SELBSTBESTIMMUNG STATT LIQUIDIERUNG - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Indianerbewegung Von Walter R. Echo-Hawk

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SELBSTBESTIMMUNG STATT LIQUIDIERUNG - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Indianerbewegung Von Walter R. Echo-Hawk
SELBSTBESTIMMUNG STATT
                  LIQUIDIERUNG
ROSA              Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der
LUXEMBURG
STIFTUNG          amerikanischen Indianerbewegung
NEW YORK OFFICE   Von Walter R. Echo-Hawk
Inhaltsverzeichnis

    Ein Pfad gebrochener Verträge. Von den Herausgebern..............................................................1

    Selbstbestimmung statt Liquidierung
    Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Indianerbewegung.........2

    Von Walter R. Echo-Hawk

        Gegenwärtige Herausforderungen für die Ureinwohner Amerikas........................................4

        Das bleibende Vermächtnis der Eroberung.............................................................................5

                    Die Indianer-Gesetze.....................................................................................................7

                    Das andauernde politische Dilemma.......................................................................10

        Der Aktivismus der amerikanischen Indianer seit 1950.........................................................12

                    Die Red-Power-Bewegung..........................................................................................13

                    Indianische Selbstbestimmung.................................................................................17

                    Die Bewegung für Selbstbestimmung......................................................................18

        Die Ära der Menschenrechte....................................................................................................22

Veröffentlicht vom New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, gefördert mit Mitteln des AA
Januar 2014

Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016
E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für
politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für
demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen
zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen.

Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen
und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der
Politik zusammenzuarbeiten.

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Ein Pfad gebrochener Verträge

Seit Ankunft der ersten europäischen Siedler in dem Land, das heute die Vereinigten Staaten bildet,
war ihre Beziehung zu den amerikanischen Indianern geprägt von Enteignung, Verrat und Völker-
mord. Bis zum Anbruch des 20. Jahrhunderts hatten Krankheit, Krieg und erzwungene Assimilation
von den Ureinwohnern nur mehr einen Schatten dessen, was sie einst gewesen waren, übriggelas-
sen. In den 1950er Jahren verwandelten Hollywood-Western die Indianer in ein tragisches Symbol
für verlorene Freiheit und Unschuld, während die Bundesregierung eine Politik der Eliminierung
indianischer Stämme verfolgte. Dieses Erbe der Eroberung prägt die US-Politik bis auf den heutigen
Tag und fügt den Ureinwohnern fortgesetztes Leid zu.

Allen Widrigkeiten zum Trotz leisteten die amerikanischen Ureinwohner indes Widerstand. Die Tribal
Sovereignty Movement (Bewegung für die Souveränität indianischer Stämme) erwies sich dabei als be-
sonders bedeutsam. Aufgrund der gemeinsamen Anstrengungen indianischer Organisationen und
Stammesführer revidierte die Regierung 1970 endlich ihre unterdrückerische Politik. Mit dem Errin-
gen dieser Siege nahmen viele indianische Aktivisten eine konfrontativere Haltung ein. Die American
Indian Movement (Bewegung amerikanischer Indianer, AIM) verband radikale Taktiken mit traditionel-
ler Spiritualität, um den Stolz der Ureinwohner zu stärken, die fortbestehende Präsenz und Relevanz
der indianischen Kultur zu betonen und die Selbstbestimmung der Ureinwohner zu verwirklichen.
Der „Pfad gebrochener Verträge“ der AIM klärte über die lange und schäbige Geschichte des Verrats
der US-Regierung auf. Protestbesetzungen in Washington D.C. und am symbolischen Ort Wounded
Knee im Bundesstaat South Dakota, wo 1890 ein blutiges Massaker an Indianern stattgefunden hat-
te, konfrontierten die Regierung mit ihren Vergehen, was diese mit Vergeltungsmaßnahmen und
Verfolgungen vergalt, an denen die AIM schließlich zerbrach. Ganz offensichtlich ist der Kampf also
noch nicht gewonnen – amerikanische Indianer haben ein immenses und ungelöstes geschichtliches
Trauma erlitten –, aber die Erfahrungen mit dem geduldigen Engagement auf offiziellem Wege wie
auch der Taktik militanter Konfrontation inspirieren noch immer den Kampf für indianische Selbst-
bestimmung.

In dieser Studie diskutiert Walter Echo-Hawk die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner und
die nächsten Schritte zur Sicherung ihrer Rechte. Er selbst ist Angehöriger des Pawnee-Stammes
und arbeitet als Anwalt, Juraprofessor, Stammesrichter, Autor und Aktivist. Sein Engagement be-
gann in den späten 1960ern in der Red-Power-Gruppe des Nationalen Rats der indianischen Jugend.
Als Anwalt für Indianerrecht vertritt er seit 1973 indianische Stämme und indigene Gruppen in den
Vereinigten Staaten. Echo-Hawk argumentiert, dass die Erklärung der Vereinten Nationen über die
Rechte der indigenen Völker (UNDRIP) – die von der US-Regierung nominell unterstützt, jedoch nicht
umgesetzt wird – den besten Rahmen für die Behebung jener Ungerechtigkeiten darstellt, die die
amerikanischen Indianer sowie die Ureinwohner Alaskas und Hawaiis noch immer erleiden. Fest
steht: Es ist Zeit für alle Bürgerinnen und Bürger, die Vereinigten Staaten auf die Einhaltung der inter-
nationalen Menschenrechte zu verpflichten und auf diese Weise mit der Lösung des Widerspruchs
zu beginnen, der dem US-amerikanischen Experiment zugrunde liegt.

                                                                Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg
                                                                  Leiter des Büros New York, Januar 2014

                                                   1
Selbstbestimmung statt Liquidierung
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen
Indianerbewegung

Von Walter R. Echo-Hawk

Obwohl die aufwühlende Geschichte der Tribal                      berungszügen und Kolonialismus ausgemerzt.
Sovereignty Movement, der Bewegung für die                        Die Doktrin der Manifest Destiny, des angeb-
Selbstbestimmung der indianischen Stämme,1                        lich göttlichen Expansionsauftrags der USA,
in der indigenen Literatur gut dokumentiert                       verbreitete sich ohne Rücksicht auf die Rechte
ist, kennt man sie in der Mehrheitsgesellschaft                   der Ureinwohner über den ganzen Kontinent.
der Vereinigten Staaten kaum. Bei dem Aktivis-                    Dieses Vorgehen führte zu einem „Indianer-
mus, der seit 1950 den Fortschritt der moder-                     problem“, das in direktem Gegensatz zu den
nen indianischen Stämme vorantreibt, handelt                      Grundwerten des Landes steht und bis heu-
es sich um eine soziale Bewegung vom selben                       te andauert. Die Situation der unterdrückten
Rang wie die Bürgerrechts-, Frauen- und Um-                       Indianer, die inmitten einer freien und demo-
weltbewegungen. Es ist eine Geschichte, die es                    kratischen Gesellschaft leben, verblüfft und
verdient, erzählt zu werden. Angesichts syste-                    verwirrt die amerikanische Bevölkerung seit
matischer Unterdrückung ist die menschliche                       langem. Solange dieser Widerspruch besteht,
Erfahrung immer die Gleiche: Ungerechte Be-                       werden die USA auch weiterhin von jenen Dä-
dingungen machen das Leben unerträglich,                          monen heimgesucht werden, die allen schein-
und das Ziel, diese Ungerechtigkeiten zu über-                    bar freien Nationen begegnen, die auf Enteig-
winden, bringt starke soziale Bewegungen her-                     nung und Unterdrückung beruhen. Sie stellen
vor. Im Kampf um Gerechtigkeit für die ameri-                     unsere Legitimität, unser Selbstbild und un-
kanischen Ureinwohner ist dieses Grundprin-                       seren nationalen Ursprungsmythos in Frage.
zip eindeutig gegeben.                                            Denn eine demokratische Gesellschaft, in der
                                                                  ein Teil frei und der andere unterdrückt ist,
Demokratie und Menschenrechte bilden das                          kann es nicht geben.
Fundament des amerikanischen Experiments,
doch die Vereinigten Staaten haben sich, wie                      Im Jahr 1950 erreichte die Lage der amerika-
die Erfahrung der amerikanischen Ureinwoh-                        nischen Ureinwohner einen Tiefpunkt.2 Unter
ner beweist, nicht immer an ihre Grundwerte
                                                                  2   Dieser Artikel konzentriert sich hauptsächlich auf den
gehalten. Beim Auf- und Ausbau nationaler                             Aktivismus der (nord-)amerikanischen Ureinwohner,
Institutionen, die die Freiheit vieler Bevölke-                       obwohl die indigene Bevölkerung der Vereinigten
rungsgruppen garantieren, blieben die India-                          Staaten die Ureinwohner Alaskas und Hawaiis mit ein-
                                                                      schließt. Heute gehören fast drei Millionen amerikani-
nerinnen und Indianer außen vor. In der jun-                          sche Indianer und Ureinwohner Alaskas zu 500 staatlich
gen und aufstrebenden Republik sah man sie                            anerkannten Indianerstämmen. Circa 30 Prozent der
                                                                      amerikanischen Indianer leben in Reservaten, 70 Pro-
als entbehrlich an. Um Raum für Siedler und
                                                                      zent dagegen in Städten. Die 500 Stämme haben 369
Einwanderer zu schaffen, wurden sie von Ero-                          Abkommen mit den Vereinigten Staaten geschlossen
                                                                      und pflegen bilaterale Beziehungen zur US-Regierung.
                                                                      Ihnen gehören 40 Millionen Hektar treuhänderisch ge-
1   Da die Ureinwohner der 48 kontinentalen Staaten der               schütztes Stammesland mit bedeutenden Bodenschät-
    USA sich selbst als „Indianer“ bezeichnen, wird der Be-           zen: knapp 18 Millionen Hektar Naturweide bzw. Wei-
    griff auch in dieser Studie verwendet. – D. Red.                  deland, 2 Millionen Hektar Wirtschaftswald, 1 Million

