Schuldeingeständnis ohne Hoffnung auf Vergebung? - Zu einer neuen Form öffentlicher Rituale

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Communicatio Socialis 44 (2011), Nr. 2: 188–198
                                                                                     Quelle: www.communicatio-socialis.de
GUTTENBERG, PLAGIAT UND RÜCKTRITT

       Eberhard Schockenhoff          Schuldeingeständnis ohne
                                      Hoffnung auf Vergebung?
                                      Zu einer neuen Form öffentlicher Rituale*

          Die Wiederentdeckung der Schuld in der Literatur der Gegenwart

          Das Schuldbekenntnis, das einst in der Beichte seinen festen Platz
          hatte, ist mit deren Rückgang im religiösen Alltagsleben keineswegs
          aus der Mode gekommen. Im Gegenteil: Als öffentliche Selbstanklage
          erlebt es in der säkularen Gesellschaft ein unverhofftes Comeback.
          Zwar gibt es durchaus Anzeichen für eine Krise des Sündenbewusst-
          seins und eine verbreitete Schuldverdrängung. Der oft beschriebe-
          ne Entschuldigungsmechanismus, der in Gang gesetzt wird, um die
          Verantwortung für eigenes Versagen und Unterlassen abzuwälzen,
          lädt die Last zumeist auf anonyme Fremdinstanzen ab: Schuld sind
          die schlechten Gene, die schwere Kindheit, der negative Einfluss
          der Umgebung oder die krankmachende repressive Gesellschaft.1
          Nicht zuletzt die Medien und ihre Art der Berichterstattung über
          echte oder vermeintliche Skandale werden von den Techniken der
          Selbstentlastung als willkommene Adressaten benutzt, um persönli-
          che Schuld zu entsorgen.
             Die Kunst, es nicht gewesen zu sein oder zumindest andere in Mit-
          haftung zu nehmen, um vom eigenen Versagen abzulenken, erlernt
          sich schnell und leicht: Die meisten Menschen verfügen über ein einge-
          spieltes Repertoire an erfolgreichen Strategien der Schuldabwälzung.
          Insofern ist tatsächlich eine Verdunstung des Schuldbewusstseins zu
          beklagen. Dem stehen jedoch andere Phänomene entgegen, die die Di-
          agnose von seinem allgemeinen Schwund als voreilig erscheinen lässt.
          Spektakulären Rücktritten von hohen öffentlichen Ämtern geht oft ein
          Schuldeingeständnis voraus, das vor medialem Publikum mehr oder
          weniger geschickt inszeniert wird. Während die Floskel von der Über-
          nahme der politischen Verantwortung der Behauptung gleichkommt,

          * Dieser Essay ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor auf der
            Jahrestagung der Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands am 8. April
            2010 in Freiburg im Breisgau gehalten hat.
          1 Vgl. Jan-Heiner Tück: Die Kunst, es nicht gewesen zu sein. Die Krise des Sünden-
            bewusstseins als Anstoß für die Soteriologie. In: Stimmen der Zeit, 226. Jg. 2008,
            H. 9, S. 579-589.

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Schuldeingeständnis ohne Hoffnung auf Vergebung?

