Regenwürmer: Schwerarbeiter für fruchtbare Böden
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Fabian Biasio Andrea Strässle, Redaktorin Liebe auf den zweiten Blick Ich gebe es zu: Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Als Kind waren es nicht etwa Spin nen, Mäuse oder angriffslustige Wespen, die mich in die Flucht trieben, sondern Regen würmer. Meine Geschwister amüsieren sich noch heute darüber: Wann immer sich beim Jäten im Garten etwas Bräunliches in der Erde ringelte, machte ich vor Schreck einen Satz zurück. Doch dann begann ich mich eingehender mit diesem wohl bekanntesten Bodenlebewesen zu beschäftigen. Ich kam ins Staunen: Was Regenwürmer im Verborgenen leisten, ist ge waltig. So graben sie zum Beispiel unter einem Quadratmeter Dauerwiese Gangsysteme mit einer Gesamtlänge von bis zu 900 Metern. Diese Röhren lockern, drainieren und durch lüften den Boden. Zudem produzieren Regen würmer 40 bis 100 Tonnen erstklassigen Hu mus pro Hektar und Jahr. Kurz: Regenwürmer sind eine Wohltat für den Boden und hegen damit eine unserer kostbarsten Ressourcen. Denn fruchtbare Böden sind unsere Lebens grundlage, auch wenn wir sie oft genug förm lich mit Füssen treten. Doch nicht nur der grosse Nutzen der Regen würmer hat mich beeindruckt: Wussten Sie, dass die kleinen Kerle zu den stärksten Tieren der Welt gehören? Dass sie Borsten wie Spikes ausfahren können, um in der Erde Halt zu fin den? Dass sie die Technik des Kompostierens beherrschen und fähig sind, verschiedene Ge schmacksrichtungen zu unterscheiden? Vor Kurzem habe ich – meine Geschwister hät ten sich die Augen gerieben – einige Regen würmer in die Hand genommen und aus der Nähe inspiziert. Ja, Regenwürmer haben we der ein weiches Fell noch ein buntes Feder pro natura magazin von der Zewo als gemeinnützig anerkannt. Mitgliederzeitschrift von Pro Natura – Schweizerischer Bund für Naturschutz kleid, weder Samtpfoten noch Kulleraugen. Impressum: Pro Natura Magazin Spezial 2011. Beilage zum Pro Natura Magazin 2/2011. Das «Pro Natura Magazin» erscheint fünfmal jährlich (plus Pro Natura Magazin Spezial) und wird allen Pro Natura Mitgliedern zugestellt. ISSN 1422-6235 Mit- Aber wie heisst es doch: Schönheit liegt im arbeit an dieser Ausgabe: Jan Gürke, Nicolas Gattlen, Andreas Minder, Urs Tester Idee und Konzept: Andrea Strässle Auge des Betrachters. Redaktion: Andrea Strässle, Raphael Weber (Deutsch), Florence Kupferschmid-Enderlin (Französisch), Luca Vetterli (Itali- enisch) Fachlektorat: Lukas Pfiffner Produktion/DTP: Birgit Leifhelm, Andrea Strässle Lithos und Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen Auflage: 109 500 (83 000 deutsch, 23 500 französisch, 3000 italienisch) Anschrift: Pro Natura Magazin, Postfach, 4018 Basel; Tel. 061 317 91 91 (9–12 und 14–17 Uhr), Fax 061 317 92 66, E-Mail: mailbox@pronatu- ra.ch; http://www.pronatura.ch; PK 40-331-0. Pro Natura ist Gründungsmitglied der Internationalen Naturschutzunion IUCN und Schweizer Mitglied von Friends of the Earth International. www.pronatura.ch Titelfoto: Heidi & Hans-Jürgen Koch Pro Natura Magazin Spezial 2011
Inhalt | > 4 Der Geheimnisvolle. Regenwürmer sind faszinierende Helden des Untergrunds. 8 Die Vielfalt. In der Schweiz leben rund 40 verschiedene Regenwurmarten. 9 Das Liebesleben. Regenwürmer sind Männchen und Weibchen zugleich. 11 Der Untergrundaktivist. In gesunden Böden steckt der Wurm drin. 12 Der Lebensraum. Der Boden ist die Lebensgrundlage für Pflanzen, Tiere und Menschen. 15 Die Mitbewohner. Unter unseren Füssen tummelt sich eine Fülle an Lebewesen. 16 Die Wurmfarm. Jean-Denis Godet züchtet Kompostwürmer. 18 Die Gefahren. Was dem Regenwurm schadet – und was ihm guttut. 20 Der Wandel. Regenwürmer wurden nicht immer so geschätzt wie heute. Heidi & Hans-Jürgen Koch 22 Der Schutz. Pro Natura setzt sich für einen sorgfältigen Umgang mit dem Boden ein. 23 Der Helfer. Schlaue Gärtner spannen mit dem Regenwurm zusammen. 15 P. Reutimann 9 12 Heidi & Hans-Jürgen Koch Heidi & Hans-Jürgen Koch Pro Natura Magazin Spezial 2011
