Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden

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Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
pro natura magazin

                              2011
           al Spezi

Regenwürmer: Schwerarbeiter
  für fruchtbare Böden
Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
Fabian Biasio

                                           Andrea Strässle,
                                           Redaktorin

    Liebe auf den
    zweiten Blick
    Ich gebe es zu: Liebe auf den ersten Blick war
    es nicht. Als Kind waren es nicht etwa Spin­
    nen, Mäuse oder angriffslustige Wespen, die
    mich in die Flucht trieben, sondern Regen­
    würmer. Meine Geschwister amüsieren sich
    noch heute darüber: Wann immer sich beim
    Jäten im Garten etwas Bräunliches in der Erde
    ringelte, machte ich vor Schreck einen Satz
    zurück.
    Doch dann begann ich mich eingehender mit
    diesem wohl bekanntesten Bodenlebewesen
    zu beschäftigen. Ich kam ins Staunen: Was
    ­Regenwürmer im Verborgenen leisten, ist ge­
    waltig. So graben sie zum Beispiel unter
    ­einem Quadratmeter Dauerwiese Gangsysteme
    mit ­einer Gesamtlänge von bis zu 900 Metern.
    Diese Röhren lockern, drainieren und durch­
    lüften den Boden. Zudem produzieren Regen­
    würmer 40 bis 100 Tonnen erstklassigen Hu­
    mus pro Hektar und Jahr. Kurz: Regenwürmer
    sind eine Wohltat für den Boden und hegen
    damit eine unserer kostbarsten Ressourcen.
    Denn fruchtbare Böden sind unsere Lebens­
    grundlage, auch wenn wir sie oft genug förm­
    lich mit Füssen treten.
    Doch nicht nur der grosse Nutzen der Regen­
    würmer hat mich beeindruckt: Wussten Sie,
    dass die kleinen Kerle zu den stärksten Tieren
    der Welt gehören? Dass sie Borsten wie Spikes
    ausfahren können, um in der Erde Halt zu fin­
    den? Dass sie die Technik des Kompostierens
    beherrschen und fähig sind, verschiedene Ge­
    schmacksrichtungen zu unterscheiden?
    Vor Kurzem habe ich – meine Geschwister hät­
    ten sich die Augen gerieben – einige Regen­
    würmer in die Hand genommen und aus der
    Nähe inspiziert. Ja, Regenwürmer haben we­
    der ein weiches Fell noch ein buntes Feder­
                                                              pro natura magazin                                                            von der Zewo als gemeinnützig anerkannt.
                                                              Mitgliederzeitschrift von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz

    kleid, weder Samtpfoten noch Kulleraugen.                 Impressum: Pro Natura Magazin Spezial 2011. Beilage zum Pro Natura Magazin 2/2011. Das «Pro Natura Magazin» erscheint
                                                              fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN 1422-6235 Mit-
    Aber wie heisst es doch: Schönheit liegt im               arbeit an dieser Ausgabe: Jan Gürke, Nicolas Gattlen, Andreas Minder, Urs Tester Idee und Konzept: Andrea Strässle
    Auge des Betrachters.                                     Redaktion: Andrea Strässle, Raphael Weber (Deutsch), Florence Kupferschmid-Enderlin (Französisch), Luca Vetterli (Itali-
                                                              enisch) Fachlektorat: Lukas Pfiffner Produktion/DTP: Birgit Leifhelm, Andrea Strässle Lithos und Druck: Vogt-Schild
                                                              Druck AG, 4552 Derendingen Auflage: 109 500 (83 000 deutsch, 23 500 französisch, 3000 italienisch) Anschrift: Pro
                                                              Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel. 061 317 91 91 (9–12 und 14–17 Uhr), Fax 061 317 92 66, E-Mail: mailbox@pronatu-
                                                              ra.ch; http://www.pronatura.ch; PK 40-331-0. Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutzunion IUCN
                                                              und Schweizer Mitglied von     Friends of the Earth International. www.pronatura.ch Titelfoto: Heidi & Hans-Jürgen Koch

                                                                                                                                                              Pro Natura Magazin Spezial 2011
Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
Inhalt | >
                                                                     4 Der Geheimnisvolle.               Regenwürmer sind faszinierende
                                                                                              Helden des Untergrunds.

                                                                           8 Die Vielfalt.          In der Schweiz leben rund
                                                                            		                          40 verschiedene Regenwurmarten.

                                                                             9 Das Liebesleben.                 Regenwürmer sind Männchen
                                                                              		                          und Weibchen zugleich.

                                                                              11 Der Untergrundaktivist.                   In gesunden Böden
                                                                              			                           steckt der Wurm drin.

                                                                              12 Der Lebensraum.                   Der Boden ist die Lebensgrundlage
                                                                                                          für Pflanzen, Tiere und Menschen.

                                                                            15 Die Mitbewohner.                  Unter unseren Füssen tummelt sich
                                                                            			                                    eine Fülle an Lebewesen.

                                                                         16 Die Wurmfarm. Jean-Denis Godet züchtet
                                                                         			Kompostwürmer.

                                                                   18 Die Gefahren.          Was dem Regenwurm schadet –
                                                                                     und was ihm guttut.

                                                             20 Der Wandel.        Regenwürmer wurden nicht immer
                                                             			            so geschätzt wie heute.

 Heidi & Hans-Jürgen Koch
                                                             22 Der Schutz.     Pro Natura setzt sich für einen sorgfältigen
                                                             			            Umgang mit dem Boden ein.

                                                             23 Der Helfer.     Schlaue Gärtner spannen mit dem
                                                             			            Regenwurm zusammen.

                                                                    15

                                                                                           P. Reutimann

                                    9

                                                                                           12

                                  Heidi & Hans-Jürgen Koch

                                                                                                                  Heidi & Hans-Jürgen Koch
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Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
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Der lichtscheue Kraftprotz
Aristoteles nannte sie die «Eingeweide der Erde». Regenwürmer haben einen
gewaltigen Appetit, eine dünne Haut und sind eine Wohltat für den Boden.