man habe sich persönlich nichts zuschulden kommen lassen, begrün-
deten die frühere Landesbischöfin Margot Käßmann und der ehemali-
ge Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ihre Rücktritte
ausdrücklich durch schweres Fehlverhalten, das ihr Verbleiben im Amt
unmöglich mache. Letzterer sprach nach seinem Schuldeingeständnis
ausdrücklich von einer Zeit der Buße und Reue, die nun vor ihm lie-
ge. Der außergewöhnlichen Popularität beider Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens haben weder ihre Fehltritte noch ihre konsequen-
ten Schuldeingeständnisse geschadet – im Gegenteil: Der Verzicht auf
die üblichen Rituale der Selbstentlastung festigte bei ihren Anhängern
ihren Ruf, besonders glaubwürdige Vertreter ihrer jeweiligen Berufs-
gruppen zu sein.
   Die in kirchlichen Zeitdiagnosen nicht selten gebrauchte Formel
von der Erosion des Schuldgefühls bedarf im Blick auf die Wieder-
kehr der Selbstbezichtigungen und Schuldbekenntnisse der Korrek-
tur. Tatsächlich hat sich das Schuldbewusstsein nicht rückstandslos
aufgelöst, sondern nur in seinen Erscheinungsformen verändert. Der
Wandel des Schuldbewusstseins, den wir in der Seelsorge seit län-
gerem beobachten und dessen Auswirkungen Ärzte und Psychothe-
rapeuten in vielfacher Form in ihrer Praxis bemerken, wird in der
Literatur der Gegenwart mit einer ungewohnten und schonungslosen
Offenheit beschrieben. Die Literatur steht dem wirklichen Leben ja
oft näher, als das in der distanzierten wissenschaftlichen Analyse der
Fall ist. Sie kann deshalb mit Hilfe ihrer Erzählungen, Bilder und
Gleichnisse Verschiebungen im Bewusstsein der Menschen hervorhe-
ben, lange bevor uns dafür die angemessenen psychologischen oder
soziologischen Deutungskategorien zur Verfügung stehen. Vor allem
kann sie die Verlagerung des Phänomens Schuld differenzierter be-
schreiben als es zu globale Begriffe wie „Ausfall“ oder „Verdrängung“
vermögen.
   In seinem Roman „Das Wunder des Malachias“ beobachtete schon
vor Jahrzehnten Bruce Marshall, wie leicht die Menschen bereit sind,
der Botschaft von der Selbsterledigung der Schuld Glauben zu schen-
ken. „Da hatte einer im 19. Jahrhundert das Gerücht aufgebracht“, so
schreibt er, „die Sünde sei eigentlich gar keine Sünde, und seitdem
war mit den Leuten auf gar keine Weise und überhaupt nicht mehr
auszukommen. Nicht, daß die Menschen nicht auch früher gesündigt
hätten, aber neuerdings, wenn die sündigten, sagten die Leute, sie
täten recht und jeder könne beanspruchen, so zu leben, wie er nun
einmal lebt.“ Aber wenn das Wort Sünde oder Schuld erst einmal als
Einschüchterungswaffe der Pfarrer erkannt ist und seine Rolle als
Daumenschraube für den einzelnen nicht mehr spielen kann, dann

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Eberhard Schockenhoff

         löst sich die damit gemeinte Sache nicht einfach ins Nichts auf.
         Schuld erledigt sich nicht von selbst, auch nicht durch eine psycho-
         analytische Nichtigkeitserklärung. In dem Maß, in dem die einzelnen
         ihr persönliches Schuldbewusstsein verlieren, wachsen eigenartiger
         Weise die öffentlichen Schuldsprüche wieder an, die nach der Art ei-
         nes Sündenbockmechanismus für kollektive Missstände und Fehlent-
         wicklungen nach Verantwortlichen suchen. Die Sünde verlässt den
         engeren Kreis der privaten Lebensbeziehungen, aber sie kehrt wie-
         der, sozusagen durch die Hintertür, als eine allgemeine Komplizen-
         schaft, als ein verdrängtes Mitschuldigsein aller. Eine der frühen Er-
         zählungen von Siegfried Lenz trägt den treffenden Titel „Schuldhafte
         Schuldlosigkeit“, der als Überschrift über allem stehen könnte, was
         die gegenwärtige Literatur zum Thema Schuld sagt.
            Der kollektive Unschuldswahn, in dem keiner sich persönlich be-
         troffen weiß, verkehrt sich mit Hilfe eines subtilen psychologischen
         Verlagerungsmechanismus in die demonstrativ zur Schau gestellte
         Bereitschaft zum öffentlichen Schuldbekenntnis, das für den einzel-
         nen gleichwohl folgenlos bleibt. Friedrich Dürrenmatt, der in seinem
         Theaterstück „Der Besuch der alten Dame“ beschreibt, wie alle zwi-
         schenmenschlichen Beziehungen von einer Art Unmenschlichkeit
         höherer Ordnung, nämlich der Verkehrung des politischen Gemein-
         wesens der Bürger, zersetzt werden, hat dieses psychologische Raf-
         finement in einer Rede über Theaterprobleme schon bald nach dem
         Zweiten Weltkrieg analysiert. Er deutet die Schuld der Gesellschaft
         als eine kollektive Schuld, in der die Verantwortung des einzelnen
         aufgegangen ist. „In der Wurstelei unseres Jahrhunderts gibt es kei-
         nen Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr“, so heißt es
         darin, „alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Wir sind
         zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünde unserer Väter
         und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder, das ist unser Pech,
         nicht unsere Schuld.“ Im ersten Finale von Bertolt Brechts „Dreigro-
         schenoper“ wird die Schuld der Verhältnisse durch die Anklage des
         berühmten Kehrverses skandiert: „Die Welt ist arm, der Mensch ist
         schlecht, wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie
         sind nicht so.“
            Viele der zeitgenössischen Romane und Theaterstücke haben die-
         ses kollektive Schuldigwerden der Gesellschaft und das Versagen
         ihrer moralischen Autoritäten zum Thema. Um ein letztes Mal ei-
         nen der Klassiker der Nachkriegsliteratur zu zitieren, sei auf Max
         Frisch hingewiesen. Er beschreibt dies exemplarisch in seinem 1961
         erschienenen Stück „Andorra“. Die Ursünde aller Menschen besteht
         gerade darin, dass sie sich voneinander ein Bild machen und sich