4 Der lichtscheue Kraftprotz Aristoteles nannte sie die «Eingeweide der Erde». Regenwürmer haben einen gewaltigen Appetit, eine dünne Haut und sind eine Wohltat für den Boden. Jedes Kind kennt ihn. In Wiesen, Wäldern, vor. Besonders gross ist die Artenvielfalt in den Die grossen, kräf Äckern, in Vorgärten, Rabatten, Komposthaufen: Tropen. In der Schweiz sind immerhin rund tigen Tiefgraber pen überall steckt der Wurm drin. In intaktem Grün 40 Arten nachgewiesen. Der Grund für die re deln zwischen Unter land leben pro Quadratmeter 150 bis 400 Regen lativ bescheidene Artenzahl in unseren Breiten boden und Boden würmer. Kein Wunder, gehören Regenwürmer liegt in den Eiszeiten. Die Regenwürmer haben oberfläche. Sie legen zu den bekanntesten Tiergruppen überhaupt. die Vergletscherung nicht überlebt. Seit dem nahezu senkrechte, Und doch wissen nur die wenigsten Genaueres Rückzug der Gletscher vor 15 000 Jahren haben bis zu drei Meter tiefe, über die umtriebigen Bodenbewohner. sie von Südwesten her allmählich wieder Ter stabile Wohnröhren an, rain zurückerobert – doch ist die Rückkehr der deren Wände sie mit Wahre Weltenbürger Regenwürmer bis heute nicht abgeschlossen. Kot tapezieren. Diese Zuerst einmal: Regenwurm ist nicht gleich Re kräftigen Arten ziehen genwurm. Weltweit leben über 3000 verschie Von oberflächlich bis tiefschürfend totes Pflanzenmaterial von dene Regenwurmarten. Manche sind mit blos Die verschiedenen Regenwurmarten lassen der Bodenoberfläche in ihre sem Auge gerade noch zu erkennen, andere sich in drei ökologische Gruppen einteilen: Die Wohnröhren ein. Sie sind nur werden über zwei Meter lang. Ausser in eis kleinen und agilen Streubewohner leben zu im vorderen Körperbereich bedeckten Gebieten und vegetationsloser Wüs oberst in der Humusauflage und in der Streu dunkel gefärbt. te kommen in fast allen Böden Regenwürmer schicht. Sie fressen totes Pflanzenmaterial auf der Bodenoberfläche. Zum Schutz vor schädli Geringelter Muskelschlauch cher UV-Strahlung sind sie am ganzen Körper Wie ein Regenwurm aussieht, weiss rötlich-braun gefärbt. jeder – zumindest ungefähr. Doch Die Flachgraber oder Mineralbodenformen was steckt eigentlich in so einem besiedeln den Wurzelbereich von Pflanzen. Sie Wurm drin? Stark vereinfacht gesagt ernähren sich zum Beispiel von abgestorbenen ist ein Regenwurm ein muskulöser Wurzelteilen im Boden, ohne jedoch die leben Schlauch, der mit Flüssigkeit gefüllt den Pflanzenteile zu schädigen. Diese bleichen ist. Durch diesen Schlauch ziehen Arten graben vorwiegend horizontale, instabile sich der Darm, ein Bauchnervenstrang Gänge und kommen fast nie an die Oberfläche. und zwei Blutgefässe. Unter der Haut Pro Natura Magazin Spezial 2011
5 befinden sich Ring- und abwechselndes Strecken und Zusammenziehen schiebt die Erde auseinander. So können Re Längsmuskeln. Zieht der kriecht der Wurm vorwärts. genwürmer bis zum 60-fachen ihres Körperge Wurm die Ringmuskeln Regenwürmer gehören zu den Ringel wichts stemmen – und gehören damit im Ver zusammen, wird die würmern: Ihr Körper ist in viele ähnlich ge hältnis zu ihrer Grösse zu den stärksten Tieren betreffende Stelle lang staltete Segmente unterteilt, die äusserlich als der Welt. Mithilfe winziger Borsten in seiner und dünn. Spannt Ringelung sichtbar sind. In jedem Segment Haut kann sich der Wurm zudem in der Röh er hingegen die befinden sich zwei Nervenknoten und zwei renwand verankern und rutscht nicht zurück. Längsmuskeln nierenartige Ausscheidungsorgane. Das vorde an, verdickt re Drittel des Wurmes unterscheidet sich von Dünne Haut sich der den übrigen Körpersegmenten durch zusätz Wer solche Höchstleistungen vollbringt, Körperab liche Organe, etwa die fünf Paar «Herzen» und braucht genügend Puste. Regenwürmer haben schnitt. die Geschlechtsorgane. weder Lungen noch Kiemen. Sie atmen durch Durch die Haut: Der Sauerstoff diffundiert über die Raffinierte Bohrtechnik Körperoberfläche direkt in feine Blutgefässe. Ein mit Flüssigkeit gefüllter Schlauch also, Deshalb ertrinken Regenwürmer auch weich und biegsam – und doch schafft es der nicht, wenn Regen ihre Gänge flutet – sofern Regenwurm, sich durchs Erdreich zu zwängen im Wasser genügend Sauerstoff gelöst ist. Die und meterlange Gangsysteme in den Boden zu Hautatmung bedingt allerdings, dass der Re graben. Alles eine Frage der Technik: Regen genwurm seine Haut immer feucht hält. Da würmer sind Bohrgräber. Um sich durch für sorgt der Wurm mit Schleim aus seinen die Erde zu graben, zieht der Wurm Rückenporen und zum Teil auch durch Aus die Ringmuskeln des Vorderendes scheidungen der Nierenorgane. zusammen und bohrt das dünne Vorderteil in feine Spalten. Der Taub und stumm? art eingekeilt, verkürzt er die Regenwürmer besitzen weder Augen noch Oh Längsmuskulatur, das Vor ren – und reagieren doch auf Licht und Schall. derteil wird dicker und Helligkeitsunterschiede nimmt der Wurm über Ein Tauwurm (Lumbricus terrestris) reckt sich auf der Suche nach Heidi & Hans-Jürgen Koch Nahrung aus seiner Wohnröhre. Pro Natura Magazin Spezial 2011
