Schuhe, die Geschichte schreiben: Die Birkenstock-Sandale

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Schuhe, die Geschichte schreiben: Die Birkenstock-Sandale
M A R KT & B E T R I E B

Schuhe, die Geschichte schreiben:
Die Birkenstock-Sandale
NIKE U. BREYER

Schuhe passen und gefallen – oder eben nicht? Von wegen.
Schuhe haben es in sich: Sie spiegeln das technische Können und

                                                                                                                                     Foto: Birkenstock Group B.V. & Co. KG
Wissen einer Zeit und übersetzen Wertorientierung und Körper-
bilder in eine skulpturale intuitiv verständliche Form. Pure Alche-
mie – man nennt es auch Mode. Markante Schuhmodelle haben
den Zeitgeist eingefangen und/oder aktiv mitgeformt – als Stern-
schnuppen der Kreativität oder als Dauerläufer, die zu Klassikern
wurden – wie die Birkenstock-Sandale.

T    he ugliest shoe ever made“ philoso-
     phierten „amerikanische Kommen-
tatoren“ gerne mal, wie 1993 im ZEIT
                                             Ästhetische Emanzipation
                                             Die modisch-ästhetische Emanzipati-
                                             on der Sandale, die vor 20 Jahren auch
                                                                                         rung der verschiedenen Birkenstock-
                                                                                         Untermarken unter einer Birkenstock
                                                                                         group 2013 zeigt sich seitens der Marke
Magazin nachzulesen war. Knapp zehn          in Heiratsanzeigen gerne noch her-          ein neuer betont modischer Auftritt. Ex-
Jahre später stellte auch die Frankfur-      renwitzig zitiert wurde („bitte keine       klusive Designer-Editionen mit Valen-
ter Allgemeine Zeitung unter dem Titel       Earthmothers oder Birkenstock-Träger-       tino, Proenza Shouler, Rick Owens oder
„Sanftherrentum in Arizona-Sandalen“         innen“) war nach 40 Jahren Bescheiden-      aktuell TooGood setzen gut sichtbar ex-
fest, dass die Birkenstock-Sandale nun-      heit irgendwann nicht mehr zu igno-         travagante Akzente, mit denen die neu-
mal die „unschöne Sohle“ bleibe, die sie     rieren. Für unsere Fragestellung ist die    en Birkenstock-Designs das Sohlenprin-
sei und wohl überhaupt nur „unter dem        Entwicklung dahin interessant. Pointiert    zip und die typisch klare Handschrift be-
Eindruck deutscher Kompostierungs-           zusammengefasst, zeigt sie eine Abfolge     wahren, aber extravagant interpretieren.
vorschriften designed werden konnte“.        charakteristischer Etappen:                 Birkenstock ist nun auch in der dünnen
Die genannte Fußbekleidung war da-             Von einer anfänglichen Nutzung als        Höhenluft der internationalen High Fa-
mals als Design-Beispiel in der Ausstel-     schlichter sanitärer Versorgungsartikel     shion angekommen.
lung „Was ist deutsch?“ im Rahmenpro-        und als Berufsschuh für Ärzte, Apothe-
gramm zur Fußball-WM im Germani-             kerinnen und Gesundheitsberufe zum          Sandale mit Eigenschaften
schen Nationalmuseum Nürnberg aus-           Zeitpunkt ihrer Marktpremiere 1963          Diesen erfolgreichen Expansionskurs
gestellt. Ob der „Schneewittchensarg“        zeigte die Birkenstock-Sandale in den       verdankt die Birkenstock-Sandale drei
von Braun-Designer Dieter Rams in ih-        1970er- und 1980er-Jahren eine stär-        Kardinaltugenden, die sich gegensei-
rer Nähe postiert war oder der „Ulmer        ker öffentlich wahrnehmbare Nutzung         tig optimal ergänzen und die bei allen
Hocker“ von Max Bill? Das hätte immer-       als modisch-antimodisch und demokra-        Variationen durch die Zeit hindurch zu
hin gepasst. Es brauchte aber offenbar       tisch-ökologisch aufgeladene Fußbe-         keinem Zeitpunkt aufgegeben werden:
nochmals knappe zehn Jahre, bis es den       kleidung der damaligen jungen Grünen,       konsequent anatomisch organisierter
„Kommentatoren“ hierzulande – Nicht-         bunt gewürfelter Ökos, Esos und ande-       Fußkomfort, schnörkelloses      funktio-
europäer waren da um einiges schnel-         rer „Alternativer“. In bürgerlichen Krei-   nales Design, eine glaubwürdig ökolo-
ler – dämmerte, dass sie bei ihrer Analy-    sen war sie als geschätzter Haus- und       gische    Orientierung.   Eigenschaften,
se vielleicht die falsche Brille aufgehabt   Freizeitschuh für businessmüde Zehen        die in der Summe einen durch die Zeit
hatten. Die schweizerische Internetpos-      beliebt, jedoch wenig sichtbar, um in       hindurch fast universell anschlussfähi-
tille TagesWoche bescheinigte der hier       den 1990ern von eben diesen bürgerli-       gen Style geformt haben und mit denen
betrachteten Birkenstock-Sandale 2015        chen Trägerinnen und Trägern zuneh-         man Birkenstock darum fast jede Zu-
schlussendlich beeindruckt „Klassiker-       mend selbstbewusst auch als vielseiti-      kunft zutraut. Das Weitere ist bekannt.
status mit Hipster-Credibility“. Was war     ger Summer-in-the-city-Schuh auf der        Das Traditionsunternehmen vom Rhein
geschehen?                                   Straße ausgeführt zu werden. Im neu-        wechselt nach allein hundert Jahren er-
                                             en Jahrtausend, nach Zusammenfüh-           folgreicher Markengeschichte für etwas