Jedes Kind kennt ihn. In Wiesen, Wäldern,         vor. Besonders gross ist die Artenvielfalt in den      Die grossen, kräf­
Äckern, in Vorgärten, Rabatten, Komposthaufen:    Tropen. In der Schweiz sind immerhin rund­­­        tigen Tiefgraber pen­
überall steckt der Wurm drin. In intaktem Grün­   40 Arten nachgewiesen. Der Grund für die re­        deln zwischen Unter­
land leben pro Quadratmeter 150 bis 400 Regen­    lativ bescheidene Artenzahl in unseren Breiten      boden und Boden­
würmer. Kein Wunder, gehören Regenwürmer          liegt in den Eiszeiten. Die Regenwürmer haben       oberfläche. Sie legen
zu den bekanntesten Tiergruppen überhaupt.        die Vergletscherung nicht überlebt. Seit dem        nahezu senkrechte,
Und doch wissen nur die wenigsten Genaueres       Rückzug der Gletscher vor 15 000 Jahren haben       bis zu drei Meter tiefe,
über die umtriebigen Bodenbewohner.               sie von Südwesten her allmählich wieder Ter­        stabile Wohnröhren an,
                                                  rain zurückerobert – doch ist die Rückkehr der      deren Wände sie mit
Wahre Weltenbürger                                Regenwürmer bis heute nicht abgeschlossen.          Kot tapezieren. Diese
Zuerst einmal: Regenwurm ist nicht gleich Re­                                                         kräftigen Arten ziehen
genwurm. Weltweit leben über 3000 verschie­       Von oberflächlich bis tiefschürfend                 totes Pflanzenmaterial von
dene Regenwurmarten. Manche sind mit blos­        Die verschiedenen Regenwurmarten lassen             der Bodenoberfläche in ihre
sem Auge gerade noch zu erkennen, andere          sich in drei ökologische Gruppen einteilen: Die     Wohnröhren ein. Sie sind nur
werden über zwei Meter lang. Ausser in eis­       kleinen und agilen Streubewohner leben zu­          im vorderen Körperbereich
bedeckten Gebieten und vegetationsloser Wüs­      oberst in der Humusauflage und in der Streu­        dunkel gefärbt.
te kommen in fast allen Böden Regenwürmer         schicht. Sie fressen totes Pflanzenmaterial auf
                                                  der Boden­oberfläche. Zum Schutz vor schädli­       Geringelter Muskelschlauch
                                                  cher UV-Strahlung sind sie am ganzen Körper         Wie ein Regenwurm aussieht, weiss
                                                  rötlich-braun gefärbt.                              jeder – zumindest ungefähr. Doch
                                                     Die Flachgraber oder Mineralbodenformen          was steckt eigentlich in so ­
                                                                                                                                  einem
                                                  besiedeln den Wurzelbereich von Pflanzen. Sie       Wurm drin? Stark vereinfacht gesagt
                                                  ernähren sich zum Beispiel von abgestorbenen        ist ein Regenwurm ein muskulöser
                                                  Wurzelteilen im Boden, ohne jedoch die leben­       Schlauch, der mit Flüssigkeit gefüllt
                                                  den Pflanzenteile zu schädigen. Diese bleichen      ist. Durch diesen Schlauch ziehen
                                                  Arten graben vorwiegend horizontale, instabile      sich der Darm, ein Bauch­nervenstrang
                                                  Gänge und kommen fast nie an die Oberfläche.        und zwei Blut­gefässe. Unter der Haut

                                                                                                                                 Pro Natura Magazin Spezial 2011
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                        befinden sich Ring- und              abwechselndes Strecken und Zusammen­ziehen         schiebt die Erde auseinander. So können Re­
                          Längsmuskeln. Zieht der            kriecht der Wurm vorwärts.                         genwürmer bis zum 60-fachen ihres Körperge­
                             Wurm die Ringmuskeln               Regenwürmer gehören zu den Ringel­              wichts stemmen – und gehören damit im Ver­
                                  zusammen, wird die         würmern: Ihr Körper ist in viele ähnlich ge­       hältnis zu ihrer Grös­se zu den stärksten Tieren
                                   betreffende Stelle lang   staltete Segmente unterteilt, die äusserlich als   der Welt. Mithilfe winziger Borsten in seiner
                                     und dünn. Spannt        Ringelung sichtbar sind. In jedem Segment          Haut kann sich der Wurm zudem in der Röh­
                                        er hingegen die      befinden sich zwei Nervenknoten und zwei           renwand verankern und rutscht nicht zurück.
                                          Längsmuskeln       nieren­artige Ausscheidungsorgane. Das vorde­
                                             an, verdickt    re Drittel des Wurmes unterscheidet sich von       Dünne Haut
                                               sich   der    den übrigen Körpersegmenten durch zusätz­          Wer solche Höchstleistungen vollbringt,
                                               Körperab­     liche Organe, etwa die fünf Paar «Herzen» und      braucht genügend Puste. Regenwürmer haben
                                                 schnitt.    die Geschlechtsorgane.                             weder Lungen noch Kiemen. Sie atmen durch
                                                  Durch                                                         die Haut: Der Sauerstoff diffundiert über die
                                                             Raffinierte Bohrtechnik                            Körperoberfläche direkt in feine Blutgefässe.
                                                             Ein mit Flüssigkeit gefüllter Schlauch also,          Deshalb ertrinken Regenwürmer auch
                                                             weich und biegsam – und doch schafft es der        nicht, wenn Regen ihre Gänge flutet – sofern
                                                             Regenwurm, sich durchs Erdreich zu zwängen         im Wasser genügend Sauerstoff gelöst ist. Die
                                                             und meterlange Gangsysteme in den Boden zu         Haut­atmung bedingt allerdings, dass der Re­
                                                               graben. Alles eine Frage der Technik: Regen­     genwurm seine Haut immer feucht hält. Da­
                                                                  würmer sind Bohrgräber. Um sich durch         für sorgt der Wurm mit Schleim aus seinen
                                                                     die Erde zu graben, zieht der Wurm         Rücken­poren und zum Teil auch durch Aus­
                                                                        die Ringmuskeln des Vorderendes         scheidungen der Nierenorgane.
                                                                          zusammen und bohrt das dünne
                                                                            Vorderteil in feine Spalten. Der­   Taub und stumm?
                                                                              art eingekeilt, verkürzt er die   Regenwürmer besitzen weder Augen noch Oh­
                                                                                 Längsmuskulatur, das Vor­      ren – und reagieren doch auf Licht und Schall.
                                                                                    derteil wird dicker und     Helligkeitsunterschiede nimmt der Wurm über

                                                                                                            Ein Tauwurm (Lumbricus terrestris)
                                                                                                            reckt sich auf der Suche nach
                                                                                                                                                                Heidi & Hans-Jürgen Koch

                                                                                                            Nahrung aus seiner Wohnröhre.