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Schuldeingeständnis ohne Hoffnung auf Vergebung?

gegenseitig in dieses Rollenbild hineindrängen. Obwohl die tragische
Hauptfigur Andri, wie am Schluss des Stückes erst deutlich wird, ei-
gentlich gar kein Jude ist, betrachten ihn alle als einen solchen und
sieht er sich auch selber so an. Tatsächlich ist er jedoch der uneheli-
che Sohn des Lehrers der kleinen Stadt. Er wird zum Juden gemacht
und übernimmt auch selbst die Vorurteile der anderen. Am Ende trifft
ihn das Schicksal unzähliger Juden zu allen Zeiten, und er stirbt den
Tod am Pfahl. Alle andorranischen Bürger müssen öffentlich in den
Zeugenstand treten, und allesamt beteuern sie ihre Unschuld. Sie wa-
ren Opfer ihrer kollektiven Verblendung, aber keiner fühlte sich als
Mittäter. Nur der Pater bekannte sich schuldig, aber auch er hat nur
gebetet, als man den Jungen abholte.
   Die Wiederentdeckung der kollektiven Schuld prägte in der Nach-
kriegsliteratur eine erste Phase der Auseinandersetzung mit diesem
Thema. In einer zweiten Phase taucht in der Literatur der letzten drei
Jahrzehnte auch die Sensibilität für mögliche persönliche Schuld, die
zunächst völlig aus dem Bewusstsein verschwunden schien, in über-
raschender Weise wieder auf. Sie erscheint als individuelle Annah-
me der gemeinsamen Schuld, also in der Form der eingestandenen
Mitschuld als dem einzig noch verbleibenden moralischen Umgang
mit der Schuld. Wenn die Schuld ein Kollektivphänomen geworden
ist, das alle einschließt, dann gibt es nicht mehr Schuldige und Un-
schuldige, sondern nur noch solche, die sich von dem allgemeinen
Unschuldswahn blenden lassen, und solche, die ihren persönlichen
Anteil daran übernehmen. Am Ende der Trilogie „Zeit der Schuldlo-
sen“ von Siegfried Lenz sagt der Konsul, der sich selbst erschießt, um
seinen Mitgefangenen die Freiheit zu ermöglichen, obwohl er das At-
tentat nicht begangen hat: „Ich habe den Verdacht, daß die Unschuld
allmählich auf die Seite derer geraten ist, die bereit sind, die Schuld
auf sich zu nehmen.“
   Solche literarischen Beobachtungen und Schlaglichter geben auch
der Theologie einen Hinweis darauf, dass die Schulderfahrung im ge-
genwärtigen Bewusstsein zwar anonym, aber nicht schlechthin ortlos
geworden ist. Die Anonymität der Schulderfahrung ist gerade die Wei-
se, durch die der moderne Mensch sich schuldig macht. Umgekehrt ist
die Wiederentdeckung der Schuld und ihre Annahme als Mitschuld al-
ler, als mein Teil, den ich an der Mitschuld aller habe, bereits der erste
Akt ihrer Überwindung. Nicht die Schuld entspricht einem falschen Be-
wusstsein, wie uns lange Zeit eine angebliche Aufklärung einzureden
versuchte, sondern die verbreitete Unschuld zeigt sich als ein Wahnzu-
stand, als kollektive Verblendung, der das Individuum nur entrinnen
kann, wenn es sich selbst für seine Schuld verantwortlich weiß.

