Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen

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Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
September 2021

    Die psychische Gesundheit von
    werdenden Eltern unterstützen
    Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
Impressum

Herausgeberin
Gesundheitsförderung Schweiz

Autorin
Dr. phil. Fabienne Forster, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin,
Lehrstuhl klinische Psychologie, Kinder/Jugendliche & Paare/Familien, Universität Zürich

Redaktion
Fabienne Amstad
Prof. Dr. Guy Bodenmann
Anja Nowacki
Marion Forel

Projektleitung
Anja Nowacki
Cornelia Waser

Adaption in französischer Sprache
Marion Forel

Begleitgruppen
Mit Dank für die Mitarbeit an die Fachpersonen aus den drei Sprachregionen, welche an der Entwicklung
dieses Textes mitgearbeitet haben (in alphabetischer Reihenfolge):
Emmanuelle Ancay, Dr. rer. nat. Margarete Bolten, Tamara Bonc-Brujevic, Andrea Borzatta, Dr. med.
Benedikt Bucher, Séverine Crelier, Prof. Dr. Joëlle Darwiche, Jessica De Bernardi, Dr. med. Irène
­Dingeldein, Francesca Dotti, Luzia Felber, Martina Flury Figini, Alexia Fournier Fall, PhD, Dr. med.
 Christine Fuchs, Barbara Giordano, Dr. med. Christian Henkel, Dr. med. Laurent Holzer, Barbara
 ­Imbach, Françoise Korneliussen, Dr. med. Josef Laimbacher, Diana Müller, Dr. med. Rachel Rauber,
  Martina Schmid, Manuela Vanolli, Dr. med. Sophie Venturelli Reyes Lozano, Sarah Wabnitz,
  Valentine Wisard

Fotonachweis
Titelbild, Seiten 10, 11, 14: AdobeStock
Seiten 7, 16, 24, 27: iStock

Auskünfte/Informationen
Gesundheitsförderung Schweiz, Wankdorfallee 5, CH-3014 Bern, Tel. +41 31 350 04 04,
office.bern@promotionsante.ch, www.gesundheitsfoerderung.ch

Originaltext
Deutsch

Bestellnummer
02.380.DE 09.2021

Diese Publikation ist auch in französischer und in italienischer Sprache erhältlich
­(Bestellnummern 02.380.FR 09.2021 und 02.380.IT 09.2021).

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www.gesundheitsfoerderung.ch/publikationen

© Gesundheitsförderung Schweiz, September 2021
Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern 3

Inhaltsverzeichnis
1	Einleitung                                                                                                   4
   1.1	Wozu dienen diese Informationen und Empfehlungen?                                                       4
   1.2	Was versteht man unter ­psychischer Gesundheit?                                                         5
   1.3	Weshalb ist die psychische ­Gesundheit auch relevant für Sie als Fachperson?                            6

2	Wie kann die psychische ­Gesundheit gefördert werden?                                                        7

3	Schutzfaktoren für die psychische Gesundheit                                                                 8
   3.1 Individuelle Schutzfaktoren                                                                              8
   3.2 Soziale Schutzfaktoren                                                                                   9
   3.3 Umweltbezogene Schutzfaktoren                                                                           10

4	Risikofaktoren für die psychische Gesundheit                                                                12
   4.1 Individuelle Risikofaktoren                                                                             12
   4.2 Soziale Risikofaktoren                                                                                  14
   4.3 Umweltbezogene Risikofaktoren                                                                           15

5	Mit Eltern über die psychische ­Gesundheit sprechen                                                         16
   5.1 Erkennen, wie es um die psychische Gesundheit eines Elternteils steht                                   16
   5.2 Erfassung von Schutz- und Risikofaktoren im persönlichen Gespräch                                       18

6   Das Wichtigste für Ihren Praxisalltag                                                                      19
    10 Empfehlungen für Fachpersonen zur Förderung von Schutzfaktoren                                          19
    10 Empfehlungen für Fachpersonen zum Umgang mit Risikofaktoren                                             21
    10 Tipps für Eltern                                                                                        23

7	Angebote und Anlaufstellen                                                                                  24

8	Literaturempfehlungen                                                                                       25

9	Hinweis zur Entwicklung und zu den Quellen                                                                  26

Darstellungsverzeichnis

Abbildung 1 Psychische Gesundheit als Zusammenspiel aus Risiko- und Schutzfaktoren                              4
Abbildung 2 Einige wichtige Schutzfaktoren für die psychische G­ esundheit                                      8
Abbildung 3 Einige wichtige Risikofaktoren für die psychische G
                                                              ­ esundheit                                      12
Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
4   Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern

1 Einleitung
1.1	Wozu dienen diese Informationen                          Diese Informationen und Empfehlungen richten den
     und Empfehlungen?                                        Fokus auf die psychische Gesundheit von Eltern
                                                              während der Schwangerschaft und bis ein Jahr nach
Als Fachperson, welche Menschen in die Eltern-                der Geburt. Sie beschreiben, weshalb auch Sie die
schaft begleitet, wissen Sie, dass Elternwerden               psychische Gesundheit im Kontakt mit Vätern und
eine Herausforderung mit Höhen und Tiefen ist.                Müttern zum Thema machen sollten. Zur Förderung
Damit Sie werdende Mütter und Väter im Eltern­                der psychischen Gesundheit werden in diesen Infor-
werden gut unterstützen können, ist es wichtig, ihre          mationen wichtige Schutz- und Risikofaktoren dar-
psychische Gesundheit zu berücksichtigen und zu               gestellt und daraus praktische Implikationen für Sie
fördern.                                                      als Fachperson abgeleitet. Abgerundet werden die
                                                              Empfehlungen durch Tipps für Eltern, Adressen von
                                                              Anlaufstellen und Literaturhinweise, die Sie Müt-
    Für uns alle ist die psychische Gesundheit
                                                              tern und Vätern mit auf den Weg geben können. Ziel
    wichtig, denn sie …
                                                              dieser Empfehlungen ist es, dass alle Fachperso-
    • ist die Grundlage, um sich um sich selbst               nen, die werdende Mütter und Väter beraten und
     und andere zu kümmern,                                   ­betreuen, wissen, wie sie gemeinsam und vernetzt
    • hängt mit einer besseren physischen                      zur psychischen Gesundheit von Eltern beitragen
     ­Gesundheit zusammen,                                     können.
    • wirkt sich positiv auf die Entwicklung
     von Kindern aus,
    • trägt zu konstruktiven Partnerschaften
     und sozialer Integration bei.

ABBILDUNG 1

Psychische Gesundheit als Zusammenspiel aus Risiko- und Schutzfaktoren

                  Risikofaktoren

                                                                    ndheit
                                                 Ps ychische Gesu

                                                                                        Schutzfaktoren
Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern 5

1.2	Was versteht man unter                               «Eines Tages traf ich eine Mutter, die schrecklich
     ­psychischer Gesundheit?                             aussah. Sie sagte mir, dass die Ankunft ihres
                                                          ­Kindes das grösste Geschenk der Welt sei und
«Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohl-           dass sie sehr glücklich sei, sich jeden Tag um
befindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten aus-        es zu kümmern. Ich sagte ihr, dass es für mich,
schöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewäl-            als meine Kinder klein waren, sehr schwer
tigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer       war. Ich war oft deprimiert und hilflos. An man­-
Gemeinschaft leisten kann» (WHO, 2019). Wie wir            chen Tagen war ich am Ende meiner Kräfte,
alle, brauchen auch Eltern eine gute psychische Ge-        weil ich so erschöpft war. Da lief dieser Mutter
sundheit, um sich um sich selbst und andere küm-           eine Träne über das Gesicht. Dann erlaubte sie
mern zu können. Gerade im Übergang zur Eltern-             sich, von ­ihrem eigenen Leiden zu erzählen.»
schaft kommt der psychischen Gesundheit von               Séverine Crelier, Sozialpädagogin, Leiterin einer AEMO
Müttern und Vätern grosse Bedeutung zu, da sie
eine wichtige Grundlage dafür darstellt, dass sich        Es ist bekannt, dass die psychische und die physi-
das Neugeborene gesund entwickeln kann. Umge-             sche Gesundheit eng zusammenhängen. Deshalb
kehrt können Beeinträchtigungen der psychischen           leisten Fachpersonen durch die Unterstützung der
Gesundheit in der Schwangerschaft und nach der            psychischen Gesundheit von Eltern auch einen Bei-
Geburt die Entwicklung des Kindes sowie der gan-          trag zu deren physischer Gesundheit – und umge-
zen Familie negativ beeinflussen.                         kehrt.