6 Lichtsinneszellen in der Oberhaut wahr, die ge- häuft an Vorder- und Hinterende vorkommen. Als Tastsinnesorgan dient ihm vor allem der Kopflappen, ein Fortsatz des ersten Seg- ments, der die Mundöffnung überdeckt. Ver- streut über die ganze Körperoberfläche liegen Drucksinneszellen, mit denen der Regenwurm Bodenerschütterungen wahrnimmt. Niedrig frequente Schwingungen versetzen die meis- ten Regenwurmarten so sehr in Aufregung, dass sie ihre Gänge verlassen und an die Ober- fläche kommen. Man deutet dieses Verhalten als instinktiven Fluchtversuch vor Fressfeinden wie etwa dem Maulwurf. Angler nutzen dies, um Würmer als Köder zu fangen: Sie stecken einen Stock in den Boden und rütteln kräftig am freien Ende. Auch wurde beobachtet, dass Regenwürmer an Strassen, die mit schweren Fahrzeugen befahren werden, bei starkem Ver- kehrsaufkommen an die Erdoberfläche krie- chen und sich Scharen von Krähen einfinden, um sich an den Leckerbissen gütlich zu tun. Schliesslich haben Regenwürmer auch einen Geschmacksinn: Sinnesknospen in der Oberhaut und im Innern der Mundhöhle re- agieren auch auf chemische Reize. So können Regenwürmer etwa süss und bitter unterschei- den. Das ermöglicht ihnen, die Qualität ihrer Nahrung zu prüfen. Zahnloser Vielfrass Regenwürmer sind fast ständig am Fressen und Graben. Sie verschlingen pro Tag bis zur Hälfte ihres Eigengewichtes an Nahrung. Man stelle sich vor, der Mensch hätte im Verhältnis Kot und schaffen damit ein Schlaraffenland für Durch ihr Graben, Fressen und Ausschei- denselben Heisshunger. Mikroorganismen. den bringen Regenwürmer ausserdem Erde aus Auf dem Speisezettel des Regenwurms ste- Zusammen mit den teilweise zersetz- tiefen Bodenschichten in den Oberboden und hen vor allem «Abfallprodukte» der Natur: ab- ten Pflanzenresten nimmt der Wurm auch halten den Boden damit jung. Ihre Röhren gestorbene Pflanzenreste, Blätter, Ernterück- Erde auf. Im muskulösen Magen werden die systeme verbessern die Durchlüftung und die stände. Da der Wurm keine Zähne hat, ist er Pflanzenteile zwischen Mineralteilchen zer Wasseraufnahme des Bodens und fördern das auf Vorkoster angewiesen. Erst wenn Pilze und rieben. Im Darm helfen Mikroorganismen und Wurzelwachstum. Bakterien das organische Material aufgeschlos- Enzyme, die Nahrung zu verdauen. Ein gros sen haben, kann der Regenwurm die Pflanzen ser Teil der aufgenommenen Nahrung wird je- Sommer- und Winterruhe reste samt Mikroorganismen in die Speiseröhre doch unverdaut ausgeschieden. Dieser Kot ist Regenwürmer sind also eine wahre Wohltat saugen. Um den Prozess zu beschleunigen, jedoch keinesfalls wertloser Abfall. Im Gegen- für den Boden. Am aktivsten sind die fleis haben sich manche Regenwürmer zu richti- teil: Regenwurmlosung ist besonders gute Erde. sigen Arbeiter im Frühling und im Herbst. gen Kompostiermeistern entwickelt: Sie zie- Sie enthält Nährstoffe in hoher Konzentration Regenwürmer sind wechselwarme Tiere, die hen Laub und Ernterückstände von der Ober und in einer Form, die Pflanzen leicht aufneh- ihre Körpertemperatur nicht selbstständig re- fläche in ihre Wohnröhren, kleben das Mate- men können. Das macht Regenwurmhäufchen gulieren können. Die optimale Umgebungs rial dort an die Wand, überschichten es mit zu ausgezeichnetem Pflanzendünger. temperatur liegt für die meisten Arten bei 10 Pro Natura Magazin Spezial 2011
7 Laub ist eine der Leibspeisen vieler Regenwurmarten. Heidi & Hans-Jürgen Koch bis 15 Grad Celsius. Hitze und Trockenheit Jack Denton Scott in einem Artikel über den im Sommer wie auch tiefe Temperaturen im Regenwurm schrieb: «Lebendig begraben, Winter machen den Regenwürmern zu schaf- sichert er den Bestand unserer Welt, indem fen. Die meisten ziehen sich bei solch widri- er sie frisst.» gen Bedingungen zunächst tiefer in den Bo- ANDREA STRÄSSLE ist Redaktorin des den zurück, in feuchtere oder vom Frost ver- Pro Natura Magazins. schonte Erdschichten. Bei zu extremen Be- dingungen können gewisse Arten in eine Art Sommer- beziehungsweise Winterschlaf fal- len: Sie ringeln sie sich in einer mit Kot aus tapezierten Höhlung ein und verfallen in Welches ist der grösste Regenwurm? Illustration: Isabelle Bühler einen Starrezustand. Die australische Art M egascolides australis, Sind die Verhältnisse wieder günstiger, englisch «Giant Gippsland Earthworm», gilt als beginnen sie sich erneut zu regen und un- einer der grössten Regenwürmer. Er wird bis zu beirrt ihren Untergrundaktivitäten nachzu- drei Meter lang und drei Zentimeter dick. gehen. Oder wie der amerikanische Autor Pro Natura Magazin Spezial 2011
