Putin entlarvt die deutsche Lebenslüge vom "Wandel durch Handel"

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Putin entlarvt die deutsche Lebenslüge vom "Wandel durch Handel"
Essay: Freiheit ist wichtiger als Wohlstand – 1. April 2022

Putin entlarvt die deutsche Lebenslüge vom „Wandel
durch Handel“
Das Schlagwort vom "Wandel durch Handel" war für Deutschland vor allem ein
Freibrief, um mit Putin und anderen Diktatoren Geschäfte zu machen und sich dabei
auch noch moralisch überlegen zu fühlen. Jetzt müssen wir erkennen: Freiheit hat
nicht nur einen Wert - sondern auch einen Preis.
Von Thomas Hanke, Berlin

Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit seinem Wort von der "Zeitenwende" eine Chiffre geprägt.
Dafür, dass Deutschland sich ändern muss, weil die Welt sich verändert hat. Noch bleiben Scholz’
Beschreibungen des notwendigen Wandels allerdings eher dürr und spröde: mehr Rüstung, weniger
Energieabhängigkeit von Russland.

War’s das? Oder muss Deutschland mehr tun, seine Rolle als Mittelmacht ganz anders
wahrnehmen? Das würde mehr erfordern, als lediglich den Rüstungshaushalt aufzustocken. Scholz’
Sondervermögen für die Bundeswehr wird nicht der Ablassbrief werden, der uns vor einer
Korrektur des politischen Kurses der Bundesrepublik bewahrt.

In der jüngeren Vergangenheit haben wir zu oft unseren Wunsch für die Realität gehalten, wenn wir
auf Russland schauten. Dabei haben wir den Unterschied zwischen der Sowjetunion und Putins
Reich übersehen. Die disruptive Energie der Sowjetunion entfaltete sich ab 1917, mit dem
Anspruch der Bolschewiken, die Revolution zu exportieren. Doch der umstürzlerische Impetus
erlahmte und mündete in die Politik der friedlichen Koexistenz mit dem Westen.

Wladimir Putin hat diese Koexistenz aufgekündigt. Die Aggression nach außen folgt auf die nach
innen. Die junge russische Demokratie hat der russische Präsident zerstört, sie durch eine
nationalistische Diktatur ersetzt. Er will nicht sein Land verbessern, sondern die westlichen
Demokratien schwächen.

Viele wollen es immer noch nicht wahrhaben, sehen den Kriegsverbrecher immer noch als
möglichen Partner, der sich nur irgendwie verrannt habe. Zugleich haben sich viele Politiker und
Bürger vor allem in Deutschland und Frankreich einen Schuldkomplex einreden lassen: Wir trügen
die Verantwortung dafür, dass Putin so verhärtet sei und sich bedroht fühle. Die Nato, die EU hätten
Putin entlarvt die deutsche Lebenslüge vom "Wandel durch Handel"
ihn aufs Kreuz gelegt. Dieses Stockholm-Syndrom müssen wir überwinden. Wir müssen aus der
selbst verschuldeten Unmündigkeit herausfinden, wieder handlungsfähig werden.

Illusionen über Russland hat es auf allen Seiten des politischen Spektrums gegeben. Aber mehr als
anderswo haben in Deutschland zwei Bewegungen, eine von links und eine von rechts, eine
politische Vollnarkose bewirkt. Bei Linkspartei und Teilen der SPD beharrte man darauf, dass die
wahre Gefahr von USA und Nato ausgehe und es eine wahre Friedensordnung nur geben könne,
wenn wir Russland entgegenkämen. Den Rechten bei der AfD imponierte der "starke Mann"
Wladimir Putin, der vermeintliche Vorkämpfer für ein christlich-weißes Europa, der virile Macher.

Dabei muss sich niemand schämen für den Wunsch, mit unserem großen Nachbarn in Frieden zu
leben. Fragwürdig wurde unsere Einstellung erst, als die Zeichen an der Wand nicht mehr zu
übersehen waren, ein großer Teil der deutschen Politiker - anders als die in Osteuropa - sie aber
ignorierte.

Putins Vernichtungskriege in Tschetschenien und in Syrien, sein Angriff auf den Donbass, die
Annexion der Krim, seine Morde an Oppositionellen in Russland und sogar im Ausland, seine
Cyberangriffe auf unsere Institutionen, seine systematische Unterstützung für Extremisten und
Populisten in Europa und in den USA: All das waren nicht die Ausrutscher eines Friedensfreunds,
der sich nicht mehr anders zu helfen weiß. Gewalt ist vielmehr ein integraler Bestandteil von Putins
Ideologie.