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Eberhard Schockenhoff

         Anthropologische Deutung der Schulderfahrung

         Freilich muss die Theologie, wenn sie den Teufelskreis eines heimli-
         chen Unschuldswahns und übersteigerter Schuldzuweisungen an die
         anderen wirklich durchbrechen will, auch Zugänge zu der verschütte-
         ten Erfahrung persönlicher Schuld freilegen. Das ist in einer Zeit, in
         der wir es gewohnt sind, alles zu verstehen und damit ja auch schon
         insgeheim zu billigen, nicht einfach. Es setzt die Bereitschaft voraus,
         dass ich die Verantwortung für mein Handeln selbst übernehme und
         sie nicht an anonyme Fremdinstanzen, wie die Erziehung oder die
         Gene, das schlechte Beispiel der anderen oder einfach das Milieu,
         in dem ich lebe, delegiere. In vielen Bereichen unseres kollektiv ge-
         prägten Verhaltens kann die Bereitschaft zu solcher Schuldannahme,
         wie die Analyse der Gegenwartsliteratur zeigt, nur im Einverständnis
         meiner Mitschuld am strukturellen Schuldigsein der Gesellschaft be-
         stehen. Es gibt aber daneben auch eine Schulderfahrung, in der ich
         mir selber zugelastet bleibe und in der ich mich durch keinen anderen
         vertreten lassen kann.
            Wie der Mensch heute persönliche Schuld erfahren kann, das zeigt
         eine fundamentale Unterscheidung menschlicher Handlungsbereiche,
         von der erstmals Aristoteles gesprochen hat. Der Unterschied zwi-
         schen Poiesis und Praxis betrifft zwei grundlegende Weisen mensch-
         lichen Tätigseins. Mit Begriffen unserer Sprache können wir diesen
         Unterschied etwa so wiedergeben: In vielen Ausschnitten unseres
         täglichen Lebens sind wir nur in einem Teilbereich unseres Mensch-
         seins gefordert, nämlich in unserer Fähigkeit zu funktionalem Han-
         deln. Unsere handwerkliche Geschicklichkeit, unsere künstlerischen
         Fähigkeiten im weitesten Sinn und vor allem unsere beruflichen Qua-
         lifikationen und unser Fachwissen gehören zu diesem Bereich. In der
         arbeitsteiligen Industriegesellschaft, in der wir leben, hat der Bereich
         der aristotelischen Poiesis einen besonders hohen Stellenwert. Es ist
         die Welt des Homo Faber, des Machbaren, die Welt des Planbaren, des
         Herstellbaren, in der jeder seinen Wert von seiner Funktionstüchtig-
         keit für das Ganze her erhält. Hier gilt knapp formuliert das Grundge-
         setz: Wir sind, was wir machen; wir sind, was wir können. In diesem
         Bereich hat es keinen Sinn, von Schuld zu reden. Es gibt aber noch
         eine andere Form des Handelns, die für das Gelingen unseres Mensch-
         seins ursprünglicher ist. Aristoteles nennt sie Praxis und versteht
         darunter ein Handeln, das nicht auf die Herstellung äußerer Produk-
         te oder Zwecke bezogen ist, sondern das seinen Sinn in sich selber
         trägt. Die philosophische Anthropologie der Gegenwart spricht dem-
         entsprechend auch von einem Ausdruckshandeln oder Sinnhandeln.

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Dazu gehört vor allem das Erlebnis von menschlicher Kommunikation
und Gemeinschaft, die Erfahrung von Freundschaft und Liebe, wie
überhaupt alle personalen Beziehungen, angefangen von der privaten
Kleingruppe bis zur politischen Verantwortung in der Öffentlichkeit.
   Es wäre nun falsch, diesen Bereich des kommunikativen Handelns
als die eigentliche und einzige Domäne der Menschlichkeit anzuse-
hen und alles berufliche oder funktionale Handeln nur den äußeren
Entfremdungsbedingungen des Daseins zuzuschreiben. Dennoch
kommt dem kommunikativen Handeln für das Gelingen des Lebens
entscheidende Bedeutung zu – vor allem auch deshalb, weil hier
andere Gesetzmäßigkeiten herrschen als in dem technischen Hand-
lungsbereich. Hier heißt der Grundsatz nicht: Wir sind, was wir kön-
nen, sondern: Wir sind die, die wir sind. Oder in noch deutlicherer
Umkehr: Was wir sind, können wir nicht machen.
   Der fundamentale Unterschied zwischen funktionalem und kommu-
nikativem Handeln erweist sich nun sowohl in seinem Gelingen als
auch in seinem Scheitern. Wenn menschliche Beziehungen gelingen,
dann kann keiner der daran Beteiligten den Erfolg allein sich selber
zuschreiben. Wir beherrschen unsere zwischenmenschliche Kom-
munikation nicht so, wie wir technische Handlungsabläufe effizient
kontrollieren können. Vor allem ist das Ergebnis nicht einfach unser
Werk, dessen Herstellung wir geplant und exakt berechnet hätten.
Gelingende Kommunikation ist vielmehr ein Ergebnis, das sich unter
uns einstellt und das uns auch dann, wenn wir dafür Verantwortung
tragen, weithin unverfügbar bleibt. Noch deutlicher wird dieser Unter-
schied aber im Scheitern des Handelns. Im Bereich des funktionalen
Handelns sprechen wir einfach von einem Fehler, der uns unterlaufen
ist und den wir in den allermeisten Fällen auch wieder korrigieren kön-
nen. Es macht gerade das Wesensmerkmal technischer Handlungsab-
läufe aus, dass sie auf dem Wechsel von Versuch und Irrtum beruhen
und die Reparaturmöglichkeit im Schadensfall immer schon eingebaut
haben. Ein Grundproblem des gegenwärtigen Lebensgefühls besteht
darin, dass viele Menschen meinen, auch menschliche Beziehungen
nach diesem technischen Handlungsmodell angehen zu können. Sie
leben auch in diesem Bereich nach dem Modell von Versuch und Irr-
tum. Wenn es nicht klappt, hat man ja den zweiten Versuch, so denken
sie, und kann den Schaden schnell wieder beheben.
   Genau dies gilt aber im Fall des kommunikativen Handelns nicht.
Wer mutwillig eine Freundschaft zerstört oder unverantwortlich die
Treue zu seinem Partner aufs Spiel setzt, der kann die zerbrochene
Beziehung nicht schon dadurch wiederherstellen, dass er seinen Feh-
ler korrigiert. Er wird die Erfahrung machen, dass menschliche Be-