                                                              2
WALTER R. ECHO-HAWK
                                                                    DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG

widrigsten sozioökonomischen Umständen                         rechtsbewegung die amerikanische Politik. Sie
lebten die Indianer in einer Gesellschaft, die                 verdeutlichte den amerikanischen Ureinwoh-
von Rassentrennung und der Vormacht des                        nern, dass es möglich war, Ungerechtigkeit
„Großen Weißen Vaters“ gekennzeichnet war.                     durch Widerstand zu überwinden. Aufstände
Alle Bereiche und Ministerien der Regierung                    standen infolgedessen bis Mitte der 1970er
waren daran beteiligt, die letzten Fragmen-                    Jahre auf der Tagesordnung. Langfristig jedoch
te indianischer Kultur zu zerstören und ihre                   erwies sich die von den indianischen Stämmen
in Abkommen und Verträgen eingegangenen                        und ihrer gewählten Führerschaft aufgebaute
Versprechen zu brechen. An diesem Tiefpunkt,                   Tribal Sovereignty Movement als einflussrei-
in ihrer schwersten Stunde, als bloßes Überle-                 cher. Gewiss: Die Vertreter dieser Bewegung
ben auf der Tagesordnung stand, brachten die                   wurden vom politischem Aktivismus der Ame-
schwer getroffenen Indianerstämme den Wil-                     rican Indian Movement, der Bewegung der
len zum Widerstand auf.                                        amerikanischen Indianer (AIM), ansgespornt
                                                               und gestärkt. Die AIM erreichte in den frühen
In den 1950er und 1960er Jahren unternahmen                    1970er Jahren ihren Höhepunkt und verband
die amerikanischen Indianer einen letzten ver-                 die spirituelle Kraft der Indianer mit direktem
zweifelten Versuch, sich dem Vorhaben der                      politischem Aktivismus. Die größere Bewe-
Regierung zu widersetzen, ihre Assimilation zu                 gung für Selbstbestimmung konzentrierte sich
forcieren. Durch die öffentliche Verfechtung                   hingegen auf die Autonomie der Ureinwohner
ihrer Interessen gelang es ihnen schließlich,                  und arbeitete daran, die neue Indianerpolitik
die Regierung zur Aufgabe ihres Assimilati-                    der Nixon-Regierung umzusetzen. Mit ihrer
onsvorhabens zu zwingen. Angeführt wurde                       breiten Basis widersetzte sie sich dem Leben
der Kampf von Organisationen, in denen sich                    unter ungleichen Bedingungen, indem sie ihr
gewählte Stammesoberhäupter und unter-                         angestammtes Land und kulturelles Erbe zu-
schiedliche Stämme zusammenschlossen, die                      rückforderte und ihr Recht auf Selbstbestim-
die Selbstbestimmung der Indianer anstrebten                   mung und Selbstwertgefühl beanspruchte. In
– angespornt von einer aufkeimenden Jugend-                    den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
bewegung, die aus wachsender Unzufrieden-                      erforderte der Kampf für Gleichberechtigung
heit hervorging. Beeinflusst von Intellektuellen,              dann eine diszipliniertere Haltung. Durchge-
die die Situation vor dem historischen Hinter-                 setzt wurden die gesellschaftlichen Verände-
grund des Kolonialismus analysierten, stellte                  rungen ab etwa 1970 durch juristische Kämpfe,
die Stammesjugend die bestehende Ordnung                       politische Interessenvertretung, wissenschaft-
mit zunehmendem Kampfgeist in Frage. In den                    liche Forschung, dem Basisaktivismus einer
folgenden Jahren entwickelten sich viele von                   ganzen Bevölkerungsgruppe und – allen vor-
ihnen zu Anführern. Der krönende Höhepunkt                     an – den Stammesregierungen, die allen Wid-
des Erfolgs dieser Kämpfe war schließlich die                  rigkeiten zum Trotz die Selbstbestimmung der
historische Ankündigung Präsident Nixons im                    Indianer hochhielten und praktizierten. Der
Jahr 1970, die bisherige Indianerpolitik aufzu-                Kampf der letzten beiden Indianergeneratio-
geben und die Politik der indianischen Selbst-                 nen für Gerechtigkeit beweist, wie ausgeprägt
bestimmung einzuführen.                                        ihr Überlebenswillen ist.3

Ende der 1960er Jahre, als die Ära der Zwangs-
assimilation endete, bestimmte die Bürger-                     3   Zur weiterführenden Bearbeitung des Themas vgl. Wal-
                                                                   ter Echo-Hawk: In the Light of Justice: The Rise of Human
                                                                   Rights in Native America and the UN Declaration on the
   Hektar Agrarflächen, 4 Prozent der Rohöl- und Erdgas-           Rights of Indigenous Peoples (Fulcrum Publishing, 2013),
   reserven der USA, 40 Prozent der US-Uranreserven und            und ders.: In The Court of the Conqueror: The Ten Worst
   30 Prozent der Kohlereserven im Westen des Landes.              Indian Cases Ever Decided (Fulcrum Publishing, 2010).