Der KG B-Mann Putin hat ein Instrument gefunden, mit dem er unsere Gesellschaften aus den
Angeln heben will: Flüchtlingsströme, die er auslöst oder verstärkt. Erprobt hat er es zuerst in
Syrien, wiederholt gemeinsam mit seinem Verbündeten in Minsk mit dem Transport von Migranten
an die polnisch-belarussische Grenze. Jetzt holt der Aggressor zu einem noch größeren Schlag aus.
Mit seinem Krieg gegen die Zivilbevölkerung in ukrainischen Städten vertreibt er Millionen von
Menschen.

Wie EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski in dieser Woche feststellte, greifen die russischen
Truppen "gezielt Landwirtschaftsbetriebe, die Infrastruktur und Bauern auf den Feldern an", um
eine Hungersnot auszulösen. Parallel dazu kappt Putin Getreidelieferungen nach Afrika, damit auch
dort Elend entsteht und Menschen sich auf den Weg nach Europa machen. Putins Wüten in der
Ukraine ist nicht irrational. Es folgt der Ratio, Flüchtlinge als Waffe einzusetzen. Sie sollen die
verhasste EU in die Knie zwingen.

Verblendet waren wir, als wir nach der Krim, nach Syrien dennoch so taten, als könne Putin ein
Partner sein, der durch Milliarden Euro für Gas, Öl und Kohle und durch weitere Zugeständnisse zu

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besänftigen sei. Dabei hatte es Warnungen gegeben, Stimmen, die uns eindeutig auf die Versuche
des autoritären Herrschers hinwiesen, die Demokratie zu zerstören.

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder schreibt schon lange darüber. Im Interview mit
"Capital" sagte er vor drei Jahren: "Weil Russland keine Zukunft hat, muss es uns die Zukunft
nehmen." Die größte Gefahr für Putin sei ein alternatives, erfolgreiches Modell. "Es gibt nämlich
etwas, was die russische Führung nicht kann: ein Land schaffen, in dem Menschen wirklich leben
wollen. Deshalb muss Russland die EU zerstören, bevor Putin die Macht verliert."

Zwei Jahre zuvor hatte die Europäische Volkspartei, der Zusammenschluss konservativer Parteien
in der EU, in einer Entschließung darauf hingewiesen, die EU-Demokratien seien "ernsthaft
bedroht" durch Russland: "Russische Propaganda, Desinformationskampagnen und die anhaltende
Unterstützung antieuropäischer politischer Kräfte untergraben das Projekt Europa, die
transatlantische Zusammenarbeit und die westlichen Demokratien."

Und noch ein Jahr vorher, 2016 sagte die Osteuropa-Expertin der Grünen Marieluise Beck, sie sei
erstaunt über die Naivität, mit der in Deutschland über die "hybride Kriegsführung" Putins
hinweggegangen werde, deren Ziel es sei, die Demokratie zu zerstören.

In Deutschland, vor allem in der Sozialdemokratie wollte man das nicht hören. Da waren ganz
andere Botschaften gefragt. "Warum der Westen an der Ukrainekrise schuld ist" überschrieb die
SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung im September 2014 eine Analyse. Sechs Monate vorher hatte
Putin gewaltsam die Krim annektiert. Die Stiftung nahm ihn in Schutz: "An der Wurzel des
Konflikts liegt die Nato-Osterweiterung (…). Dazu kamen die EU-Osterweiterung und die
Unterstützung der Demokratiebewegung in der Ukraine durch den Westen, beginnend mit der
Orangenen Revolution 2004."

Unterstützung der Demokratie als friedensgefährdende Destabilisierung? Und das von der
Sozialdemokratie, die mehr als andere Kräfte unter Nazismus und Stalinismus gelitten und dagegen
gekämpft hat? Aussagen wie diese zeigen, auf welche Abwege uns diejenigen gebracht haben, die
blinde Putin-Verteidigung als Entspannungspolitik missverstanden haben.