  Psychische Gesundheit ist ein Zustand                      Psychische Störungen sind Belastungen
  des Wohlbefindens:                                         in schwererem Ausmass

  • das Gefühl, Lebensbelastungen bewältigen                 • Alle Menschen erleben hin und wieder,
    zu können,                                                 dass ihre psychische Gesundheit im Un-
  • der Eindruck, dass man eigene Fähigkeiten                  gleichgewicht ist.
    ausschöpfen kann,                                        • Bei psychischen Störungen ist das Erleben
  • die Möglichkeit, produktiv arbeiten und                    und Verhalten unwillkürlich, überdurch-
    sich beteiligen zu können,                                 schnittlich und über längere Zeit gestört.
  • die Empfindung, einer Gemeinschaft                       • Psychische Störungen zeigen sich als
    ­zuzugehören, zu der man beitragen kann.                   ­be­lastende Gedanken, Gefühle, Verhaltens-
                                                               weisen und Beziehungen zu anderen.
                                                             • Die Hälfte aller Menschen erlebt mindes-
Wenn die psychische Gesundheit in einem Ausmass                 tens einmal im Leben eine psychische
beeinträchtigt ist, dass eine Person über einen ge-             ­Störung.
wissen Zeitraum überdurchschnittlich belastet ist            • Im Übergang zur Elternschaft ist etwa jede
und dadurch persönliches Leiden und Einschrän-                   fünfte Mutter und jeder siebte Vater
kungen entstehen, dann spricht man von psychi-                   von einer psychischen Störung betroffen.
schen Störungen. Psychische Störungen stellen
häufig belastende Gedanken, Emotionen, Verhal-
tensweisen und Beziehungen zu anderen dar, die zu         Eltern in ihrer psychischen Gesundheit zu unter-
einem beeinträchtigenden und subjektiv belasten-          stützen kann massgeblich dazu beitragen, dass sie
den Zustand führen. Dieser Zustand kann in seiner         ihre Fähigkeiten ausschöpfen können, Belastungen
Dauer und Schwere variieren. Beispiele für psychi-        zu bewältigen, produktiv zu arbeiten und einen Bei-
sche Störungen sind Depressionen, Angststörun-            trag zu ihrer Gemeinschaft zu leisten. Eine gute
gen, Suchterkrankungen, Demenz und Psychosen.             ­psychische Gesundheit kann sich positiv darauf aus-
Psychische Störungen gehören zu den häufigsten             wirken, dass Eltern sensitiv auf ihre Kinder einge-
Erkrankungen weltweit. Für die Entwicklung von             hen. Das psychische Wohlbefinden von Eltern trägt
psychischen Störungen gibt es vielseitige Ursachen         zu einer konstruktiven Partnerschaft und sozialer
inner- und ausserhalb einer Person, die dynamisch          Integration bei, was wiederum zentrale Schutzfak-
miteinander agieren.                                       toren für die psychische Gesundheit sind.
Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
6   Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern

1.3	Weshalb ist die psychische                               Die Forschung zeigt, dass das psychische Wohl­
     ­Gesundheit auch relevant für                            befinden erhöht und die Versorgung verbessert wer-
      Sie als Fachperson?                                     den kann, wenn nichtpsychologische/-psychiatrische
                                                              Fachpersonen, wie Hebammen, medizinisches Per-
Bei über der Hälfte der Eltern nimmt das psychische           sonal oder Beratende, mit Eltern über deren psy­
Wohlbefinden deutlich ab nach der Geburt. Psychi-             chisches Wohlbefinden oder deren psychische Stö-
sche Störungen gehören zu den häufigsten Gesund-              rungen sprechen. Gerade bei diesen Fachpersonen
heitskomplikationen im Übergang zur Elternschaft.             besteht hier eine besondere Chance, da Eltern
Internationale Studien zeigen, dass jede fünfte Frau          ­bereits eine Vertrauensbeziehung zu ihnen aufge-
(ca. 20 %) und jeder siebte Mann (ca. 15 %) eine psy-          baut haben, ­regelmässige Kontakte bestehen und
chische Störung im Übergang zur Elternschaft ent-              das Thema niederschwellig besprochen werden
wickelt. In Anbetracht dessen, dass die Mehrzahl               kann. Gesundheitsförderung Schweiz möchte Sie
aller Personen in der Schweiz Eltern werden (ca.               mit diesen Empfehlungen darin unterstützen, die
70 %), stellt das eine grosse Anzahl psychisch belas-          psychische Gesundheit von werdenden Eltern zu
teter Menschen dar. Auf der anderen Seite lohnt sich           fördern.
die Aufrechterhaltung und Förderung der psychi-
schen Gesundheit, denn sie ist eine wichtige Voraus-           «Wenn ich von meiner Hebamme, meiner
setzung, dass sich Familien entfalten und gesund               Gynäkologin oder meiner Hausärztin jemals
entwickeln können.                                             ­einen Fragebogen zur psychischen Gesund-
                                                                heit erhalten hätte, wäre ich vermutlich nie so
«Ich wäre froh gewesen, wenn ich schon viel ­                   tief in die Krise nach der Geburt gerutscht
früher gewusst hätte, dass mein Zustand einen                   und hätte nicht erst auf der Mutter-Kind-Station
Namen hat und es Hilfe gibt. Dann hätte ich                     von meiner Diagnose Postpartale Depression
nicht so lange im Stillen gelitten.»                          ­erfahren.»
Annika Redlich, ehemalige Betroffene und Leiterin der         Annika Redlich, ehemalige Betroffene und Leiterin
­Geschäftsstelle des Vereins Postpartale Depression Schweiz   der G
                                                                  ­ eschäftsstelle des Vereins Postpartale Depression
                                                              Schweiz

Trotz dieser hohen Relevanz der psychischen Ge-
sundheit wird sie im Kontakt mit Eltern häufig ver-
                                                                 Es lohnt sich, früh hinzuschauen
nachlässigt. Viele nichtpsychologische/-psychiatri-
sche Fachpersonen sprechen das Thema psychische                  • Frühzeitig erkannte Belastungen können
Gesundheit nicht an. Als Gründe dafür kommen zum                   gezielt angegangen und präventiv verändert
Beispiel Unwohlsein mit dem Thema, die Angst,                      werden.
dem Gegenüber zu nah zu treten, oder die Einstel-                • Auch nicht krankheitswertige Störungen
lung, für die psychische Gesundheit nicht verant-                  des Erlebens und Verhaltens können
wortlich zu sein, infrage. Diese Hürden sind ver-                  ­belastend sein.
ständlich, jedoch hat die Forschung klar gezeigt,                • Leichte Störungen können Vorboten für
dass sich ­Eltern wünschen, auch auf ihre psychische                schwerere Störungen sein.
Gesundheit angesprochen zu werden.                               • Belastungen erhöhen die Wahrschein-
                                                                    lichkeit für weitere Störungen – auch im
«Ich frage bei jedem Erstgespräch, wie es der                       Umfeld.
Mutter oder dem Vater in ihrer neuen Rolle geht                  • Väter und Mütter in ihrer psychischen
(psychisch und physisch) und wie sie den Über-                      ­Gesundheit zu unterstützen, kann mass­
gang von der Partnerschaft zur Elternschaft erlebt                   geblich zur physischen und psychischen
haben.»                                                              ­Gesundheit der ganzen Familie beitragen.
Vera Tomaschett, Mütter- und Väterberaterin HF
Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern 7