                                                           3
WALTER R. ECHO-HAWK
                                                             DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG

Gegenwärtige Herausforderungen                          ment blieb dieses Versprechen unerreichbar.
für die Ureinwohner Amerikas                            Heute ist das primäre Ziel der Bewegung, die
                                                        richtungsweisende Erklärung der Vereinten
Da ihr Recht auf Selbstbestimmung nur teil-             Nationen über die Rechte der indigenen Völ-
weise verwirklicht wurde, ist der Kampf der             ker (UNDRIP) aus dem Jahr 2007 in den USA zu
amerikanischen      Indianerbewegung,      trotz        implementieren und die Rechtskultur und das
zahlreicher historischer Fortschritte im 20.            gesellschaftliche Gefüge dementsprechend
Jahrhundert, keineswegs abgeschlossen. Das              auszurichten. Obwohl die Vereinigten Staa-
historische Erbe der Eroberung und Unterdrü-            ten die UNDRIP 2010 offiziell befürworteten,
ckung kann in einem kolonialisierten Land wie           blieb ihre Umsetzung aus, und es fanden kei-
den USA nur schwer überwunden werden. Es                ne Gespräche mit den führenden Persönlich-
ist im Gerichtswesen und in der Sozialpolitik           keiten der Indianer über die Implementierung
des Landes ebenso tief verwurzelt wie in den            der UN-Normen statt. Unter Berufung auf die
Einstellungen der Bevölkerung. Obgleich die             Menschenrechte verfolgt die Erklärung der
Amerikaner als auf Gerechtigkeit bedachte               Vereinten Nationen das Ziel, das Überleben,
Menschen sehr stolz auf ihre Werte sind, zei-           Wohlergehen und die Würde indigener Bevöl-
tigt das Vermächtnis der Eroberung bis heute            kerungsgruppen weltweit zu schützen. Vor die-
Folgen. Es manifestiert sich in den anhalten-           sem Hintergund bietet die vorliegende Unter-
den sozialen Missständen in den Stammesge-              suchung einen Überblick über den Aktivismus
meinschaften, verhängnisvollen Gesetzesaus-             der amerikanischen Ureinwohner von 1950 bis
legungen und der schockierenden soziökono-              zur Gegenwart. 4
mischen Benachteiligung der Indianerinnen
und Indianer. Zudem brachte dieses Erbe ein             Zunächst gilt es, den Begriff „Aktivismus“ ge-
Oberstes Gericht hervor, das die hart erkämpf-          nauer zu betrachten. Schließlich ist Aktivismus
ten Rechte der Ureinwohner immer wieder                 der Motor für Gerechtigkeitsbewegungen –
beschneidet. Angesichts dieser Hindernisse ist          auch wenn Aktivisten durchaus von wissen-
der Kampf der amerikanischen Ureinwohner                schaftlicher Forschung, den Entscheidungen
für Gerechtigkeit in den letzten Jahren ins Sto-        leitender Persönlichkeiten und theoretischen
cken gekommen.                                          Grundlagen beeinflusst werden. Die vorliegen-
                                                        de Studie versteht unter „Aktivismus“ sowohl
Die weitreichenden Herausforderungen, mit               militante, politische Kämpfe für grundlegende
denen sich die Indianer heute konfrontiert se-          gesellschaftliche Veränderungen als auch die
hen, kennzeichnen die meisten der einst kolo-           Politik gewählter Stammesführer, die eher kon-
nialisierten Länder. Sie verhindern die vollstän-       ventionellen Methoden folgt.
dige Anerkennung indigener Menschenrechte
im gegenwärtigen US-Rechtssystem. Es muss               Die Untersuchung beleuchtet zunächst die
noch viel geschehen, damit die Ureinwohner              Bedrohung, die die Manifest-Destiny-Doktrin
in den Vereinigten Staaten auf einer fairen
                                                        4   Diese komplexe Geschichte ist in einem umfangreichen
und gleichberechtigten Basis am politischen
                                                            Literaturbestand festgehalten, mit dem indigene Leser
System beteiligt sein können, ohne auf ihre                 vertraut sind. Zu diesen Arbeiten gehören Daniel M.
Menschenrechte verzichten zu müssen. Fest                   Cobb: Native American Activism in Cold War America:
                                                            The Struggle for Sovereignty (University Press Kansas,
steht: Das letzte Kapitel des amerikanischen                2008); Charles Wilkinson: Blood Struggle: The Rise of
Experiments kann erst geschrieben werden,                   Modern Indian Nations (Norton, 2005); Paul Chat Smith
wenn das Gerechtigkeitsversprechen auch für                 und Robert Allen Warrior: Like A Hurricane: The Indian
                                                            Movement from Alcatraz to Wounded Knee (New York:
die amerikanischen Ureinwohner eingelöst ist.               New Press, 1996); Stan Steiner: The New Indians (Delta,
Für die Gründer der Tribal Sovereignty Move-                1968). Vgl. auch Cobb (2008), n. 3, S. 210.

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WALTER R. ECHO-HAWK
                                                           DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG

während des Aufstiegs und Wachstums der                rokee), Browning Pipestem (Oto-Missouri/
Vereinigten Staaten für die Indianer darstellte.       Osage), Vine Deloria, Jr. (Standing Rock Sioux),
Anschließend werden die Wegbereiter des mo-            Russell Means (Lakota), Vernon Bellcourt (Chip-
dernen Aktivismus der Indianer aus den 1950er          pewa), Wallace Black Elk (Lakota), Patrick Left
und 1960er Jahren in den Blick genommen. Ih-           Hand (Kootenai) und Rubin Snake (Ho-Chunk).
rem Aktivismus ist es zu verdanken, dass Prä-          Wir stehen auf euren Schultern! Der „Große
sident Nixon 1970 die Politik der Selbstbestim-        Geist“ wirkt auf geheimnisvolle Weise: Ihr habt
mung anerkannte. Darauf aufbauend wird der             uns bis an die Schwelle wahrer Selbstbestim-
Aufstieg der indianischen Stämme von 1970              mung geführt – ganz im Sinne der Verwendung
bis zur Gegenwart einschließlich ihrer größten         dieses Begriffs im modernen internationalen
Erfolge und Misserfolge zusammengefasst.               Menschenrecht und der Erklärung der Verein-
Als Ausblick für die Zukunft soll abschließend         ten Nationen über die Rechte der indigenen
beschrieben werden, wie der Kampf der US-              Völker. Die größte Herausforderung unserer
amerikanischen Indianer für Gleichberechti-            Generation heute besteht darin, eure Arbeit
gung im 21. Jahrhundert fortgesetzt werden             fortzuführen und die Rechte der amerikani-
sollte.                                                schen Indianer im 21. Jahrhundert anhand des
                                                       Prinzips der universellen Menschenrechte zu
Die vorliegende Studie ist respektvoll den             definieren. Wir müssen die positiven Bestand-
Stammesoberhäuptern, Interessenvertretern              teile des existierenden amerikanischen Rechts
und Aktivisten gewidmet, die nicht länger un-          erhalten und mit Hilfe der UN-Erklärung einen
ter uns weilen. Einige von ihnen, die in der Er-       gerechteren, kohärenten Gesetzeskorpus for-
innerung des Autors herausragen, sind: Clyde           men. Diese Studie wird hoffentlich dazu bei-
Warrior (Ponca), Martha Grass (Ponca), Robert          tragen, dass die Menschrechte in Zukunft auch
Thomas (Cherokee), Gerald Wilkinson (Che-              für die Indianer Amerikas gelten.

Das bleibende Vermächtnis der Eroberung

Was ist das „Vermächtnis der Eroberung“? Über          tagtäglich spürbar ist. Die USA weisen bis heu-
die Eroberung des Westens wurde bereits viel           te neokoloniale Züge auf – lange nachdem die
geschrieben. Schulbücher und die Massen-               internationale Staatengemeinschaft den Kolo-
medien tendieren dazu, die US-Geschichte zu            nialismus verurteilt hat.
glorifizieren. Doch die dunkle Seite der Mani-
fest-Destiny-Doktrin kann nicht verleugnet             Die Geschichte der Eroberung hat ein tiefgrei-
werden – sie forderte einen furchtbaren Tribut         fendes gesellschaftliches Trauma hinterlassen.
von den indianischen Stämmen. Im Folgenden             Während 1492 mindesten fünf Millionen Indi-
sollen diese traumatischen Ereignisse zunächst         aner in dem Land lebten, das heute die Ver-
genauer beschrieben werden, bevor der Frage            einigten Staaten bildet, war ihre Zahl bis zum
nachgegangen wird, wie deren Vermächtnis               Jahr 1900 auf 250 000 geschrumpft. In diesen
auch heute noch in der Rechtskultur, den In-           400 Jahren verkümmerte eine Bevölkerung
stitutionen und im gesellschaftlichen Gefüge           von über vier Millionen Menschen. Es ist ei-
der Vereinigten Staaten präsent und für die in         ner der größten Bevölkerungsverluste in der
Stammesgemeinschaften lebenden Menschen                Geschichte der Menschheit, in der ein solches