Heute rät der Parteivorsitzende der SPD Lars Klingbeil, alle deutschen Parteien müssten sich
fragen, "ob sie auf dem richtigen Weg waren". Und Norbert Röttgen von der CDU sekundiert, die
Regierungen der jüngsten Vergangenheit seien Russland gegenüber "naiv gewesen".

Dem lässt sich kaum widersprechen. Oder vielleicht doch?

Vielleicht war es ja keine Naivität, sondern eine bewusste Entscheidung, über die Warnhinweise
hinwegzusehen. Weil ein realistischer Blick eine tiefe Veränderung der deutschen Politik verlangt

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hätte. Erstens bei der Energieabhängigkeit, zweitens beim unbedingten Vorrang für privilegierte
Wirtschaftsbeziehungen.

Vor zu hohen Gasimporten aus Russland warnte auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
Der zählte selbst zu den Putin-Verstehern und schwärmte von einer Friedensordnung mit Russland.
Doch stellte er sich im Februar 2019 gegen den Weiterbau von Nord Stream 2. Spätestens da wusste
die Bundesregierung, dass ihre Russlandpolitik sogar Konflikte im Kern der EU heraufbeschwor.
Sie lenkte aber nicht ein, sondern zwang Macron dazu, Nord Stream 2 zu unterstützen.

Wohl nicht allein aus Naivität, sondern weil Christ- wie Sozialdemokraten sich bewusst für eine
Politik entschieden hatten, die kurzsichtiges wirtschaftliches Interesse über alles setzte und in Kauf
nahm, dass unsere Energieabhängigkeit von Russland und unsere Exportabhängigkeit von China
Rückwirkungen auf unsere Gesellschaft hatten. Drapiert wurde das mit dem Spruch "Wandel durch
Handel" und dem Verweis auf Willy Brandts Entspannungspolitik.

Brandt hat Wandel durch wirtschaftliche Annäherung erreicht. Doch in den vergangenen Jahren
geschah ganz anderes: Der Wandel fand bei uns statt. Mit den Gas-Milliarden aus Deutschland
kaufte Putin sich Fürsprecher und Sympathien im Westen, vernebelte Teilen unserer politischen
Klasse das Hirn. Nach Jahren dieser Beeinflussung, die wir lustvoll aufgenommen haben, weil sie
so schön nach Entspannung klang, ist Deutschland zu einem Zwitter geworden: einerseits im
Westen verankert - zugleich aber der entschiedenste Verteidiger Russlands und Chinas, wenn in der
EU oder in den USA Forderungen laut wurden, die Abhängigkeit von den beiden autoritären
Regimen zurückzufahren.

Nicht wenige Politiker sahen und sehen darin die deutsche Staatsräson: Wir sollen ein Volk
gewitzter Marketender sein, das im Windschatten der Konflikte zwischen Washington, Peking und
Moskau fröhlich seine Geschäfte vorantreibt. Natürlich alles im Dienste der Verständigung und des
Friedens.

Bis heute, mitten im verbrecherischen Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine, ist es stets Berlin,
das für ein sanfteres Vorgehen gegen Putin wirbt: mal mit dem Hinweis, man dürfe ihn nicht weiter
provozieren, mal mit dem Argument, die Selbstschädigung durch ein Energie-Embargo zu
verhindern. Was viele Ökonomen und der frühere Topberater der Kanzlerin Christoph Heusgen,
heute Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, völlig anders sehen: Sie verlangen ein Embargo
oder das Einfrieren unserer Zahlungen an Russland auf Treuhandkonten.

An dieser Stelle darf man darauf hinweisen, dass viele Unternehmen entschiedener handeln als die
Politik, hohe Verluste hinnehmen, weil sie aus Abscheu vor Putins Aggression ihre Geschäfte in
Russland aufgeben oder zurückfahren und weil sie die Freiheit schützen wollen. Genau wie

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Hunderttausende Deutsche, die mit ihrer Hilfe für Ukrainer zeigen, welche Opferbereitschaft es in
diesem Land gibt, wie viele Menschen an Lösungen arbeiten, statt nur Risiken zu beschwören. Wir
wachen auf aus der Narkose.

Die bremsende deutsche Politik dagegen, oft ängstlich auf potenziell grollende Wähler schielend, ist
nicht nur deshalb fragwürdig, weil sie Putin Appetit auf neue Angriffe machen könnte. Sie ist
politisch und wirtschaftlich hochriskant. Der Schlächter von Mariupol hat die größte Massenflucht
in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Wenn wir ihn jetzt nicht stoppen, wird er die
Ukraine und Afrika in eine Hungersnot stürzen und auch dort Menschen zur Flucht zwingen. Große
Flüchtlingsströme werden mehr Bürger gegen die Regierungen aufbringen als ein hoher Spritpreis.