2 Wie kann die psychische
   ­Gesundheit gefördert werden?
Die psychische Gesundheit wird sowohl von indivi-        Kontext sowie Praktiken der Sozial- und Wirtschafts-
duellen als auch von sozialen und Umweltfaktoren         politik. Diese drei Faktoren können so gestaltet sein,
beeinflusst. Zu den individuellen Faktoren gehören       dass sie der psychischen Gesundheit zuträglich sind
biologische und genetische Eigenschaften ebenso          (Schutzfaktoren) oder die psychische Gesundheit
wie kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten        gefährden (Risikofaktoren). Zur Förderung der psy-
und das Verhalten einer Person. Die sozialen Fak­        chischen Gesundheit kann sowohl bei den Schutz-
toren stellen die Lebens-, Bildungs- und Arbeits­        faktoren als auch bei den Risikofaktoren angesetzt
verhältnisse sowie die Lebensgestaltungsmöglich-         werden. Im Folgenden werden häufige Risiko- und
keiten einer Person dar. Zu den Umweltfaktoren           Schutzfaktoren für die psychische Gesundheit von
gehören das Sozial- und Gesundheitssystem, Be-           Eltern dargestellt sowie Implikationen daraus für
treuungs- und Bildungseinrichtungen, der kulturelle      Fachpersonen erläutert.
Die psychische Gesundheit von werdenden Eltern unterstützen - Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen
8   Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern

3 Schutzfaktoren für die
   psychische Gesundheit
3.1 Individuelle Schutzfaktoren                                 aller­meisten anderen Fähigkeiten erworben werden
                                                                können. Alle Menschen verfügen zur Bewältigung
Bei vielen Menschen existiert der Mythos, dass El-              von Herausforderungen bereits über einen Ruck-
ternsein eine Fähigkeit sei, die intuitiv ab Geburt             sack mit Ressourcen, zum Beispiel können sie auf
vorhanden ist. Dabei erfordert Elternsein eine gan-             Persönlichkeitseigenschaften wie Optimismus, Offen­
ze Reihe neuer Fähigkeiten, von denen einige erst               heit für Neues oder Flexibilität zurückgreifen oder auf
einmal gelernt werden müssen. Lernen braucht                    ­Fähigkeiten, die ihnen bereits in der Vergangenheit
Zeit, Energie und ist ein Prozess, bei dem Fehlerma­             beim Bewältigen von Herausforderungen geholfen
chen dazugehört. Die gute Nachricht ist, dass Eltern             haben, zum Beispiel aktive Problembewäl­tigung,
schon viele Fähigkeiten mitbringen und dass die                 Kommunikationsfähigkeit oder Humor.

ABBILDUNG 2

Einige wichtige Schutzfaktoren für die psychische ­Gesundheit

                                                         Individuell

                                                  • Stabile Persönlichkeit
                                                  • Offenheit und Flexibilität
                                                  • Humor und Optimismus
                                                  • Angenehme Aktivitäten
                                                  • Kommunikationsfähigkeit
                                                  • Bewegung
                                                  • Entspannung
                                                  • Genuss
                                                  • usw.

                            • Finanzielle Sicherheit                     • Gute Einbettung
                            • Tragfähiges Sozialsystem                   • Integration in eine
                            • Vernetztes, supportives,                     Gemeinschaft
      Umwelt                  kompetentes Gesund­                        • Unterstützendes Umfeld         Sozial
                              heitssystem                                • Tragfähige Partnerschaft
                            • Qualitative, bezahlbare                    • Gutes Verhältnis zu
                              Betreuungsangebote                           Grosseltern oder
                            • usw.                                         Freunden
                                                                         • usw.
Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern 9

Für die psychische Gesundheit ist die Balance von             3.2 Soziale Schutzfaktoren
Positivem und Negativem zentral. Dies hat die For-
schung sowohl für Einzelpersonen und Paare als                Eine zentrale Ressource für die psychische Gesund-
auch für die Entwicklung von Kindern gezeigt. Ge­             heit ist das soziale Netzwerk. Soziale Unterstützung
rade in stressreichen Zeiten geht der Fokus auf die           und Einbindung hat sich als Grundlage für mensch­
positiven Aspekte unseres Lebens leicht verloren.             liches Wohlbefinden erwiesen. Dazu gehören auch
Dabei konnte gezeigt werden, dass ein Perspektiven­           eine tragende, unterstützende Partnerschaft und
wechsel auf positive Aspekte die Stimmung verbes-             wahrgenommene Unterstützung durch die Her-
sern und das Wohlbefinden erhöhen kann – und das              kunftsfamilie. Aber auch Freundinnen und Freun-
auch bei Menschen, die schwer erkrankt sind. Dank­            de, Nachbarn, Vereinsmitglieder, Teilnehmende an
barkeit und Vertrauen tragen zu einer besseren An-            Freizeit- oder Kulturangeboten sowie Online-Com-
passung an Herausforderungen bei. Deshalb ist es              munitys können Gelegenheit für einen regelmässi-
relevant, dass Eltern sich nicht nur auf die Bewälti-         gen Austausch bieten und durch unterstützende Be-
gung und Reduktion von Negativem konzentrieren,               ziehungen zur psychischen Gesundheit beitragen.
sondern bewusst auch schaffen Raum für Dinge, die             Eine tragfähige Partnerschaft stellt in der Regel die
guttun.                                                       primäre Quelle von Unterstützung dar. Darüber hin-
                                                              aus hat sich die Unterstützung durch die Familie und
«Eltern können ihren vielfältigen, anspruchsvollen            das s­ oziale Umfeld als zentral für die psychische Ge-
Aufgaben nur dann angemessen nach­kommen,                     sundheit von Eltern erwiesen. Die Forschung zeigt,
wenn sie selber psychisch im Lot sind und eine gute           dass für die psychische Gesundheit von Menschen
Psychohygiene aufweisen.»                                     stabile, wohlwollende, einfühlsame Beziehungen
Prof. Dr. Guy Bodenmann, Psychologieprofessor                 zentral sind. Grundsätzlich bilden diese auch die
und Paartherapeut                                             beste Grundlage für die gesunde Entwicklung eines
                                                              Kindes – unabhängig davon, welches Geschlecht,
Angenehme Aktivitäten sind besonders wichtig –                welche ­sexuelle Orientierung oder soziale Rolle die-
trotz und parallel zu Herausforderungen. Sie geben             se Bezugspersonen haben. Im Vordergrund stehen
Kraft und Selbstvertrauen für die schwierigen                  vor allem ein liebevoller Umgang, konstruktive und
Momente. Studien konnten zeigen, dass positive
­                                                              konsequente Erziehung und gemeinsame Qualitäts-
­Erlebnisse zu einer besseren Anpassung im Über-               zeit. Bei Paaren können positive Interaktionen zwi-
 gang zur Elternschaft führen. Praktische Strate­             schen den Eltern ausserdem negative Effekte von
 gien können zum Beispiel sein, eine kleine Freude            destruktiven Interaktionen auf sie und das Kind
 in den Alltag einzubauen (zum Beispiel fünf Mi-              ­puffern, wenn sie mindestens doppelt so häufig vor-
 nuten Durchatmen oder einmal das Lieblingslied                kommen.
 hören) oder einen achtsamen Moment von wenigen
 Minuten pro Tag einzulegen, zum Beispiel zur Er­             «Auch als Eltern gilt es, ausreichend Raum
 innerung an etwas, wofür man dankbar ist oder                und Zeit für sich selber und die Partnerschaft
 was heute schön war.                                         zu finden.»
 Auch körperliche Vorgänge können genutzt wer-                Prof. Dr. Guy Bodenmann, Psychologieprofessor
 den, um die psychische Gesundheit zu stärken;                und Paartherapeut

 denn Körper und Psyche stehen in einem engen
 ­Zu­sammenhang. So führen zum Beispiel Bewegung,             In der Bevölkerung zeigen sich jedoch grosse Un­
  Atemübungen, Yoga, aber auch Erholung und Entspan­          terschiede in der Verfügbarkeit von sozialen Res-
nung zu positiven Effekten auf Stimmung und Wohl-             sourcen. Besonders Menschen mit geringeren
befinden. Bereits in der Schwangerschaft haben                ­finanziellen Mitteln, niedrigerer Schulbildung, Allein­
physische Aktivitäten einen positiven Einfluss auf             erziehende oder Menschen mit psychischen oder
die Gesundheit der Mutter und den Fötus und kön-               physischen Erkrankungen oder Behinderungen kön-
nen darüber hinaus das Wohlbefinden und Körper-                nen über eingeschränkte soziale Ressourcen verfü-
empfinden positiv beeinflussen. Diese Effekte wur-             gen. Hier kommt strukturellen Ressourcen und Res­
den vor allem bei Ausdauersport, aber auch bei                 sourcen der Gemeinschaft eine besondere Bedeutung
Kraft- und Dehnübungen nachgewiesen.                           zu.
10   Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern