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mehr als drei Milliarden Euro den Eigen-       Orthopädie zuwandte und 1902 ein neu-        hoben, aber originär weitergedacht und
tümer. Die französisch-amerikanische           artiges „Fußbett“ (Birkenstock-Wortprä-      ganz wörtlich auf eigene Füße gestellt.
Beteiligungsgesellschaft L. Catterton,         gung) erfand, das sein Sohn Carl Birken-     Karl Birkenstock gelingt die Quadratur
an der auch die zur Arnault Gruppe des         stock ergänzt um Schulungskurse für          des Kreises. Die neue Sandale bietet
Milliardärs Bernard Arnault gehörige           den Handel, zum erfolgreichen Marken-        den Zehen Raum, dem Fuß Komfort und
Familienholding Financière agache be-          produkt weiterentwickelte. Das elasti-       Unterstützung und aktiviert zugleich die
teiligt ist, hat – nachdem sie einen Mit-      sche „Birkenstock Fußbett“ ermöglichte       Muskeln. Ein paar weitere Modelle folg-
bewerber ausgestochen hat – soeben die         flexibles natürliches Gehen, während es      ten, bevor 1973 Karl Birkenstock mit der
Mehrheit an der Birkenstock GmbH &             den Fuß durch Unterfangen der Hohl-          Sandale Arizona, mit breitem Riegel und
Co. KG erworben. Die beiden Söhne und          räume gleichzeitig vor zu schneller Er-      zwei Schnallen über dem Fußrücken, das
Erben von Birkenstock bleiben als Min-         müdung auf harten Zivilisationsböden         Birkenstock-Konzept zur Quintessenz
derheitsgesellschafter engagiert.              bewahrte. Anders als heute hatte die Or-     verdichtete und die Birkenstock-Sandale
                                               thopädie vor 100 Jahren ein fortschrittli-   schlechthin erschuf. Von nun an wurde
Die Sandale als Erzieher                       ches Image und galt, gestützt auf die im     es üblich, mit der Gattungsbezeichnung
Natürlich steigen Fragen auf. Wie geht         19. Jahrhundert sich rasant entwickelnde     Birkenstock-Sandale einen unverwech-
es nun mit der Sandale weiter? Wird das        Prothetik (siehe Artikel „Transhuman“,       selbaren Mix aus Sohlentechnologie und
in ihr eingebaute Freiheitsversprechen         Orthopädieschuhtechnik      9/2020), als     Designhandschrift zu benennen.
für Körper und Geist nach einem Birken-        ultramoderne    medizinische     Wissen-
stock-uptrading womöglich zum Luxus            schaft. Das Wort Orthopädie selbst ist       Attraktivität im Auge der Trägerinnen
für eine internationale Upperclass? Das        von griech. orthos ‚richtig‘ und paideuein   Wie in allen Sandalen davor und danach
wäre schade. Denn mit einem Freiheits-         ‚richten‘/,erziehen‘ abgeleitet. Der gute    hat Karl Birkenstock hier die geschilder-
versprechen fing alles einmal an. Karl         Ruf der Orthopädie, die damals in etwa       te ortho-paedische Funktion in ultra-
Birkenstock, der Erfinder der Birken-          mit heutiger KI-Forschung und Cyber-         modernes Design gepackt. Darin griff er
stock-Sandale, entstammt – wie inzwi-          technologie vergleichbar war, hielt sich     Einflüsse aus der zeitgenössischen Ar-
schen gut bekannt ist – einer Schuh-           weitgehend noch bis in die 1950er-Jah-       chitektur und dem Industriedesign auf,
macherdynastie, die bis ins Jahr 1774          re, als Karl Birkenstock in das väterliche   das sich mit der Ulmer Hochschule als
zurückverfolgt werden kann. Wobei sich         Unternehmen eintrat. Orthopädie hatte        thinktank damals neu ausrichtete, und
Konrad Birkenstock, der Großvater von          ein anerkannt wertvolles Anliegen: Sie       schmolz diese Inspirationen ästhetisch
Karl, der damals neuen Disziplin der           wollte die Füße, die Jahrhunderte lang       originär in die Birkenstock-Sandalen-
                                               in unpassende „Verkümmerungsmaschi-
                                               nen“ (Kurpfarrer Sebastian Kneipp) ein-
                                               gesperrt worden waren, endlich wissen-
                                               schaftlich ernst nehmen. Die Idee: Füße
                                               sollten gemäß ihren Funktionsgesetzen
                                               bekleidet werden und statt Hühnerau-
                                               gen und krummen Zehen Komfort und
                                               Lebensqualität bescheren.