8 Heidi & Hans-Jürgen Koch Heidi & Hans-Jürgen Koch Der Tauwurm (Lumbricus terrestris) ist vorne dunkler gefärbt als hinten. Ein jeder nach seiner Art In der Schweiz sind rund vierzig Regenwurmarten heimisch. Drei Beispiele Waldhäusl/J. Mikus zeigen, wie sich die verschiedenen Arten ihrem Lebensraum angepasst haben. Er ist der Regenwurm schlechthin: Der Tau- denn auch vergebens, hingegen tummeln sie wurm (Lumbricus terrestris) gehört zu den sich in Kompost- und Misthaufen. Kompost- häufigsten und mit 12 bis 30 Zentimetern würmer sind 4 bis 12 Zentimeter gross, wein- Länge zu den grössten einheimischen Regen rot, mit hellen, manchmal nahezu gelben würmern. Er ist rotbraun gefärbt, nach hinten Querstreifen zwischen den Segmenten. Eisenia heller werdend, mit abgeplattetem Hinterende. fetida ist ein beliebter Zuchtwurm, der unter Der Tauwurm ist häufig in Wiesen, Gärten und Namen wie Tennessee Wiggler, Roter Kalifor- Kompostwürmer (Eisenia fetida) sind in Äckern zu finden. Als typischer Tiefgraber legt nier oder Zebrawurm verkauft wird. Kompost- und Misthaufen zu finden. er je nach Boden bis zu drei Meter tiefe Wohn röhren an. Nachts und in der Dämmerung zieht Lichtscheue Wühler M. Glasstetter er Blätter und anderes totes Pflanzenmaterial Ganz andere Gewohnheiten pflegt der Bläuliche in seine Röhre. Seinen Kot deponiert er an der Regenwurm (Octolasion cyaneum). Der 6 bis Oberfläche in Form der bekannten Häufchen. 14 Zentimeter grosse Wurm ist in Kultur- und Der Tauwurm durchmischt den Boden intensiv Waldböden zu finden, meidet als Flachgraber und ist deshalb ein wertvoller Helfer für Land- jedoch die Erdoberfläche. Er frisst sich förmlich wirte und Gärtner. durch den Boden und ernährt sich von orga- nischem Material sowie von Mikroorganismen, Kompostliebhaber die das Erdreich besiedeln. Sein Äusseres ist für Zu den Streubewohnern gehören die Kompost- einen Regenwurm fast schon farbenfroh: Der oder Mistwürmer (Eisenia fetida und Eisenia grösste Teil des Körpers schimmert in einem Der Bläuliche Regenwurm (Octolasion cya- andrei). In normalen Garten- oder Ackerböden blassen Violett, das Hinterende ist gelb gefärbt. neum) lebt im Wurzelbereich der Pflanzen. sucht man die beiden eng verwandten Arten ANDREA STRÄSSLE Weshalb kommen Regenwürmer bei heftigem Regen oft massenweise an die Oberfläche? Auf diese Frage gibt es bislang keine eindeutige Antwort. Verschiedene Vermutungen existieren: > Die Regenwürmer nutzen Feuchtigkeit und Bewölkung, um bei grosser Konkurrenz in ein neues Gebiet auszuwandern oder einen Partner zur Paarung zu suchen. > Die Tiere geraten in Panik, weil durch das eindringende Wasser die Bodenteilchen in ihren Wohnröhren in Bewegung geraten. > Die Tiere nehmen die Erschütterung durch die Regentropfen wahr und reagieren gleich wie bei Bodenerschütterungen durch Fressfeinde oder kleinen Erdbeben – mit Flucht. > Regenwürmer können auch im Wasser atmen. Trotzdem flüchten sie allenfalls aus Atemnot, weil warmes Regenwasser relativ wenig Sauerstoff enthält. Pro Natura Magazin Spezial 2011
9 In diesem Kokon wächst ein Jungtier der Gattung Dendrobaena heran. Woher die Wurmbabys kommen Es beginnt mit einem sanften Abtasten, das Ergebnis sind streichholzgrosse Kokons: Auszüge aus dem Liebesleben eines Zwitters. Otto Ehrmann Wie unterscheidet man Regenwurmmännchen Anschliessend lösen sich die Würmer aus von -weibchen? Gar nicht. Denn Regenwürmer der Umklammerung und kriechen ihres Weges. sind Männchen und Weibchen zugleich: Bei günstigen Umweltbedingungen bildet jeder Als Zwitter besitzen sie sowohl männliche der beiden Würmer einen Schleimring in seiner Zwei Regenwürmer der Art wie weibliche Geschlechtsorgane. Trotzdem Gürtelregion. Aus dieser Schleimmanschette Lumbricus terrestris bei der Paarung. müssen zur Fortpflanzung zwei Tiere zusam- windet sich der Regenwurm nun langsam rück- menfinden. Geschlechtsreife Regenwürmer wärts heraus. Wenn der Ring die weibliche Ge- ten Kokons ist je nach Art verschieden. So sind an einer Hautverdickung im vorderen schlechtsöffnung passiert, presst