Digitale und argumentative Positionalität - Für einen diskursiven Umgang mit Phänomenen in einer Kultur der Digitalität
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 339-350 © 2021 Philippe Wampfler - DOI https://doi.org/10.3726/PR032021.0030 Philippe Wampfler Digitale und argumentative Positionalität Für einen diskursiven Umgang mit Phänomenen in einer Kultur der Digitalität „Internet durchgespielt“ ist ein Meme: strukturiert sind, steht mit #blacklivesmat- Ein Online-Scherz, der funktioniert, weil ter ein konkretes Beispiel im Zentrum der das Internet kein Plattform-Spiel aus den Argumentation.1 1980er-Jahren ist, das sich fertig spielen lässt. Die Redewendung verweist auf die Fülle an Informationen im Netz, von denen 1. Der Blackoutday auf Instagram Userinnen und User immer nur Ausschnit- und die Kultur der Digitalität te wahrnehmen können. Das Netz verdeut- licht kommunikative Kontexte: Fast alles Anfang Juni 2020 verbreiteten sich auf In- erscheint aus der einen Perspektive so, stagram schwarze Quadrate. Menschen aus einer anderen anders. Die Sprechsi- setzten sie am sogenannten Blackoutday tuationen sind gleichzeitig offener, vernetz- auf ihren Profilen ein, um nach der Ermor- ter und dynamischer. Jede Seite, die ich dung von George Floyd Solidarität mit der im Netz aufrufe, kann sich in den nächsten Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) aus- Sekunden verändern oder verschwinden; zudrücken, die sich gegen Polizeigewalt parallel entstehen mehr neue, als ich über- an People of Color (PoC) engagiert. In der blicken kann. Folge machten Aktivistinnen und Aktivis- Diese Grundlage der Netzkommuni- ten darauf aufmerksam, dass der Hashtag kation kann mit Positionalität beschrie- #blacklivesmatter in den Kommentaren ben werden: Wer das Netz nutzt, tut das zu den schwarzen Quadraten nicht ver- aus einer bestimmten Position. (Das ist wendet werden sollte. Weshalb nicht? bei jedem Zugang zu Informationen der Viele Menschen haben diesen Hashtag Fall, wird aber im Netz besonders deut- abonniert, um sich über die Bewegung lich.) Der folgende Aufsatz analysiert das zu informieren. Die Solidaritätsaktion hat Konzept der Positionalität unter Rückgriff aber dazu geführt, dass #blacklivesmatter auf Einsichten der diskursiven Didaktik, fast ausschließlich aus nichtssagenden schärft es und überführt es in einen me- schwarzen Quadraten bestand – es wurde thodisch-didaktischen Rahmen, aus dem nahezu unmöglich, über den Hashtag rele- eine konkrete Forderung an Unterrichts- vante Informationen zu finden. entwicklungsprozesse entsteht. Um zu Der Effekt der Solidaritätsaktion war verdeutlichen, wie digitale Phänomene also aus der Sicht von Vertreterinnen und 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 339 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Vertretern der Bewegung paradox: Die relevanten Algorithmen registrierten die Bewegung wurde zum Verstummen ge- Solidaritätsaktion – was #blacklivesmatter bracht.2 Andererseits erhielt der Hashtag als Kommunikationsinstrument für die Zu- massive Reichweite und Sichtbarkeit, die kunft gestärkt hat. Abb. 1: Ergebnisse der Suche nach #blacklivesmatter auf Instagram am #blackoutday 340 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Das Beispiel zeigt, aus wie vielen unter- Algorithmen basieren darauf, dass die schiedlichen Perspektiven die digitale Gemeinschaft der Nutzenden Inhalte Umsetzung dieser Aktion von den Betei- erstellt und abruft. ligten selbst wahrgenommen und beurteilt 3. Was digital vorliegt, verweist auf Vor- werden kann: Wer die Quadrate mit dem lagen. Die einfachste Form ist ein Hashtag versieht, will deutlich zu dieser (in Link, der durch einen HTML-Code gewissen bürgerlichen Kreisen