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Eberhard Schockenhoff

         ziehungen auf Gegenseitigkeit beruhen, und zwar auf gegenseitiger
         Freiheit, so dass sie zwar einseitig zerstörbar, aber eben nicht einsei-
         tig wiederherstellbar sind. Wir sprechen deshalb in diesem Bereich
         menschlichen Lebens auch nicht mehr davon, dass wir einen Fehler
         gemacht haben, sondern wir gestehen ein, dass wir schuldig gewor-
         den sind. Selbst dort, wo uns das Wort „Schuld“ nicht über die Lippen
         kommt und wir nur etwas verlegen sagen: „Das war mein Fehler“,
         meinen wir eigentlich mehr, als nur einen fehlerhaften Handgriff oder
         ein falsches Teilchen in einem technischen Prozess. Solche fehlerhaf-
         ten Handgriffe haben wir ja meist in der Hand; wenn etwas schiefläuft,
         können wir das korrigieren. Menschliche Beziehungen aber entglei-
         ten uns, wenn wir sie durch eigene Schuld gefährden. Nicht, dass es
         nicht auch in ihnen die Möglichkeit der Wiederherstellung gibt, aber
         sie liegt nicht mehr in der Hand dessen, der schuldig geworden ist,
         sondern in der Hand des anderen. Darin zeigt sich, dass die Schuld
         den Schuldigen selbst in eine von ihm aus gesehen ausweglose Situa-
         tion der Unfreiheit bringt. Er wird der Gefangene seiner Tat und kann
         sich nicht selbst aus ihren Folgen befreien.
            Das wird an einem Sachverhalt besonders deutlich: Es gibt Grund-
         worte der menschlichen Sprache, die man sich nicht selber zuspre-
         chen kann. Sie verlieren ihren Ausdrucksgehalt, wenn sie nicht von
         anderen kommen, sondern zugleich in der ersten Person Singular und
         im Dativ gesagt werden: Wenn man sich selbst lobt, wie gut man et-
         was gemacht hat, hat das keinen Sinn. Wenn man sich selber vor dem
         Spiegel Wohlwollen bescheinigt, gibt das keinen Sinn. Und genauso ist
         es sinnlos, sich selbst das Wort „ich vergebe dir“ zuzusprechen. Das
         Wort der Vergebung kann man sich nicht selber sagen, man bleibt dar-
         auf angewiesen, dass die oder der andere einen neuen, aus der eigenen
         Kraft unableitbaren Anfang setzt. Darin wird nun eine tiefe Asymme-
         trie sichtbar, auf der unser Leben aufgebaut ist. Wir können vieles aus
         eigener Macht zerstören, das wir nicht aus ebenso freiem Entschluss
         wieder herstellen können. Im zwischenmenschlichen Bereich gilt nicht
         die Zuordnung von Schadensfall und Reparatur, sondern die von Schuld
         und Vergebung. Das wird in unmittelbaren Bezeugungen von Liebe und
         Freundschaft am deutlichsten, aber es gilt darüber hinaus für alles
         kommunikative Handeln. Für Aristoteles zählt dazu ausdrücklich
         auch der Bereich des Politischen und der gesellschaftlichen Öffent-
         lichkeit im weitesten Sinn. Das erklärt auch, warum sich Politiker in
         der Regel so schwertun, öffentlich ihre „Fehler“ einzugestehen. Diese
         wären ja nicht nur das Eingeständnis einer leicht korrigierbaren Fehl-
         entscheidung, sondern das Bekenntnis zu einer Schuld, für die Verge-
         bung zu erwarten in einer gnadenlosen Öffentlichkeit aussichtslos ist.

