Ratsbericht - Konrad-Adenauer-Stiftung
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Juni 2021 Ratsbericht Europabüro Brüssel Auf dem Weg zu einer mutigeren Union? Halbzeit eines turbulenten Jahres Europäischer Rat am 24. und 25. Juni 2021 Dr. Hardy Ostry, Kai Gläser, Sophia Pena Pereira, Anton Degenfeld, Jana Bernhardt Der vermutlich vorletzte reguläre Ratsgipfel diese weiterhin nach Plan, sodass die Zielmarke, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel beschäf- 70 Prozent der erwachsenen EU-Bevölkerung bis tigte sich mit außenpolitischen Themen, der Ende des Sommers mit mindestens einer Impfdo- Corona-Pandemie und ihren Folgen sowie der sis zu versorgen, fortbesteht. Am 28. Mai hatte mit Migrationspolitik. Die Staats- und Regierungs- Malta der erste EU-Mitgliedsstaat die Schwelle von chefs waren bei den meisten Themen um eine 70 Prozent Erstimpfungen überschritten und er- einheitliche Beschlussfassung bemüht, offen- klärte, man habe die lang ersehnte Herdenimmu- barten jedoch auch immer wieder offene nität erreicht. Dies soll nun Schritt für Schritt auch Bruchstellen. Prominentestes Beispiel war in den anderen 26 EU-Staaten gelingen. eine ebenso intensive wie emotionale Diskus- Um die Mobilität innerhalb der Europäischen sion über das ungarische Gesetz, welches Ju- Union – vor allem mit Blick auf die in einigen Län- gendlichen den Zugang zu Informationen über dern unmittelbar bevorstehenden Sommerferien Homo- und Transsexualität erschweren soll – wiederherzustellen, hatten sich die Staats- und und von Kommissionspräsidentin Ursula von Regierungschefs während ihres Sondergipfels im der Leyen tags zuvor als “Schande” bezeichnet vergangenen Monat auf die Einführung eines digi- worden war. talen Impfzertifikats verständigt, welches vollstän- dig immunisierten Europäerinnen und Europäern COVID-19 das quarantänefreie Reisen innerhalb der Union Hintergrund ermöglichen soll. Im Laufe der vergangenen Wo- chen wurden bereits mehrere Millionen solcher Die positive Entwicklung aller relevanten COVID- Zertifikate ausgegeben. Kommissionspräsidentin Indikatoren setzte sich in den vergangenen Wo- Ursula von der Leyen konnte davon bereits Ge- chen in fast ganz Europa fort. Waren auf der Karte brauch machen, als sie in der vergangenen Woche des Europäischen Zentrums für die Prävention zu ihrer Europa-Tour durch die Mitgliedsstaaten und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) im April aufbrach, um den nationalen Regierungen die von noch weite Teile des Kontinents rot eingefärbt, der Europäischen Kommission freigegebenen Auf- werden mittlerweile nur noch einzelne Regionen baupläne zu überreichen. in Spanien sowie französische Überseegebiete als Regionen mit einem hohen Infektionsrisiko ausge- Mit Sorge blickten die Staats- und Regierungschefs wiesen. Politiker wie Experten führen diese Ent- in den vergangenen Wochen jedoch auf die rasche wicklungen zum einen auf saisonale Effekte zu- Ausbreitung von Virusvarianten. So ist die zu- rück, zum anderen jedoch auch auf die europa- nächst in Indien entdeckte Delta-Variante des Vi- weit auf Hochtouren laufende Impfkampagne. rus auf dem gesamten Kontinent auf dem Vor- Trotz eines Rückschlags bei der Impfstoffentwick- marsch. Sie gilt als deutlich ansteckender und lung des Tübinger Unternehmens Curevac läuft steht im Verdacht, die Immunantwort des
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Juni 2021 2 2 menschlichen Körpers besser umgehen zu kön- Kommentar nen als der Wildtyp und die inzwischen überall in Die Diskussion über die Bekämpfung der Pande- Europa dominante Alpha-Variante, welche Ende mie nahm deutlich weniger Raum ein als bei vor- 2020 in Großbritannien entdeckt worden war. hergegangenen Treffen, was vor allem mit der ver- Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach vor der Ab- besserten Gesamtsituation zu erklären ist. Dar- reise nach Brüssel aus diesem Grund immer wie- über hinaus waren wichtige