Pro Natura Magazin Spezial 2011
Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
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Lichtsinneszellen in der Oberhaut wahr, die ge-
häuft an Vorder- und Hinterende vorkommen.
Als Tastsinnesorgan dient ihm vor allem
der Kopflappen, ein Fortsatz des ersten Seg-
ments, der die Mundöffnung überdeckt. Ver-
streut über die ganze Körperoberfläche liegen
Druck­sinneszellen, mit denen der Regenwurm
Boden­erschütterungen wahrnimmt. Niedrig
frequente Schwingungen versetzen die meis-
ten Regenwurmarten so sehr in Aufregung,
dass sie ihre Gänge verlassen und an die Ober-
fläche kommen. Man deutet dieses Verhalten
als instinktiven Fluchtversuch vor Fressfeinden
wie etwa dem Maulwurf. Angler nutzen dies,
um Würmer als Köder zu fangen: Sie stecken
einen Stock in den Boden und rütteln kräftig
am freien Ende. Auch wurde beobachtet, dass
Regenwürmer an Strassen, die mit schweren
Fahrzeugen befahren werden, bei starkem Ver-
kehrsaufkommen an die Erdoberfläche krie-
chen und sich Scharen von Krähen einfinden,
um sich an den Leckerbissen gütlich zu tun.
    Schliesslich haben Regenwürmer auch
­einen Geschmacksinn: Sinnesknospen in der
Oberhaut und im Innern der Mundhöhle re-
agieren auch auf chemische Reize. So können
Regenwürmer etwa süss und bitter unterschei-
den. Das ermöglicht ihnen, die Qualität ihrer
Nahrung zu prüfen.

Zahnloser Vielfrass
Regenwürmer sind fast ständig am Fressen
und Graben. Sie verschlingen pro Tag bis zur
Hälfte ihres Eigengewichtes an Nahrung. Man
stelle sich vor, der Mensch hätte im Verhältnis   Kot und schaffen damit ein Schlaraffenland für      Durch ihr Graben, Fressen und Ausschei-
denselben Heisshunger.                            Mikroorganismen.                                 den bringen Regenwürmer ausserdem Erde aus
    Auf dem Speisezettel des Regenwurms ste-         Zusammen mit den teilweise zersetz-           tiefen Bodenschichten in den Ober­boden und
hen vor allem «Abfallprodukte» der Natur: ab-     ten Pflanzenresten nimmt der Wurm auch           halten den Boden damit jung. Ihre Röhren­
gestorbene Pflanzenreste, Blätter, Ernterück-     Erde auf. Im muskulösen Magen werden die         systeme verbessern die Durchlüftung und die
stände. Da der Wurm keine Zähne hat, ist er       Pflanzen­teile zwischen Mineralteilchen zer­     Wasseraufnahme des Bodens und fördern das
auf Vorkoster angewiesen. Erst wenn Pilze und     rieben. Im Darm helfen Mikroorganismen und       Wurzelwachstum.
Bakterien das organische Material aufgeschlos-    Enzyme, die Nahrung zu verdauen. Ein gros­
sen haben, kann der Regenwurm die Pflanzen­       ser Teil der aufgenommenen Nahrung wird je-      Sommer- und Winterruhe
reste samt Mikroorganismen in die Speise­röhre    doch unverdaut ausgeschieden. Dieser Kot ist     Regenwürmer sind also eine wahre Wohltat
saugen. Um den Prozess zu beschleunigen,          jedoch keinesfalls wertloser Abfall. Im Gegen-   für den Boden. Am aktivsten sind die fleis­
haben sich manche Regenwürmer zu richti-          teil: Regenwurmlosung ist besonders gute Erde.   sigen Arbeiter im Frühling und im Herbst.
gen Kompostiermeistern entwickelt: Sie zie-       Sie enthält Nährstoffe in hoher Konzentration    Regen­würmer sind wechselwarme Tiere, die
hen Laub und Ernterückstände von der Ober­        und in einer Form, die Pflanzen leicht aufneh-   ihre Körpertemperatur nicht selbstständig re-
fläche in ihre Wohnröhren, kleben das Mate-       men können. Das macht Regenwurmhäufchen          gulieren können. Die optimale Umgebungs­
rial dort an die Wand, überschichten es mit       zu ausgezeichnetem Pflanzendünger.               temperatur liegt für die meisten Arten bei 10

                                                                                                                            Pro Natura Magazin Spezial 2011
Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
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                                                                Laub ist eine der
                                                                Leibspeisen vieler
                                                                Regenwurmarten.

                                                                                                                                              Heidi & Hans-Jürgen Koch

bis 15 Grad Celsius. Hitze und Trockenheit        Jack Denton Scott in einem Artikel über den
im Sommer wie auch tiefe Temperaturen im          Regenwurm schrieb: «Lebendig begraben,
Winter machen den Regenwürmern zu schaf-          ­sichert er den Bestand unserer Welt, indem
fen. Die meisten ziehen sich bei solch widri-     er sie frisst.»
gen Bedingungen zunächst tiefer in den Bo-        ANDREA STRÄSSLE ist Redaktorin des
den zurück, in feuchtere oder vom Frost ver-      Pro Natura Magazins.
schonte Erdschichten. Bei zu extremen Be-
dingungen können gewisse Arten in eine Art
Sommer- beziehungsweise Winterschlaf fal-
len: Sie ringeln sie sich in einer mit Kot aus­
tapezierten Höhlung ein und verfallen in                                                                       Welches ist der grösste Regenwurm?
                                                                        Illustration: Isabelle Bühler

­einen Starrezustand.                                                                                          Die australische Art M
                                                                                                                                    ­ egascolides australis,
    Sind die Verhältnisse wieder günstiger,                                                                   englisch «Giant Gippsland Earthworm», gilt als
beginnen sie sich erneut zu regen und un-                                                                 einer der grössten Regenwürmer. Er wird bis zu
beirrt ihren Untergrundaktivitäten nachzu-                                                              drei Meter lang und drei Zentimeter dick.
gehen. Oder wie der amerikanische Autor

Pro Natura Magazin Spezial 2011
Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
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                                            Heidi & Hans-Jürgen Koch

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Der Tauwurm (Lumbricus terrestris) ist
vorne dunkler gefärbt als hinten.                                      Ein jeder nach seiner Art
                                                                       In der Schweiz sind rund vierzig Regenwurmarten heimisch. Drei Beispiele
                                            Waldhäusl/J. Mikus

                                                                       zeigen, wie sich die verschiedenen Arten ihrem Lebensraum angepasst haben.