der USA diesen Verweis herstellt, aber auch durchaus umstrittenen) Bewegung stehen schon nur das Kopieren einer Wortfol- und sie stärken. Dadurch werden aber ge oder eines Bildes ist ein Verweis, wichtige Informationen zu Protesten oder der durch entsprechende Rückwärts- anderen Aktionen weniger oder gar nicht suchen entschlüsselt werden kann. mehr sichtbar, die Kommunikation der So- Auch die verschiedenen Formen des lidarität erschwert die Arbeit von Aktivistin- Teilens, auch Sharing genannt, sind nen und Aktivisten – weist aber gleichzeitig nichts als Verweise auf Prätexte. darauf hin. Der Diskurs über Rassismus und anti- Diese Merkmale lassen sich am #black- rassistischen Aktivismus ist in diesem Bei- outday veranschaulichen: Die Verwendung spiel geprägt von Digitalität. Genauer: Von bestimmter Hashtags führt zu einer erhöh- der Kultur der Digitalität. Damit bezeich- ten Sichtbarkeit von Beiträgen. Die Solida- net Felix Stalder in seinem gleichnamigen ritätsaktion ist durch Algorithmen mit einer Buch von 2016 eine „Vervielfältigung der Aufmerksamkeitsökonomie verbunden, die kulturellen Möglichkeiten“.3 Konkret betrifft trendigen Inhalten mehr Reichweite ver- diese Potenzierung in diesem Fall den Aus- schafft. Gleichzeitig wird dadurch aber druck von Solidarität und Aktivismus für auch die Reichweite der Beiträge verwäs- sozial-politische Anliegen (aber auch Per- sert, die nicht aus einem schwarzen Qua- spektiven und Handlungsmöglichkeiten). drat bestehen, sondern über Aktionen und Folgt man Stalder, dann gibt es drei zentra- Anliegen der Black-Lives-Matter-Bewe- le Merkmale der Kultur der Digitalität: gung informieren. Diese Bewegung besteht aus einer 1. Sie ist algorithmisch geformt – Men- Community, die sich digital vernetzt. Durch schen nehmen digitale Phänomene den #blackoutday wird sie auf Instagram vermittelt über Algorithmen wahr, sie durch sogenannte Allys, also Menschen, produzieren Inhalte auch für Algorith- die nicht Aktivistinnen oder Aktivisten sind, men. „Social-Media Algorithms Rule aber diese unterstützen, einerseits symbo- How We See the World“, lautet der lisch gestärkt, andererseits nutzen Allys Titel einer Kolumne der Technik-Jour- teilweise auch das kulturelle und politische nalistin Joanna Stern.4 Ist die Wahr- Kapital, über das diese Bewegung verfügt. nehmung der Welt ohnehin medial Die Beziehung dieser Communities ist auf geprägt, so sind diese Medien wiede- der digitalen Plattform komplex, sie kann rum algorithmisch geformt. auch nicht von der Einwirkung der Algo- 2. Die Kultur der Digitalität besteht aus rithmen getrennt werden – und genau so Commons, aus Gemeingütern. Viele wenig von Referentialität: Die Hashtags digitale Ressourcen werden von #blacklivesmatter, #blm oder #blackout- Communities aufgebaut, gepflegt, day sind Strukturen, mit denen Instagram- genutzt und verändert. Digitale Platt- Posts auf andere verweisen und bestimmte formen sind an sich inhaltslos, die Beiträge gefunden werden können. Hash- dafür verwendeten Programme und tags haben eine doppelte Funktion: Sie 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 341 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