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                                                                       DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG

„Absterben“ 5 aufgrund von Katastrophen und                       Assimilation und absichtliche Zerstörung von
Völkermorden wiederholt vorkam.6 All diese                        Stammeskulturen, -sprachen und -religionen.7
Fälle waren entsetzlich, doch die Überlebens-                     Hierbei handelt es sich um eine sukzessive Ab-
rate der amerikanischen Indianer war mit nur                      folge traumatischer Ereignisse während eines
rund fünf Prozent (bis 1900) besonders niedrig                    der turbulentesten Kapitel der amerikanischen
und führte beinahe zu ihrem Aussterben. Der                       Geschichte.
Bevölkerungsverlust des Pawnee-Stammes
bietet hierfür ein erschütterndes Beispiel: Im                    Sozialforscher beschreiben die chronischen
18. Jahrhundert lag die Bevölkerungszahl noch                     Nachwirkungen traumatischer Ereignisse,
bei 22 000, doch um das Jahr 1900 zählte der                      die bei Überlebenden beobachtet werden,
Stamm nur noch 635 Mitglieder.                                    als „posttraumatische Belastungsstörung“
                                                                  (PTBS). 8 Diese soziale Pathologie findet sich in
Wissenschaftler haben sechs Hauptursachen                         den Gemeinschaften amerikanischer Urein-
für den dramatischen Bevölkerungsrückgang                         wohner, deren Geschichte von katastrophalen
ermittelt: erstens die illegale Gewaltanwen-                      Erfahrungen und Ereignissen geprägt ist. Sie
dung der andauernden Kriegführung in über                         wird in der Fachliteratur als „postkoloniales
vierzig „Indianerkriegen“ während eines Zeit-                     Stresssyndrom“, „historisches Trauma“ oder
raums von hundert Jahren; zweitens die Ver-                       „nicht aufgearbeitete historische Trauer“ be-
breitung pandemischer Krankheiten unter den                       schrieben.9 Wenn keine Heilung stattfindet,
Indianderstämmen durch die Siedler im Ver-                        werden Trauma und unaufgearbeitete Trauer
lauf der kolonialen Expansion; drittens die von                   von Generation zu Generation weitergege-
der Regierung erzwungene Trennung indiani-                        ben. Diese Pathologien spiegeln sich in den
scher Kinder von ihren Eltern und Stämmen im                      erschreckenden Statistiken bezüglich der Le-
19. und 20. Jahrhundert und deren Umsiedlung                      bensumstände und psychischer Krankheiten
in nicht-indianische Milieus und Institutionen,                   in den heutigen Stammesgemeinschaften.10
in denen die Kinder zum Zweck ihrer Assimila-                     Die sozioökonomischen Indikatoren sind scho-
tion in die Siedlergesellschaft einer Gehirnwä-                   ckierend: Erstens haben Indianer die höchste
sche unterzogen wurden; viertens die erzwun-                      Armutsquote im ganzen Land – jeder Dritte
gene Vertreibung indianischer Stämme von                          in einem Reservat wohnhafte Indianer lebt
ihren angestammten Gebieten, die Umsied-                          unter der Armutsgrenze. Zweitens treffen wir
lung und die weit verbreitete Enteignung indi-                    auf die höchste Gewaltkriminalitätsrate in ei-
anischen Landes; fünftens die Zerstörung des                      nem Land, in dem amerikanische Indianer
natürlichen Lebensraums, der Ökosysteme                           doppelt so häufig einem Gewaltverbrechen
und der Existenzgrundlage der Stämme; und                         zum Opfer fallen wie Angehörige jeder ande-
sechstens die von der Regierung erzwungene                        ren ethnischen Gruppe. Von den indianischen
                                                                  Frauen werden 34 Prozent im Verlauf ihres Le-
5   Russell Thornton: American Indian Holocaust and Sur-
    vival: A Population History Since 1492 (Norman: Univer-       7  Thornton (1987); vgl Echo-Hawk (2010), S. 399-420; und
    sity of Oklahoma 1987), S. 42-49.                                ders. (2013), S. 100-105, für weitere Analysen.
6   Im Mittelalter starben 40% der europäischen Bevölke-          8 Vgl. Thomas Ball: Prevalence Rates of Full and Partial
    rung aufgrund von Krieg, Krankheit und Hunger; in Ru-            PTSD and Lifetime Trauma in a Sample of Adult Mem-
    anda fielen 1994 zahllose Menschen einem Völkermord              bers of an Indian Tribe (University of Oregon Disserta-
    zu Opfer, bei dem 11% der Bevölkerung getötet wurden             tion, 1998); Maria Yellow Horse Brave Heart: The Return
    und nur 29% der Tutsi-Bevölkerung einen hunderttägi-             to the Sacred Path: Healing the Historical Trauma and
    gen Albtraum überlebten; und in Europa überlebten nur            Historical Unresolved Grief Response among the Lako-
    37% der jüdischen Bevölkerung den Holocaust. Vgl. J.M.           ta through a Psychoeducational Group Intervention, in:
    Roberts: The Penguin History of the World (Oxford Uni-           „Smith College Studies in Social Work“, 68 (3), Juni 1998,
    versity Press, 1990), S. 483-484; Philip Gourevitch: We          S. 288-305.
    Wish To Inform You That Tomorrow We Will Be Killed            9 Ebd.
    With Our Families: Stories From Rwanda (Pacadot 1999).        10 Echo-Hawk (2013), S. 100-105.

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                                                          DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG

bens vergewaltigt und 39 Prozent von ihnen            Die Indianer-Gesetze
werden Opfer häuslicher Gewalt – den Statis-
tiken des Justizministeriums zufolge meist von        Das Vermächtnis der Eroberung hat zudem
Seiten nicht-indianischer Männer. Drittens of-        tiefgreifende Auswirkungen auf das geltende
fenbart sich die ständige Bedrohung der ver-          Recht und ist in der Rechtskultur klar erkenn-
bleibenden Überreste indianischer Kulturen,           bar, denn die Aufgabe, das zu rechtfertigen,
Sprachen, Stammesreligionen, heiliger Stätten         was sich nicht rechtfertigen lässt, fiel den Ge-
und geistiger Eigentumsrechte an ihrem Erbe           richten zu. Wie zu erwarten war, gerieten die
und ihrer Identität durch die Mehrheitsgesell-        Juristen damit in Zugzwang. Sie mussten von
schaft. Viertens verweisen Statistiken auf die        den hohen Werten abweichen, auf die sich
höchste Schulabbrecherquote des Landes (36            die Nation normalerweise beruft. Der Obers-
Prozent) und niedrige Schulleistungen. Die-           te Gerichtshof der USA griff auf das Recht der
se Schulen verwenden indes Lehrpläne, die             Eroberung und des Kolonialismus zurück und
den Kindern amerikanischer Ureinwohner                passte es dem amerikanischen Kontext an. Der
den gleichberechtigten Zugang zu Bildung              daraus entstandene Gesetzeskorpus ist als
nachweislich verwehren. Fünftens spielen die          Federal Indian Law (nationales Indianerrecht)
Medien eine Rolle, die sich amerikanischen            bekannt. Er bildet den rechtlichen Rahmen für
Ureinwohnern gegenüber nicht verantworten             die Definition der Rechte der amerikanischen
müssen und voller rassistischer Klischees sind.       Ureinwohner.12
Sie bieten weder reale Darstellungen amerika-
nischer Indianer noch eine journalistische Be-        Das nationale Indianerrecht enthält drei er-
richterstattung über deren Probleme. Sechs-           kennbare und sich teilweise überschneidende
tens haben Indianer die niedrigste Lebens-            Prinzipien: erstens das der Eroberung, zweitens
erwartung im ganzen Land. US-Amerikaner               das der Kolonisierung und drittens das Prinzip
erhalten im Durchschnitt 60 Prozent mehr Ge-          der Stammessouveränität bzw. des Protekto-
sundheitsversorgung als die amerikanischen            rats.13 Diese Prinzipien widersprechen sich,
Ureinwohner. Die Rate der Alkoholabhängigen           weshalb eine Spannung zwischen den guten
unter Indianer ist 627 Prozent höher als bei          und schlechten Seiten des geltenden Rechts
allen anderen Bevölkerungsgruppen, die Rate           besteht: Einerseits schützt das Recht die india-
der Tuberkulosekranken mehr als 533 Pro-              nischen Stämme, indem es die Ausübung ihrer
zent höher, der Anteil der Diabetes-Kranken           Selbstbestimmung innerhalb eines Protekto-
249 Prozent höher. Die Unfallraten liegen 204         rats fördert; andererseits wird die Selbstbe-
Prozent höher, die Selbstmordrate 72 Prozent,         stimmung von einer dunklen Seite des Rechts
die Rate der Lungenentzündungen und Grip-             mit anti-indigenen Charakterzügen behindert.
peerkrankungen 71 Prozent und die Mordrate            Infolgedessen ist das Indianerrecht kein ver-
63 Prozent höher. Sechstens schließlich ist das       lässliches Bollwerk; vielmehr ist der gesetzli-
Land, das sich im Eigentum amerikanischer In-         che Rahmen flexibel und formbar. Er lässt sich
dianerstämme befindet, bis zum Jahr 1955 auf          zur Unterstützung oder zur Benachteiligung
nur 2,3 Prozent seiner ursprünglichen Größe           der Indianer auslegen – je nachdem, wie die
geschrumpft.11 Diese sozioökonomischen Indi-          politischen Winde wehen bzw. die Vorurteile in
katoren indizieren ein immenses historisches          der übrigen Bevölkerung geartet sind, die eine
Trauma. Da sie schon so lange bestehen, gel-          sich fortwährend ändernde rechtsprechen-
ten sie heutzutage als „normal“ und drohen zu         de oder gesetzgebende Politik beeinflussen.
einem permanenten Bestandteils des Lebens
amerikanischer Ureinwohner zu werden.                 12 Die Hauptabhandlung ist Cohen’s Handbook of Federal
                                                         Indian Law (LexisNexis, 2012, Hg.).
11 Ebd., S. 104-105.                                  13 Echo-Hawk (2013), S. 105-125.