Entscheidungen be- der davon, dass man sich trotz ermutigender Zah- reits beim letzten Gipfel getroffen worden, sodass len, noch immer „auf dünnem Eis“ bewege. die Staats- und Regierungschefs den Pandemiebe- Entwicklung ratungen in diesem Fall nur den Charakter einer Bestandsaufnahme zuschrieben. Ob sich die Öff- Die Staats- und Regierungschefs nahmen im Laufe nungspläne mit Blick auf das grenzüberschrei- des ersten Gipfeltages eine Bestandsaufnahme tende Reisen in der Sommerzeit vollständig um- der gegenwärtigen Corona-Maßnahmen der setzen lassen, werden wohl erst die kommenden Union vor und zeichneten alles in allem ein positi- Wochen zeigen. Sollte sich der Trend der niedrigen ves Bild. So begrüßte der Europäische Rat in sei- Inzidenzen und deutlich rückläufigen Kranken- nen Schlussfolgerungen die großen Fortschritte in hauseinweisungen und Todesfälle fortsetzen und der Impfkampagne und die allgemein verbesserte das Impftempo weiter hochgehalten werden, epidemiologische Lage, rief jedoch zu Wachsam- könnte der Plan der Europäischen Institutionen keit im Umgang mit neu auftretenden Virusvarian- aufgehen. Die große Unbekannte in dieser Glei- ten auf. Gleichzeitig unterstrich man den Willen, chung sind jedoch die Virusvarianten, die zuletzt eine vollständige Rückkehr zur Freizügigkeit mit dafür sorgten, dass die Zahl der Neuinfektionen Hilfe des digitalen COVID-Zertifikats einzuleiten im Vereinigten Königreich sprunghaft angestiegen und bekannte sich klar zur internationalen Solida- war und eigentlich vorgesehene Lockerungen ver- rität in der Coronakrise. So soll die COVAX-Initia- schoben werden mussten. Virologen in mehreren tive weiter unterstützt werden, welche den univer- Mitgliedsstaaten weisen jedoch bereits darauf hin, sellen Zugang zu Impfstoffen für alle Menschen si- dass die Situation in Großbritannien nicht unbe- cherstellen will. Gleichzeitig arbeite man an Kon- dingt als Blaupause für den Kontinent dienen zepten, die bislang zugelassenen Impfstoffe auch müsse, da die Lage mit Blick auf Impffortschritt in anderen Teilen der Welt herzustellen, um der und klimatische Bedingungen nicht vollständig Impfstoffknappheit in weiten Teilen der Welt ent- identisch sei. In jedem Fall müssen auch die Bür- gegenzutreten. Zudem berieten die Staats- und gerinnen und Bürger innerhalb der Europäischen Regierungschefs auf Grundlage des Kommissions- Union wachsam und vor allem vorsichtig bleiben – berichts über erste Lehren aus der Pandemie und sowohl im eigenen Land als auch im von vielen er- baten die kommende Ratspräsidentschaft, darauf sehnten Sommerurlaub. hinzuarbeiten, die gemeinsame Krisenvorsorge, Reaktionsfähigkeit und Resilienz der Union weiter Wirtschaftliche Erholung zu stärken. Dieser Appell richtete sich an Slowe- nien, welches den Ratsvorsitz am 1. Juli von Portu- Hintergrund gal übernimmt. Der allmähliche Start des europäischen Aufbau- In der anschließenden Pressekonferenz zeigten plans "Next Generation EU", eingeläutet durch die sich die Staats-und Regierungschefs mit Blick auf offizielle Genehmigung der ersten 12 nationalen die Pandemie grundsätzlich optimistisch, beton- Recovery-Pläne und die Herausgabe der entspre- ten jedoch auch, dass weiterhin Vorsicht geboten chenden Anleihen, bestimmte im Voraus des Gip- sei. Dieser Einschätzung schloss sich auch Kom- fels das wirtschaftliche Tagesgeschäft der Europä- missionspräsidentin von der Leyen an, die nach ischen Kommission. Begleitet von einer offiziellen dem Gipfel davon sprach, dass – neben den hin- Rundreise von Kommissionspräsidentin Ursula länglich bekannten Individualmaßnahmen – nur von der Leyen durch die Hauptstädte der 12 ent- eine schnelle Durchimpfung der Bevölkerung die sprechenden Mitgliedsstaaten sendete dies die Verbreitung der Delta-Variante verlangsamen klare Nachricht, dass die seit langem angekün- könne, da der volle Impfschutz auch gegen diese digte und viel debattierte Recovery and Resilience Mutante schütze. Insgesamt habe man bereits Facility der EU nun endlich beginnen wird, wirt- mehr als 420 Millionen Dosen der Impfstoffe von schaftliche Erholungsmaßnahmen und wichtige BioNTech/Pfizer, Moderna, AstraZeneca und John- Investitionen in ganz Europa zu finanzieren. son&Johnson an die Mitgliedsstaaten geliefert. Der Ratsgipfel war allerdings nicht nur als Möglich- keit der Bestandsaufnahme der Startphase des
