Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie - Zahn- und Kiefer fehl stellungen bei Kindern
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Zusammenfassung Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie Zahn- und Kieferfehlstellungen bei Kindern A. Rainer Jordan, Kathrin Kuhr, Cristiana Ohm, Nicolas Frenzel Baudisch, Christian Kirschneck
Einleitung Hintergrund und Rationale Zahn- und Kieferfehlstellungen gehören neben Die letzte bundesweite Erfassung zur Verbreitung Karies und Parodontalerkrankungen zu den von Zahn- und Kieferfehlstellungen in Deutsch- häufigsten Gesundheitsbeeinträchtigungen der land stammt aus dem Jahr 1989. Insbesondere Mundhöhle. existieren keine systematischen epidemiologischen Daten zu Zahn- und Kieferfehlstellungen aus den Primäre Aufgabe der Kieferorthopädie ist die neuen Bundesländern. Damit ist das kieferortho präventive und korrektive Behandlung und pädisch-epidemiologische Gesamtbild in Deutsch- Beseitigung von Fehlfunktionen sowie von land nicht vollständig – mit entsprechenden Zahn- und Kieferfehlstellungen mit Krankheits- Unsicherheiten für die Planung der zahn wert. Dies beinhaltet die Erkennung, Prävention, medizinischen Gesundheitsversorgung. Diagnostik und Therapie von Fehlentwicklungen und Fehlbildungen des Kauorgans, sowie von Generell kann seit einigen Jahren in Deutschland Zahnstellungs- und Bissanomalien, Kieferfehl eine erhebliche Morbiditätsdynamik bei oralen bildungen und Deformierungen der Kiefer und Erkrankungen festgestellt werden, zuerst bei der des Gesichtsschädels. Kieferorthopädische Ano- abnehmenden Karieslast bei Kindern. Mittler- malien sind ebenfalls assoziiert mit Einschrän- weile erstreckt sich diese Morbiditätsdynamik auf kungen der Kaufunktionen, der Atmung, der sämtliche Altersgruppen aller gesellschaftlichen Phonetik und des Schluckens. Die Kieferortho Schichten und schließt auch parodontale Erkran- pädie versteht sich in diesem Sinne ebenfalls als kungen mit ein. Inwiefern kieferorthopädische präventiv ausgerichtete Disziplin, wenn durch Krankheitsbilder von dieser günstigen Morbiditäts eine Behandlung Folgeerkrankungen verhindert dynamik ebenfalls betroffen sind, kann aktuell werden können. Die Ursachen kieferortho- nicht dargestellt werden. Zudem dürfte die all pädischer Erkrankungen sind multifaktoriell gemeine Bevölkerungszusammensetzung infolge und reichen von genetischen, epigenetischen der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und funktionellen bis hin zu umweltbedingten und aufgrund der unterschiedlichen Einwande- Faktoren. Auch der Ausprägungsgrad der rungswellen einer neuen Dynamik unterliegen, einzelnen Erkrankungen ist ausgesprochen sodass eine aktuelle Datenerhebung ebenfalls variabel. Dementsprechend umfangreich sind die sinnvoll erschien. Therapieoptionen. Genetische und epigenetische Faktoren lassen sich durch eine kieferortho Aus der Bevölkerungsdynamik in Deutschland in pädische Therapie nur schwer beeinflussen; eine den vergangenen Jahrzehnten ergab sich als Ratio Behandlung richtet sich vornehmlich gegen die nale für diese Studie, die oral-epidemiologische Folgen bzw. die phänotypische Manifestation. Datenlage in Deutschland zu vervollständigen und Bei funktionellen und umweltbedingten Fak- zu aktualisieren (deskriptive Epidemiologie). toren hingegen bestehen grundsätzlich Präven- tionsmöglichkeiten und oftmals eine kausale Neben einem wissenschaftlich-epidemiologischen Therapieoption. Interesse haben verschiedene Gutachten in den vergangenen Jahren die Frage nach der Evidenz Die Kieferorthopädie stellt mit etwa 3.700 zahn- basierung in der Kieferorthopädie aufgeworfen. ärztlich tätigen Fachzahnärztinnen und -ärzten Eine Medizintechnik-Folgenabschätzung (hta: neben der Oralchirurgie die zahlenmäßig größte Health Technology Assessment) für festsitzende fachzahnärztliche Disziplin in der Zahn-, Mund- kieferorthopädische Apparaturen des Deutschen und Kieferheilkunde dar. Der Anteil kieferortho- Instituts für Medizinische Dokumentation und pädischer Leistungsausgaben der gkv im Gesund- Information (dimdi) aus dem Jahr 2008 kam zu heitswesen in Deutschland betrug im Jahr 2020 dem Ergebnis, dass „sich der Eindruck [verstärkt], etwa 0,5 Prozent. dass eine große Kluft zwischen der praktischen Anwendung kieferorthopädischer Maßnahmen 2 Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie
und der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Befragungssurvey auf national repräsentativer Wirksamkeit existiert“. Der Bundesrechnungshof Ebene mit Scherpunkt auf Zahn- und Kieferfehl- hat nach einer Prüfung der Leistungen für Kiefer stellungen. Die Untersuchungen fanden von Januar orthopädie in seiner abschließenden Mitteilung im bis März 2021 in 16 Studienzentren in Deutschland Jahr 2018 an das Bundesministerium für Gesund- statt. heit und den gkv-Spitzenverband eine intrans parente Datenlage zur kieferorthopädischen Ver Studienteilnehmende sorgung (Versorgungsforschung) angemahnt. Ein weiteres, im Auftrag des Bundesministeriums für Nach einer Adressziehung in den Gemein- Gesundheit (bmg) erstelltes Gutachten des iges- deverwaltungen der Studienzentren wurden Instituts zur Nutzenfrage kieferorthopädischer 1.892 Personen der Geburtskohorten 2011 und Behandlungsmaßnahmen regte zur weiteren 2012 zur Teilnahme an der Studie eingeladen. Evidenzgenerierung eine Reihe von Maßnahmen Insgesamt wurden 714 Studienteilnehmende an, zu denen auch kieferorthopädische Frage zahnmedizinisch untersucht und sozialwissen- stellungen in nationalen epidemiologischen Unter schaftlich befragt. Für 705 Studienteilnehmende suchungen zählen. lagen alle relevanten Daten vor und sie wurden in die statistische Auswertung einbezogen. Die Aus diesen Gutachten stellt sich die Frage nach Response-Rate lag bei 40,6 %. 51,4 % der Studien dem tatsächlichen Versorgungsbedarf in Deutsch- teilnehmenden waren männlichen Geschlechts land und daraus konnte die zweite Rationale für (weiblich: 48,6 %), der Anteil der 8-Jährigen lag diese Studie abgeleitet werden: aus der oral-epide- bei 49,4 % (9-Jährige: 50,6 %). Um Erkenntnisse miologischen Datenlage den kieferorthopädischen über etwaige systematische Unterschiede zwischen Versorgungsbedarf abzuleiten (Versorgungsepide- Studienteilnehmenden und Nicht-Studienteil- miologie im Sinne der Bedarfsforschung). nehmenden zu gewinnen, wurde anschließend eine Nonresponder-Befragung durchgeführt. Da Studienziele die A nalyse keine systematischen Unterschiede zwischen den Studienteilnehmenden und den Es war das primäre Ziel dieser Studie, die Ver- befragten Nicht-Studienteilnehmenden aufzeigte, breitung von Zahn- und Kieferfehlstellungen bei ist von keiner Verzerrung der Studienergebnisse 8- und 9-jährigen Kindern in Deutschland zu durch den Anteil der Nonresponder auszugehen erfassen. und die Studienergebnisse können als repräsentativ angesehen werden. Es war das sekundäre Ziel dieser Studie, daraus den kieferorthopädischen Versorgungsbedarf Zielgrößen abzuleiten. Die primäre Zielgröße „Verbreitung von Zahn- Daneben wurden weitere analytisch-epidemio und Kieferfehlstellung“ wurde wie folgt operatio- logische Fragestellungen aufgeworfen: nalisiert: Kieferorthopädische Indikationsgruppe: kig 1 vs. kig 2 vs. kig 3 – 5. • Gibt es einen Zusammenhang zwischen Zahn- und Kieferfehlstellungen und der mundgesund- Die sekundäre Zielgröße „Kieferorthopädischer heitsbezogenen Lebensqualität? Versorgungsbedarf“ wurde zum einen basierend • Gibt es einen Zusammenhang zwischen Zahn- auf den gkv-Kriterien wie folgt operationalisiert: und Kieferfehlstellungen und Karies? kig 1 – 2 vs. kig 3 – 5. Forschungsmethoden Ergänzend erfolgte nach medizinisch weiter gefassten Kriterien folgende Operationalisierung: Es handelt sich um einen oralepidemiologischen kig 1 vs. kig 2 – 5. Untersuchungs- und sozialwissenschaftlichen Zahn- und Kieferfehls tellungen bei Kindern · Zusammenfassung 3