                    https://doi.org/10.5771/0010-3497-2011-2-188, am 25.11.2021, 06:24:17
                         Open Access –              - http://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Rolle des Sündenbocks

Wenn der Ruf nach personellen Konsequenzen in Form von Rück-
tritten, Köpferollen und Aufräumaktionen dennoch Opfer fordert, ist
häufig davon die Rede, man habe zur eigenen Entlastung einen Sün-
denbock benötigt. Diese Metapher geht auf ein archaisches Ritual zu-
rück, bei dem während des großen jüdischen Versöhnungstages ein
Ziegenbock mit den Sünden der Israeliten beladen und anschließend
in die Wüste gejagt wurde (vgl. Lev 16,8-21). Im alten Israel hatte die-
ser Sündenbockritus eine eliminatorische Funktion. Der Sündenbock
trägt die Schuld stellvertretend für das Volk, um sie aus seiner Mit-
te zu entfernen. Stellvertretung ist jedoch etwas anderes als Ersatz.
Die stellvertretende Übernahme der Sühne durch den Sündenbock
meint, dass dieser nur als vorübergehender Platzhalter für die Schul-
digen eintritt, damit diese selbst zu Reue und Umkehr fähig werden.
Das Sündenbockritual führt also nicht zur Verdrängung der Schuld,
sondern will von ihren Folgen befreien – insofern steht diese archai-
sche Zeremonie im Dienst der inneren Erneuerung des Volkes.
   Die Verwendung der Sündenbock-Metapher in der öffentlichen Rhe-
torik säkularer Gesellschaften folgt einem anderen Muster: Die aufge-
brachte Öffentlichkeit und empörte Wutbürger suchen ein Opfer, um
ihren Zorn zu beschwichtigen. Die Stellvertreterfunktion des Sünden-
bocks wird zu einem Ersatzritual, dessen Vollzug der Gesellschaft Ge-
nugtuung verschafft. Die Suche nach dem Sündenbock und seine stell-
vertretende Verurteilung sind ein bloßes Ablenkungsmanöver. Sobald
der Rücktritt erfolgte, ebbt die Welle der Empörung schnell wieder ab.
Sie hat ihr Opfer gefunden und bricht in sich zusammen. Dies erspart
die Auseinandersetzung mit Ursachen und Hintergründen eines Skan-
dals und fördert so keineswegs das erforderliche Umdenken. Während
der Sündenbockmechanismus in seiner archaischen religiösen Bedeu-
tung der kollektiven Erneuerung des Volkes und seiner Abkehr von der
Sünde diente, nimmt er in der Öffentlichkeit säkularer Gesellschaften
die entgegengesetzte Rolle ein: Der Sündenbock ersetzt die Auseinan-
dersetzung mit eigener Schuld und verhindert ihre Aufdeckung.
   Die Suche nach Schuldigen, die ersatzweise bereit sind, die Rolle
des Sündenbocks zu übernehmen, begünstigt auf Seiten der Politiker
eine Verdrängung des Schuldbewusstseins, die sich ein eventuelles
Fehlverhalten im Amt vorhalten lassen müssen. Das in skandalträch-
tigen Zeiten aufgeheizte öffentliche Meinungsklima, in dem bereits das
Aussprechen eines Verdachts genügt, um eine öffentliche Vorverurtei-
lung mit ihren häufig irreversiblen Folgen in Gang zu setzen, führt zu
einer Art vorsorglicher Verteidigungshaltung. Die Selbstschutzmen-

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Eberhard Schockenhoff

         talität nach dem Motto „unter keinen Umständen von sich aus etwas
         zugeben“ schafft jedoch keine Entlastung, sondern wirkt verstärkend
         auf die latente Verdächtigungsbereitschaft des Publikums zurück.

         Vergebung in der säkularen Gesellschaft?