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Juni 2021 3 3 Aufbauplans gedacht. Das Treffen, zu dem die Prä- den. Diese Entscheidung wurde von den versam- sidenten der Europäischen Zentralbank und der melten Regierungschefs ohne weitere Diskussio- Euro-Gruppe, Christine Lagarde und Paschal nen akzeptiert. Donohoe, ebenfalls eingeladen waren, sollte au- Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte ßerdem die Möglichkeit einer Corona-bedingten griff zudem das Thema des Stabilität und Wachs- Inflation, das Thema der globalen Körperschafts- tumspakts auf. Der während der Verhandlungen steuerreform, den Fortschritt bei der europäi- um den Aufbauplan zu den sogenannten "Frugal schen Banken- und Kapitalmarktunion und die im Five" gehörende Regierungschef thematisierte die Rahmen des Sozialgipfel in Porto beschlossenen aufgrund der Pandemie hohen Schuldenstands- Ziele zur europäischen Säule der sozialen Rechte quoten und sprach die aus seiner Sicht zentrale behandeln. Allerdings zeichnete sich wie auch Rolle stabiler Staatsfinanzen an. Zwar sei der Sta- schon bei den vorherigen diesjährigen Ratsgipfeln bilitätspakt auch für wirtschaftliches Wachstum ab, dass andere Themen die Tagesordnung domi- wichtig, seine Hauptaufgabe sei aber immer noch nieren würden, und somit nicht alle wirtschaftli- die Stabilisierung des Euros durch starke Finanz- chen Angelegenheiten zur Fülle behandelt werden politik und Haushaltsdisziplin, so Rutte. Es sei da- könnten. her nun Aufgabe der Kommission, Vorschläge für Entwicklung die Zukunft des Pakts bereitzustellen. Die am Freitagvormittag stattfindenden wirt- Bei der anschließenden Pressekonferenz gab schaftspolitischen Besprechungen wurden von ei- Kommissionspräsidentin von der Leyen zunächst ner Präsentation des Präsidenten der Euro- einen Rückblick auf den wirtschaftlichen Umgang Gruppe, Paschal Donohoe, eingeleitet. Der Ire der Kommission mit der Pandemie. Zwar sei man konnte zunächst eine stärker als ursprünglich ge- auf die Pandemie selbst nicht gut vorbereitet ge- dachte Wachstumsprognose für die Euro-Zone wesen, da es noch nie zuvor in der Geschichte der vermelden, die er auf die Fortschritte bei den Union etwas Vergleichbares gegeben hatte, in fi- Impfkampagnen der Mitgliedstaaten und die Eini- nanzieller Hinsicht habe man aber aus der Welt- gung zum europäischen Aufbauplan zurückführte. wirtschaftskrise 2008 lernen und deshalb schnell Besonders durch letzteres schien er die optimisti- mehrere wichtige Schritte durchführen können, so schen Worte von Ratspräsident Charles Michel in von der Leyen. Dazu habe das Versorgen der von dessen Einladungsschreiben zum Ratsgipfel zu be- der Pandemie gelähmten Wirtschaften mit drin- stätigen, in dem dieser ankündigte, die nationalen gend benötigter Liquidität, die Flexibilisierung der Recovery-Pläne würden die wirtschaftliche Erho- EU-Fonds, die Aktivierung der generellen Ausnah- lung Europas möglich machen und den Weg zu meklausel (General Escape Clause) des Stabilitäts- den sogenannten "dual transitions", dem digitalen und Wachstumspakts sowie die Bereitstellung und grünen Wandel der EU, ebnen. staatlicher Beihilfen gezählt. Beim Thema der Bankenunion hielt Donohoe al- Durch diese Maßnahmen wurde der Aufbauplan lerdings fest, dass hier noch viel Arbeit und Zeit "Next Generation EU" ermöglicht. 