Dazu gehören staatliche Angebote, Gemeindezent-               Eine hohe Anstellungssicherheit, Flexibilität, Kon­
ren und subventionierte Unterstützungsprogram-                trolle und bezahlte Urlaubs- und Betreuungstage
me, bei denen sich hilfesuchende Personen selber              hängen mit weniger emotionalen Problemen und
engagieren, beteiligen und vernetzen können. Diese            Verhaltensauffälligkeiten der Kinder von Angestell-
haben sich als besonders wertvoll erwiesen. Ge­               ten zusammen. Arbeitgebende eignen sich ausser-
rade auch soziale Medien und Online-Programme                 dem besonders gut als Anbietende von Unterstüt-
bieten hier niederschwellige und kostengünstige               zungsprogrammen für (werdende) Eltern. So hat
Gelegenheiten, um sich mit Gleichgesinnten auszu-             sich gezeigt, dass Unterstützungs­programme be-
tauschen.                                                     sonders häufig genutzt werden, wenn sie an Orten
                                                              oder Institutionen angeboten werden, an denen sich
                                                              Eltern sowieso schon befinden, wie zum Beispiel am
3.3 Umweltbezogene Schutzfaktoren                             Arbeitsplatz.

Finanzielle Sicherheit bietet eine wichtige Grund­lage        «Als Hebamme setze ich […] den besonderen
für die psychische Gesundheit. Für Mütter hat sich            ­Fokus darauf, Eltern dabei zu unterstützen, auf
gezeigt, dass die Berufstätigkeit mit einem besse-             ihren vorhandenen Ressourcen aufzubauen,
ren psychischen Wohlbefinden einhergeht, sofern                und sie gegebenenfalls auf Unterstützung von
die Berufstätigkeit ihrem Wunsch entspricht, mit Zu­          aussen (Haushaltshilfe, Beratung/Begleitung
friedenheit und Freude verbunden ist und kompatibel           usw.) aufmerksam zu machen, damit sie trotz der
mit den Bedürfnissen des Kindes ist. Zentral ist hier         enormen Umstellung in ihrem Alltag zu einem
die Koordination mit und Unterstützung durch den              gesunden Rhythmus als Familie finden können.»
anderen Elternteil, den Partner oder die Partnerin            Mandy Bührer, Hebamme MSc
sowie das Umfeld. Auch Arbeitgebende können zur
psychischen Gesundheit von Eltern bei­     tragen. So         Besonders bei berufstätigen Elternteilen sowie bei
hat sich zum Beispiel gezeigt, dass die Qualität von          Familien, die nicht auf die Betreuung durch Gross­
Anstellungsbedingungen die psychische Gesundheit              eltern oder andere Personen aus dem sozialen Um-
von Angestellten und deren Kindern beeinflusst.               feld zurückgreifen können, sind Kinderkrippen oder
Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern 11

Spielgruppen eine wichtige Unterstützung in der              Quantität und Qualität der Zeit mit dem Kind kom-
frühkindlichen Kinderbetreuung. Der gesellschaftli-          pensieren. Damit Eltern dazu in der Lage sind, sind
che Ruf der frühkindlichen Fremdbetreuung hat sich           ihr Wohl­befinden und ihre Gesundheit Grundvoraus-
in den letzten Jahren deutlich verbessert. In der            setzungen.
Schweiz wird ein Drittel aller Kinder fremdbetreut
(in Grossstädten über die Hälfte). Dennoch ist die           «Was mir bei der ersten professionellen Unter­
Entscheidung, ob und in welcher Form Fremdbe-                stützung gefehlt hat, war ein individuelles Gespräch
treuung infrage kommt, nach wie vor anspruchsvoll            mit mir als Person, nicht immer eine Suche nach
und sollte von den Eltern un­abhängig von Beeinflus-         Lösungen und Harmonie […]. Es war […] eine sehr
sungen durch andere in Rücksicht­nahme auf das               schöne Überraschung, […] in ein langes Gespräch
jeweilige Kind und seine Bedürfnisse getroffen
­                                                            über meine Erlebnisse zu kommen.»
­werden. Studien zeigen bezüglich motorischer, kog-          Peter Howes, ehemaliger Betroffener
 nitiver, sozialer und sprachlicher Entwicklung bei
 Kindern im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren             Weiter konnte gezeigt werden, dass eine wohlwol­
 ­keinen Unterschied, unabhängig davon, ob sie aus-          lende, stabile und vertrauensvolle Begleitung durch
  schliesslich bei den Eltern, bei Verwandten oder           Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialsystem zur
  ins­
  ­   titutionell fremdbetreut wurden. Kinder sind           psychischen Gesundheit von Eltern beiträgt. Eine of-
  schon in jungen Jahren fähig, auch eine sichere            fene Kommunikation auf Augenhöhe wird von Eltern
  Bindung zu nichtelterlichen Betreuungspersonen
  ­                                                          besonders geschätzt. Damit Eltern möglichst viel
  aufzubauen. Allerdings zeigen Studien, dass nicht          Selbstwirksamkeit und Kontrolle erleben können,
  jedes Kind gleich auf eine sehr frühe und intensive        ist es wichtig, dass Fachpersonen sie mit den nöti-
  Fremdbetreuung reagiert; daher sollten die indivi-         gen Informationen versorgen und den vorhandenen
  duellen Bedürfnisse einbezogen werden. Weiter              Handlungsspielraum im Einklang mit den Bedürf-
  ist es wichtig, dass die Eltern ihrerseits eine stabile,   nissen der Eltern ausnützen. Eine Vernetzung zwi-
  sensitive Beziehung zum Kind aufbauen und ihre             schen verschiedenen Fachpersonen hat sich hier als
  berufs­ bedingte Abwesenheit durch ausreichende            besonders hilfreich erwiesen.
12   Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern

4 Risikofaktoren für die
   psychische Gesundheit
4.1 Individuelle Risikofaktoren                                 und wird während und nach der Schwangerschaft
                                                                durch das Stresserleben der Eltern beeinflusst.
Eine genetische Vorbelastung (z. B. psychische Stö-             Hohe Werte des Stresshormons Cortisol bei Müttern
rungen in der Herkunftsfamilie oder in der Vergan-              während und nach der Schwangerschaft hängen zum
genheit) ist ein Hauptrisikofaktor für die Entwicklung          Beispiel mit mehr Ängstlichkeit und einer schlechte-
einer psychischen Störung. Studien weisen darauf                ren Stressregulation beim Neugeborenen und einer
hin, dass dies vor allem mit dem Stressregulations-             ungünstigeren psychischen Entwicklung über meh-
system zusammenhängt. Das Stressregulations­                    rere Jahre nach der Geburt zusammen. Auf der an-
system (die sogenannte Hypothalamus-­Hypophysen-                deren Seite drücken sich psychische Belastungen
Nebennierenrinden-Achse, kurz HHNA) stellt eine                 mitunter durch stressbedingte körperliche Reaktio-
zentrale Schaltstelle für die psychische Gesundheit             nen wie Hautirrita­tionen, Verdauungsbeschwerden,
dar. Dieses System entwickelt sich bereits pränatal             Schlafstörungen und Bluthochdruck aus.

ABBILDUNG 3

Einige wichtige Risikofaktoren für die psychische ­Gesundheit

                                                       Individuell

                                                  • Genetische Vorbelastung
                                                  • Hormonelle Veränderungen
                                                  • Medizinische Komplikationen
                                                  • Stress
                                                  • Unrealistische Ansprüche
                                                  • Hohe emotionale Erregbarkeit
                                                  • Traumatische Geburt
                                                  • Schlafmangel
                                                  • usw.