Vielleicht werden uns die Politiker der Ampel dann wieder sagen: "Wir waren naiv." Doch wenn
Putin Mariupol, Charkiw, Kiew, Lemberg zerbombt haben wird wie vorher schon Aleppo, wenn
nicht dreieinhalb, sondern zehn, fünfzehn Millionen Flüchtende aus der Ukraine und aus Afrika an
unsere Tür klopfen, wird es zu spät sein. Der Streit der EU-Innenminister in Brüssel Anfang dieser
Woche über die Verteilung der Flüchtlinge ist ein sanfter Vorgeschmack auf die Konflikte, die der
EU bevorstehen.

Durch Appeasement haben viele Politiker die Lage verschärft. Die Nachkriegsgenerationen, denen
so vieles in den Schoß gefallen ist, haben den Wert der Freiheit unterschätzt. Putin, der angeblich so
irrational ist, hat uns Deutsche lange und kühl beobachtet und versteht uns erschreckend gut:
Unsere Schwäche gegenüber autoritären Herrschern, unsere Sehnsucht danach, die Realität zu
verdrängen, um weiter sorglos und in Wohlstand leben zu können.

Unser Job ist es nun, die Fehler zu korrigieren. Frieden nicht mehr mit Appeasement zu
verwechseln, keine Politik mehr zuzulassen, die Länder zu schutzlosen, neutralen Pufferzonen
degradiert, Verteidigung nicht als verzichtbar anzusehen. Und vor allem: Wir sollten uns nicht
länger mit Diktatoren arrangieren, nur weil sich das rechnet, sollten zurückfinden zu einer Politik,
die keinen höheren Wert kennt als die Freiheit. Und die sich aus der Abhängigkeit von den
Autokratien in Moskau und Peking löst.

Während Teile der hiesigen Linken und Rechten Putin noch immer für resozialisierbar halten, nennt
der französische Linksaußen Edwy Plenel die Dinge beim Namen: "Ein neuer Imperialismus
bedroht den Weltfrieden, und er ist russisch", schreibt der Herausgeber des Onlinemagazins
"Mediapart". Mehr als alles andere fürchte Putin die Demokratisierung an den russischen Grenzen.
"Weit entfernt von den propagandistischen Argumenten über eine angebliche Bedrohung durch die
Nato hat Russland gegen diesen demokratischen Aufbruch einen Kriegszyklus im Herzen des
europäischen Kontinents ausgelöst. Dessen Höhepunkt ist heute die Invasion in die Ukraine."

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Es gibt kein friedliches Arrangement mit Putin, weil er unsere Demokratie vernichten will. Es gibt
keine Entspannungspolitik und keine Friedensordnung für Europa mit ihm. Das Maximum, was zu
erreichen ist, besteht in einem möglichst gewaltfreien Nebeneinander. Das aber wird nicht durch
Verträge zu sichern sein. Wir haben gesehen, dass Putin sich nicht an Verträge hält. Schließlich hat
Russland einst selbst für die Sicherheit der Ukraine gebürgt - im Gegenzug dafür, dass Kiew auf
seine Atomwaffen verzichtet.

Sicherheit gegenüber Putins Russland funktioniert nur durch massive militärische Abschreckung,
durch die wirtschaftliche Isolation seines Reiches und dadurch, dass wir unsere Freiheit wieder
selbstbewusst vertreten. Das ist unsere Aufgabe, die der Generation Zeitenwende.

Wenn uns die Ukrainer eines zeigen, dann ist es das: Wohlstand ist nicht das höchste aller Güter.
Freiheit steht darüber.

Ein neuer Imperialismus bedroht den Weltfrieden, und er ist russisch.

Edwy Plenel, Herausgeber des linken französischen Onlinemagazins "Mediapart"

Warum der Westen an der Ukrainekrise schuld ist.

Überschrift über einer Analyse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, September 2014

Der Autor

Thomas Hanke war bis Mitte 2021 Korrespondent des Handelsblatts in Paris und lebt heute als
Publizist in Berlin. Sie erreichen ihn unter hanketh@outlook.de

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