24 der 27 Mit- vonnöten wäre, bevor die vor sieben Jahren be- gliedstaaten hätten ihre nationalen Recovery- schlossene Institution zur gemeinsamen Finanz- Pläne schon zur Begutachtung durch die Kommis- marktaufsicht vollendet werden könnte. Außer- sion abgegeben, von denen 12 bereits genehmigt dem merkte er an, dass bald wichtige Entschei- wurden, so die Kommissionspräsidentin. Das Kri- dungen für eine bessere digitale Rolle des Euros terium, mindestens 20 Prozent der zugeteilten getroffen werden müssten, welche die Zukunft Mittel in die Digitalisierung zu investieren, sei bis der Gemeinschaftswährung prägen würden. An- jetzt von allen Plänen eingehalten oder sogar schließend erklärte der Präsident, warum er die übertroffen worden. Ebenso verhielte es sich mit Entscheidung getroffen hatte, die Debatte um die der Vorgabe, mindestens 37 Prozent in grüne bzw. Gründung des European Deposit Insurance nachhaltige Programme zu investieren, was prak- Schemes (EDIS) zu vertagen. Der Plan zur Schaf- tisch bedeute, das mindestens 200 Milliarden Euro fung einer gemeinsamen Geld-Rücklage als Absi- innerhalb der nächsten Jahre in solche Projekte in cherung der europäischen nationalen Einlagensi- Europa fließen würde. cherungsfonds ist immer noch äußerst kontrovers Kommentar und hatte zu großen Uneinigkeiten zwischen Deutschland und Italien geführt. Die entsprechen- Die lebhaften Diskussionen bezüglich des ungari- den Verhandlungen sollen daher nach den Bun- schen LGBTQ-Gesetzes sowie zur Möglichkeit ei- destagswahlen im September weitergeführt wer- nes EU-Russland Gipfels, die dazu führten, dass der erste Verhandlungstag des Ratsgipfels erst
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Juni 2021 4 4 spät nach Mitternacht zu Ende ging, hatten sichtli- Entwicklung che Spuren bei den Teilnehmern hinterlassen. Die Die üblichen langen und unbequemen Verhand- Energie für lange finanzpolitische Debatten war lungen zum Thema EU-Migration konnten dieses am Freitagvormittag schlicht nicht mehr vorhan- Mal umgangen werden. Der Streit über die ge- den. Dies erklärt auch warum, sonst eigentlich meinsame Asylpolitik wurde keinesfalls gelöst, ge- kontroverse Themen wie die schleppende Ent- schweige denn ansatzweise zur Diskussion ge- wicklung der Bankenunion oder der EDIS-Vor- stellt. Die festgefahrene Situation wurde schlicht schlag nicht ausführlicher behandelt wurden, und übergangen, indem sich die Staats- und Regie- manche Themenbereiche nur in den abschließen- rungschef auf die Bereiche der Migrationspolitik den Schlussfolgerungen Erwähnung fanden. Zwar konzentrierten, bei denen grundsätzlich ein brei- ermöglichte dies den Ratsmitgliedern, sich mehr ter Konsens besteht, wie zum Beispiel den Ausbau auf andere Themenbereiche zu konzentrieren, be- der Partnerschaften und Zusammenarbeit mit deutete allerdings auch, dass viele belangreiche Herkunfts- und Transitländern. In nur wenigen Mi- Angelegenheiten vertagt werden mussten. nuten und ohne letzte Änderungen wurden die Die Schlussfolgerungen des Gipfels hielten fest, Schlussfolgerungen zum Thema Migration bereits dass der Rat die Umsetzung des im Mai abgeseg- am ersten Gipfelabend gebilligt. neten EU-Eigenmittelbeschlusses begrüßt und die Als integraler Bestandteil des auswärtigen Han- Kommission zu einer fristgerechten Umsetzung delns der EU wurde beschlossen, die Partner- des Aufbauplans anhält. Die Verpflichtung zur schaften mit Herkunfts- und Transitländern aus- Vollendung der Bankenunion wurde erneuert, zubauen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit sol- und das Einverständnis zu den Handlungsempfeh- len Fluchtursachen bekämpft, Flüchtlinge unter- lungen zum Aktionsplan zur Säule der sozialen stützt, Menschenhandel unterbunden und Grenz- Rechte, zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungs- kontrollen verstärkt werden. Der „whole-of-route gebietes sowie zum weiteren Engagement im Be- approach“ (Gesamtkonzept für alle Routen) um- reich der globalen Körperschaftssteuerreform fasst zudem legale Migrationsmöglichkeiten sowie wurde gegeben. Fast unbeachtet blieb eine An- Rückkehr und Rückübernahme. In diesem Zusam- kündigung des