nennen den gemeinten Kontext explizit, Hintergrund die Interpretation einer Aus- deuten aber auch einen Verweis an, der im sage mitprägt.5 Abb. 2: Ergebnisse zur Suche nach #blacklivesmatter am 9. Februar 2020 vom Konto @phwampfler, ohne schwarze Kacheln 342 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Ausgehend von Stalders Kategorien könn- algorithmisch berechnete Vorlieben und te man Muster beschreiben, die sich in bewusst oder unbewusst vorgenommene der Kultur der Digitalität ergeben: Akti- Einstellungen. Die Position bestimmt, was vismus in einer Kultur der Digitalität be- eine Person wahrnehmen kann – worüber stünde dann darin, durch die geschickte sich dann zusätzlich konstruktivistische Verwendung von Referenzen und den Auf- Rezeptionsprozesse legen. bau von Communities Algorithmen dazu zu Felix Stalder hat diesen Zusammen- bringen, relevante Inhalte einer möglichst hang in einem Interview wie folgt auf den großen Zielgruppe anzuzeigen und diese Punkt gebracht: „Mit steigender Komplexi- zu einem bestimmten politischen Verhalten tät werden die Dinge so vielschichtig und zu bewegen. vernetzt, dass der Charakter des einzelnen Solidarität wäre dann in einer digitalen Dings sehr wandelbar wird. Je nachdem, Ausprägung die Stärkung des Vorgehens in welchem Zusammenhang die Dinge ste- von Aktivistinnen und Aktivisten, indem hen, kann es sein, dass sie kaum mehr als beispielsweise Beiträge gelikt oder geteilt einzelne Phänomene erfassbar sind. Damit werden, die Referenzen gestärkt und ge- wird auch die Positionalität des Betrach- nerell die Reichweite erhöht würde. Der ters extrem wichtig, weil sie ja an der Her- Konflikt des #blackoutdays besteht nun stellung der Zusammenhänge beteiligt ist. darin, dass die Solidaritätsaktion diesen Die Dinge sehen aus verschiedenen Orten Zweck nicht erfüllte: Die Aktion war zu und Blickwinkeln unterschiedlich aus, was einem Teil falsch verstandenes Allyship, dem Ganzen eine zusätzliche Dynamisie- das zur Selbstvermarktung benutzt wurde. rung verleiht und die Komplexität weiter erhöht.“6 Die Bedeutung von Positionalität im 2. Positionalität und Komplexität Umgang mit Komplexität in einer Kultur der Digitalität kann vereinfacht auch so Die Netz-Metapher, mit der die Verbindung dargestellt werden: Digital vorliegende von Profilen und Texten durch die Inter- Phänomene sind immer an Perspektiven net-Technologie beschrieben wird, zielt gebunden. (Positiv gewendet: Die Per- auf die Komplexität der Verweise und der spektiven ermöglichen die Phänomene damit verbundenen sozialen Prozesse. Ein erst.) Im Gegensatz zu nicht-digitalen wesentlicher Aspekt dieser Komplexität Kulturformen ist das verstärkt der Fall, ist die Positionalität: Sprechen zwei Per- weil die Perspektiven sich direkt durch sonen über die BLM-Thematik im Young- die Merkmale der Kultur der Digitalität er- Adult-Roman The Hate U Give von Angie geben: Algorithmen, Gemeinschaften und Thomas, dann beziehen sie sich auf einen Verweise konstruieren diese Perspektiven fixierten, objektiv vorliegenden Text, den mit, verstärken und erzwingen, dass Men- sie je unterschiedlich rezipieren. Spre- schen Digitalität aus je unterschiedlichen chen sie dagegen über BLM-Inhalte auf Sichtweisen wahrnehmen. Instagram, dann hängen die Inhalte, die sie sehen können, ihre Kontextualisierung 2.1 Argumentativ-reflexive und digitale und Verbindung von ihrer Position auf der Positionalität Plattform ab. Die Position ist zusätzlich beeinflusst durch ihre vorherige Prosump- In ihren Ausführungen zum Perspektiven- tion (Verbindung von Produktion und Kon- wechsel als didaktische Kategorie halten sum), die Profile, denen ihr Konto folgt, Christian Mathis und Ludwig Duncker fest, die Profile, die ihrem Konto folgen sowie dass Positionalität „quasi danach schreit, 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 343 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
