsten einer differenzierteren Betrachtung dass einem stabilen Bevölkerungsmittelwert diametrale hinterfragt werden. Entwicklungen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu Vergleichbar damit berichteten erste systematische Über- Grunde liegen. Aus dem verzerrungsanfälligeren Studien- sichtsarbeiten auch für den internationalen Raum ein hetero- typ F mit Non-Probability-Stichproben wurden überwiegend genes Bild [31]. Neben deutlichen Anstiegen [24] sowie Rück- Ergebnisse einer negativen Entwicklung von psychischer gängen [27] von psychopathologischer Symptomatik zeich- Gesundheit und starken Zunahme von Belastungen berich- nete sich die Tendenz eines Anstiegs psychischer Gesund- tet. Diese Befunde sollten vor dem Hintergrund möglicher heitsprobleme zu Pandemiebeginn ab, der bereits nach eini- Selektionseffekte [42, 44, 45] gegenüber der Allgemein gen Wochen bis fast auf das Ausgangsniveau zurückging [30], bevölkerung jedoch vorsichtig als Hinweise für Verände- was mit den für Deutschland skizzierten Befunden aus den rungen in einzelnen Subgruppen interpretiert werden, die Studientypen A, B und C korrespondiert. Auch Ergebnisse genauer identifiziert werden müssen. In Längsschnittstu- gegenläufiger Trends in Subgruppen analog der Befunde aus dien des Typs D und E wurden sowohl intra-individuelle den Studientypen A und E wurden berichtet [122]. Eine umfas- Verschlechterung als auch Verbesserung psychischer sende Bewertung der internationalen Befundlage unter Gesundheit beobachtet. Auch hier deuteten longitudinale Berücksichtigung von Forschungsmethodik, regionalen Analysen darauf hin, dass über die Zeit stabile Werte in der Unterschieden im Pandemieverlauf sowie Besonderheiten Gesamtgruppe durch gegensätzliche Trends in Subgrup- vor dem Ausbruchsgeschehen steht jedoch noch aus. pen bedingt sein können. Ergebnisse auf Basis von Routine Eine psychische Reaktion von Menschen auf eine so tief- datenanalysen im Kontext psychischer Gesundheit zeigten greifende wie globale Krise wie die COVID-19-Pandemie ist überwiegend Rückgänge bei ambulanten und stationären im Rahmen eines angemessenen und gesunden Spektrums Fallzahlen beziehungsweise Leistungen, Zuwächse bei der von Erleben und Verhalten zu erwarten. Reduziertes Wohl- Inanspruchnahme eines Krisendienstes, gemischte Ergeb- befinden, erhöhte psychische Belastung oder zum Teil vor- nisse für die Entwicklung von ambulanten Diagnosen, übergehende (Einzel-) Symptome psychischer Störungen Arbeitsunfähigkeit und Sterblichkeit sowie Hinweise auf allein implizieren im Vergleich zu manifesten psychischen Verschiebungen im Diagnosespektrum und bei klinischen Störungen mit langfristigen Funktionseinschränkungen Merkmalen behandelter Fälle. noch keinen klinischen Behandlungsbedarf [31]. Da der Journal of Health Monitoring 2021 6(S7) 18
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