Weitere epidemiologisch-kieferorthopädische nehmenden, die keine Zahnfehlstellungen auf- Indizes wurden für einen internationalen Vergleich wiesen und ohne kieferorthopädischen Befund berechnet. (eugnathes Gebiss) waren. In diesen Fällen liegt keine Behandlungsindikation für eine kiefer Hauptergebnisse orthopädische Therapie vor. 1,8 % der Studien- teilnehmenden wiesen leichte Zahnfehlstellungen Der Anteil der Studienteilnehmenden, bei denen auf, deren Behandlung aus ästhetischen Gründen nach den Richtlinien der gesetzlichen Kranken wünschenswert sein kann, jedoch nicht zu Lasten versicherung eine kieferorthopädische Behandlung der Krankenkassen (kig-Grad 1). angezeigt ist (Kieferorthopädische Indikations- gruppen 3 bis 5), lag bei 40,4 %: 7,0 % der Studienteilnehmenden gaben an, ab und zu Schwierigkeiten beim Kauen von Nah- • 10,0 % der Studienteilnehmenden wiesen ausge- rungsmitteln zu haben; 2,4 % der Studien prägte Zahnfehlstellungen auf, die aus medizi- teilnehmenden gaben an, dass dies oft oder nischen Gründen eine Behandlung erforderlich sehr oft der Fall sei. Ab und zu Schmerzen im machen (kig-Grad 3); Mundbereich hatten 7,7 %, gefolgt von 3,2 %, • 25,5 % der Studienteilnehmenden wiesen stark für die das oft oder sehr oft zutraf. Die Hälfte ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die aus der Studienteilnehmenden wies keine Ein- medizinischen Gründen dringend eine Behand- schränkungen der mundgesund heitsbezogenen lung erforderlich machen (kig-Grad 4); Lebensqualität auf. Im Gruppenvergleich • 5,0 % der Studienteilnehmenden wiesen extrem kieferorthopädischer Versorgungsbedarf vs. stark ausgeprägte Zahnfehlstellungen auf, die kein kieferorthopädischer Versorgungsbedarf aus medizinischen Gründen unbedingt eine stellten sich Assoziationen zur mundgesund Behandlung erforderlich machen (kig-Grad 5). heitsbezogenen Lebensqualität dar: Studienteil- nehmende, die in der Befragung zur mundge- Auch nach weiter gefassten, international eta sundheitsbezogenen Lebensqualität angegeben blierten epidemiologischen Indizes lag der Anteil hatten, Schwierigkeiten beim Kauen von Nah- der Indikationen für eine kieferorthopädische rungsmitteln zu haben, wiesen systematisch eher Behandlung bei vergleichbaren 41,6 % (Index einen kieferorthopädischen Versorgungsbedarf of Complexity Outcome and Need [icon]) bzw. auf. Bei Studienteilnehmenden mit Schmerzen 44,2 % (mod. Index of Orthodontic Treatment im Mundbereich war der Versorgungsbedarf Needs [miotn]). tendenziell erhöht. Insgesamt zeigte sich, dass eine eingeschränkte mundgesundheitsbezogene kig-Grad 2 bezeichnet nach den gkv-Richt Lebensqualität mit einem kieferorthopädischen linien Zahnfehlstellungen geringer Ausprägung, Versorgungsbedarf assoziiert war. die zwar aus medizinischen Gründen durchaus eine Indikation für eine kieferorthopädische Kariesfreie Studienteilnehmende hatten seltener Korrektur darstellen kann, deren Kosten jedoch einen kieferorthopädischen Versorgungsbedarf nicht von den Krankenkassen übernommen als Kinder mit einer Karieserfahrung (37,1 % vs. werden. 57,0 % der Studienteilnehmenden wiesen 44,7 %). Im Hinblick auf kariöse Zähne konnte einen kig-Grad 2 auf. Der Anteil der Studienteil- festgestellt werden, dass Studienteilnehmende nehmenden, bei denen aus medizinischen und mit kieferorthopädischem Versorgungsbedarf gkv-Gründen eine kieferorthopädische Behand- tendenziell mehr kariöse Milchzähne aufwiesen lung grundsätzlich angezeigt sein kann, lag somit und systematisch mehr kariöse permanente bei insgesamt 97,5 %. Zähne. Dementsprechend wiesen Studienteil nehmende ohne kieferorthopädischen Ver 2,5 % der Studienteilnehmenden wurde der sorgungsbedarf systematisch mehr gesunde kig Grad 1 oder kein pathologischer Befund Zähne auf. zugewiesen. Dazu zählten 0,7 % der Studienteil 4 Sechste Deutsche Mundgesundheitsstudie