                           • Arbeitsbelastung
                           • Zeitmangel                                   • Isolation
                           • Mangelnde Unterstützung                      • Ausgrenzung
      Umwelt               • Unflexible Rahmen­                           • Abhängigkeit               Sozial
                             bedingungen                                  • Konflikte
                           • Finanzielle Sorgen                           • Erwartungsdruck
                           • Tabus                                        • Betreuungsaufgaben
                           • Druck                                        • usw.
                           • usw.
Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern 13

Stress entsteht, wenn Anforderungen und Bewäl­                   Östrogen, Progesteron, Noradrenalin oder Cortisol
tigungsressourcen nicht im Gleichgewicht stehen.                 im Vergleich zu üblichen Hormonschwankungen
Zur Stressbewältigung gibt es entsprechend zwei                  deutlich (teilweise mehr als hundertfach) erhöht.
Ansatzpunkte: Anforderungen reduzieren und Be-                   Nach der Geburt fallen diese Hormonkonzentratio-
wältigungskompetenzen erhöhen. Anforderungen                   nen wieder rasant ab und beim Abstillen verändern
können reduziert werden, indem übertriebene An­                sie sich erneut markant. Es wird davon ausgegan-
sprüche von aussen, zum Beispiel durch Arbeitge-               gen, dass diese grossen Veränderungen im Hor-
bende oder das soziale Umfeld, verändert werden,               monhaushalt zur Entwicklung psychischer Sympto-
aber auch indem überhöhte Ansprüche von innen an-              me beitragen. Besonders risikoreich sind deshalb
gepasst werden, zum Beispiel durch realistische                ­Momente mit grossen Hormonveränderungen wie
Erwartungen an sich selber oder den Abbau per­                  die Geburt, der Milcheinschuss oder das Abstillen.
fektionistischer Standards. Häufig unterschätzen                Auch bei Männern lassen sich hormonelle Verän­
Eltern die Veränderungen, welche die Geburt eines               derungen beobachten, die mit dem indi­viduellen Er-
Kindes mit sich bringt. Gerade die zusätzliche Ar­              leben und der Interaktion mit der ­Partnerin oder
beitsbelastung, die Abnahme der gemeinsamen Zeit                dem Partner und dem Kind zusammenhängen.
und der Schlafdauer sind für viele Eltern über­                 Körperliche Belastungen können ebenfalls Risiko­
raschend und stehen in einem Kontrast zu eigenen                faktoren für die Entwicklung psychischer Störungen
Vorstellungen, die sie vor der Geburt hatten, auch              sein. So haben zum Beispiel Frauen mit einem Prä-
aufgrund (teilweise unrealistischer) medialer und               menstruellen Syndrom (PMS), Präeklampsie, Ge-
gesellschaftlicher Vorbilder. Hier kann es für die              stationsdiabetes oder prä- und postnataler Anämie
Fachperson sinnvoll sein, häufige Veränderungen                 eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung
und Herausforderungen rund um die Elternschaft                  depressiver Symptome. Ebenso kann die Geburt ein
zu thematisieren und die Eltern in ihren Möglichkei-            Risikofaktor für die psychische Gesundheit sein. Bei
ten zu bestärken.                                               mehr Geburten als von den Eltern erwartet kommt
                                                                es zu Geburtskomplikationen. Nur knapp über die
«Auch psychisch belastete Eltern geben ihr                       Hälfte der Frauen erlebt eine vaginale Spontange-
­Bestes zum Wohl ihrer Kinder. Das Bemühen                      burt, bei rund 44 Prozent kommt es zu geburtsme-
 wertschätze ich. Was sie bisher geleistet                      dizinischen Eingriffen. Etwa ein Drittel aller Frauen
 haben, anerkenne ich. Dann gelingt es meist                    erlebt die Geburt als traumatisch, was das Risiko
 leichter, Entlastung oder Unterstützung von                    für psychische Störungen erhöht. Besonders belas-
 aussen anzunehmen.»                                            tend sind Frühgeburten, Totgeburten oder die Fest­
Dr. med. Helke Bruchhaus Steinert, Fachärztin                   stellung einer schweren Erkrankung oder Behinderung
für Psychiatrie und Psychotherapie FMH                           des Kindes.
                                                                 Nach der Geburt sinkt gleichzeitig mit der Zunahme
Auch bei den Bewältigungskompetenzen spielt die                  an Arbeitsaufgaben die durchschnittliche Schlaf-
subjektive Einschätzung eine Rolle. Gerade bei frisch­          dauer bei den meisten Eltern. Abgesehen von der
gebackenen Eltern, aber auch beim Erleben einer                 Menge an Schlaf ist die Schlafqualität entscheidend.
psychischen Störung, werden die eigenen Fähigkei-               Eltern von Kindern mit Schlafproblemen zeigen vor
ten oft unterschätzt. Dazu gehört auch, den Fokus               allem dann ein beeinträchtigtes psychisches Befin-
darauf zu richten, was die Eltern bereits gut machen            den, wenn ihre Schlafqualität schlecht ist. Eine tiefe
(Ressourcenfokus), und den Selbstwert der Eltern                Schlafqualität hängt ausserdem mit üblerer Laune,
zu stärken.                                                     Gereiztheit sowie Wahrnehmung von mehr negati-
Hormone stehen in engem Zusammenhang mit dem                    ven und weniger positiven Reizen zusammen. Wenn-
psychischen Empfinden, der Stimmung und dem so-                 gleich die meisten Eltern weniger und schlechter
zialen Verhalten inklusive dem Umgang mit dem                   schlafen, sollte dieser Umstand dennoch nicht als
Kind und dem Partner oder der Partnerin. Wäh-                   selbstverständlich angesehen, sondern Möglichkei-
rend eines normalen Menstruationszyklus erleben                 ten für mehr und besseren Schlaf genutzt werden.
Frauen ­hormonelle Schwankungen im Rahmen von                   Schlafprobleme lassen sich in den meisten Fällen
vier- bis sechsfachen Veränderungen des Hormon­                 erfolgreich durch Verhaltensänderungen beheben.
spiegels. In der Schwangerschaft sind Hormone wie               ­Darunter fallen zum Beispiel Schlafhygienemass-
14   Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern

nahmen, Aufteilung der Kinderbetreuung in der                 zung zum Beispiel mit der Herkunfts­familie hat sich
Nacht (z. B. mittels Fläschchengabe) sowie Identifi-          ebenfalls als problematisch für das Selbstbewusst-
kation und Modifikation schlafhindernder Faktoren.            sein und Wohlbefinden junger Familien erwiesen.
Die Behandlung mittels Verhaltenstherapie zeigt               Eine gute Balance be­    züglich Unterstützung und
ausserdem positive Effekte auf die Schlafqualität,            Selbstbestimmung ist wichtig. Besonders relevant
während von der regelmässigen Einnahme von                    ist dabei, dass Eltern sich von ihrem Umfeld unter-
Schlafmitteln abzuraten ist, da dies die Problematik          stützt fühlen, und ­weniger, wie viel Unterstützung
mittelfristig meistens verschlimmert.                         sie tatsächlich erhalten.
                                                              In stressreichen Phasen sinkt die Frustrations­
                                                              toleranz und Menschen zeigen häufiger negatives
4.2 Soziale Risikofaktoren                                    ­Verhalten. Auch deshalb nehmen im Übergang zur
                                                               Elternschaft Konflikte häufig zu und werden des­
Soziale Ausgrenzung ist ein wichtiger Risikofaktor für         truktiver. Die Abnahme der Partnerschaftszufrieden­
die psychische Gesundheit. Entsprechend zeigt sich             heit, die bei vielen Paaren nach der Geburt eines
bei Familien mit Migrationshintergrund und E   ­ xpats         Kindes eintritt, erwarten viele Eltern nicht, was zu
mit einer geringeren sozialen Einbettung häufig eine           Enttäuschungen, Frustrationen und Konflikten füh-
ungünstigere Anpassung an die Elternschaft. Auf                ren kann. Partnerschaftskonflikte gehen entspre-
der anderen Seite ist es für Familien wichtig, sich            chend häufig mit Ängsten, Depressionen oder Sucht­
unabhängig von ihrem direkten ­Umfeld entwickeln               erkrankungen einher. Eine zufriedene Partnerschaft
und entfalten zu können. Eine zu starke Verschmel­             ist deshalb keinesfalls als Luxus zu betrachten,
Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern 15