                                                                       Er ist der Regenwurm schlechthin: Der Tau-        denn auch vergebens, hingegen tummeln sie
                                                                       wurm (Lumbricus terrestris) gehört zu den         sich in Kompost- und Misthaufen. Kompost-
                                                                       häufigsten und mit 12 bis 30 Zentimetern          würmer sind 4 bis 12 Zentimeter gross, wein-
                                                                       Länge zu den grössten einheimischen Regen­        rot, mit hellen, manchmal nahezu gelben
                                                                       würmern. Er ist rotbraun gefärbt, nach hinten     Querstreifen zwischen den Segmenten. Eisenia
                                                                       heller werdend, mit abgeplattetem Hinterende.     fetida ist ein beliebter Zuchtwurm, der unter
                                                                       Der Tauwurm ist häufig in Wiesen, Gärten und      Namen wie Tennessee Wiggler, Roter Kalifor-
Kompostwürmer (Eisenia fetida) sind in                                 Äckern zu finden. Als typischer Tiefgraber legt   nier oder Zebrawurm verkauft wird.
Kompost- und Misthaufen zu finden.                                     er je nach Boden bis zu drei Meter tiefe Wohn­
                                                                       röhren an. Nachts und in der Dämmerung zieht      Lichtscheue Wühler
                                            M. Glasstetter

                                                                       er Blätter und anderes totes Pflanzenmaterial     Ganz andere Gewohnheiten pflegt der Bläuliche
                                                                       in seine Röhre. Seinen Kot deponiert er an der    Regenwurm (Octolasion cyaneum). Der 6 bis
                                                                       Oberfläche in Form der bekannten Häufchen.        14 Zentimeter grosse Wurm ist in Kultur- und
                                                                       Der Tauwurm durchmischt den Boden intensiv        Waldböden zu finden, meidet als Flachgraber
                                                                       und ist deshalb ein wertvoller Helfer für Land-   jedoch die Erdoberfläche. Er frisst sich förmlich
                                                                       wirte und Gärtner.                                durch den Boden und ernährt sich von orga-
                                                                                                                         nischem Material sowie von Mikroorganismen,
                                                                       Kompostliebhaber                                  die das Erdreich besiedeln. Sein Äusseres ist für
                                                                       Zu den Streubewohnern gehören die Kompost-        einen Regenwurm fast schon farbenfroh: Der
                                                                       oder Mistwürmer (Eisenia fetida und Eisenia       grösste Teil des Körpers schimmert in einem
Der Bläuliche Regenwurm (Octolasion cya-                               andrei). In normalen Garten- oder Acker­böden     blassen Violett, das Hinterende ist gelb gefärbt.
neum) lebt im Wurzelbereich der Pflanzen.
                                                                       sucht man die beiden eng verwandten Arten         ANDREA STRÄSSLE

      Weshalb kommen Regenwürmer bei heftigem Regen oft massenweise an die Oberfläche?
                                Auf diese Frage gibt es bislang keine eindeutige Antwort.
                                Verschiedene Vermutungen existieren:
                                > Die Regenwürmer nutzen Feuchtigkeit und Bewölkung, um bei grosser Konkurrenz in ein
                                   neues Gebiet auszuwandern oder einen Partner zur Paarung zu suchen.
                                > Die Tiere geraten in Panik, weil durch das eindringende Wasser die Bodenteilchen in i­hren
                                   Wohnröhren in Bewegung geraten.
                                > Die Tiere nehmen die Erschütterung durch die Regentropfen wahr und reagieren gleich wie
                                   bei Bodenerschütterungen durch Fressfeinde oder kleinen Erdbeben – mit Flucht.
                                > Regenwürmer können auch im Wasser atmen. Trotzdem flüchten sie allenfalls aus Atemnot,
                                   weil warmes Regenwasser relativ wenig Sauerstoff enthält.

                                                                                                                                                   Pro Natura Magazin Spezial 2011
Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
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                                                                                                                                         In diesem Kokon wächst
                                                                                                                                         ein Jungtier der Gattung
                                                                                                                                         Dendrobaena heran.

Woher die Wurmbabys kommen
Es beginnt mit einem sanften Abtasten, das Ergebnis sind
streichholzgrosse Kokons: Auszüge aus dem Liebesleben eines Zwitters.
                                                                                                       Otto Ehrmann

Wie unterscheidet man Regenwurmmännchen               Anschliessend lösen sich die Würmer aus
von -weibchen? Gar nicht. Denn Regen­würmer        der Umklammerung und kriechen ihres Weges.
sind Männchen und Weibchen zugleich:               Bei günstigen Umweltbedingungen bildet jeder
Als Zwitter besitzen sie sowohl männliche          der beiden Würmer einen Schleimring in seiner                      Zwei Regenwürmer der Art
wie weibliche Geschlechtsorgane. Trotzdem          Gürtelregion. Aus dieser Schleimmanschette                         Lumbricus terrestris bei der Paarung.