                                               Support trifft Training
                                               Der technikaffine Karl Birkenstock woll-
                                               te jedoch nicht nur ein Erbe verwalten,
                                               sondern etwas eigenes schaffen. Was den
                                               heutigen Start-ups die berühmte Garage
                                               ist, war dem jungen Karl Birkenstock
                                               die häusliche Küche, wo er im Backofen
                                               die ersten Prototypen seiner neuartigen
                                               Tieffußbett-Sohle aushärtete. 1963 war
                                               es dann so weit: die erste Birkenstock-
                                               Sandale, ein minimalistischer Entwurf
                                               mit Zehenriegel und innovativer Sohlen-
                                               technologie wurde als Weltneuheit prä-
Birkenstock-Old-school-Hipster, Messe Esote-   sentiert. Die Birkenstock-Philosophie        Birkenstock 1774. Foto: Birkenstock Group B.V. & Co. KG
ra München 1999. Foto: Nike Breyer             von Vater und Großvater ist darin aufge-

www.ostechnik.de                                                                                                                              39
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modelle ein. Mit dem Unisexcharakter                     Silicon Valley-Nerds entdecken               Heritage Auctions für „einen Appel und
aller Modelle, verzichtete Birkenstock                   Birkenstock                                  ein Ei“ von 2 750 US Dollar versteigert.
zugleich auf jede spezifischere Zuord-                   Tatsächlich könnte eine andere Commu-        Man sieht den Sandalen an, dass sie ge-
nung zu Geschlecht und Alter und hob                     nity bei der Popularisierung der Sandale     tragen wurden, bis sie buchstäblich aus-
sich damit von der gängigen Sandalen-                    in den USA als Katalysator gewirkt ha-       einanderfielen. Das kann man bei einer
mode der Zeit ab.                                        ben. Nachdem die Deutsch-Amerikanerin        ausgewiesenen Designerlegende nur als
   Mit ihrem überzeugenden Fußkom-                       Margot Fraser die Sandale 1966 bei einem     großes Kompliment verstehen.
fort war die Birkenstock-Sandale schnell                 Kuraufenthalt in Deutschland kennenge-
erfolgreich. Die Zuschreibung von At-                    lernt hatte, begeistert war, und darauf-     Statussymbol zwischen Bürgertum
traktivität, die bekanntlich im Auge der                 hin den Vertrieb für die USA übernahm,       und Subkultur
Betrachterinnen und Trägerinnen liegt,                   wuchs das Interesse nach anfänglich          Wie wenig andere Design-Produkte hat
ließ dagegen zunächst auf sich warten.                   schwacher Resonanz ab Mitte der 1970er       die Birkenstock-Sandale uns in den letz-
Doch sie kam – erst schrittweise, dann                   schlagartig. Das korrelierte mit dem Auf-    ten 50 Jahren nicht nur das Leben ange-
schlagartig mit der genannten Arizona.                   tauchen einer neuen Subkultur einer          nehmer gemacht. Die Sandale mit dem
Eine Schlüsselrolle spielten dabei weni-                 esoterisch und New Age-angehauchten          ikonischen Look hat, wie hier gezeigt,
ger die schon vielzitierten US-Hippies                   Elektronikbastler-Szene, die sich um den     auch als eine Art Status-Symbol viel-
– das Woodstock-Festival 1969 und die                    1975 gegründeten Homebrew Computer           fach in unsere Kommunikation hinein-
Hippie-Bewegung standen designtech-                      Club sammelte. Dessen Mitglieder inte-       regiert und freiwillig oder unfreiwillig
nisch noch weitgehend im Zeichen von                     ressierten sich für kybernetische Welt-      Zeichen gesetzt. Je nach Epoche und Re-
Flower-Power und Rüschen, Ethnofolk-                     modelle und tauschten bei ihren Treffen      gion stand und steht sie dabei für eine
lore und Friedensbewegung. Bei einem                     Schaltskizzen   und   Programmiertipps,      Orientierung, Lifestyle-Welt oder ein