erneut geöffnet, relativiert und diskursiv Sichtweisen auseinandersetzen und ausgehandelt zu werden“. Positionalität dabei Argumente vorbringen, welche verstehen sie als „eine eigene Standort- für die eigene Sichtweise sprechen. bestimmung“ durch eine „argumentativ Gute Lernsettings, so Mathis und geklärte Stellungnahme“.7 Diese Definition Duncker, ermöglichen unterschied- zeigt, dass es zwei unterschiedliche Vor- liche Perspektiven und schaffen so stellungen von Positionalität gibt: Raum für diese Auseinandersetzung. Will man dieses Verständnis auf den 1. Bei Stalder und im Zusammenhang Punkt bringen, dürfte es sinnvoll sein, mit einer Kultur der Digitalität ist Po- von einer argumentativ-reflexiven Posi- sitionalität eine Gegebenheit, eine tionalität zu sprechen. Sie bezeichnet Bedingung der Teilhabe an dieser einen inneren Prozess einer Bewusst- Kultur. Ich kann nicht anders als aus werdung, dass es andere Positionen einer bestimmten Position auf Digi- gibt und die eigene Position einer Be- talität zugreifen. Schon nur die Er- gründung bedarf. gebnisse auf eine Suchanfrage fallen je nach verwendetem Gerät, nach Beziehen wir die beiden Positionalitätsbe- Browser, Suchgeschichte, Standort, griffe auf die BLM-Thematik auf Instagram, Klickverhalten, Sprache etc. anders dann zeigt digitale Positionalität, dass ich aus. Damit wird wiederum deutlich, Inhalte und Argumente in bestimmten Zu- dass es keine neutrale Position gibt: sammenhängen wahrnehme. Wer sich Niemand kann ohne Gerät, ohne etwa in konservativen Kreisen bewegt, Browser, ohne Sprache Suchanfra- wird sehr häufig Bilder von gewaltsamen gen durchführen. (Darauf basiert die Protesten sehen und daraus die Vorstel- Tracking-Technik Fingerprinting, bei lung entwickeln, diese Bewegung sei eine der aus solchen Merkmalen eindeuti- Bedrohung für das bürgerliche Establish- ge Profile gebildet werden, mit denen ment. Wer progressiv-jugendlich vernetzt sich einzelne Userinnen und User ist, sieht Angebote, um über Anti-Rassis- identifizieren lassen, ohne dass sie mus zu lernen, sich zu vernetzen und Men- bewusst ein Konto anlegen.) Verkürzt schen aus Minderheiten zuzuhören, ihnen könnte dieses Verständnis als digitale eine Stimme zu geben. Daraus ergeben Positionalität bezeichnet werden, die sich Sichtweisen, die dann im Rahmen festlegt, welche Inhalte ein User oder einer argumentativ-reflexiven Positionalität eine Userin in welchen Kontexten geklärt werden sollten. wahrnehmen kann. Digitale Positiona- Damit lässt sich auch eine Schwierig- lität ist eine Gegebenheit im Netz: Ein keit beschreiben: Mathis und Duncker be- Online-Shop kann mir andere Preise ziehen sich auf Lehrmittel, von denen sie als anderen anzeigen, ohne dass ich erwarten, dass Themen und Inhalte aus das direkt erkennen kann. unterschiedlichen Perspektiven dargestellt 2. Im didaktischen Verständnis von werden. Werden diese Lehrmittel durch Mathis und Duncker hingegen ist digitale Plattformen ersetzt, dann kann mit Positionalität ein Ziel, das in Lernar- dem Begriff der Filterblase die Problema- rangements verfolgt wird: Lernende tik umschrieben werden, dass Perspekti- sollen von Vorurteilen zu argumentativ ven sich hermetisch abschließen und es gestützten Urteilen geführt werden. für Mitglieder von Communities gar nicht Wer eine persönliche Haltung be- mehr ersichtlich ist, dass es andere Sicht- gründen will, muss sich mit anderen weisen gibt. Zusätzlich führen adaptive 344 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Lehrmittel dazu, dass Schülerinnen und Stories sind viele Umfragen zu sehen, weil Schüler ganz unterschiedliche Darstel- die zu Interaktionen mit dem Publikum lungen, Inhalte und Übungen ausgespielt führen. Dagegen dominieren auf Twitter bekommen, das aber nicht direkt bemer- textbasierte, argumentativ-polemische Dis- ken. Digitale Positionalität würde dann der kussionen, die sich in einem öffentlichen Entwicklung einer argumentative-reflexiven Raum entwickeln. Positionalität im Weg stehen. Wir erleben also gerade in Echtzeit, Das Verhältnis von digitaler und argu- wie die Kultur der Digitalität Sprache und