Schlussfolgerungen muss und ebenso eine Prävalenz retinierter / ver lagerter Zähne von etwa 6 %. Der im Rahmen dieser Studie nach Kieferortho pädischen Indikationsgruppen ermittelte Ver In dieser Studie zur Feststellung von Zahn- und sorgungsbedarf deckt sich weitgehend mit dem Kieferfehlstellungen wurden sowohl die deut- von Glasl et al. im Jahre 2006, den die Autoren schen Kieferorthopädischen Indikationsgruppen mit 41,4 % bezifferten. Damit liegt nahe, dass als auch weitere international etablierte kiefer der kieferorthopädische Behandlungsbedarf in orthopädisch-epidemiologische Indizes auf das Deutschland über die Jahre weitgehend konstant Untersuchungskollektiv 8- und 9-jähriger Kinder geblieben ist. (frühes Wechselgebiss) angewandt, um primär bei einem möglichst großen Anteil unbehandelter Der Anteil der Studienteilnehmenden, bei denen Patienten den theoretischen Behandlungsbedarf aus medizinischen Gründen eine kieferortho festzustellen. Dabei zeigte sich, dass der kiefer- pädische Behandlung grundsätzlich angezeigt orthopädische Behandlungsbedarf bei Anwen- sein kann, lag bei insgesamt 97,5 %. Dies deckt dung verschiedener Indizes bei etwa 40 bis 44 % sich weitgehend mit früheren Untersuchungen lag, wobei zu berücksichtigen ist, dass im späten wie der dms i, nach denen die Prävalenz eines Wechselgebiss (Hauptbehandlungszeit nach den absolut eugnat hen Gebisses ohne kieferortho- gkv-Richtlinien) aufgrund der Progredienz von pädische Anomalien mit 1 % angegeben wurde. Zahn- und Kieferfehlstellungen noch mit einer In der vorliegenden Studie lag der Anteil kiefer Zunahme zu rechnen ist und die kig-Kategorien orthopädisch-naturgesunder Gebisse bei 0,7 %. u (Zahnunterzahl) und s (Durchbruchstörungen, Retention und Verlagerung) nicht berücksichtigt Eine Stärke der dms · 6 stellt die Repräsenta- werden konnten. Es ist im internationalen Ver- tivität bezüglich der Bevölkerung der 8- und gleich bei Anwendung der Richtlinien (kig) in 9-Jährigen in Deutschland dar, welche durch die Deutschland weder von einer Unter-, noch von geografische Berücksichtigung von 16 Standorten einer Überversorgung auszugehen. Ein Vergleich gewährleistet wurde. Die relative hohe Response- mit den Abrechnungsdaten der Kassenzahnärzt- Rate von 40,6 % und Anzahl von 705 Fällen lichen Bundesvereinigung (kzbv) zeigt zudem, ermöglicht valide Rückschlüsse auf die Mund- dass sich der kieferorthopädische Versorgungs gesundheit in Bezug auf kieferorthopädische bedarf weitgehend mit der Versorgungsrealität Anomalien. Eine Limitation der Studie ist darin deckt und somit in diesem Bereich keine richt- zu sehen, dass nicht alle kieferorthopädischen linienspezifische Unter- oder Überversorgung Anomalien erfasst werden konnten: Die kig- anzunehmen ist. Kategorien u (Zahnunterzahl) und s (Durch- bruchsstörungen, Retention und Verlagerung) Die Assoziationsanalysen konnten zeigen, dass konnten nicht beurteilt werden, da aus studien bei einem kieferorthopädischen Versorgungs- ethischen Gründen keine radiologischen Auf- bedarf häufig eine Einschränkung der mund- nahmen der Kieferregion der Studienteilnehmer gesundheitsbezogenen Lebensqualität mit durchgeführt werden konnten. Da aufgrund Schwierigkeiten beim Kauen von Nahrungs dessen die Prävalenzen der kig-Grade 3 bis 5, mitteln besteht. Gleichzeitig waren Studien welche einen entsprechenden Versorgungsbedarf teilnehmende ohne kieferorthopädischen in den kig-Kategorien u und s implizieren, nicht Versorgungsbedarf häufiger kariesfrei. Diese erhoben werden konnten, ist davon auszugehen, Assoziationen geben Hinweise auf den medizi- dass der tatsächliche kieferorthopädische Ver nisch-prophylaktischen Charakter einer kiefer sorgungsbedarf in der Studienpopulation der orthopädischen Behandlung. 8- und 9-Jährigen höher ist als die im Rahmen dieser Studie eruierten 40,4 %. So zeigen Studien, Prof. Dr. A. Rainer Jordan, dass eine Prävalenz von Zahnnichtanlagen der Wissenschaftlicher Direktor Kategorie u von etwa 5 % angenommen werden Zahn- und Kieferfehls tellungen bei Kindern · Zusammenfassung 5
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