denn sie ist für das Wohlbefinden der ganzen Familie            Schliesslich stellen Mehrlingsgeburten einen Risiko­
ein zentraler Schutzfaktor. So konnte zum Beispiel              faktor für die psychische Gesundheit der Eltern dar.
gezeigt werden, dass Paarkonflikte während der                  Ganz generell hängt auch die Anzahl Kinder negativ
Schwangerschaft mit Ver­änderungen im Regulations­              mit der psychischen Gesundheit von Eltern zusam-
system des Neugeborenen zusammenhängen. Kin-                    men. Entgegen den Erwartungen vieler Eltern wird
der sind äusserst sensibel und spüren Negativität,              die Elternschaft mit der Geburt eines zweiten oder
auch ohne Worte und durch verschlossene Türen                   dritten Kindes nicht unbedingt leichter, sondern jedes
hindurch. Die Forschungslage deutet klar darauf                 zusätzliche Kind bringt neue Heraus­      forderungen
hin, dass Kinder, die häufig destruktive Konflikte              bezüglich Koordination, Beziehungsgestaltung und
­erleben, mehr körperliche Erkrankungen, häufiger               Rollenfindung mit sich. Oft erleben ältere Geschwis-
 psychische Störungen, schlechtere Schulnoten,                  ter auch Eifersucht gegenüber dem Neugeborenen
 Schlafstörungen und soziale Probleme erleben.                  und brauchen Unterstützung in der Anpassung an
 Dies beeinflusst wiederum die psychische Gesund-               die neue Situation sowie die geteilte Aufmerksam-
 heit der Eltern negativ.                                       keit. Auch hier können zum Beispiel Mütter-Väter-­
                                                                Beraterinnen und -Berater oder Familientherapeu-
«Um das Kind zu schützen, geht es auch darum,                   tinnen und -therapeuten Eltern unterstützen.
die Beziehungsdynamik zwischen den Eltern
zu pflegen.»                                                    «Jedes Elternpaar steht vor ganz individuellen
Prof. Dr. Joëlle Darwiche, Psychologieprofessorin               ­Herausforderungen im neuen Familienalltag,
und Familientherapeutin                                          ­beeinflusst durch persönliche Erfahrungen und
                                                                  sozioökonomische Gegebenheiten.»
Es ist nicht relevant, ob Eltern Probleme haben oder            Mandy Bührer, Hebamme MSc
welche, sondern wie sie damit umgehen. Besonders
destruktive Konflikte zeichnen sich dadurch aus,                Eine mangelnde, als unzureichend erlebte Unterstüt­
dass sie häufig vorkommen, lange dauern, intensiv               zung durch Fachpersonen im Sozial- und Gesund-
sind und dass vor allem keine Versöhnung stattfin-              heitssystem kann Eltern ebenfalls belasten. Zum
det. Konstruktive Konflikte auf der anderen Seite               Beispiel konnte gezeigt werden, dass Eltern, die ein-
zeichnen sich dadurch aus, dass beide Personen                  fühlsam durch die Geburt begleitet wurden, diese
ihre Meinung anhand von konkreten Situationen, in               als weniger traumatisch erlebten. Auf der anderen
Ich-Form und mit Fokus auf die eigenen Gefühle und              Seite führten Tabuthemen (wie z. B. Sexualität, Suizid­
Bedürfnisse formulieren sowie einander zuhören.                 gedanken oder einfach die Psyche und psychische Stö­
Für Kinder ist ausserdem wichtig, dass sie nach                 rungen), die von Fachpersonen nicht angesprochen
Konflikten eine Versöhnung der Eltern er­leben.                 wurden, zu einer schlechteren psychischen Gesund-
                                                                heit und wurden als belastend und isolierend erlebt
                                                                durch die Eltern. Rigide Rahmenbedingungen, man­
4.3 Umweltbezogene Risikofaktoren                               gelndes Verständnis und Druck durch Arbeitgebende
                                                                gehören ebenfalls zu den Risikofaktoren für die psy-
 Neben den biopsychosozialen Herausforderungen                  chische Gesundheit von Eltern.
 gilt es für frischgebackene Eltern in erster Linie
 ­weiterhin den ganz normalen Alltag zu bewältigen.
  Mit einem Neugeborenen nimmt die zusätzliche
­Arbeitsbelastung deutlich zu. Hierbei haben viele
  ­Eltern die unrealistische und oft auch lähmende Vor-
   stellung, alles alleine schaffen zu müssen. Finanzielle
   Sorgen, welche mit dem Familienzuwachs häufig
   einhergehen, können dabei zusätzlich die psychische
   Gesundheit belasten und die Inanspruchnahme von
   Hilfe vermindern. Integrative Massnahmen und sub-
   ventionierte Unterstützung sollten in diesen Fällen
   angeboten werden.
16   Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern

5 Mit Eltern über die psychische
   ­Gesundheit sprechen
5.1 Erkennen, wie es um die psychische Gesundheit eines Elternteils steht

Die psychische Gesundheit setzt sich aus verschie-            wenn sie von nichtpsychologischen/-psychiatrischen
denen Aspekten zusammen. Menschen können in                   Fachpersonen verteilt werden. Bereits der Einsatz
einem Bereich ein hohes Wohlbefinden aufweisen                solcher Fragebögen wirkt sich positiv auf die psychi-
und in einem anderen sehr belastet sein. Auch bei             sche Gesundheit von Eltern aus, weswegen mehrere
Menschen mit psychischen Störungen gibt es immer              internationale Fachverbände eine regelmässige Er-
auch Bereiche, in denen sie gesund und weiterhin              fassung der psychischen Gesundheit von Eltern mit-
leistungsfähig sind. Daher kann es schwierig sein,            tels solcher Fragebögen empfehlen. Für den Erhalt
die psychische Gesundheit einer Person in allen Fa-           psychischer Gesundheit und die Früherkennung und
cetten zu erfassen. Eine Möglichkeit, die besonders           Versorgung psychischer Belastungen wird empfoh-
effizient ist, sind Fragebögen, mit denen Eltern              len, die Fragebögen ab der Schwangerschaft bis ein
ihre eigene psychische Gesundheit in verschiedenen            Jahr nach der Geburt regelmässig an beide Eltern-
Bereichen selber einschätzen können. Auf deren                teile abzugeben.
Grundlage kann anhand eines wissenschaftlich er-
mittelten Summenwerts ermittelt werden, wie hoch               «In meiner Tätigkeit als Mütter- und Väter­beraterin
die Belastung ist und was zum Wohlbefinden der                 ist es wichtig, eine konstante Begleitung gewähr­
­Eltern getan werden kann.                                     leisten zu können und sie emotional ­haltend, wert-
 Nachfolgend finden Sie ein Instrument zur Erfas-              schätzend sowie individuell, aber auch mit meinem
 sung der psychischen Gesundheit. Das Screening-­              Fachwissen zum Thema ­psychische Gesundheit
 Instrument kann sehr gut von nichtpsychologischen/            zu unterstützen. Dies gelingt mir unter anderem,
 -psychiatrischen Fachpersonen angewendet wer-                 weil ich die Möglichkeit habe, der Mutter oder
 den. Internationale Studien zeigen, dass die Mehr-            dem Vater regelmässige Gespräche bei ihnen zu
 heit der Eltern (60–90 %) solche Fragebögen als an-          ­Hause anzubieten.»
 genehm, wünschenswert und hilfreich empfinden,               Vera Tomaschett, Mütter- und Väterberaterin HF
Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern 17