müssen zur Fortpflanzung zwei Tiere zusam-         windet sich der Regenwurm nun langsam rück-
menfinden. Geschlechtsreife Regenwürmer            wärts heraus. Wenn der Ring die weibliche Ge-                      ten Kokons ist je nach Art verschieden. So
sind an einer Hautverdickung im vorderen           schlechtsöffnung passiert, presst der Wurm ein                     paart sich der grosse, tiefgrabende Tauwurm
Drittel des Körpers zu erkennen, dem soge-         Ei hinein. Ein Stück weiter kopfwärts gibt er et-              (Lumbricus terrestris) einmal pro Jahr und
nannten Gürtel. Paarungswillige Tiere kom-         was Samen aus der Samen­tasche hinzu. Dann                         bildet dabei 5 bis 10 Kokons mit je einem Ei.
men nachts oder in der Dämmerung an die            schlüpft der Wurm vollends aus dem Schleim-                    Weitaus produktiver ist hingegen der Kompost-
Oberfläche und suchen sich einen Partner.          ring heraus. Dessen elastische Enden ziehen                        wurm (Eisenia fetida): Er paart sich mehrmals
     Als «Vorspiel» betasten sich die beiden mit   sich zusammen und verkleben: Ein blass­gelber,                     und legt pro Jahr rund 140 Kokons ab, aus de-
ihren Kopfenden. Dann legen sie sich in ent-       zitronenförmiger Kokon von der Grösse eines                        nen erst noch Mehrlinge schlüpfen.
gegengesetzter Richtung mit den Bauchseiten        Streichholzkopfes entsteht.                                           Regenwürmer zeigen sogar einen Ansatz
eng aneinander. Klebriger Schleim und spe-                                                                            von Brutfürsorge: Viele Arten umgeben ihre
zielle Klammerborsten halten die beiden in         Ein- oder Mehrlinge                                                Kokons mit einer dicken Schutzschicht Re-
dieser Position fest. Nun tauschen die Regen-      Bei den meisten Regenwurmarten reift pro Ko-                       genwurmkot. Kaum geschlüpft, beginnen die
würmer ihren männlichen Samen aus. Über            kon nur ein Jungtier heran. Die Entwicklungs-                      winzigen Würmchen nämlich mit Graben und
eine Samenrinne wird dieser zu den Samen-          zeit schwankt zwischen wenigen Wochen und                          Fressen – und finden in der Kotschicht ihre
taschen des Partners transportiert und dort        mehreren Monaten – je nach Art und Umwelt-                         erste Nahrung.
zwischengelagert.                                  bedingungen. Auch die Anzahl der produzier-                        ANDREA STRÄSSLE

Pro Natura Magazin Spezial 2011
Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
10

                                Durch ihre Tunnelsysteme
                                lockern und belüften
                                Regenwürmer den Boden.
     Heidi & Hans-Jürgen Koch

                                Pro Natura Magazin Spezial 2011
11

«Ohne Regenwürmer gäbe es keine
fruchtbaren und vitalen Böden»
Der Agronom Lukas Pfiffner erforscht seit vielen Jahren Regenwürmer und ihre Bedeutung.
Im Interview mit Pro Natura berichtet er vom beeindruckenden Leistungskatalog der stillen Schaffer.

Pro Natura: Herr Pfiffner, wie sind Sie               Beim Pflügen erreicht man bloss eine zeitlich    die Erosion. Von Regenwürmern durchbohrte
eigentlich auf den Wurm gekommen?                     begrenzte Lockerung des Oberbodens. Der          Böden nehmen vier- bis zehnmal so viel Was-
                Lukas Pfiffner: In einem Feld­        Einfluss der Regenwürmer ist tiefgreifender      ser auf wie Böden mit nur wenigen Würmern.
                versuch mit verschiedenen An-         und vielfältiger. Sie konstruieren ein Röhren-   Auch sorgen diese Röhren für eine Durch­
                bausystemen stellten wir fest, dass   system, das den Boden ideal mit Wasser und       lüftung des Bodens. Entlang der Regenwurm-
                im «Bio»-Boden 50 bis 90 Prozent      Luft versorgt. Zudem bauen sie tote Pflanzen-    gänge siedeln zudem grosse Populationen von
                mehr Regenwürmer leben als im         teile ab und reichern wichtige Nährstoffe für    Mikro­organismen, die Stickstoff binden, was
konventionell bearbeiteten Boden. Ich wollte          die Pflanzen an.                                 wiederum den Pflanzen zugutekommt. Eine
mehr wissen über dieses Tier.                                                                          Studie hat gezeigt, dass über 90 Prozent der
                                                      So wie der Gärtner den Blumen                    Röhren von Pflanzenwurzeln besiedelt werden.
Wie zählt man Regenwürmer, die bis                    Dünger gibt?                                     Die Pflanzen können so ohne Widerstand in
zu drei Meter tief im Boden graben?                   Der Regenwurm gibt ja nichts Neues hin-          tiefere Bodenschichten eindringen.
Man treibt sie mit einem harmlosen Senfpulver         zu. Er kompostiert in seinem Darm Pflan-
an die Oberfläche. Um an die Flachgraber und          zen- und Tierreste und mischt diese mit fei-     Regenwürmer werden im Obst- und
an die Regenwurmeier zu kommen, graben wir            nen Mineral­teilchen sowie Mikroorganismen.      Weinbau gerne gesehen. Weshalb?
einen Teil der obersten Schicht aus und zer-          40 bis 100 Tonnen wertvolle Wurmlosung pro-      Sie ziehen das Laub in den Boden und mit ihm
krümeln sorgfältig die Erde. Dann zählen wir          duzieren die Regenwürmer so pro Hektar und       Schadorganismen wie Apfelschorf, Rotbren-
die Individuen und wägen die Bio­masse im             Jahr. Dieses wertvolle Material enthält fünf-    ner auf Reben oder blattminierende Insekten.
Labor.                                                mal mehr Stickstoff, siebenmal mehr Phosphor     In den Röhren werden diese Schädlinge von
                                                      und elfmal mehr Kalium als die umgebende         Boden­organismen 100 Prozent biologisch ab-
Nicht wenige Menschen ekeln sich                      Erde. Ein Leckerbissen für die Pflanzen.         gebaut. Eine wertvolle Dienstleistung.
vor Regenwürmern, diesen Wesen
ohne ersichtliches Vorne und Hinten.                  Und ein Segen für den Boden.                  Noch im Tod erweisen sich die
Dann sollten sie einmal einen lebenden Re-            Das wird oft unterschätzt. Durch die intensi- Regenwürmer als nützlich: Sie sind
genwurm unter dem Binokular betrachten.               ve Durchmischung von organischer Substanz wichtige Eiweisslieferanten für
Zum Beispiel den Schleimwurm, einen präch-            mit mineralischen Bodenteilchen, Mikroorga- Vögel, Marder, Igel, Spitzmäuse und
tig rosa schimmernden Flachgraber. Sie wer-           nismen und Schleimabsonderungen bildet sich Ameisen.
den staunen.                                          ein stabiles Krümelgefüge. Diese Ton-Humus-      Und sie stärken ein letztes Mal die Fruchtbar-
                                                      Komplexe sind sehr wichtig. Dank ihnen ver-      keit des Bodens. Ein toter Regenwurm ent-
Was fasziniert Sie sonst noch an                      schlämmt der Boden weniger, er ist leichter      hält bis zu 10 Milligramm Stickstoff. Auf einer
diesen Tieren?                                        zu bearbeiten.                                   ­Wiese mit 400 Tieren pro Quadratmeter wer-
Ihre Kraft. Haben Sie einmal versucht, einen                                                           den so 30 bis 40 Kilogramm Stickstoff pro Hek-
Tauwurm aus einer Röhre zu ziehen? Sie wer-           Regenwürmer sind grossartige                     tare und Jahr freigesetzt. Das entspricht unge-
den es nicht schaffen, ohne ihn zu zerreissen,        Tunnelbauer. Pro Quadratmeter                    fähr dem Stickstoffeintrag über die Luft.
selbst wenn er zu drei Vierteln aus dem Boden         Boden konstruieren sie bis zu
                                                                                                       Lukas Pfiffner, 48, Agronom ETH, Dr. phil.-nat.,
ragt. Noch beeindruckender aber ist ihr Leis-         tausend Röhren in die Tiefe – man                arbeitet seit zwanzig Jahren am Forschungs­
tungskatalog. Ohne Regenwürmer gäbe es kei-           hat schon acht Meter lange Röhren                institut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick.
                                                                                                       Er leitet Projekte im Bereich Biodiversität und
ne fruchtbaren und vitalen Böden.                     gemessen. Was bewirken diese
                                                                                                       Naturschutz in unterschiedlichen Anbausystemen.
                                                      Röhren?
Wie muss man sich die Arbeit eines                    Besonders die stabilen Wohnröhren der Tief-
Regenwurms vorstellen? Wie die                        graber verbessern deutlich die Wasseraufnah-     Interview: NICOLAS GATTLEN. Er arbeitet als
eines Minipflugs?                                     me und Drainage des Bodens und vermindern        Journalist in Kaisten.