         Der tiefste Grund, warum unter großer medialer Aufmerksamkeit
         stehende Personen dem Anspruch einer moralischen Überprüfung
         ihres Handelns ausweichen, liegt jedoch darin, dass dem gegenwärti-
         gen Zeitbewusstsein nicht nur der Sinn für die Fehlbarkeit des Men-
         schen, sondern auch das Wissen um die Möglichkeit der Vergebung
         abhanden zu kommen droht. In der säkularen Gesellschaft fehlt eine
         Instanz, die befugt wäre, im Namen der Gemeinschaft Vergebung aus-
         zusprechen. Wo jedoch keine Aussicht besteht, Vergebung zu erlan-
         gen, führt ein unheilvoller Entschuldigungsmechanismus dazu, dass
         eigenes Versagen und eigene Schuld kaschiert werden müssen. Der
         Zwang zur Selbstrechtfertigung lässt es nicht mehr zu, der eigenen
         Schuld ohne tiefe Angst und Verunsicherung ins Auge zu blicken.
         Die Einsicht der modernen Psychoanalyse in die Reaktionsweise
         der menschlichen Psyche lehrt aber zur Genüge, dass die Verdrän-
         gung des Unrechtbewusstseins weder in der individuellen Lebens-
         geschichte noch im kollektiven Zusammenleben eines Volkes zu ei-
         ner konstruktiven Aufarbeitung moralischer Konflikte führen kann.
         Eine Moral ohne das komplementäre Wissen um Schuld und Verge-
         bung verstrickt den Menschen immer weiter in einen unheilvollen
         Zwang zur Selbstrechtfertigung, weil sie das befreiende Wort der
         Vergebung nicht mehr zusprechen kann. Das Bekenntnis, in der
         Ausübung eines politischen Mandats Sorgfaltspflichten missachtet
         oder gar bewusst Unrecht getan zu haben, wird zu einer psychologi-
         schen Unmöglichkeit, wenn es für den betreffenden Amtsinhaber dem
         Verlust der moralischen Selbstachtung oder seiner Achtung in der
         Öffentlichkeit gleichkommt. Vor dem Forum der politischen Öffent-
         lichkeit gibt es jedoch kein Pardon, denn die säkularisierte Gesell-
         schaft kennt kein Äquivalent zu den institutionalisierten Vergebungs-
         ritualen der Religion: Auf die öffentliche Beichte folgt in der Regel
         keine Absolution. Dieses Gesetz der zufälligen Gnadenlosigkeit –
         es trifft jeweils denjenigen, mit dessen Skandalen die Öffentlichkeit
         gerade beschäftigt ist; andere dagegen bleiben unbeachtet – trägt ein
         Moment der Unwahrhaftigkeit in sich, dass die um der Demokratie
         willen erforderliche Suche nach Transparenz leicht in einen Enthül-
         lungsfanatismus umschlagen lässt, der im Blick auf die Glaubwürdig-
         keit der Politik kontraproduktiv wirkt.

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Schuldeingeständnis ohne Hoffnung auf Vergebung?

    Auch die Moralisierung der Politik, an der sich die Medien durch
ihre Art der Inszenierung politischer Skandale beteiligen, unterliegt
der Gefahr einer am Ende nicht mehr beherrschbaren Maßlosigkeit.
Wenn ein öffentliches Schuldeingeständnis in jedem Fall, also un-
abhängig davon, ob es freiwillig oder erzwungen ist, ob es zu einem
früheren oder zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, zur äußersten
Sanktion eines Amtsverlustes ohne realistische Zukunftsperspektive
führt, fehlt für die individuell Schuldigen der Anreiz, von sich aus zur
Aufklärung von Gesetzesverstößen beizutragen. Der irrationale Um-
gang der Öffentlichkeit mit politischen Skandalen trägt so indirekt zu
einer halbherzigen Handhabung des Transparenzgebotes durch die po-
litische Klasse bei. Dagegen muss die Fähigkeit, auch in Krisenzeiten
Unterscheidungsvermögen (was die Schwere einzelner Verstöße an-
belangt) und Augenmaß (im Blick auf die verhängten Sanktionen) zu
bewahren, als Zeichen der demokratischen Reife eines Volkes gelten.2