kroatischen Ministerpräsidenten menhang fordert der Rat die Kommission auf, im Andrej Plenkovic gegen Ende des Gipfels, sein Herbst dieses Jahres Aktionspläne für vorrangige Land sei im Zeitplan um 2023 der Euro-Zone bei- Herkunfts- und Transitländer vorzulegen. Diese zutreten. Aktionspläne sollen klare Ziele, weitere Unterstüt- zungsmaßnahmen sowie konkrete Zeitpläne vor- Migration geben. Darüber hinaus ersucht der Rat die Kom- Hintergrund mission, mindestens 10 Prozent der Finanzaus- stattung des neuen Instruments für Nachbar- Zuletzt stand das Thema Migration 2018 auf der schaft, Entwicklungszusammenarbeit und interna- Agenda des Europäischen Rates. Nach mehreren tionale Zusammenarbeit (NDICI) und andere Fi- Verschiebungen veröffentlichte die Kommission nanzmittel für diese Maßnahmen zu nutzen. schließlich im September 2020 das langerwartete „Neue Migrations- und Asyl Paket“. Das Paket um- Zu guter Letzt verurteilen und missbilligen die fasst einen gemeinsamen europäischen Rahmen Staats- und Regierungschef den Versuch von Dritt- für Migrations- und Asylmanagement (Ersetzung ländern, „Migranten für politische Zwecke zu in- des Dublin-Systems), einschließlich weiterer Legis- strumentalisieren“. lativvorschläge, wie beispielsweise eine neue Asyl- Kommentar verfahrensverordnung und eine Screening-Ver- ordnung. Der Mechanismus für verpflichtende So- Aufgrund der festgefahrenen Verhandlungen zwi- lidarität (Möglichkeit der Aufnahme von Migran- schen den Mitgliedsstaaten sind die Staats- und ten oder Rückführungs-Partnerschaften) soll ei- Regierungschef regelrecht gezwungen, sich immer gentlich die Fronten zwischen den zwei Staaten- mehr auf Drittländer zu verlassen. Diese wussten gruppen, bestehend zum einen aus den Mittel- schnell mit dieser Erkenntnis „umzugehen“ und meeranrainerstaaten Griechenland, Italien, Spa- nutzen die Situation zur politischen Einfluss- nien, Zypern und Malta und zum anderen aus nahme aus. Im letzten Punkt der Schlussfolgerun- Staaten, wie Polen, Ungarn und auch Österreich, gen erkannte die EU diese Realität an und legt die sich weigern, Migranten aus den Ländern der gleichzeitig offen, dass die Handlungsunfähigkeit ersten Ankunft aufzunehmen, versöhnen. Eine eu- der EU in Sachen Migrationspolitik nicht nur die in- ropäische Lösung ist in den Verhandlungen jedoch terne, sondern auch die externe Dimension be- bisher nicht in Sicht. trifft. In der Vergangenheit hätte man vermutet,
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Juni 2021 5 5 dass die Missbilligung in erster Linie an die Türkei Regeln basierten Ordnung zurückzudrängen und gerichtet sei. Den Entwicklungen der vergangenen zu guter Letzt Situationen auf internationaler Monate entlang der westlichen Mittelmeer Route Ebene zu schaffen, um die Rolle der EU zu be- und an der Grenze zwischen Litauen und Belarus schneiden. geschuldet, gilt diese Verurteilung nun wohl auch Entwicklung für Marokko und Belarus. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, An- Der politische Druck von außen wird so lange be- tonio Guterres, war bei diesem Ratstreffen mit von stehen bleiben, bis die EU die Umverteilung der der Partie. Es war zwar nicht das erste Mal, dass Migranten innerhalb Europas regelt – eine Eini- ein UN-Generalsekretär bei einem Ratsgipfel auf gung ist auf absehbarer Zeit jedoch nicht in Sicht. die Staats- und Regierungschefs traf, dennoch bleibt es etwas Besonderes. Als ehemaliger portu- Außenpolitik giesischer Premierminister war er selbst Mitglied Hintergrund des Rates gewesen. Guterres war eine Woche vor dem Gipfel erneut zum Generalsekretär der UN Eigentlich sollten Russland und die Türkei bereits gewählt worden. Der Präsident des Europäischen breiten Raum auf der Agenda der Sondertagung Rates, Charles Michel, lief zusammen mit Guterres des Rates im Mai einnehmen. Der Zwischenfall der ein, gratulierte ihm zu seiner Wiederwahl und be- Zwangslandung des Personenflugzeuges in Bela- dankte sich