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WALTER R. ECHO-HAWK
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Die Doktrin der Eroberung wurde von dem                           ren und definierte ihre Rechte aus Sicht der
so genannten Marshall Court, dem Obersten                         Eroberer. Er erhielt die Beschlagnahme ihres
Gerichtshof der USA unter der Leitung von                         Landes ohne Kompensation aufrecht:
Richter John Marshall, implementiert. Die-
ser legte die Ansprüche auf Land und Boden                          Jedes amerikanische Schulkind weiß, dass die
der Indianerstämme in dem Urteil „Johnson                           eingeborenen Stämme dieses Kontinents ihrer
                                                                    angestammten Gebiete gewaltsam beraubt wur-
v. M’Intosh“ (1823) fest.14 Das Gericht schrieb:
                                                                    den, und dass, selbst wenn die Indianer im Zuge
„Besitzanspruch durch Eroberung wird ge-                            von Abkommen Millionen von Hektar als Gegen-
waltsam erworben und aufrechterhalten“, und                         leistung für Decken, Essen und wertlosen Plunder
„der Eroberer setzt seine Grenzen“. Der Begriff                     abtraten, es kein Verkauf, sondern der Wille des
„Eroberung“ hat eine dunkle, bedrohliche Kon-                       Eroberers war, der sie ihres Landes beraubte.
                                                                    In den Worten des Obersten Richters Marshall:
notation; er impliziert Aggression, Brutalität
                                                                    „unabhängig davon, wie abwegig die Anmaßung
und Machtausübung bei der Aneignung von                             auch erscheinen mag, aus der Entdeckung eines
Gebieten und der Unterjochung und Kontrolle                         bewohnten Landes eine Eroberung machen zu
der Bewohner eines eroberten Landes.15 Für                          wollen; wenn das Prinzip am Anfang erst einmal
gewöhnlich gilt in einer freien und demokrati-                      durchgesetzt und danach aufrechterhalten wur-
schen Gesellschaft Eroberung nicht als legitime                     de; wenn ein Land unter diesem Prinzip erworben
                                                                    wurde und in Besitz geblieben ist; wenn das Eigen-
Quelle der Regierungsmacht, denn das würde
                                                                    tum der breiten Masse der Gemeinschaft davon
suggerieren, dass Gewalt und nicht die Zustim-                      abstammt; dann wird daraus Landesrecht und
mung der Regierten die moralische Rechtferti-                       kann nicht hinterfragt werden.“17
gung der Regierung bildet. Stattdessen stützen
sich Demokratien auf das Verfassungsrecht,                        Die offensichtliche Problematik dieses Gedan-
wenn sie ihre Bürger und deren Beziehungen                        kengangs stellt seine fortgesetzte Anwendung
untereinander lenken und gestalten.                               in Frage. Erstens steht die faktische und recht-
                                                                  liche Basis der Doktrin auf einer zweifelhaften
Nach dem Gerichtsurteil „Johnson v. M’Intosh“                     Grundlage.18 Zweitens passt das Prinzip der
häufte sich die Kriegsmetaphorik in rechtli-                      Eroberung nicht zu einer freien und demokra-
chen Stellungnahmen.16 Dieses Urteil und spä-                     tischen Gesellschaft – es steht im Widerspruch
tere, darauf basierende Urteile ermöglichten                      zu den demokratischen Grundwerten, indige-
es der Regierung, indianischen Landbesitz zu                      ne Rechte aus der Perspektive der Eroberung
veräußern und über Indianerstämme und ihr                         zu definieren, wenn die Bill of Rights, die ersten
Eigentum ohne deren Zustimmung oder den                           zehn Zusatzartikeln zur US-amerikanischen
normalen, durch die Verfassung garantierten                       Verfassung, die Menschenrechte und grundle-
Schutz zu verfügen. Bis 1955 war das Leitbild                     genden Freiheiten aller anderen Bürgerinnen
der Eroberung fest im Rechtssystem veran-                         und Bürger schützt. Drittens ist in den moder-
kert: Der Oberste Gerichtshof ging davon aus,                     nen internationalen Menschenrechtsgesetzen
dass alle Indianerstämme erobert worden wa-                       kein Platz für die Doktrin der Eroberung; sie
                                                                  läuft den Prinzipien des Menschenrechts zuwi-
14 „Johnson v. M’Intosh“, 21 U.S. 543 (1823), schrieb den         der und wurde von den Vereinten Nationen in
   Indianerstämmen extrem begrenzte Bodenrechte zu
   und rechtfertigte dieses Ergebnis mit den Doktrinen der
   Entdeckung und der Eroberung.                                  17 „Tee-Hit-Ton v. United States“ (1955), 348 U.S. 272, 322
15 „Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary“ (2005) defi-            (1955).
   niert „Eroberung“ als den Akt des Eroberns, insbeson-          18 Die Vereinigten Staaten erwarben praktisch das gesam-
   dere von „im Krieg beschlagnahmten“ oder „mit Waffen-             te indianische Land per Kauf in Friedens- und Freund-
   gewalt“ erlangten Gebieten.                                       schaftsabkommen, nicht durch Waffengewalt, und die
16 Die säbelrasselnden Urteile nach Johnson werden näher             Eingliederung indianischer Nationen in die Vereinigten
   betrachtet in Echo-Hawk (2013), S. 107-11; ders. (2010),          Staaten kraft ihrer Abkommen gilt von Rechts wegen
   S. 123-159.                                                       nicht als Eroberung. Vgl. Echo-Hawk (2013), S. 109-110.