Für die Eltern ist es hilfreich, wenn Sie ihnen Sinn         Sie den Fragebogen Mental Health Inventory (MHI),
und Zweck des Fragebogens verdeutlichen und ihn              der die allgemeine psychische Gesundheit mit fünf
einordnen, zum Beispiel, indem Sie sagen: Das psy-           Fragen erfasst. Für die Erfassung der häufigsten
chische Wohlbefinden ist wichtig für Eltern. Gleich-         psychischen Störungen können Sie zusätzlich den
zeitig kommen Eltern nach der Geburt eines Kindes            Gesundheitsfragebogen für Pa­tienten (PHQ-D) ver-
oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, was sich             wenden oder auch störungsspezifische Fragebögen
­negativ auf ihr Wohlbefinden auswirken kann. Dann           wie die Edinburgh-Postnatale-­  Depressions-Skala
 ist es wichtig, dass Sie Unterstützungsmöglichkeiten        (EPDS).
 finden. Damit sich Eltern nicht stigmatisiert fühlen,
 empfiehlt es sich, wirklich allen ­Eltern den Frage­        «Ich habe lange gedacht, ich sei unfähig, schwach,
 bogen zu geben und das als Standardprozedere zu             einfach nicht für die Mutterrolle gemacht. Erst die
 kommunizieren. So nehmen Sie sich auch den Druck,           Punktzahl der Edinburgh-Postnatale-Depressions-­
 besonders belastete Eltern zu erkennen. Psychische          Skala hat mir schwarz auf weiss g  ­ ezeigt, dass ich
 Belastungen sind meistens von aussen nicht sicht-           wohl krank bin – und dies war der erste Schritt auf
 bar und viele Eltern bemühen sich, sich nach aussen         meinem Weg zur Heilung.»
 nichts anmerken zu lassen. Ein Fragebogen bietet            Andrea Borzatta, ehemalige Betroffene und Präsidentin des
 ausserdem eine Gesprächsgrundlage – auch über               Vereins Postpartale Depression Schweiz
 Bereiche, die aktuell gut ­laufen. Im Folgenden finden

  Standardisierte Erfassung mit dem Mental Health Inventory (MHI)

  1.	Wie oft waren Sie in den vergangenen 4 Wochen glücklich?
     1      Immer   2      Meistens   3       Oft   4      Manchmal   5         Selten   6       Nie

  2.	Wie oft haben Sie sich in den vergangenen 4 Wochen ruhig und gelassen gefühlt?
     1      Immer   2      Meistens   3       Oft   4      Manchmal   5         Selten   6       Nie

  3.	Wie oft waren Sie in den vergangenen 4 Wochen sehr nervös?
     6      Immer   5      Meistens   4       Oft   3      Manchmal   2         Selten   1       Nie

  4.	Wie oft fühlten Sie sich in den vergangenen 4 Wochen entmutigt und traurig?
     6      Immer   5      Meistens   4       Oft   3      Manchmal   2         Selten   1       Nie

  5.	Wie oft waren Sie in den vergangenen 4 Wochen so niedergeschlagen, dass Sie nichts a
                                                                                         ­ ufheitern konnte?
     6      Immer   5      Meistens   4       Oft   3      Manchmal   2         Selten   1       Nie

  Erreichte Punktzahl: 0

  Auswertung: Zählen Sie die Punkte zusammen. Je höher die Summe, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit,
  dass eine Person psychisch belastet ist. Es gibt keinen eindeutigen Wert für besonders belastete Personen,
  jedoch spricht man bei Werten ab 11 häufig von psychisch belasteten Personen. Werte ab 17 deuten auf eine
  deutliche psychische Belastung hin, die psychologisch oder psychiatrisch abgeklärt werden sollte. Bitte
  ­beachten Sie, dass ein Fragebogen keine klinische Diagnose darstellt. Er kann lediglich Hinweise darauf l­ iefern,
   ob das Aufsuchen professioneller Hilfe angezeigt ist. Nutzen Sie die Fragebögen auch dafür, aufzu­zeigen,
   ­welche Bereiche gut laufen und wie das aufrechterhalten werden kann. Darüber hinaus können die Werte
    ein Mittel sein, um Verbesserungen aufzuzeigen und dadurch zum Beispiel Erfolge von verändertem Gesund-
    heitsverhalten aufzuzeigen.
18    Informationen und Empfehlungen für Fachpersonen zur psychischen Gesundheit von Eltern

5.2 Erfassung von Schutz- und Risikofaktoren im persönlichen Gespräch

Neben standardisierten Fragebögen haben Sie auch               weitere Nachfragen zu stellen und auf die indivi­
die Möglichkeit, spezifische Risiko- und Schutzfak-            duellen Bedürfnisse der Person einzugehen. Hier
toren im persönlichen Gespräch mit offenen Fragen              finden Sie einige Vorschläge für mögliche Fragen zu
zu erheben. Das gibt Ihnen auch die Möglichkeit,               den Risiko- und Schutzfaktoren.

     Offene Fragen nach persönlichen ­Schutzfaktoren

      1. Was hat Ihnen in letzter Zeit besonders g
                                                  ­ utgetan?

      2. Woran haben Sie besonders Freude? Was gelingt Ihnen gut?

      3. Welche Aktivitäten machen Sie gerne?

      4. Wie können Sie sich in kurzen Momenten gut entspannen?

      5. Welche Stärken haben Sie?

      6. Welche Strategien haben sich für Sie in der V
                                                      ­ ergangenheit bewährt?

      7. Wie haben Sie in der Vergangenheit Krisen oder Herausforderungen erfolgreich bewältigt?

      8. Von wem haben Sie praktische, sachliche U
                                                  ­ nterstützung bekommen?

      9. Von wem haben Sie emotionale Unterstützung bekommen?

     10. An wen können Sie sich wenden, wenn Sie nicht mehr weiterwissen? Wer kann notfallmässig
          auf Ihr(e) Kind(er) aufpassen, wenn Sie schnell Entlastung brauchen?

     Direkte Fragen nach persönlichen Risikofaktoren

      1. Hatten Sie schon das Gefühl, von den Alltags­anforderungen erdrückt zu werden?

      2. Fühlen Sie sich immer wieder nieder­geschlagen oder aufgewühlt?

      3. Haben Sie oder jemand aus Ihrer Familie schon einmal eine oder mehrere psychische Krisen e
                                                                                                   ­ rlebt?

      4. Gab es Momente in Ihrem Leben, in denen Sie nicht weiterwussten oder verzweifelt waren?

      5. Haben Sie auch schon daran gedacht, sich ­etwas anzutun oder nicht mehr leben zu wollen?

      6. Haben Sie medizinische Komplikationen, belastende Eingriffe oder traumatische Er­fahrungen im
          ­Zusammenhang mit S­ chwangerschaft und Geburt erlebt?

      7. Neigen Sie unter Stress zum Konsum von A
                                                  ­ lkohol oder anderen Substanzen?

      8. Erlebten Sie schon mal Gewalt oder waren s­ elber gewalttätig?

      9. Fühlen Sie sich anderen gegenüber als unterlegen oder minderwertig?

     10. Fühlen Sie sich einsam?

     11. Kam es in der letzten Zeit vermehrt zum K
                                                   ­ onsum von Alkohol oder anderen ­Substanzen?

     12. Erlebten Sie in letzter Zeit Gewalt bei Ihnen oder in Ihrem Umfeld?

     13. An wen können Sie sich wenden, wenn Sie nicht mehr weiterwissen?

     14. Wer kann notfallmässig auf Ihr(e) Kind(er) aufpassen, wenn Sie schnell Entlastung b
                                                                                            ­ rauchen?
10 Empfehlungen für Fachpersonen
                                        zur Förderung von Schutzfaktoren

                                          1.   Trauen Sie sich, mit Eltern über ihre psychische Gesundheit zu sprechen

                                               Eltern wünschen sich, dass ihre psychische Gesundheit thematisiert wird, gerade
                                               von nicht-psychologischen/-psychiatrischen Fachpersonen. Diese können oft
                                               ­niederschwellig agieren, da häufig bereits eine Vertrauensbeziehung ­besteht.
Das Wichtigste für Ihren Praxisalltag

                                          2.   Lenken Sie den Fokus auch auf die schönen Seiten des Elternseins

                                               Fragen Sie als Fachperson explizit auch danach, was bei Eltern gut läuft oder woran sie
                                               besondere Freude hatten. Sie dürfen die Eltern auch dazu ermutigen, sich immer
                                               wieder schöne Momente und regelmässige Entspannung einzuplanen. Oft heisst das
                                               auch, sich Genuss für die kleinen Freuden des Lebens zu e
                                                                                                       ­ rlauben.