Indien-Besuch der Beatles 1968 beim                      womit sie direkt an der Entwicklung des      Weltbild im spannungvollen Spektrum
TM-Guru Maharishi Mahesh Yogi tru-                       Personal Computers und der daraus ent-       von pragmatischer Bürgerlichkeit über
gen, wie alte Fotos zeigen, die weibli-                  stehenden Industrie des Silicon Valley       unpolitische Modebegeisterung bis zu
chen Begleiterinnen der Musiker Nylon-                   beteiligt waren. Kalifornien ist klein und   ökologisch-esoterischer und sogar elek-
strumpfhosen zu blumig gemusterten                       Novato, wo Margot Fraser mit ihrem Bir-      tronischer Subkultur. In Japan, das wie
Minikleidern und dekorativen, aber un-                   kenstock-Vertriebsbüro residierte, kei-      der ganze außereuropäische Raum hier
übersehbar die Zehen einschnürenden                      ne 100 Kilometer von San Matteo, dem         nicht in den Blick genommen werden
Riemchensandalen.                                        Treffpunkt des Clubs entfernt.               konnte, genießen „Biruki“ seit langem
                                                                                                      eine sehr hohe Wertschätzung. Was mit
                                                         Funktion bildet die Form                     der auf dem Inselreich hoch respektier-
                                                         Die komfortable „Bedienung“ des einfa-       ten deutschen Orthopädieforschung und
                                                         chen An- und Ausziehens, Bequemlich-         ihrer Geschichte zu tun hat und mögli-
                                                         keit und das streng logische Design der      cherweise auch damit, dass die Birken-
                                                         neuen Sandale wird den Nerds gefallen        stock-Sandale, wie gezeigt, unbemerkt
                                                         haben und so multiplikatorisch gewirkt       ein Stück Lebensreform des 19. Jahrhun-
                                                         haben. Woher wir das wissen? Apple-          derts und damit europäisches Kulturerbe
                                                         Gründer Steve Jobs, der regelmäßig an        in modernem Design in die Gegenwart
                                                         den Garagentreffen teilnahm, hat aus sei-    getragen hat. Das weckt schon mal star-
                                                         ner Begeisterung für die Birkenstock-San-    ke Emotionen. Seit seinem ersten Faust-
                                                         dale nie einen Hehl gemacht. Chrisann        keil vor zwei Millionen Jahren hätschelt
                                                         Brannon, seine erste Freundin und Mutter     der Mensch seine „Werkzeuge“. Schuhe
                                                         seiner Tochter, erzählte 2018 der Vogue,     nehmen dabei einen besonderen Platz
                                                         dass Jobs kurz nachdem er sie 1972 ken-      ein, sollen sie doch unseren aufrechten
                                                         nenlernte, hellauf begeistert gewesen sei    Gang sicher stellen und wenn möglich
                                                         von der neuen Birkenstock-Sandale. Auch      stolzer und angenehmer machen. Da
                                                         weil die Apple-Legende sich als junger       lohnt es sich, genauer hinzuschauen. M
                                                         Mann seine Sandalen selbst gebaut hatte,
                                                         und den „Bauplan“ der Arizona quasi mit      Anschrift der Verfasserin:
                                                         Expertenwissen bewunderte. Ein Paar von      Nike U. Breyer
Apple-Gründer Steve Jobs steht auf gutes                 Steve Jobs Arizonas aus seiner Zeit beim     Hinter der Mauer 1
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                                                         Computer wurde 2016 vom Auktionshaus         E-Mail: nike.breyer@web.de

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