mentativ-reflexiver Positionalität ist mehr- Phänomene verwandelt. Wer sich primär schichtig und von Wechselwirkungen über Instagram zu didaktisch-pädago- durchzogen: Digitale Positionalität kann gischen Themen informiert, findet einen Ausgangspunkt oder Hindernis für die ganz anderen Zugang als Menschen, die Entwicklung einer argumentativ-reflexiven sich an den Twitter-Diskussionen beteili- Positionalität darstellen. Digitalität führt gen. Selbst dieser Beitrag entstammt einer nicht per se zu Filterblasen (dafür ist eine ganz bestimmten Sicht auf die hier disku- komplexe technische und soziale Balance tierten Zusammenhänge. Diese Sicht kann notwendig8), bewusst und reflektiert ein- relativiert werden, indem Feedback einge- genommene Standpunkte schützen nicht holt wird oder Gespräche geführt werden, davor, auf eine beschränkte Perspektive in in denen andere Blickwinkel eingebracht einer Kultur der Digitalität reduziert zu sein. werden können. Aber eine neutrale, ob- jektive Sicht auf Bildungsdiskussionen ist 2.2 Exkurs: Positionalität im Social- heute noch weniger möglich, da Interes- Media-Diskurs über Bildung sierte stets nur kontextualisierte Ausschnit- te der Gespräche verarbeiten können. Ein Anschauungsbeispiel, was Positiona- lität bedeutet, liefern die verschiedenen Diskursstränge, die sich zu Bildungs- 3. Diskursive Didaktik als themen auf digitalen Plattformen erge- ben haben. Nachdem sich auf Facebook Antwort auf die doppelte eine Reihe von Gruppen gebildet haben, Herausforderung der in denen insbesondere medienpädago- Positionalität gische Themen und Unterstützung von Referendarinnen und Referendaren eine Der zweite Teil dieses Beitrags verschiebt große Rolle gespielt haben, haben sich den Fokus von Erklärungen hin zur didakti- diese Räume fragmentiert: Heute gibt es schen Frage, wie Schülerinnen und Schü- auf Twitter, LinkedIn, Instagram, weiterhin ler lernen können, (von einer Kultur der auf Facebook und teilweise auch auf Tik- Digitalität geprägte) Phänomene zu ver- Tok Gemeinschaften, die Bildungsthemen stehen. Die Antwort darauf lautet knapp: debattieren. Die Plattformen unterschei- Indem sie an vielfältigen, multiperspektivi- den sich in ihren Affordanzen, also durch schen Gesprächen teilnehmen. den Aufforderungscharakter, mit dem sie zu bestimmten Medienhandlungen einla- 3.1 Phänomene der Digitalität verstehen den. Die Unterschiede übertragen sich auf die Gemeinschaften und die Formen ihrer Die Informatik-Didaktik hat mit dem Dags- Diskussionen: Viele Beiträge auf Instag- tuhl-Dreieck einen Vorschlag unterbrei- ram sind von großen Bildern mit vielen Ge- tet, welche Dimensionen das Verständnis sichtern begleitet. In den kurz sichtbaren von Phänomenen aus dem Bereich der 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 345 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Digitalität umfasst. „das“ bezeichnet im viele zivilgesellschaftliche Vorstöße der Dreieck jeweils die Phänomene. Neh- letzten Jahre mit Hashtags zusammenhän- men wir die Verwendung des Hashtags gen: #aufschrei, #meetoo, #blacklivesma- #blacklivesmatter: Wer diesen Hashtag ter. In einer Kultur der Digitalität können und seine Wirkung verstehen will, muss Hashtags aus unterschiedlichen Gründen technologisch nachvollziehen können, wie viel Wirkung erzeugen. Um sich an diesen Hashtags angezeigt und verlinkt werden Prozessen beteiligen zu können, müssen und wie sie mit der Sichtbarkeit und Reich- Menschen über Anwendungswissen ver- weite von Beiträgen zusammenhängen. fügen. Da es sich um interaktive, dyna- Gesellschaftlich-kulturell braucht es eine mische Verfahren handelt, reicht es nicht Einsicht in die Wirkung von Hashtags im aus, eine Anleitung zu befolgen: Nur wer Aktivismus, welche