                                          3.   Konzentrieren Sie sich auf die kleinen Schritte

                                               Achten Sie darauf, keine unrealistischen Erwartungen zu schüren. Oft geht es nicht um
                                               grosse ­Veränderungen, sondern um kleine Veränderungen in die richtige Richtung.
                                               Sich fünf Minuten Zeit für sich zu nehmen oder einmal ums Haus zu gehen, kann schon
                                               viel zum psychischen Wohl­ergehen beitragen.

                                          4.   Anerkennen und loben Sie Eltern dafür, was sie bereits gut können

                                               Sparen Sie nicht mit Lob und Anerkennung für alles, was Eltern schon g      ­ eschafft
                                               ­haben. Alle Eltern haben bereits einiges geleistet bis zum aktuellen Z­ eitpunkt, was aber
                                                häufig zu wenig gewürdigt wird im Vergleich zu den ­Heraus­forderungen. Lobenswert
                                                ­können sowohl persönliche Stärken wie G ­ eselligkeit, O
                                                                                                        ­ ptimismus oder Humor sein wie
                                               auch Offenheit oder Mut, sich Herausforderungen zu stellen, eigene Lösungen zu ent­-
                                               wickeln oder Hilfe a­ nzunehmen.

                                          5.   Geben Sie Eltern Orientierung durch Informationen und Handlungsspielraum

                                               Orientierung und Kontrolle gehören zu den menschlichen Grundbedürfnissen und sind
                                               Schutz­faktoren für die Bewältigung von Herausforderungen. Für Eltern ist es daher
                                               ­wichtig, dass sie ihre eigenen Entscheidungen auf Basis grös­stmöglicher Informiertheit
                                                treffen können. Sie ­dürfen also als Fachperson die Eltern gerne sachlich informieren
                                                und sie dann in ihren eigenen ­Entscheidungen ­stärken.
  6.   Halten Sie mit den Eltern das Hier und Jetzt aus

                                               Veränderungen sind mit Aufwand und Unsicherheit verbunden – das gilt auch für positive
                                               Veränderungen und den Aufbau von neuen (gesunden) Verhaltens­weisen. Manchmal
                                               kann das für Fach­personen auch bedeuten, mit Eltern ­auszuhalten, dass eine Veränderung
                                               aktuell nicht möglich oder gewünscht ist, oder einen Mangel an Motivation, Willen oder
                                               Mut zur Veränderung anzunehmen. L ­ assen Sie sich davon nicht entmutigen, sondern blei-
                                               ben Sie dran und in Beziehung.

                                          7.   Helfen Sie mit, Wege für regelmässige Bewegung zu finden
Das Wichtigste für Ihren Praxisalltag

                                               Empfohlen wird ausserdem, dass sich Eltern regelmässig bewegen. Eine ­medizinische
                                               Fachperson sollte zur Abklärung beigezogen werden, um die Sicherheit der Aktivität
                                               zu gewährleisten. Helfen Sie mit, dass Eltern Wege für Bewegung finden, die ihnen gut-
                                               tut. Auch hier geht es um die kleinen Schritte.

                                          8.   Aktivieren Sie Unterstützung aus dem Umfeld

                                               Damit sich Eltern kleine Erholungsoasen schaffen können, ist die Unterstützung aus dem
                                               Umfeld zentral. Fragen Sie Eltern, wer aus dem Umfeld einmal babysitten, kochen oder
                                               bei einer Erledigung helfen kann. Meistens sind Nachbarn, ­Grosseltern sowie Freundinnen
                                               oder Freunde gerne bereit, den Eltern eine kurze Verschnaufpause zu ermöglichen.

                                          9.   Ziehen Sie Angebote aus der Umgebung bei

                                               Entlastungsdienste, Betreuungsangebote, Gemeindezentren, Tauschbörsen und
                                               Angebote von ­Vereinen oder Organisationen können zur Unterstützung ­heran­gezogen
                                               ­werden. Manchmal hilft aber auch ein Austausch mit anderen Eltern, seien dies
                                                Freundinnen, Freunde oder Angehörige von ­Online-Communitys, um sich v­ erbunden
                                               und unterstützt zu fühlen. Halten Sie mit den Eltern ­zusammen nach ­A ngeboten in
                                                der Umgebung ­Ausschau – auch online.

                                        10.    Bestärken Sie Eltern in ihrem eigenen Weg

                                               Schliesslich hilft den Eltern das, womit sie sich wohlfühlen. Die Passung zwischen
                                               ­Bedürfnis und Unterstützung ist der Schlüssel zum Erfolg der Unter­stützung. Daher ist
                                                es wichtig, die Eltern auf ihrem individuellen Weg zu begleiten und ihnen auch
                                                das Vertrauen zuzusprechen, für sich ­selber die passende Entscheidung zu treffen.
10 Empfehlungen für Fachpersonen
                                        zum Umgang mit Risikofaktoren

                                          1.   Klären Sie regelmässig psychische Belastungen ab

                                               Die psychische Gesundheit verändert sich meist schleichend und graduell. Da bereits
                                               leichte S
                                                       ­ ymptome Vorboten einer Verschlimmerung sein können, ist davon abzuraten, bis
                                               zur grossen Krise zu warten. Geben Sie regelmässig Frage­bögen an die Eltern ab, damit
                                               Sie selber deren ­aktuelle ­psychische Verfassung und Veränderungen erkennen können.
Das Wichtigste für Ihren Praxisalltag

                                          2.   Überprüfen Sie individuelle Risikofaktoren

                                               Fragen Sie Eltern nach psychischen Problemen in der eigenen oder familiären Vergangen-
                                               heit. Bei ­genetischer Vorbelastung ist besondere Vorsicht während der Schwangerschaft
                                               und nach der Geburt geboten. Ausserdem sind medizinische und Geburtskomplikationen
                                               Risikofaktoren für die Entwicklung psychischer P ­ robleme – und umgekehrt. Es ist emp­
                                               fehlenswert, dass Sie die psy­chische Ver­fassung von Personen mit solchen Risikofaktoren
                                               besonders regelmässig d   ­ okumentieren (zum Beispiel mit Stimmungs-Apps oder Kurz­
                                               fragebögen), um schnell auf Verschlechterungen ­reagieren zu können.

                                          3.   Verständigen Sie sich über Warnzeichen

                                               Die meisten Menschen haben schon einmal in ihrem Leben Herausforderungen ­gemeistert
                                               und w
                                                   ­ issen, wie sie auf Belastung reagieren. Fragen Sie Eltern, woran sie bei sich selber
                                               merken, dass es ihnen schlecht geht und sie an ihre G
                                                                                                   ­ renzen stossen.

                                          4.   Arbeiten Sie «Notfallpläne» aus

                                               Bei starken Emotionen oder Krisen ist das Denken und Fühlen beeinträchtigt, sodass man
                                               sich manchmal nicht mehr selber helfen kann. Überlegen Sie mit Eltern z­ u­sammen, wel-
                                               che Strategien ihnen dann helfen, an wen sie sich in so einem Fall wenden können und
                                               wer in einem Notfall das Kind kurzfristig betreuen kann. Es kann auch hilfreich sein, diese
                                               Informationen aufzuschreiben, um sie bei Bedarf hervornehmen und anwenden zu können.

                                          5.   Ordnen Sie mit Eltern häufige Herausforderungen ein

                                               Viele Eltern fühlen sich überfordert oder allein gelassen mit den häufig unerwarteten Her-
                                               ausforderungen rund um die Elternschaft. Die Botschaft, dass die Elternschaft für alle
                                               ­Eltern herausfordernd ist, kann hier entlastend sein. Ausserdem ist es wichtig zu betonen,
                                                dass psychische Probleme häufig sind nach der Geburt des Kindes (bei rund einem Fünf-
                                                tel aller Eltern kommt es zu einer psychischen Störung in dieser Zeit, bei der Hälfte aller
                                                Menschen irgendwann einmal im Leben) und dass die meisten Eltern eine Zunahme an
                                                Stress, Konflikten und Schlafproblemen erleben. Das hat nichts mit Versagen zu tun, son-
                                                dern einfach damit, Mensch zu sein.
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