wertschätzend für seinen Besuch. Mi- rus jedoch lenkte die Aufmerksamkeit so stark auf chel betonte in seinem kurzen Presse-Statement, sich, dass ebenso bedeutende und wichtigen The- die UN und die EU würden über die „gleiche DNA“ men beim letzten Gipfel etwas kürzer gehalten verfügen, und dass beide Seiten die Zusammenar- wurden. beit stärken wollten. Der multilaterale Ansatz sei Für die Beziehungen zur und den Umgang mit der der einzig sinnvolle und zudem notwendige Hebel, Türkei markierte das Treffen im März wohl einen um Schwierigkeiten, mit denen die Welt konfron- wichtigen Meilenstein, wenngleich es nicht für alle tiert wird, nachhaltig lösen zu können. Gleichzeitig Beteiligten zufriedenstellend sein konnte. Es schuf müsste bei allen existenziellen Strategien die Zer- jedoch einen Rahmen, der es vermag, die Bezie- brechlichkeit von Gesellschaften berücksichtigt hungen tendenziell zu verbessern und zu kontrol- werden. Es brauche Antworten auf außenpoliti- lieren. Themen wie Gesundheit, Klimabelange, sche Fragen und Bedrohungen, darunter der Um- Terrorismusbekämpfung und regionale Fragen gang mit Russland, der Türkei und Belarus. Nicht sind von beiderseitigem Interesse. Dennoch gibt zu vernachlässigen sei außerdem die Gesetzlosig- es vielerlei Hindernisse, die es zu überwinden gilt: keit im Cyber-Raum. Die Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit, der Um- Der französische Präsident Emmanuel Macron gang mit Menschenrechten, das Scheitern der von hob in seinem Eingangsstatement die Wichtigkeit den Vereinten Nationen geförderten Zypernver- einer klaren Positionierung hervor und betonte handlungen, die Unterdrückung der Opposition mit Blick auf die EU-Russland-Beziehungen, wie und die Verletzung der Meinungsfreiheit. Darun- entscheidend es sei, klare Linien zu ziehen („clari- ter subsumieren lassen sich beispielsweise die In- fier les lignes“). Es brauche eine „Politik der Stabi- haftierung von Andersdenkenden und das gewalt- lität“, eine klare Koordination und eine starke Ein- same Vorgehen gegen Journalisten. heit der Europäer. Um diese Stärke zu erreichen, Mit Blick auf Russland hatte der Europäische Aus- müssten die fünf Prinzipien, die von den EU-Au- wärtige Dienst (EAD) zusammen mit der Kommis- ßenministern 2016 verkündet worden waren, sion auf der Grundlage des Treffens vom 25. Mai nicht nur eingehalten, sondern auch sauber defi- eine Mitteilung erarbeitet, die bereits vor dem Gip- niert werden. Diese umfassen die vollständige feltreffen am 24. und 25. Mai in Umlauf gebracht Umsetzung der Minsker Vereinbarung, die Her- worden war. Diese spricht unter anderem von der stellung engerer Beziehungen zu Russlands ehe- gemeinsamen Verantwortlichkeit für Frieden und maligen sowjetischen Nachbarn, die Stärkung der Sicherheit auf dem gemeinsamen Kontinent zu Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber russi- sorgen. Es gebe großes Potential für Zusammen- schen Bedrohungen, selektives Engagement mit arbeit. Die russische Regierung verfolge jedoch Russland bei bestimmten Themen wie der Terro- oftmals Gegenteiliges. Die Beziehung leide vor al- rismusbekämpfung und die Unterstützung von lem unter dem Bestreben Russlands, seine Nach- Kontakten zwischen den Menschen. Um diese barn in eine Abhängigkeit zu bringen, ein politisch Themen besprechen zu können, schlugen Macron geeintes Europa zu untergraben, die europäische und Angela Merkel einen EU-Russland-Gipfel auf Vision einer multilateralen und auf gemeinsamen