damit zusammenhängt, unterschiedliche Verhaltensweisen im Netz dass sich unterschiedliche Erfahrungen erprobt, Reaktionen darauf wahrnimmt und und Perspektiven unter einem Schlagwort Zusammenhänge reflektiert, kann nachhal- bündeln lassen. Es ist kein Zufall, dass tig Anwendungen nutzen. Abb. 3: Dagstuhl-Dreieck, CC-BY-SA Beat Döbeli Honegger und Renate Salzmann Das Dagstuhl-Dreieck verweist zwar auf drei #blacklivesmatter benutzt und wahrnimmt, unterschiedliche Perspektiven, in denen unterscheidet sich von der Verwendungs- sich Phänomene in einer Kultur der Digitali- weise einer PoC aus der Unterschicht. Wie tät manifestieren – jede dieser Perspektiven eine Person mit wenig Followern und einem muss aber wiederum aufgefächert werden: iPhone den Hashtag erlebt, unterscheidet Anwendung, Technologie und sozio-kul- sich von den Erfahrungen einer anderen, turelle Bedeutungen unterscheiden sich die einen reichweitenstarken Account auf je nach Kontext und Position, sie weisen einem Android-Gerät unterhält. Differenzen zudem individuelle und gesamtgesellschaft- dieser Art sind zahlreich. liche Komponenten auf. Wie eine weiße Das Dagstuhl-Dreieck müsste also auf Person aus dem gehobenen Mittelstand jeder Seite von „Perspektiven“ im Plural 346 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
reden, um alle Feinheiten zu erfassen und Dialogisches Lernen zeigt sehr klar, die Auswirkungen von Positionalität diffe- dass wesentliche Lernprozesse dann an- renzierter abbilden zu können. gestoßen werden, wenn Positionalität erstens selbstverständlicher Ausgangs- 3.2 Dialogisches Lernen als Grundkon- punkt des Lernens darstellt und zweitens zept einer diskursiven Didaktik in vielfältige Gespräche eingebunden und dabei wohlwollend mit anderen singulären Die Idee des dialogischen Lernens geht Standortbestimmungen konfrontiert wird. auf die Arbeiten von Urs Ruf und Peter Die Grundaufgabe lautet: Sag möglichst Gallin zurück. Ende der 1990er-Jahre klar, wie du ein Fachproblem siehst, wie haben die beiden Didaktiker Unterricht als du darauf reagierst – und hör dir dann Re- ein Gespräch zwischen Lehrenden, ein- aktionen auf deine Position an und denk zelnen Lernenden und einer Lerngruppe darüber nach, wie andere das Problem konzipiert. Das Ich der Lernenden tauscht sehen. sich über den Lerngegenstand mit dem Du Wenden wir diese didaktische Grund- der Lehrenden aus, welches an diesem vorstellung auf das Eingangsbeispiel Gespräch teilnimmt, gleichzeitig aber auch #blacklivesmatter an, dann besteht das sogenannte Kernideen in ein Gespräch Fachproblem darin, wie man als Mensch mit dem Wir der ganzen Klasse überführt. im deutschsprachigen Raum mit anti- Lernende nehmen „singuläre Standortbe- rassistischem Aktivismus von People of stimmungen“ vor: „Spüren die Schülerin- Color (PoC) umgehen soll, der primär nen und Schüler bei ihrer Begegnung mit auf Ereignisse und Lebensbedingungen einem neuen Thema nicht in erster Linie in den USA reagiert? Während PoC in die unerreichbare Überlegenheit ihrer Europa auch darauf hinweisen, wie sie Lehrkraft, sondern die singuläre Betroffen- rassistische Diskriminierung wahrnehmen heit einer Person, sind auch sie zu einer und dagegen vorgehen möchten, suchen persönlichen Antwort eingeladen.