der Wurm ein paart sich der grosse, tiefgrabende Tauwurm Drittel des Körpers zu erkennen, dem soge- Ei hinein. Ein Stück weiter kopfwärts gibt er et- (Lumbricus terrestris) einmal pro Jahr und nannten Gürtel. Paarungswillige Tiere kom- was Samen aus der Samentasche hinzu. Dann bildet dabei 5 bis 10 Kokons mit je einem Ei. men nachts oder in der Dämmerung an die schlüpft der Wurm vollends aus dem Schleim- Weitaus produktiver ist hingegen der Kompost- Oberfläche und suchen sich einen Partner. ring heraus. Dessen elastische Enden ziehen wurm (Eisenia fetida): Er paart sich mehrmals Als «Vorspiel» betasten sich die beiden mit sich zusammen und verkleben: Ein blassgelber, und legt pro Jahr rund 140 Kokons ab, aus de- ihren Kopfenden. Dann legen sie sich in ent- zitronenförmiger Kokon von der Grösse eines nen erst noch Mehrlinge schlüpfen. gegengesetzter Richtung mit den Bauchseiten Streichholzkopfes entsteht. Regenwürmer zeigen sogar einen Ansatz eng aneinander. Klebriger Schleim und spe- von Brutfürsorge: Viele Arten umgeben ihre zielle Klammerborsten halten die beiden in Ein- oder Mehrlinge Kokons mit einer dicken Schutzschicht Re- dieser Position fest. Nun tauschen die Regen- Bei den meisten Regenwurmarten reift pro Ko- genwurmkot. Kaum geschlüpft, beginnen die würmer ihren männlichen Samen aus. Über kon nur ein Jungtier heran. Die Entwicklungs- winzigen Würmchen nämlich mit Graben und eine Samenrinne wird dieser zu den Samen- zeit schwankt zwischen wenigen Wochen und Fressen – und finden in der Kotschicht ihre taschen des Partners transportiert und dort mehreren Monaten – je nach Art und Umwelt- erste Nahrung. zwischengelagert. bedingungen. Auch die Anzahl der produzier- ANDREA STRÄSSLE Pro Natura Magazin Spezial 2011
10 Durch ihre Tunnelsysteme lockern und belüften Regenwürmer den Boden. Heidi & Hans-Jürgen Koch Pro Natura Magazin Spezial 2011
11 «Ohne Regenwürmer gäbe es keine fruchtbaren und vitalen Böden» Der Agronom Lukas Pfiffner erforscht seit vielen Jahren Regenwürmer und ihre Bedeutung. Im Interview mit Pro Natura berichtet er vom beeindruckenden Leistungskatalog der stillen Schaffer. Pro Natura: Herr Pfiffner, wie sind Sie Beim Pflügen erreicht man bloss eine zeitlich die Erosion. Von Regenwürmern durchbohrte eigentlich auf den Wurm gekommen? begrenzte Lockerung des Oberbodens. Der Böden nehmen vier- bis zehnmal so viel Was- Lukas Pfiffner: In einem Feld Einfluss der Regenwürmer ist tiefgreifender ser auf wie Böden mit nur wenigen Würmern. versuch mit verschiedenen An- und vielfältiger. Sie konstruieren ein Röhren- Auch sorgen diese Röhren für eine Durch bausystemen stellten wir fest, dass system, das den Boden ideal mit Wasser und lüftung des Bodens. Entlang der Regenwurm- im «Bio»-Boden 50 bis 90 Prozent Luft versorgt. Zudem bauen sie tote Pflanzen- gänge siedeln zudem grosse Populationen von mehr Regenwürmer leben als im teile ab und reichern wichtige Nährstoffe für Mikroorganismen, die Stickstoff binden, was konventionell bearbeiteten Boden. Ich wollte die Pflanzen an. wiederum den Pflanzen zugutekommt. Eine mehr wissen über dieses Tier. Studie hat gezeigt, dass über 90 Prozent der So wie der Gärtner den Blumen Röhren von Pflanzenwurzeln besiedelt werden. Wie zählt man Regenwürmer, die bis Dünger gibt? Die Pflanzen können so ohne Widerstand in zu drei Meter tief im Boden graben? Der Regenwurm gibt ja nichts Neues hin- tiefere Bodenschichten eindringen. Man treibt sie mit einem harmlosen Senfpulver zu. Er kompostiert in seinem Darm Pflan- an die Oberfläche. Um an die Flachgraber und zen- und Tierreste und mischt diese mit fei- Regenwürmer werden im Obst- und an die Regenwurmeier zu kommen, graben wir nen Mineralteilchen sowie Mikroorganismen. Weinbau gerne gesehen. Weshalb? einen Teil der obersten Schicht aus und zer- 40 bis 100 Tonnen wertvolle Wurmlosung pro- Sie ziehen das Laub in den Boden und mit ihm krümeln sorgfältig die Erde. Dann zählen wir duzieren die Regenwürmer so pro Hektar und Schadorganismen wie Apfelschorf, Rotbren- die Individuen und wägen die Biomasse im Jahr. Dieses wertvolle Material enthält fünf- ner auf Reben oder blattminierende Insekten. Labor. mal mehr Stickstoff, siebenmal mehr Phosphor In den Röhren werden diese Schädlinge von und elfmal mehr Kalium als die umgebende Bodenorganismen 100 Prozent biologisch ab- Nicht wenige Menschen ekeln sich Erde. Ein Leckerbissen für die Pflanzen. gebaut. Eine wertvolle