Pro Natura Magazin Spezial 2011
12

Der Boden – unsere Lebensgrundlage
Der Boden, Lebensraum des Regenwurms, ist ein unterschätztes Gut.
Um zu wachsen, braucht er Jahrtausende. Zerstört ist er in wenigen Sekunden.

Der Boden ist für uns selbstverständlich. Wie   tuellen Buch «Dreck». Der US-Geologe warnt      Der Boden ist der oberste, verwitterte und
die Luft oder der Gruss des Nachbarn. Und       davor, die dünne Haut der Erde weiter zu     belebte Bereich der Erdoberfläche. Meist be-
genau dies ist sein Problem: «Der Boden         versiegeln und zu verdichten, zu übernut-    stehen Böden aus mehr oder weniger deutli-
ist die am meisten unterschätzte, am            zen und zu verschmutzen. Viele alte Kultu-   chen Schichten: Zuoberst liegt wenig zersetz-
­wenigsten gewürdigte und wichtigste Ressour-   ren seien «weniger zugrunde gegangen als     tes Pflanzenmaterial, die Streu. Darunter be-
ce», schreibt David Montgomery in seinem ­ak-   zerkrümelt».                                 findet sich der stark durchwurzelte, an Nähr­

                                                                                                      Regenwürmer bewohnen und pflegen
                                                                                                      eine unserer kostbarsten Ressourcen:
                                                                                                      den Boden. Ihr Kot ist nährstoffreich und
                                                                                                      sorgt für eine stabile Bodenstruktur.