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WALTER R. ECHO-HAWK
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ihrer Erklärung über die Rechte der indigenen                     Gesetzeskorpus.20 Diese Urteile hatten keine
Völker zurückgewiesen.                                            zugunsten der Indianer verwaltete Ordnung im
                                                                  Sinn, sondern eine solche, die die Besetzung
Das Recht des Kolonialismus ist ein weiteres                      ihres Landes erleichtern würde. „Das Haupt-
Prinzip der Rechtsprechung, das dem der Er-                       ziel der Weißen in Amerika bestand darin, das
oberung in vieler Hinsicht ähnelt. Der Oberste                    Land zu besetzen.“21 Dementprechend wurde
Richter John Marshall übernahm in „Johnson v.                     das geltende Recht in den Dienst des Kolonia-
M’Intosh“ diesen Gesetzeskorpus vom frühen                        lismus gestellt. Der Kolonialismus bietet jedoch
internationalen Recht, indem er die Doktrin                       keineswegs einen angemessenen Rahmen, um
der Entdeckung anwendete und ausweitete, so                       die Rechte der amerikanischen Ureinwohner
dass sie in den amerikanischen Kontext pass-                      zu definieren. Erstens leidet er unter ausge-
te. Professor Robert J. Miller definiert diese                    prägtem Rassismus. Zweitens ist jene Art des
Doktrin der Entdeckung als                                        Kolonialismus, die sich aus der dunklen Seite
                                                                  des nationalen Indianerrechts ergibt, weit ent-
  ein internationales Rechtsprinzip, unter dem euro-              fernt vom Menschenrecht auf Selbstbestim-
  päische Länder, Kolonialisten und Siedler vom 15.
                                                                  mung, Selbstregierung und indigene Institutio-
  bis zum 20. Jahrhundert rechtliche Ansprüche auf
  die Ländereien, Besitztümer und Menschenrech-
                                                                  nen, so wie sie in der Erklärung der Vereinten
  te indigener Völker auf der ganzen Welt geltend                 Nationen festgeschrieben sind. Anstatt De-
  machten. Im Kern sah die Doktrin vor, dass europä-              mokratie zu fördern, basieren die rechtlichen
  ische Neuankömmlinge automatisch ein Recht auf                  Prinzipien des Kolonialismus drittens auf un-
  Grundbesitz sowie souveräne, politische und öko-                gerechten rechtlichen Fiktionen und verzögern
  nomische Macht über indigene Völker ohne deren
                                                                  demokratische Weiterentwicklung.22 Viertens
  Wissen bzw. Zustimmung erwarben. Als die Europä-
  er ihre Flaggen und religiösen Symbole in „neu ent-             wird kolonialistische Herrschaft von der inter-
  deckten“ Ländern aufstellten, beriefen sie sich auf             nationalen Staatengemeinschaft verurteilt.
  die weithin akzeptierten rechtlichen Verfahren und
  Rituale der Doktrin der Entdeckung, um den recht-               Das dritte Prinzip, welches das nationale India-
  lichen Anspruch ihres Heimatlandes auf indigene
                                                                  nerrecht prägt, ist das der Stammessouveräni-
  Ländereien und Völker zu beweisen. Diese Doktrin
  beruhte auf feudalen, religiösen und rassistischen
                                                                  tät und des Protektorats. Es wurde in dem Ge-
  Ideen und damit auf dem Glauben, dass Europäer                  richtsurteil „Worcester v. Georgia“ und nachfol-
  und Christen den anderen Kulturen, Religionen und               genden Urteilen beschrieben.23 Es handelt sich
  „Rassen“ dieser Welt überlegen seien.19                         um ein die Rechte der Indianer schützendes
                                                                  Prinzip, das ein Gegengewicht zu den anderen
Die Doktrin der Entdeckung ist ein anerkann-                      beiden Prinzipien der Eroberung und des Ko-
tes und grundlegendes Prinzip kolonialisti-                       lonialismus darstellt. Dieses Prinzip definiert
schen Rechts auf der ganzen Welt. Nachfol-                        die Selbstregierung der indianischen Stämme
gende Gerichtsurteile beruhten auf dieser                         als deren grundlegendes Recht. Unter dem
Doktrin und ergänzten sie durch die Prinzipi-                     Schutz der Vereinigten Staaten agieren sie als
en der Vormundschaft und der unbeschränk-                         separate politische Gemeinschaften innerhalb
ten Vollmacht, denen ebenfalls die Annahme                        der nationalen Ordnung. Vier fundamentale
einer „rassischen“ und kulturellen Unterle-                       Rechtsgrundsätze ergeben sich aus dem Urteil
genheit der Stammesvölker zugrunde lag. Im
Zuge dieser Urteile schufen die Gerichte einen                    20 Echo-Hawk (2013), S. 111-114.
umfassenden – aber schädlichen – kolonialen                       21 „Tee-Hit-Ton v. United States“; diese Entscheidung zitiert
                                                                     aus „Carino v. Insular Government of the Philippine Is-
                                                                     lands“, 212 U.S. 449 (1908).
19 Robert J. Miller, Lisa Lesage und Sebastian Lopez Es-          22 Echo-Hawk (2013), S. 115-116.
   carcena: The International Law of Discovery, Indigenous        23 „Worcester v. Georgia“, 31 U.S. 515 (1832); vgl. auch
   Peoples, and Chile, in: 89 Neb. L. Rev. 819, 820 (2011).          Echo-Hawk (2013), S. 116-125.

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                                                            DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG

„Worcester v. Georgia“: Erstens genießen Indi-         legen; in ihrer Geschichte sehen wir extreme
anerstämme ein souveränes Recht auf Selbst-            Schwankungen zwischen den Konzepten der
regierung frei von jeglicher Einmischung der           Stammessouveränität und Selbstbestimmung
Einzelstaaten, das ihnen trotz ihrer Eingliede-        einerseits und der Assimilations- und Liquidie-
rung in die Vereinigten Staaten nicht entzogen         rungspolitik andererseits. Dieses Problem wird
werden kann. Zweitens müssen indianische               durch das Fehlen von Menschenrechten im na-
Abkommen als wichtigstes geltendes Recht               tionalen Indianerrecht noch verschärft, denn
anerkannt werden. Drittens dürfen die Doktrin          diese könnten klare Vorgaben hinsichtlich des
der Entdeckung oder Erlasse aus Europa indi-           Umgangs mit den Ureinwohnern machen und
anisches Land oder indianische Souveränität            auf diese Weise die politischen Schwankungen
nicht untergraben. Viertens werden die Gren-           abmildern. Leider meiden die grundlegenden
zen der indianischen Reservate als Schutzwäl-          Urteile absichtlich „abstrakte“ Gerechtigkeits-
le gegen feindliche Staaten und Siedler aner-          und Moralbegriffe, wenn es um die Definition
kannt. Die Beziehung zwischen indianischen             der Rechte amerikanischer Ureinwohner geht.
Stämmen und den Vereinigten Staaten, wie               Dies hat zu einem seltsam amoralischen Ge-
sie in „Worcester v. Georgia“ festgelegt wird,         setzeskorpus geführt, dem Diskurs und Gebote
gleicht denen eines in internationalen Bezie-          zum Thema Menschenrechte fehlen und der
hungen üblichen Protektorats. Es handelt sich          stattdessen von einer unglaublichen Menge
dabei um eine schwächere Nation, die unter             ungerechter Rechtsauffassungen dominiert
dem Schutz einer stärkeren Nation existiert,           wird.25
die ihre politische Integrität und ihr Wohler-
gehen sicherstellt. Entsprechend des Prinzips
des Protektorats werden Indianerstämme als             Das andauernde politische Dilemma
„Nationen“ und nicht als „Kolonien“ verstan-
den. Die USA als die stärkere Macht sind dazu          Das Vermächtnis der Eroberung hat zudem
verpflichtet, indianische Nationen zu schützen,        ein anhaltendes politisches Dilemma mit sich
haben aber keinerlei Recht, sie auszubeuten,           gebracht. Seit den Anfängen der Manifest-Des-
zu zerstören bzw. ihnen ihre politischen, kul-         tiny-Doktrin lautete die politische Frage: „Was
turellen, Eigentums- oder Menschenrechte zu            machen wir mit den indigenen Völkern?“ Da sie
entziehen.24                                           aus dem Aufbau der Nation und ihrer Institu-
                                                       tionen ausgeschlossen und stattdessen mar-
Das Prinzip der Stammessouveränität in der             ginalisiert wurden, sind die indigenen Völker
Rechtsprechung hat es indianischen Stämmen             einem politischen System unterworfen, das sie
ermöglicht, in der Moderne große Fortschritte          nicht mitgestalten durften und dem sie nicht
zu erzielen. Es wird jedoch ständig gegen die          zugestimmt haben. Das Problem der Eingliede-
dunkle Seite des Rechts ausgespielt; und bis           rung indigener Bevölkerungsgruppen ist eine
diese interne Spannung aufgelöst ist, können           wichtige Frage für Demokratien, die auf der
indianische Stämme in einer von Gegensätz-             Zustimmung der Regierten basieren und deren
lichkeit gekennzeichneten Rechtsordnung nur            Legitimität in jedem Bereich der Gesellschaft
begrenzt Fortschritte erzielen. Sie können ihre        von Konsens und dem Fehlen von Zwang ab-
Selbstbestimmung nicht ausüben, solange sie            hängt. Was die indigenen Völker betrifft, fehlt
von den Doktrinen der Eroberung und des Ko-            diese Zustimmung jedoch. Auf einer abstrak-
lonialismus eingeschränkt werden. Außerdem             ten Ebene sind sich alle einig, dass diese Grup-
lässt sich Indianerpolitik in einem derartigen         pen nicht weiterhin inmitten einer freien und
rechtlichen Rahmen ganz unterschiedlich aus-           25 Edd., S. 12-16; vgl. auch Echo-Hawk (2010) für eine Un-
                                                          tersuchung der dunklen Seite des bundesstaatlichen
24 Echo-Hawk (2013), S. 121-125.                          Indianerrechts.