“9 weiße Menschen nach Möglichkeiten der Die Betonung der Singularität führt Solidarisierung (oder auch Distanzierung). dazu, dass das Konzept des Dialogischen Eine dieser Möglichkeiten bestand nun wie Lernens hervorragend für einen Umgang beschrieben darin, schwarze Quadrate zu mit Positionalität geeignet ist: Im doppelten posten. In einem dialogischen Gespräch Gespräch mit dem Du der Lehrkraft und kann nun die Wirkungsweise dieser digi- dem wir des Kurses oder der Klasse erfah- talen Solidaritätsgeste erfasst und kritisch ren Lernende, dass ihre Sicht auf Fachpro- reflektiert werden. bleme auf verschiedenen Ebenen subjektive (Das Beispiel zeigt auch sehr deutlich, Anteile enthält. Im Umgang mit Digitalität wie wichtig Diversität in Lerngruppen ist. wird so digitale wie argumentativ-reflexive Wer Gespräche über #blacklivesmatter Positionalität erfahrbar. Gleichzeitig zeigen ohne Einbezug von PoC oder Menschen die Gespräche aber auch Lehrenden, dass mit Kenntnissen der Situation in den die Vorstellung, es gäbe einen objektiven USA führt, wird immer nur zu einem ein- Zugang zu Wissensbeständen, nicht nur geschränkten Verständnis der Vorgänge wesentliche Merkmale einer Kultur der Di- kommen. Erfahrungen sind wesentliche gitalität verfehlt (vgl. Kp. 1), sondern auch Formen von Expertise – was die Rolle der erkenntnistheoretisch überholt ist (die Idee Lehrkraft als Instanz von Wissensvermitt- des Dialogischen Lernens basiert auf einer lung relativiert.) Anwendung der Einsichten des Konstrukti- vismus auf Unterrichtsmethoden). 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 347 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
3.3 Working Out Loud und Social- sichtbar zu machen, dass Verbindungen Media-Diskussionen als Lernformen mit anderen Menschen entstehen können. Stepper schlägt vor, zunächst in WoL- Bezieht sich Dialogisches Lernen auf Me- Circles zu arbeiten, also kleine Gruppen zu thoden und Gespräche, die traditionel- bilden, in denen die Methode studiert und lerweise im Klassenzimmer ablaufen, so erprobt wird. Davon ausgehend bestehen haben sich in einer Kultur der Digitalität weitere Übungen darin, mit Menschen Gesprächsformen entwickelt, welche den aktiv in Kontakt zu treten, die an ähnlichen Schulraum öffnen und über digitale Platt- Fragestellungen arbeiten wie man selber, formen physisch abwesende Personen und sichtbar zu machen, wie man aktuell einbeziehen können. anstehende Tätigkeiten gestaltet. Eine Methode, mit der Positionalität Dafür eignen sich Social-Media-Platt- digital ausgedrückt werden kann, ist das formen sehr gut. Bei der Niederschrift die- auf John Stepper zurückgehende Working ses Aufsatzes habe ich etwa diesen Tweet Out Loud (WoL).10 Die Grundidee besteht veröffentlich: darin, den eigenen Arbeitsprozess so Abb. 4: Tweet vom 8. Februar 2021, Screenshot twitter.com/phwampfler Dieser Tweet gibt Auskunft über ein aktu- Blick von Fachpersonen aus anderen Be- elles Projekt sowie eine damit verbundene reichen und mit anderen Erfahrungen kann Entscheidung und er lädt die Menschen, erhellend oder sogar notwendig sein und die mitlesen, dazu ein, diese Entscheidung Standpunkte und blinde Flecke bewusst zu kommentieren. machen, die alleine nicht wahrgenommen Zielt die WoL-Idee primär darauf ab, werden könnten. Selbstwirksamkeit zu erleben und Arbeits- Gelingender Unterricht in einer Kultur prozesse mit Formen der (digitalen) Ko- der Digitalität sollte Lernende an diese Mög- operation anzureichern, so ist sie darüber lichkeiten heranführen. Selbstverständlich hinausgehend auch geeignet dafür, Po- kann und soll nicht jede Phase eines Lern- sitionalität zu erleben und in Gespräche prozesses auf digitalen Plattformen abgebil- einzutreten. Gerade die Möglichkeit, auf det werden. Denkbar wäre jedoch: digitalen Plattformen Gespräche mit Men- schen zu führen, die zur eigenen Com- 1. Offene Fragen aus dem Unterricht im munity of Practice gehören, aber keine Netz zur Diskussion stellen. direkten Mitarbeitenden sind, ist diesbe- 2. Lernergebnisse im Netz ausstellen züglich sehr wertvoll. Mehr noch: Auch der und um Feedback bitten. 348 Pädagogische Rundschau 3 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