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Juni 2021 6 6 Leitungsebene vor, konnten sich damit jedoch und Libyen will der Europäische Rat mit Russland nicht durchsetzen. zusammenarbeiten. In Bezug auf die Zusammenarbeit und den Um- Der Europäische Rat begrüßt die rechtzeitige Um- gang mit der Türkei kam der Europäische Rat zu setzung der Sanktionen gegenüber Belarus, die folgenden Schlussfolgerungen: Dialoge, die auf am 24. und 25. Mai beschlossen wurden. Wenn- gemeinsame Themenfelder abzielen, sollen weiter gleich Belarus bereits ausführlich auf diesem Son- möglich gemacht werden. Auch dadurch kann die dergipfel diskutiert worden war, so wird der vorgesehene umkehrbare und verhältnismäßige brenzligen und undemokratischen Lage, die in Zusammenarbeit ermöglicht werden. Der Europä- dem Land weiter vorherrscht, weiterhin große ische Rat erinnert an das strategische Interesse Aufmerksamkeit geschenkt. Sanktionen wurden der EU an einem sicheren und stabilen Umfeld im erarbeitet, die Staats- und Regierungschefs müs- östlichen Mittelmeer. Er weist darauf hin, dass sen die rechtzeitige Umsetzung der Maßnahmen Schwierigkeiten bei den Arbeiten zur Modernisie- im Einklang mit den Schlussfolgerungen vom rung der Zollunion dringend angegangen werden 24./25. Mai erzielen. Zudem unterstrichen die müssten, da deren Wirkung für die Mitgliedsstaa- Staats- und Regierungschefs in eben diesen ten andernfalls nicht spürbar wäre. Einigung Schlussfolgerungen nochmals die Forderung nach wurde auch in Bezug auf die Fortsetzung der Fi- sofortiger Freilassung aller politischen Gefange- nanzierung für syrische Flüchtlinge sowie die Auf- nen und willkürlich inhaftierten Personen, ver- nahmegemeinschaften in der Türkei, Jordanien, langten ein Ende der Repression der Zivilgesell- im Libanon und weiteren Teilen der Region erzielt. schaft und die Erneuerung der unabhängigen Me- Der Europäische Rat bekräftigt sein Eintreten für dien. Das belarussische Volk habe zudem das umfassende Lösungen in der Zypern-Frage im Ein- Recht darauf, seine Präsidentin oder seinen Präsi- klang mit den Resolutionen des UN-Sicherheitsra- denten frei, demokratisch und fair zu wählen. tes. Die anhaltenden Gräueltaten, die ethnisch moti- Weitere zentrale Anliegen stellen nach wie vor die vierte und sexuelle Gewalt und andere Verletzun- Missachtung der Rechtsstaatlichkeit und der Um- gen von Menschenrechten in der äthiopischen Re- gang mit Grundrechten in der Türkei dar. Dies gion Tigray wurden vom Europäischen Rat scharf stehe nicht im Einklang mit den Verpflichtungen verurteilt. Feindseligkeiten sollten sofort einge- seitens der Türkei, demokratische Werte, die stellt werden und eritreische Streitkräfte sollen Rechtsstaatlichkeit und Rechte von Frauen zu sich zurückziehen. Der Rat bekräftigt seine Unter- schützen und zu achten. Mit Blick auf Frieden und stützung bei der Durchführung demokratischer Stabilität erwartet der Europäische Rat von der Reformen. Türkei tatkräftige Unterstützung, da dieses Ziel ein Der Europäische Rat will die Bemühungen der G5 gemeinsames darstellt. Sahel-Länder in ihrem Vorhaben unterstützen, die Auch Russland betreffend gelte es, sich geschlos- Staatsführung, die Rechtsstaatlichkeit und die Er- sen auf ein einheitliches und langfristiges Vorge- bringung öffentlicher Dienstleistungen zu stär- hen zu verständigen. Bereits auf dem Sondergipfel ken. Ende Mai waren die Beziehungen zu Russland er- Der Europäische Rat verurteilt die jüngsten böswil- örtert worden, wobei sowohl der Bericht des Ho- ligen Cyber-Aktivitäten gegen Mitgliedsstaaten, hen Vertreters als auch der Kommission berück- unter anderem in Irland und Polen. Er ersucht den sichtigt wurden. Der Europäische Rat erwarte von Rat, geeignete Maßnahmen im Rahmen des In- Russland, dass destruktive Aktionen gegen die EU, strumentariums der Cyberdiplomatie zu prüfen. ihre Mitgliedsstaaten und Drittländer eingestellt werden und ziele zudem auf die Stärkung seiner Kommentar Widerstandsfähigkeit und Resilienz. Dies sei ge- Der litauische Präsident Gitanas Nausėda traf bei rade in Situationen, in denen es strenge Reaktio- seinem Eingangsstatement den Nagel auf den nen bedarf, unabdingbar. Auch die Östliche Part- Kopf: Wichtig im Umgang mit Russland sei vor al- nerschaft solle in diesem Zusammenhang intensi- lem der Glaube an die europäischen Werte und viert und verstärkt werden. Prinzipien. Die EU müsse konsistenter sein und In den Themenfeldern Klima und Umwelt, Ge- handeln. Die fünf Prinzipien müssten zudem res- sundheit, ausgewählte außen- und sicherheitspo- pektiert werden. litische Themen, multilaterale Fragen, wie dem Die EU muss nun Wege zur Konfliktbeilegung fin- JCPoA (Joint Comprehensive Plan of Action), Syrien den. Dabei scheint das Rezept so einfach zu sein: Eine geschlossene Antwort auf Provokationen,