Heidi & Hans-Jürgen Koch

                                                                                                                      Pro Natura Magazin Spezial 2011
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                                                                                   Wo stehen Regenwürmer im Tierreich?
                                                                                                                        Regenwürmer sind
                                                                                                                          Vertreter des Stam-
                                                                                                                          mes der Ringel-
                                                                                                                          würmer (Annelida)­
stoffen und Bodenlebewesen reiche Ober­            Boden­lebewesen in ihre organischen Bestand­                          und der Klasse
boden. Unter dem schwächer durchwurzelten,         teile zerlegt. Allmählich entsteht so ein hu-                      der Gürtel­würmer
mineralischen Unterboden liegt schliesslich        moser Oberboden. Darin finden immer mehr                       ­(Clitellata). Innerhalb der
der Untergrund aus Fels, lockerem Gestein          Pflanzen Halt. Durch das Wurzelwachstum                      Gürtel­würmer gehören sie
oder Sedimenten.                                   und die Freisetzung von Säuren zerfällt das                     zur Ordnung der Wenig-
     Bis ein lebendiger Boden entsteht, verge-     Gestein in noch kleinere Teile. So wächst der                   borster (Oligochaeta). Die
hen viele Jahrtausende. Ausgangspunkt ist Ge-      Boden Millimeter für Millimeter in die Tiefe.                einheimischen Regenwurm­
stein, das verwittert. Darauf siedeln sich Pilze      Die Böden Mitteleuropas sind nach der               arten gehören alle zur Familie
und Algen an, später Flechten und Moose. Die       letzten Eiszeit im Laufe von etwa 10 000 Jah-          der Eigentlichen Regenwürmer
abgestorbenen Reste dieser Vegetation wer-         ren entstanden. Die meisten sind zwischen              (Lumb­ricidae).
den durch den Einfluss der Witterung und von       40 Zentimeter und 2 Meter mächtig. Je nach
                                                   Ausgangsgestein, Vegetation, Klima, Wasser­
                                                   gehalt und Lage haben sich unterschied-          aus. In den verschiedenen Gesteinsschichten
                                                   liche Bodenformen gebildet. Auf kalkarmem        wird das durchsickernde Wasser schliesslich
                                                   Silikatgestein etwa entsteht bei ausreichen-     mit Mineralien zu hochwertigem Trinkwasser
                                                   der Feuchtigkeit saure Braunerde. Ihr Farbton    angereichert.
                                                   geht auf den Gehalt von braunschwarzen Mi-
                                                   neralien zurück.                                 Boden in Bedrängnis
                                                      Die saure Braun­erde ist der charakteris-     Dem Boden selbst droht die Funktion des Fil-
                                                   tische Boden der Buchenwälder, wie wir sie       ters und Puffers jedoch zum Verhängnis zu
                                                   im Mittelland finden. Auf dem Kalkgestein im     werden. Schadstoffe bleiben im Boden haften
                                                   Jura und in den Voralpen wachsen Rendzina-       und reichern sich über Jahrzehnte an. Auch
                                                   Böden. Der polnische Begriff ist dem kratzigen   das Klimagas CO2 wird im Boden gespeichert.
                                                   Geräusch des Pflugs in steinigen Äckern nach-    Das Potenzial der Böden als Senken für CO2 ist
                                                   empfunden. Ein besonders frucht­barer Acker-     jedoch begrenzt. Wie sie auf eine künftig er-
                                                   boden ist der Löss, den man in der Rhein­        höhte CO2-Konzentration reagieren, ist offen.
                                                   ebene bei Basel oder in der Ajoie findet. Er        Die Belastung der Schweizer Böden mit
                                                   besteht aus Feinmaterial, das während der Eis-   Schadstoffen ist schon heute beträchtlich: Das
                                                   zeit abgelagert oder vom Wind angeweht wur-      Bundesamt für Umwelt stuft rund 90 Prozent
                                                   de. Gros­se Flächen alpiner Rasen grünen auf     des offenen Bodens als schwach, 9 Prozent
                                                   Rankerböden. Mit ihrer dünnen Humusschicht       als mittel und 1 Prozent als stark be­lastet ein.
                                                   sind sie landwirtschaftlich höchstens als Wei-   Am stärksten verschmutzt sind Siedlungsflä-
                                                   den nutzbar.                                     chen (Gärten und Parks), Böden im Umfeld
                                                                                                    bestimmter Industrieanlagen und solche land-
                                                   Unersetzbares Multitalent                        wirtschaftlicher Spezialkulturen (Obst- und
                                                   Böden sind Lebensraum für Bodenorganismen,       Weinbau).
                                                   Standort und Substrat für Pflanzen, die Grund-      Weitere Gefahr droht den Böden durch
                                                   lage einer intakten Landschaft, von Garten-      Erosion und Verdichtung: Etwa 20 Prozent
                                                   bau, Land- und Forstwirtschaft. Nebst Gemü-      der Ackerfläche ist von Wassererosion betrof-
                                                   se, Getreide und Holz beschenken uns die Bö-     fen. Schwere Land- und Forstmaschinen ver-
                                                   den aber auch mit Trinkwasser. Auf der langen    dichten die Böden und schmälern ihre Fähig-
                                                   Passage durch die verschiedenen Schichten        keit, Wasser und Nährstoffe zu speichern. Da-
                                                   des Bodens wird das Regenwasser von Russ         durch geht viel wertvolle Kulturerde verloren.
                                                   und Stäuben gereinigt sowie von Fremd- und       Noch rasanter ist der Verlust von Boden durch
                                                   Schadstoffen wie Dünger, Pestiziden, Schwer-     Überbauung. Strassen, Gebäude und Deponien
                                                   metallen und hormon­aktiven Stoffen, die es      nehmen immer mehr Fläche in Anspruch. Pro
                                                   aus den oberen Boden­schichten ausgewaschen      Sekunde wird in der Schweiz knapp ein Qua-
                                                   hat. Die verschiedenen Substanzen werden         dratmeter Boden versiegelt. Ein herber Verlust:
                                                   von Bakterien im Boden aufgezehrt oder an        Der verlorene Boden lässt sich in für Men-
                                                   Bodenteilchen angelagert. Auch Krankheits­       schen relevanten Zeiträumen nicht ersetzen.
                                                   erreger filtert der Boden aus dem Wasser her-    NICOLAS GATTLEN

Pro Natura Magazin Spezial 2011
14

                   In den obersten 30 Zentimetern eines Quadratmeters Boden le

                                                                                                                                  Pavel Krásenský

                                                                                                                                                                           Heidi & Hans-Jürgen Koch
                   Waldhäusl

                                 50 000 Springschwänze
                                 Grösse 0,2–9 mm.
                                 > Die meisten Springschwänze
                                 haben eine Sprunggabel, die unter
                                 den Körper geklappt werden kann.                                   70 000 Milben
                                                                                                    Grösse 0,1–5 mm.
                                                                                                    > Manche Milben
                                                                                                    ernähren sich
                                                                                                    vegetarisch, andere
                                                                                                    von Aas, und
                                                                                                    manche jagen andere
                                                                                                    Bodentiere.

                                                                                                    30 Asseln
                                                                       P. Reutimann

                                                                                                                                                M. Glasstetter
                                                                                                    Grösse 3–20 mm.
                                                                                                    > Asseln zerkleinern
                                                                                                    Laubstreu und
                                                                                                    Totholz.
                                                                                                                   P. Reutimann

                                                                                                                                                    Blickwinkel

                                         100 Doppelfüsser
                                          Grösse 0,2–5 cm.
                                          > Doppelfüsser zeigen eine
                                          grosse Formenvielfalt, von
                                          wurmartig langgestreckt
                                          bis asselförmig verkürzt.                                 30 000 Enchyträen
                                                                                                    Grösse 0,5–2 cm.
                                                                                                    > Enchyträen verdauen ihre Nahrung
                                                                                                    durch Speichelsäfte ausserhalb des
                                                                                                    Körpers vor.
                   Blickwinkel

                                          50 Spinnen
                                          Grösse 2–20 mm.
                                          > Spinnen leben
                                          überwiegend
                                          räuberisch.
                                                                                                    30 Hundertfüsser
                                                                                                                                                                                                      M. Glasstetter
                                                                                      Blickwinkel

                                                                                                    Grösse 0,2–10 cm.
     Blickwinkel

                                                                                                    > Hundertfüsser ernähren sich
                                                                                                    überwiegend von weichhäutigen Tieren
                                                                                                    wie Springschwänzen, Enchyträen und
                                                                                                    kleinen Regenwürmern.
                                                                                                                                                                  Pro Natura Magazin Spezial 2011
15

                                                                    Leben im Untergrund
                                                                    Ohne Bodenlebewesen würde die Welt in einer toten Biomasse versinken.
                                                                    Dank einem gigantischen Heer unterirdischer Arbeiter, darunter auch
                                                                    Regenwürmer, entsteht Humus, der Kraftstoff oberirdischen Lebens.