Dienstleistung. vor Regenwürmern, diesen Wesen ohne ersichtliches Vorne und Hinten. Und ein Segen für den Boden. Noch im Tod erweisen sich die Dann sollten sie einmal einen lebenden Re- Das wird oft unterschätzt. Durch die intensi- Regenwürmer als nützlich: Sie sind genwurm unter dem Binokular betrachten. ve Durchmischung von organischer Substanz wichtige Eiweisslieferanten für Zum Beispiel den Schleimwurm, einen präch- mit mineralischen Bodenteilchen, Mikroorga- Vögel, Marder, Igel, Spitzmäuse und tig rosa schimmernden Flachgraber. Sie wer- nismen und Schleimabsonderungen bildet sich Ameisen. den staunen. ein stabiles Krümelgefüge. Diese Ton-Humus- Und sie stärken ein letztes Mal die Fruchtbar- Komplexe sind sehr wichtig. Dank ihnen ver- keit des Bodens. Ein toter Regenwurm ent- Was fasziniert Sie sonst noch an schlämmt der Boden weniger, er ist leichter hält bis zu 10 Milligramm Stickstoff. Auf einer diesen Tieren? zu bearbeiten. Wiese mit 400 Tieren pro Quadratmeter wer- Ihre Kraft. Haben Sie einmal versucht, einen den so 30 bis 40 Kilogramm Stickstoff pro Hek- Tauwurm aus einer Röhre zu ziehen? Sie wer- Regenwürmer sind grossartige tare und Jahr freigesetzt. Das entspricht unge- den es nicht schaffen, ohne ihn zu zerreissen, Tunnelbauer. Pro Quadratmeter fähr dem Stickstoffeintrag über die Luft. selbst wenn er zu drei Vierteln aus dem Boden Boden konstruieren sie bis zu Lukas Pfiffner, 48, Agronom ETH, Dr. phil.-nat., ragt. Noch beeindruckender aber ist ihr Leis- tausend Röhren in die Tiefe – man arbeitet seit zwanzig Jahren am Forschungs tungskatalog. Ohne Regenwürmer gäbe es kei- hat schon acht Meter lange Röhren institut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick. Er leitet Projekte im Bereich Biodiversität und ne fruchtbaren und vitalen Böden. gemessen. Was bewirken diese Naturschutz in unterschiedlichen Anbausystemen. Röhren? Wie muss man sich die Arbeit eines Besonders die stabilen Wohnröhren der Tief- Regenwurms vorstellen? Wie die graber verbessern deutlich die Wasseraufnah- Interview: NICOLAS GATTLEN. Er arbeitet als eines Minipflugs? me und Drainage des Bodens und vermindern Journalist in Kaisten. Pro Natura Magazin Spezial 2011
12 Der Boden – unsere Lebensgrundlage Der Boden, Lebensraum des Regenwurms, ist ein unterschätztes Gut. Um zu wachsen, braucht er Jahrtausende. Zerstört ist er in wenigen Sekunden. Der Boden ist für uns selbstverständlich. Wie tuellen Buch «Dreck». Der US-Geologe warnt Der Boden ist der oberste, verwitterte und die Luft oder der Gruss des Nachbarn. Und davor, die dünne Haut der Erde weiter zu belebte Bereich der Erdoberfläche. Meist be- genau dies ist sein Problem: «Der Boden versiegeln und zu verdichten, zu übernut- stehen Böden aus mehr oder weniger deutli- ist die am meisten unterschätzte, am zen und zu verschmutzen. Viele alte Kultu- chen Schichten: Zuoberst liegt wenig zersetz- wenigsten gewürdigte und wichtigste Ressour- ren seien «weniger zugrunde gegangen als tes Pflanzenmaterial, die Streu. Darunter be- ce», schreibt David Montgomery in seinem ak- zerkrümelt». findet sich der stark durchwurzelte, an Nähr Regenwürmer bewohnen und pflegen eine unserer kostbarsten Ressourcen: den Boden. Ihr Kot ist nährstoffreich und sorgt für eine stabile Bodenstruktur. Heidi & Hans-Jürgen Koch Pro Natura Magazin Spezial 2011
13 Wo stehen Regenwürmer im Tierreich? Regenwürmer sind Vertreter des Stam- mes der Ringel- würmer (Annelida) stoffen und Bodenlebewesen reiche Ober Bodenlebewesen in ihre organischen Bestand und der Klasse boden. Unter dem schwächer durchwurzelten, teile zerlegt. Allmählich entsteht so ein hu- der Gürtelwürmer mineralischen Unterboden liegt schliesslich moser Oberboden. Darin finden immer mehr (Clitellata). Innerhalb der der Untergrund aus Fels, lockerem Gestein Pflanzen Halt. Durch das Wurzelwachstum Gürtelwürmer gehören sie oder Sedimenten. und die Freisetzung von Säuren zerfällt das zur Ordnung der Wenig- Bis ein lebendiger Boden entsteht, verge- Gestein in noch kleinere Teile. So wächst der borster (Oligochaeta). Die hen viele Jahrtausende. Ausgangspunkt ist Ge- Boden Millimeter für Millimeter in die Tiefe. einheimischen Regenwurm stein, das verwittert. Darauf siedeln sich Pilze Die Böden Mitteleuropas sind nach der arten gehören alle zur Familie und Algen an, später Flechten und Moose. Die letzten Eiszeit im Laufe von etwa 10 000 Jah- der Eigentlichen Regenwürmer abgestorbenen