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                                                             DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG

demokratischen Gesellschaft an den Rand                 der Gesellschaft räumlich trennte; zweitens
gedrängt und Gesetzen und Institutionen un-             von der Ausrottung der amerikanischen Urein-
terworfen werden können, die die repressiven            wohner auf dem Höhepunkt der Indianerkrie-
kolonialen Bedingungen einer längst vergan-             ge zu einer friedlichen Politik der Zivilisierung
genen Ära aufrechterhalten. Doch was ist der            und Christianisierung von in Reservaten leben-
beste Ansatz, indigene Völker in die nationale          den Indianern, die Schutzbefohlene der Re-
Gemeinschaft zu integrieren?                            gierung waren und assimiliert werden sollten
                                                        (etwa 1886-1934); drittens vom Wiederaufbau
Das ist eine irritierende Frage, denn die Situa-        der Stammesregierungen unter dem Indian Re-
tion der Ureinwohner entspricht weder dem               organization Act (Gesetz zur Neuorganisierung
allgemeinen Muster für die Staatswerdung                der Indianer) zu deren Demontage durch die
noch dem normalen Modus der Eingliederung               Assimilations- und Liquidierungspolitik der
von Einwanderern in die nationale Gemein-               1950er und 1960er Jahre; und viertens von
schaft durch freiwillige Assimilation. Sie leben        der Politik der Liquidierung zurück zur Wie-
bereits in der Nation: Sie stammen aus der Zeit         derherstellung der Stammesregierungen und
vor ihrer Entstehung, fordern ihre Selbstbe-            der Politik der Selbstbestimmung von 1970 bis
stimmung und sind nicht bereit, ihren Grund             zur Gegenwart, in deren Verlauf den Indianern
und Boden oder ihre Kulturen aufgeben, um               Kontrolle über ihr eigenes Schicksal gewährt
sich zu assimilieren. Um ihrer ungewöhnlichen           werden soll.
Situation und ihren Bedürfnissen gerecht zu
werden, müssen die gastgebenden Nationen                Die Debatte über den besten Ansatz wird auch
über die normalen Verfahrensweisen bei der              heute noch geführt.27 Die UNDRIP von 2007
sozialen Eingliederung hinausgehen und mul-             scheint nun einen Leitfaden zur Lösung dieses
tikulturelle Gesellschaften mit einer multina-          verwirrenden politischen Problems bereitzu-
tionalen Dimension fördern. Diese Nationen              stellen. Die UN-Erklärung spricht sich dafür
müssen in der Lage sein, indigene Völker im             aus, indigene Menschenrechte hinsichtlich der
Einvernehmen und ohne Verletzung ihrer indi-            Prinzipien Gerechtigkeit, Gleichberechtigung,
genen Menschenrechte in die nationale Kultur            Nichtdiskriminierung und des Gebots von Treu
einzubeziehen. Dieser Prozess wird in der Li-           und Glauben anzuerkennen und sie bestä-
teratur als „verspätete Nationenbildung“26 be-          tigt die Politik der Selbstbestimmung als den
schrieben, und bis er in den Vereinigten Staa-          richtigen Ansatz. Wird dieser Pfad eingeschla-
ten abgeschlossen ist, wird das Land in einem           gen, können die von der UNDRIP beschriebe-
Sumpf der Ungerechtigkeit und des Neokoloni-            nen Schritte zur verspäteten Nationenbildung
alismus stecken bleiben, in dem die Grundwer-           den Vereinigten Staaten dabei helfen, ihr Ver-
te und Ideale, die alle anderen teilen, für die         mächtnis der Eroberung zu überwinden.
indigenen Völker unerreichbar sind.
                                                        Dieses Vermächtnis zeigt sich in den schockie-
In den Vereinigten Staaten hat die Regierung            renden sozialen Missständen, unter denen die
widersprüchliche Ansätze für die Eingliede-             Gemeinschaften amerikanischer Ureinwohner
rung der amerikanischen Ureinwohner in die              leiden, den rechtlichen Ungleichheiten und
nationale Gemeinschaft gewählt. Historisch              dem fortdauernden politischen Problem der
gesehen reichen die Methoden erstens vom                Eingliederung. Der indigene Aktivismus, der
Protektoratssystem nach „Worcester v. Geor-             sich seit 1950 darum bemüht, diese Ungerech-
gia“ zum Indian Removal Act (Gesetz zur Um-             tigkeiten aus dem Weg zu schaffen, soll im Fol-
bzw. Aussiedlung), das die Indianer vom Rest            genden in den Blick genommen werden.

26 Echo-Hawk (2013), S. 127-128.                        27 Ebd., S. 130-131.

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Der Aktivismus der amerikanischen Indianer seit 1950