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Ratsbericht Juni 2021 7 7 Konfliktlösungen über Herstellung von Gesprächs- mission und die portugiesische Ratspräsident- formaten, das Stärken einer einheitlichen europä- schaft, der die ungarische Regierung zwar nicht ischen Stimme. namentlich erwähnte, allerdings keinerlei Zweifel über den Adressaten der darin enthaltenen schar- Die Tatsache, dass der Vorschlag von Macron und fen Kritik zuließ. Merkel zu einem neuen Anlauf in den EU-Russland Beziehungen keine Mehrheit fand, ist weniger als Der in die Defensive gedrängte ungarische Minis- Scheitern der Pariser und Berliner Bemühungen terpräsident Viktor Orbán versicherte, dass das zu sehen, sondern Ausweis durchaus unterschied- von seiner Regierung verabschiedete neue Gesetz licher geopolitischer Betroffenheiten, die durch- falsch charakterisiert wurde und er selbst ein Ver- aus auch unter den EU27 eine wichtige Rolle spie- teidiger der Rechte Homosexueller sei. Sein nie- len. Hier einen strategischen Zusammenhang mit derländischer Amtskollege Mark Rutte sowie eine dem nur eine Woche zuvor in Genf stattgefunde- Mehrzahl der anwesenden Staats- und Regie- nen Treffen von Joe Biden und Wladimir Putin zu rungschefs waren sichtlich unbeeindruckt, wenn- sehen, ist sicher nicht abwegig. Bei der Ablehnung gleich Orban sichtbar von der Front der Kritiker eines zu frühen Aufeinanderzugehens insbeson- überrascht schien. Der Vorwurf, dass das Gesetz dere durch die baltischen Staaten mag neben der einer Verletzung der fundamentalen Grundsätze eigenen historischen Erfahrung vor allem auch der Europäischen Union gleichkäme, erhielt breite das von Biden selbst in den Raum gestellte Zeit- Unterstützung. Rutte ging sogar so weit, Orbán ei- fenster von sechs Monaten, in denen Moskau Ge- nen Austritt seines Landes aus dem Staatenbund legenheit hat, sein belastbares Interesse an Dialog nahezulegen, woraufhin ihm vorgeworfen wurde, zu manifestieren, eine Rolle gespielt haben. in "altkolonialer Arroganz" zu handeln. Vergan- gene Missachtungen der europäischen Regeln in Weitere Gipfelthemen den Bereichen der Pressefreiheit, richterlicher Un- abhängigkeit und Korruptionsbekämpfung durch Ungarn die ungarische Regierung blieben ebenfalls nicht Die bereits im Vorfeld des Ratstreffens durch das unerwähnt. Länderspiel zwischen Deutschland und Ungarn Der Schlagabtausch zwischen den beiden nach angeheizte Thematik rund um das neue ungari- der Bundeskanzlerin am längsten amtierenden sche Gesetz über die Darstellung von Homosexu- Mitgliedern des Rates, bei dem Rutte Unterstüt- alität entwickelte sich zu Beginn des Gipfels am zung durch seine portugiesischen, belgischen, Donnerstag schnell zu einem Streitpunkt. Das von französischen, luxemburgischen und schwedi- Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als schen Kollegen erhielt, wurde von Angela Merkel “Schande” bezeichnete Gesetz war Gegenstand ei- damit kommentiert, dass es sichtlich divergie- nes von 17 der anwesenden Staats- und Regie- rende Ansichten zur Zukunft der Europäischen rungschefs unterzeichneten Briefes an die Kom- Union gäbe. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. Dr. Hardy Ostry Leiter Europabüro Brüssel www.kas.de/bruessel hardy.ostry@kas.de Der Text dieses Werkes ist lizenziert unter den Bedingungen von „Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international”, CC BY-SA 4.0 (abrufbar unter: https://creativecom mons.org/licenses/ by-sa/4.0/legalcode.de) www.kas.de
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