Reste dieser Vegetation wer- ren entstanden. Die meisten sind zwischen (Lumbricidae). den durch den Einfluss der Witterung und von 40 Zentimeter und 2 Meter mächtig. Je nach Ausgangsgestein, Vegetation, Klima, Wasser gehalt und Lage haben sich unterschied- aus. In den verschiedenen Gesteinsschichten liche Bodenformen gebildet. Auf kalkarmem wird das durchsickernde Wasser schliesslich Silikatgestein etwa entsteht bei ausreichen- mit Mineralien zu hochwertigem Trinkwasser der Feuchtigkeit saure Braunerde. Ihr Farbton angereichert. geht auf den Gehalt von braunschwarzen Mi- neralien zurück. Boden in Bedrängnis Die saure Braunerde ist der charakteris- Dem Boden selbst droht die Funktion des Fil- tische Boden der Buchenwälder, wie wir sie ters und Puffers jedoch zum Verhängnis zu im Mittelland finden. Auf dem Kalkgestein im werden. Schadstoffe bleiben im Boden haften Jura und in den Voralpen wachsen Rendzina- und reichern sich über Jahrzehnte an. Auch Böden. Der polnische Begriff ist dem kratzigen das Klimagas CO2 wird im Boden gespeichert. Geräusch des Pflugs in steinigen Äckern nach- Das Potenzial der Böden als Senken für CO2 ist empfunden. Ein besonders fruchtbarer Acker- jedoch begrenzt. Wie sie auf eine künftig er- boden ist der Löss, den man in der Rhein höhte CO2-Konzentration reagieren, ist offen. ebene bei Basel oder in der Ajoie findet. Er Die Belastung der Schweizer Böden mit besteht aus Feinmaterial, das während der Eis- Schadstoffen ist schon heute beträchtlich: Das zeit abgelagert oder vom Wind angeweht wur- Bundesamt für Umwelt stuft rund 90 Prozent de. Grosse Flächen alpiner Rasen grünen auf des offenen Bodens als schwach, 9 Prozent Rankerböden. Mit ihrer dünnen Humusschicht als mittel und 1 Prozent als stark belastet ein. sind sie landwirtschaftlich höchstens als Wei- Am stärksten verschmutzt sind Siedlungsflä- den nutzbar. chen (Gärten und Parks), Böden im Umfeld bestimmter Industrieanlagen und solche land- Unersetzbares Multitalent wirtschaftlicher Spezialkulturen (Obst- und Böden sind Lebensraum für Bodenorganismen, Weinbau). Standort und Substrat für Pflanzen, die Grund- Weitere Gefahr droht den Böden durch lage einer intakten Landschaft, von Garten- Erosion und Verdichtung: Etwa 20 Prozent bau, Land- und Forstwirtschaft. Nebst Gemü- der Ackerfläche ist von Wassererosion betrof- se, Getreide und Holz beschenken uns die Bö- fen. Schwere Land- und Forstmaschinen ver- den aber auch mit Trinkwasser. Auf der langen dichten die Böden und schmälern ihre Fähig- Passage durch die verschiedenen Schichten keit, Wasser und Nährstoffe zu speichern. Da- des Bodens wird das Regenwasser von Russ durch geht viel wertvolle Kulturerde verloren. und Stäuben gereinigt sowie von Fremd- und Noch rasanter ist der Verlust von Boden durch Schadstoffen wie Dünger, Pestiziden, Schwer- Überbauung. Strassen, Gebäude und Deponien metallen und hormonaktiven Stoffen, die es nehmen immer mehr Fläche in Anspruch. Pro aus den oberen Bodenschichten ausgewaschen Sekunde wird in der Schweiz knapp ein Qua- hat. Die verschiedenen Substanzen werden dratmeter Boden versiegelt. Ein herber Verlust: von Bakterien im Boden aufgezehrt oder an Der verlorene Boden lässt sich in für Men- Bodenteilchen angelagert. Auch Krankheits schen relevanten Zeiträumen nicht ersetzen. erreger filtert der Boden aus dem Wasser her- NICOLAS GATTLEN Pro Natura Magazin Spezial 2011
14 In den obersten 30 Zentimetern eines Quadratmeters Boden le Pavel Krásenský Heidi & Hans-Jürgen Koch Waldhäusl 50 000 Springschwänze Grösse 0,2–9 mm. > Die meisten Springschwänze haben eine Sprunggabel, die unter den Körper geklappt werden kann. 70 000 Milben Grösse 0,1–5 mm. > Manche Milben ernähren sich vegetarisch, andere von Aas, und manche jagen andere Bodentiere. 30 Asseln P. Reutimann M. Glasstetter Grösse 3–20 mm. > Asseln zerkleinern Laubstreu und Totholz. P. Reutimann Blickwinkel 100 Doppelfüsser Grösse 0,2–5 cm. > Doppelfüsser zeigen eine grosse Formenvielfalt, von wurmartig langgestreckt bis asselförmig verkürzt. 30 000 Enchyträen Grösse 0,5–2 cm. > Enchyträen verdauen ihre Nahrung durch Speichelsäfte ausserhalb des Körpers vor. Blickwinkel 50 Spinnen Grösse 2–20 mm. > Spinnen leben überwiegend räuberisch. 30 Hundertfüsser M. Glasstetter Blickwinkel Grösse 0,2–10 cm. Blickwinkel > Hundertfüsser ernähren sich überwiegend von weichhäutigen Tieren wie Springschwänzen, Enchyträen und kleinen Regenwürmern. Pro Natura Magazin Spezial 2011