                                                                    Als die Engländer Australien kolonisierten,       nicht dieselbe Verteilung entlang der geografi-
                                                                    wollten sie auf eine Tradition nicht verzich-     schen Breitengrade wie bei oberirdischen Tier-
                                                                    ten: den Weihnachtsbaum. Doch aus den mit-        und Pflanzenarten. So kommen etwa Faden-

ben im Durchschnitt:                                                gebrachten Fichtensamen wuchsen in der aust-
                                                                    ralischen Erde kaum je oder höchstens kränkli-
                                                                                                                      würmer sowohl in arktischen Böden als auch
                                                                                                                      in den Tropen, ja sogar in der Tiefsee vor.
                           Individuenzahlen nach W. Dunger (1983)
                                                                    che, kleine Bäumchen. Erst als auch der Boden
                                                                    aus England importiert wurde, gelang das Un-      Die unterirdische Wiederauferstehung
                                                                    ternehmen. Verantwortlich für den Erfolg wa-      Ohne Bodenlebewesen würde die Welt in einer
                                                                    ren die damit eingeführten Mykorrhiza-Pilze:      toten Biomasse versinken. In einem wunder-
                                                                    Sie gehen mit den Fichten eine symbiotische       samen Akt führen sie alles Abgestorbene zu-
                                                                    Lebensgemeinschaft ein.                           rück ins Leben: Blätter, Fallobst, Tierkadaver
                     100 Regenwürmer
                                                                       Tatsächlich ist der Boden mehr als ein         und – Erde zu Erde – auch den Menschen. So
                      Grösse 1–30 cm.
                      > Der Regenwurm                               nährstoffhaltiges Substrat: In einer Handvoll     nahm der Maler Friedensreich Hundert­wasser
                      mischt organische und                         Erde leben fast so viele Lebewesen wie Men-       im Humus den «Geruch der Wiederauferste-
                      anorganische Substanzen                       schen auf diesem Planeten. Vielleicht erken-      hung» wahr.
                      im Boden.
                                                                    nen wir auf den ersten Blick einen Engerling,        Dieser Prozess der Revitalisierung erfolgt
     350 Insekten                                                   eine Raupe oder einen Tausendfüssler. Doch        in mehreren Phasen mit verschiedenen Akteu-
     und Insektenlarven                                             die meisten Bodenbewohner sind von blossem        ren: Käfer, Milben und Springschwänze beis­
                                                                    Auge nicht zu sehen. Nur ein Mikroskop gibt       sen als erste Löcher in die zu Boden gefallenen
     Grösse 0,1–6 cm.
     > Hierzu gehören zum Beispiel                                  uns Einblick in die Welt dieser Pilze, Algen,     Blätter und Früchte, sie machen so das Innere
     Ameisen, Käfer und ihre Larven                                 Bakterien, Einzeller, Fadenwürmer und Milben.     der Pflanzen für Bakterien und Pilze zugäng-
     sowie Mücken- und Fliegenlarven.
                                                                                                                      lich. Sodann laben sich Asseln und Schnecken
                                                                    Die Rätsel im Boden                               an den Pflanzenresten. Ihr Kot wird von Ver-
                                                                    Im Vergleich zu unseren Kenntnissen über die      tretern der Mesofauna (Milben, Faden­würmer
                                               P. Zolda

                                                                    überirdischen Ökosysteme wissen wir über          usw.) gefressen, die das organische Material
                                                                    Boden­lebewesen nur wenig. Gegenwärtig ist        ihrer­seits ausscheiden. Mit Darmenzymen und
                                                                    nur ein geschätztes Prozent sämtlicher Bakteri-   Wasser angereichert weist es nun eine viel grös­
                                                                    en und Pilzarten bekannt, im Vergleich zu über    sere Oberfläche auf als das ursprüngliche Ma-
     1 000 000 Fadenwürmer                                          80 Prozent der Pflanzen. Wir kennen nicht ein-    terial und bietet einen idealen Nährboden für

     Grösse 0,2–20 mm.
                                                                    mal zwei Prozent der Fadenwürmer (Nema-           Bakterien und Pilze. Diese zersetzen das organi-
     > Fadenwürmer leben in feuchtem,                               toden) und lediglich vier Prozent der Milben.     sche Material und lösen daraus Mineralien und
     pflanzlichen und tierischen Abfall an                             Es wird vermutet, dass mindestens ein          Nährsalze, Stickstoff und Kohlenstoff. Schliess-
     der Bodenoberfläche und im Boden.
                                                                    Viertel aller auf diesem Planeten vorkommen-      lich verarbeiten Regenwürmer Mineralerde und
                                                                    den Arten im Boden leben. Ihre Zusammen-          Kotballen anderer Bodenlebewesen zu Humus –
                                                                    setzung und ihre Anzahl variieren je nach         dem Kraftstoff des oberirdischen Lebens.
                                                                    Ökosystem. Auch gilt für die Bodenlebewesen       NICOLAS GATTLEN

                                                                                                        Wo ist denn hier vorne und wo hinten?
                                                                                            Bei geschlechtsreifen Regenwürmern lässt sich dies
                                                                                            anhand des Geschlechtsgürtels feststellen: Diese
                                                                                            Hautverdickung liegt näher am Vorderende des
                                                                                            Wurms. Bei ungleichmässig pigmentierten Arten ist
                                                                                           das Vorderende jenes mit der dunkleren Färbung.
                                                                                          Auch ein kleines Experiment kann die Frage klären:
     50 Schnecken                                                                     Nehmen Sie den Regenwurm in die Hand und schliessen
     Grösse 0,5–5 cm.                                                              Sie diese vorsichtig. Das Tier wird versuchen, sich mit dem
     > Nur wenige Landschnecken                                                   Vorder­ende zwischen den Fingern hindurchzuzwängen.
     sind echte Bodentiere, welche die
     Streu- und obersten Bodenschichten
     bewohnen.
   Pro Natura Magazin Spezial 2011
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