Der Auftrag kritischer Publizistik

Trotz der Gefahr einer Überdehnung des journalistischen Auftrages
bleibt das Recht zur kritischen Meinungsäußerung ein unverzicht-
barer Bestandteil des Auftrages von Publizisten und Journalisten.
Sie sind nicht nur „ehrliche Makler“ des gesellschaftlichen Dialogs,
sondern auch Störenfriede und Zwischenrufer, die durch ihre pronon-
cierten Meinungsäußerungen die Bürger zur eigenen Stellungnahme
herausfordern. In der historischen Entwicklung des Zeitungswesens
tritt die Gestalt des Journalisten von Anfang an in zwei Grundfigu-
ren auf: Dieser ist nicht nur Nachrichtenbearbeiter und -übermittler,
sondern auch Publizist, der sich von seinen persönlichen Absichten,
Interessen und Zielen oder – besonders im Fall des anwaltlichen
Publizismus – von denen seiner politischen und weltanschaulichen
Gruppierung leiten lässt. Beide Funktionen, die des zur Unparteilich-
keit verpflichteten Nachrichtenjournalismus und die einer engagiert-
kritischen Publizistik in eigener moralischer Verantwortung sind in
der Demokratie unverzichtbar. Der katholische Publizist Walter Dirks
(1901-1991) vertrat sogar die Auffassung, dass dem Meinungsjourna-
lismus ein prinzipieller Vorrang vor der reinen Informationsvermitt-
lung zukommt. Journalisten sollen daher den Mut zur Einmischung
haben. Sie üben eine kritische Seismographen-Funktion aus, indem

2 Vgl. Eberhard Schockenhoff: Zur Lüge verdammt? Politik, Justiz, Kunst, Medien, Me-
  dizin, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit. Freiburg i. Br., 22005, S. 327f.

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Eberhard Schockenhoff

         sie frühzeitig auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Missstän-
         de aufmerksam machen.
            Es liegt auf der Hand, dass sich die Störfunktion journalistischer
         Arbeit vor allem in kritischen Kommentaren äußert, die auf ungelöste
         Probleme, gesellschaftliche Missstände oder verdrängte Zukunftsge-
         fahren aufmerksam machen. Demgegenüber erscheint die in alltägli-
         cher Kleinarbeit wahrgenommene Verantwortung für die Bewältigung
         der Gemeinschaftsaufgaben des Staates eher die Domäne von Politi-
         kern und Beamten, Pädagogen und Eltern denn von Redakteuren zu
         sein. Diese Art von Arbeitsteilung kann den Eindruck einer Spaltung
         der Gesellschaft hervorrufen, in der die undankbare Aufgabe des akti-
         ven Gestaltens, der mühsamen Suche nach Kompromissen und der tat-
         sächlichen Lösung von Problemen immer nur den anderen zugeschoben
         wird, während die Journalisten für sich das Vorrecht zur unbegrenzten
         Kritik reklamieren. Angesichts dieser der gesellschaftlichen Solidari-
         tät abträglichen Entwicklung gilt eine doppelte Vorzugsregelung: Die
         Kritik an gesellschaftlichen Institutionen darf nicht so einseitig in den
         Mittelpunkt gerückt werden, dass die gesellschaftliche Vertrauens-
         basis erschüttert und einzelne Berufsgruppen, vor allem Politiker, in
         völligen Misskredit geraten.3 Es ist nämlich nicht nur dem öffentli-
         chen Erscheinungsbild der Betroffenen, sondern auch der Demokratie
         selbst abträglich, wenn durch die „Etablierung eines habituellen Pes-
         simismus“ in der medialen Berichterstattung der Eindruck entsteht,
         dass es sich bei der Politik um ein unsolides, kaum durchschaubares,
         höchst fragwürdiges Geschehen handelt.4 Andererseits sollen gerade
         solche Konflikte, die von der Gesellschaft gerne verdrängt werden –
         z. B. die Finanzierung des gegenwärtigen Lebensstandards zu Las-
         ten kommender Generationen – angemessen berücksichtigt werden.
         Gerade die Zeugnisfunktion eines kritischen Journalismus, der die
         vergessenen oder unterdrückten Wahrheiten ins öffentliche Bewusst-
         sein zurückruft, erfordert eine institutionelle Distanz vom politischen
         Geschehen im Sinne der bewussten Abstinenz von seiner aktiven Mit-
         gestaltung. Die in den Medien tätigen Frauen und Männer müssen
         sich wie politisch Handelnde, als Homines politici verstehen, die für
         das Ganze Verantwortung tragen. Doch erfordert ihre spezielle Be-
         rufsaufgabe, dass sie diese Verantwortung von außen wahrnehmen,
         ohne selbst innerhalb der politischen Sphäre tätig zu werden.

         3 Vgl. ebd., S. 347f.
         4 Hans Matthias Kepplinger: Die Demontage der Politik in der Informationsgesell-
           schaft. Freiburg i. Br./München 1998, S.144.

                     https://doi.org/10.5771/0010-3497-2011-2-188, am 25.11.2021, 06:24:17
                          Open Access –              - http://www.nomos-elibrary.de/agb
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