15 Leben im Untergrund Ohne Bodenlebewesen würde die Welt in einer toten Biomasse versinken. Dank einem gigantischen Heer unterirdischer Arbeiter, darunter auch Regenwürmer, entsteht Humus, der Kraftstoff oberirdischen Lebens. Als die Engländer Australien kolonisierten, nicht dieselbe Verteilung entlang der geografi- wollten sie auf eine Tradition nicht verzich- schen Breitengrade wie bei oberirdischen Tier- ten: den Weihnachtsbaum. Doch aus den mit- und Pflanzenarten. So kommen etwa Faden- ben im Durchschnitt: gebrachten Fichtensamen wuchsen in der aust- ralischen Erde kaum je oder höchstens kränkli- würmer sowohl in arktischen Böden als auch in den Tropen, ja sogar in der Tiefsee vor. Individuenzahlen nach W. Dunger (1983) che, kleine Bäumchen. Erst als auch der Boden aus England importiert wurde, gelang das Un- Die unterirdische Wiederauferstehung ternehmen. Verantwortlich für den Erfolg wa- Ohne Bodenlebewesen würde die Welt in einer ren die damit eingeführten Mykorrhiza-Pilze: toten Biomasse versinken. In einem wunder- Sie gehen mit den Fichten eine symbiotische samen Akt führen sie alles Abgestorbene zu- Lebensgemeinschaft ein. rück ins Leben: Blätter, Fallobst, Tierkadaver 100 Regenwürmer Tatsächlich ist der Boden mehr als ein und – Erde zu Erde – auch den Menschen. So Grösse 1–30 cm. > Der Regenwurm nährstoffhaltiges Substrat: In einer Handvoll nahm der Maler Friedensreich Hundertwasser mischt organische und Erde leben fast so viele Lebewesen wie Men- im Humus den «Geruch der Wiederauferste- anorganische Substanzen schen auf diesem Planeten. Vielleicht erken- hung» wahr. im Boden. nen wir auf den ersten Blick einen Engerling, Dieser Prozess der Revitalisierung erfolgt 350 Insekten eine Raupe oder einen Tausendfüssler. Doch in mehreren Phasen mit verschiedenen Akteu- und Insektenlarven die meisten Bodenbewohner sind von blossem ren: Käfer, Milben und Springschwänze beis Auge nicht zu sehen. Nur ein Mikroskop gibt sen als erste Löcher in die zu Boden gefallenen Grösse 0,1–6 cm. > Hierzu gehören zum Beispiel uns Einblick in die Welt dieser Pilze, Algen, Blätter und Früchte, sie machen so das Innere Ameisen, Käfer und ihre Larven Bakterien, Einzeller, Fadenwürmer und Milben. der Pflanzen für Bakterien und Pilze zugäng- sowie Mücken- und Fliegenlarven. lich. Sodann laben sich Asseln und Schnecken Die Rätsel im Boden an den Pflanzenresten. Ihr Kot wird von Ver- Im Vergleich zu unseren Kenntnissen über die tretern der Mesofauna (Milben, Fadenwürmer P. Zolda überirdischen Ökosysteme wissen wir über usw.) gefressen, die das organische Material Bodenlebewesen nur wenig. Gegenwärtig ist ihrerseits ausscheiden. Mit Darmenzymen und nur ein geschätztes Prozent sämtlicher Bakteri- Wasser angereichert weist es nun eine viel grös en und Pilzarten bekannt, im Vergleich zu über sere Oberfläche auf als das ursprüngliche Ma- 1 000 000 Fadenwürmer 80 Prozent der Pflanzen. Wir kennen nicht ein- terial und bietet einen idealen Nährboden für Grösse 0,2–20 mm. mal zwei Prozent der Fadenwürmer (Nema- Bakterien und Pilze. Diese zersetzen das organi- > Fadenwürmer leben in feuchtem, toden) und lediglich vier Prozent der Milben. sche Material und lösen daraus Mineralien und pflanzlichen und tierischen Abfall an Es wird vermutet, dass mindestens ein Nährsalze, Stickstoff und Kohlenstoff. Schliess- der Bodenoberfläche und im Boden. Viertel aller auf diesem Planeten vorkommen- lich verarbeiten Regenwürmer Mineralerde und den Arten im Boden leben. Ihre Zusammen- Kotballen anderer Bodenlebewesen zu Humus – setzung und ihre Anzahl variieren je nach dem Kraftstoff des oberirdischen Lebens. Ökosystem. Auch gilt für die Bodenlebewesen NICOLAS GATTLEN Wo ist denn hier vorne und wo hinten? Bei geschlechtsreifen Regenwürmern lässt sich dies anhand des Geschlechtsgürtels feststellen: Diese Hautverdickung liegt näher am Vorderende des Wurms. Bei ungleichmässig pigmentierten Arten ist das Vorderende jenes mit der dunkleren Färbung. Auch ein kleines Experiment kann die Frage klären: 50 Schnecken Nehmen Sie den Regenwurm in die Hand und schliessen Grösse 0,5–5 cm. Sie diese vorsichtig. Das Tier wird versuchen, sich mit dem > Nur wenige Landschnecken Vorderende zwischen den Fingern hindurchzuzwängen. sind echte Bodentiere, welche die Streu- und obersten Bodenschichten bewohnen. Pro Natura Magazin Spezial 2011
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