Als das Vermächtnis der Eroberung in den                            durch die Bundesregierung zu sammeln. In
1950er Jahren seinen Höhepunkt erreichte,                           den 1950er Jahren verschob sich die Indianer-
sank das Lebensniveau der Ureinwohner auf                           politik maßgeblich: Von nun galt es, das Ame-
seinen absoluten Tiefpunkt. Gezwungen, in der                       rika der Indianer komplett von der Bildfläche
untersten Schicht in einer nach Rassenkriterien                     verschwinden zu lassen. Eine umgehende Assi-
segregierten Gesellschaft zu leben, glitten die                     milation der amerikanischen Indianer war das
verarmten Indianerstämme in eine tiefe recht-                       Ziel – es wurde erreicht, indem die Regierung
liche, soziale, ökonomische, politische und kul-                    bestehende Abkommen mit den den indiani-
turelle Krise. Ihr Grundbesitz war so gering wie                    schen Stämmen aufhob, politische Beziehun-
noch nie. Das bundesstaatliche Indianergesetz                       gen zu ihnen abbrach, sich von ihren Pflichten
war auf seinem untersten Niveau angekom-                            lossagte und staatliche Programme, die der
men.28 Vor allen Dingen aber zielte die nationa-                    Unterstützung der Indianer dienten, beendete.
le Politik darauf ab, die Indianer verschwinden                     Der US-Kongress beabsichtigte zudem, indige-
zu lassen. Während des Kalten Krieges fielen                        ne Ansprüche gegen die Vereinigten Staaten
viele Bürgerrechte dem McCarthyismus zum                            ein für allemal durch die Indian Claims Commis-
Opfer. Die Hysterie des „Lieber tot als rot“ ließ                   sion (Kommission für indianische Forderungen)
wenig Raum für die Toleranz unterschiedlicher                       zu lösen.30 Das Bureau of Indian Affairs (BIA), das
indigener Kulturen. Während Hollywood-Wes-                          Amt für indianische Angelegenheiten, entwi-
tern die Vergangenheit romantisch verklärten,                       ckelte ein weitreichendes Programm zur „Um-
brachte die Regierung die Indianerstämme an                         siedelung“ der Indianer von den Reservaten in
den Rand des Aussterbens, und zwar mit einer                        Städte, wo sie sich in das städtische Leben in-
Politik, die das Verschwinden des Amerikas der                      tegrieren sollten. Das Programm des BIA wur-
Ureinwohner als Lösung für das „Indianerpro-                        de seit 1950 von Kommissar Dillon S. Myer ge-
blem“ zum Ziel hatte. Es war die Ära der Liqui-                     leitet. Ein geeigneterer Kandidat als Myer war
dierung (1943-1961).29                                              kaum zu finden: Er war wenige Jahre zuvor an
                                                                    dem Umsiedlungsprogramm für Japaner und
In den Jahren zuvor (ab 1934) hatte die US-Re-                      japanisch-stämmige Amerikaner während des
gierung die Selbstbestimmung der Indianer ge-                       Zweiten Weltkriegs beteiligt gewesen und hat-
fördert, indem sie die Stämme dazu ermutigte,                       te als Direktor der Kriegsumsiedlungsbehörde
eigene Regierungen zu bilden. Bis zum Zweiten                       Gefangenenlager geleitet. Es überrascht daher
Weltkrieg kamen einige dieser neuen Regie-                          nicht, dass das BIA während seiner Amtszeit
rungen zustande, doch nur wenige ihrer ge-                          wenig geneigt war, die indianische Identität,
wählten Mitglieder hatten die Gelegenheit, Er-                      Kultur und Gesellschaft aufrechtzuerhalten.31
fahrungen mit der politischen Bevormundung
                                                                    Die Politik der Liquidierung begann offiziell im
28 Das „Tee-Hit-Ton“-Urteil von 1955 sanktionierte eine             Jahr 1952, als der US-Kongress die Regierung
   der größten Landnahmen in der amerikanischen Justiz-             aufforderte, Vorschläge zu unterbeiten, um die
   geschichte: dasselbe Gericht, das das schwarze Ameri-
   ka von der erzwungenen Rassentrennung in „Brown v.
                                                                    „schnellstmögliche Auflösung jeglicher bun-
   Board of Education“ (1954) befreit hatte, entschied, dass
   Indianer „wilde Stämme“ seien, die in einem eroberten            30 Die ICC wurde 1946 gegründet, um Forderungen in-
   Land lebten, und erlaubte der Regierung die Beschlag-               dianischer Stämme im Zusammenhang mit unfairen
   nahme ihres Landes ohne Kompensation der Stammes-                   Geschäften, historischen Verfehlungen und der Über-
   besitzer.                                                           nahme indianischer Ländereien zu regeln. Vgl. Cohen’s,
29 Die Ära der Liquidierung wird beschrieben in +’s (2012),            S. 87-88.
   §1.06, S. 84-93.                                                 31 Ebd., S. 88, 85.

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WALTER R. ECHO-HAWK
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desstaatlicher Beaufsichtigung und Steuerung                   Oxford University arbeitete er in den 1930er
der Indianer voranzutreiben“.32 Im Beschluss                   und 1940er Jahren unter John Collier, dem
108 des Repräsentantenhauses von 1953 führ-                    Kommissar für indianische Angelegenheiten.
te der Kongress eine nationale Politik ein, die                Drei Jahrzehnte lang war er „der stärkste und
Indianer der Gerichtsbarkeit der einzelnen                     eloquenteste indigene Verfechter des indiani-
Bundesstaaten unterstellte und die Vormund-                    schen Nationalismus.“36 Schon früh erkannte
schaft der Bundesregierung „so schnell wie                     McNickle die Notlage der Stämme als ein Phä-
möglich“ beenden sollte.33 Weitere Gesetze zur                 nomen der Entkolonialisierung, da sie „die Wel-
vollständigen Liquidierung bestimmter India-                   terfahrung anderer kolonialer Herrschaft un-
nerstämme folgten unmittelbar. Sie liquidier-                  terworfener Naturvölker“37 teilten. Seine inter-
ten das Vermögen von über 70 Stämmen, be-                      nationalistische Sichtweise wurde von indige-
endeten deren Steuerung und Aufsicht durch                     nen Aktivisten der Ära der Liquidierung geteilt:
die Bundesregierung und übergaben die In-                      Sie betrachteten die Indianerstämme als Ge-
dianer der Gerichtsbarkeit und Kontrolle der                   meinschaften, die aus dem Kolonialismus her-
jeweiligen Bundesstaaten. Diese drakonischen                   vorgegangen waren. Zu dieser Gruppe Intellek-
Maßnahmen wurden ohne die Einwilligung der                     tueller gehörten neben McNickle auch andere
betroffenen Stämme ergriffen und führten                       aktivistische Denker wie die NCAI-Geschäfts-
dazu, dass sich die sozioökonomischen Bedin-                   führerin Helen Peterson (Northern Cheyenne/
gungen der Indianer weiter verschlechterten.                   Lakota), die Anthropologen Sol Tax und Robert
Die Liquidierungsgesetze zielten darauf ab, die                K. Thomas (Cherokee) sowie Oliver La Farge
Autonomie der Indianerstämme zu zerschla-                      und der Anwalt Felix S. Cohen von der Asso-
gen. Sie sollten sich in eine Gesellschaft auflö-              ciation on American Indian Affairs (AAIA), der
sen, die in ihrer Mitte keinen Platz für sie, ihre             Gesellschaft für die Angelegenheiten der ame-
Kulturen und ihre Regierungen vorsah.                          rikanischen Indianer. Mit Hilfe konventioneller
                                                               politischer Methoden arbeiteten sie mit Stam-
Der moderne indigene Aktivismus entstand,                      mesführern zusammen, um sich der Auflösung
um diesem Schicksal zu entgehen. Die Urein-                    der Stämme zu widersetzen. Sie fochten defen-
wohner Amerikas standen vor einer schweren                     sive Kämpfe aus, da das politische Überleben
Herausforderung: Sie mussten einen Kampf                       das Gebot der Stunde war. Die Aktivistinnen
ums bloße Überleben führen, da sie in einer                    und Aktivisten kämpften darum, die Liquidie-
Nation lebten, die dazu entschlossen war, die                  rung der Indianerstämme zu vermeiden und
letzten Überreste indigenen Lebens und indi-                   die Regierung dazu zu bewegen, ihre destruk-
gener Kultur auszulöschen. Mit dem Ziel, sich                  tive Politik zu beenden.
der Liquidierungspolitik zu widersetzen, wurde
1944 der National Congress of American Indians
(NCAI) gegründet, eine politische Organisa-                    Die Red-Power-Bewegung
tion, die mehrere Stämme umfasste.34 D’Arcy
McNickle (1904-1977), einer der Mitbegründer                   Um 1960 ließen die Angriffe auf die Indianer
des NCAI, übernahm die Leitung. McNickle                       nach. Eine neue internationale Ordnung be-
war ein Schriftsteller und Anthropologe vom                    gann sich abzuzeichnen, als die Vereinten Na-
Flathead-Reservat, der ein umfangreiches                       tionen öffentlich den Kolonialismus verurteil-
Werk hinterließ.35 Nach seinem Studium an der                  ten. In den USA wurde John F. Kennedy zum
                                                               Präsidenten gewählt. Im selben Jahr ertönte
                                                               der Schlachtruf des NCAI „Self-determination,
32   Ebd., S. 89 (zitiert H.R. Rep. No. 82-2503 (1952).
33   Ebd., S. 90.
34   www.ncai.org.                                             36 Ebd.
35   Wilkinson (2005), S. 99.                                  37 Cobb (2008), S. 9, 11.

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