3. Auf selbst genutzten Netzwerken Um- objektivierenden Vorstellungen von Wis- fragen durchführen und über die Er- sensvermittlung und hin zu einer diskursi- gebnisse nachdenken. ven Didaktik. 4. Mit Fachpersonen im Netz Gespräche zum Unterrichtsgegenstand führen. Die Grundidee hinter dieser digitalen Er- Anmerkungen weiterung besteht darin, den beschränk- ten Gesprächsrahmen in einer Klasse 1 Für Gespräche zu diesem Beitrag danke ich aufzubrechen. So kann es in Lerngrup- Lars Mecklenburg, Dejan Mihajlović, Axel Krommer und Adriane Langela-Bickenbach. pen zu zwei Lagern kommen, die kont- 2 Für eine Übersicht zu den Aussagen vgl. räre Positionen vertreten. Eine Sicht von Carre Mihalcik (2020): Blackout Tuesday's außen kann eine Beobachtung zweiter flood of black squares may be silencing #Bla- Ordnung anbieten und Lernenden wie ckLivesMatter hashtag and protesters. In: Lehrenden eine Wahrnehmung der eige- Cnet 2. Juni 2020, online: https://www.cnet. nen Positionalität ermöglichen, die im di- com/news/blackout-tuesdays-flood-of-black- squares-may-be-silencing-blacklivesmatter- rekten Gespräch unter Umständen nicht hashtag-and-protesters/ (20.1.2021). möglich ist. 3 Felix Stalder (2016): Kultur der Digitalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9. 4 Joanna Stern (2021): Social-Media Algo- 4. Fazit: Positionalität als rithms Rule How We See the World, Wall Unterrichtsentwicklungsprojekt Street Journal, 17. Januar 2021. 5 Für diesen Hinweis danke ich Lars Mecklen- burg, der in ihn einem Gespräch so formuliert Digitalität verdeutlicht, wie stark kulturel- hat. le Akteure diese Kultur aus spezifischen 6 Felix Stalder (2019). Den Schritt zurück gibt Positionen erzeugen. Das gilt auch – aber es nicht. Interview mit Irena Sgier. In: Haber- nicht nur – für eine Kultur der Digitalität, zeth, Erik und Sgier, Irena (Hg.): Digitalisie- die das besonders gut sichtbar macht: Po- rung und Lernen. Gestaltungsperspektiven sitionalität ist mit der Kultur der Digitalität für das professionelle Handeln in der Erwach- senen- und Weiterbildung, S. 44-50. Bern: verbunden, weil digitale Phänomene nur HEP, hier S. 46. aus einer digitalen Position wahrnehm- 7 Christian Mathis und Ludwig Duncker (2017): bar sind. Deshalb ist es in den letzten 20 Perspektivenwechsel als didaktische Kate- Jahren deutlich bedeutsamer geworden, gorie. Zur Qualität von Lehrwerken für den die eigene Position zu reflektieren. Ge- Sachunterricht. In: Hartmut Giest, Andreas spräche in verschiedenen Varianten bie- Hartinger und Sandra Tänzer (Hg.): Vielper- spektivität im Sachunterricht. Bad Heilbronn: ten sich für dieses Vorhaben an. Daran Verlag Julius Klinkhardt, S. 66-74, hier S. 71. muss sich Unterrichtsentwicklung orien- 8 Tuan Minh Pham, Imre Kondor, Rudolf tieren und messen lassen. Guter Unter- Hanel und Stefan Thurner (2020): The richt ermöglicht im 21. Jahrhundert gute effect of social balance on social frag- Gespräche: Möglichkeiten, die eigene mentation. In: Interface 17, online: https://royal- beschränkte Position wahrzunehmen und societypublishing.org/doi/10.1098/rsif.2020. mit anderen Positionen so abzugleichen, 0752#RSIF20200752F3 (18.1.2020). 9 Urs Ruf und Peter Gallin (1999): Dialogi- dass ein Lernprozess stattfinden kann. sches Lernen in Sprache und Mathematik. Lehrende und Schulen sollten sich bei der Band I. Seelze: Klett/Kallmeyer, S. 60. Entwicklung ihres Unterrichts also fragen, 10 Für Kontext, Hintergründe und das Buch von wie sie bessere Gespräche ermöglichen Stepper vgl. https://workingoutloud.com/ können, wie sie wegkommen können von (1.2.2021). 3 / 2021 Pädagogische Rundschau 349 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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