SELBSTBESTIMMUNG STATT LIQUIDIERUNG - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Indianerbewegung Von Walter R. Echo-Hawk
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SELBSTBESTIMMUNG STATT LIQUIDIERUNG ROSA Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der LUXEMBURG STIFTUNG amerikanischen Indianerbewegung NEW YORK OFFICE Von Walter R. Echo-Hawk
Inhaltsverzeichnis Ein Pfad gebrochener Verträge. Von den Herausgebern..............................................................1 Selbstbestimmung statt Liquidierung Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Indianerbewegung.........2 Von Walter R. Echo-Hawk Gegenwärtige Herausforderungen für die Ureinwohner Amerikas........................................4 Das bleibende Vermächtnis der Eroberung.............................................................................5 Die Indianer-Gesetze.....................................................................................................7 Das andauernde politische Dilemma.......................................................................10 Der Aktivismus der amerikanischen Indianer seit 1950.........................................................12 Die Red-Power-Bewegung..........................................................................................13 Indianische Selbstbestimmung.................................................................................17 Die Bewegung für Selbstbestimmung......................................................................18 Die Ära der Menschenrechte....................................................................................................22 Veröffentlicht vom New Yorker Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, gefördert mit Mitteln des AA Januar 2014 Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016 E-Mail: info@rosalux-nyc.org; Telefon: +1 (917) 409-1040 Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen. Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Politik zusammenzuarbeiten. ww w .r osal u x - n yc.or g
Ein Pfad gebrochener Verträge Seit Ankunft der ersten europäischen Siedler in dem Land, das heute die Vereinigten Staaten bildet, war ihre Beziehung zu den amerikanischen Indianern geprägt von Enteignung, Verrat und Völker- mord. Bis zum Anbruch des 20. Jahrhunderts hatten Krankheit, Krieg und erzwungene Assimilation von den Ureinwohnern nur mehr einen Schatten dessen, was sie einst gewesen waren, übriggelas- sen. In den 1950er Jahren verwandelten Hollywood-Western die Indianer in ein tragisches Symbol für verlorene Freiheit und Unschuld, während die Bundesregierung eine Politik der Eliminierung indianischer Stämme verfolgte. Dieses Erbe der Eroberung prägt die US-Politik bis auf den heutigen Tag und fügt den Ureinwohnern fortgesetztes Leid zu. Allen Widrigkeiten zum Trotz leisteten die amerikanischen Ureinwohner indes Widerstand. Die Tribal Sovereignty Movement (Bewegung für die Souveränität indianischer Stämme) erwies sich dabei als be- sonders bedeutsam. Aufgrund der gemeinsamen Anstrengungen indianischer Organisationen und Stammesführer revidierte die Regierung 1970 endlich ihre unterdrückerische Politik. Mit dem Errin- gen dieser Siege nahmen viele indianische Aktivisten eine konfrontativere Haltung ein. Die American Indian Movement (Bewegung amerikanischer Indianer, AIM) verband radikale Taktiken mit traditionel- ler Spiritualität, um den Stolz der Ureinwohner zu stärken, die fortbestehende Präsenz und Relevanz der indianischen Kultur zu betonen und die Selbstbestimmung der Ureinwohner zu verwirklichen. Der „Pfad gebrochener Verträge“ der AIM klärte über die lange und schäbige Geschichte des Verrats der US-Regierung auf. Protestbesetzungen in Washington D.C. und am symbolischen Ort Wounded Knee im Bundesstaat South Dakota, wo 1890 ein blutiges Massaker an Indianern stattgefunden hat- te, konfrontierten die Regierung mit ihren Vergehen, was diese mit Vergeltungsmaßnahmen und Verfolgungen vergalt, an denen die AIM schließlich zerbrach. Ganz offensichtlich ist der Kampf also noch nicht gewonnen – amerikanische Indianer haben ein immenses und ungelöstes geschichtliches Trauma erlitten –, aber die Erfahrungen mit dem geduldigen Engagement auf offiziellem Wege wie auch der Taktik militanter Konfrontation inspirieren noch immer den Kampf für indianische Selbst- bestimmung. In dieser Studie diskutiert Walter Echo-Hawk die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner und die nächsten Schritte zur Sicherung ihrer Rechte. Er selbst ist Angehöriger des Pawnee-Stammes und arbeitet als Anwalt, Juraprofessor, Stammesrichter, Autor und Aktivist. Sein Engagement be- gann in den späten 1960ern in der Red-Power-Gruppe des Nationalen Rats der indianischen Jugend. Als Anwalt für Indianerrecht vertritt er seit 1973 indianische Stämme und indigene Gruppen in den Vereinigten Staaten. Echo-Hawk argumentiert, dass die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker (UNDRIP) – die von der US-Regierung nominell unterstützt, jedoch nicht umgesetzt wird – den besten Rahmen für die Behebung jener Ungerechtigkeiten darstellt, die die amerikanischen Indianer sowie die Ureinwohner Alaskas und Hawaiis noch immer erleiden. Fest steht: Es ist Zeit für alle Bürgerinnen und Bürger, die Vereinigten Staaten auf die Einhaltung der inter- nationalen Menschenrechte zu verpflichten und auf diese Weise mit der Lösung des Widerspruchs zu beginnen, der dem US-amerikanischen Experiment zugrunde liegt. Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Leiter des Büros New York, Januar 2014 1
Selbstbestimmung statt Liquidierung Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der amerikanischen Indianerbewegung Von Walter R. Echo-Hawk Obwohl die aufwühlende Geschichte der Tribal berungszügen und Kolonialismus ausgemerzt. Sovereignty Movement, der Bewegung für die Die Doktrin der Manifest Destiny, des angeb- Selbstbestimmung der indianischen Stämme,1 lich göttlichen Expansionsauftrags der USA, in der indigenen Literatur gut dokumentiert verbreitete sich ohne Rücksicht auf die Rechte ist, kennt man sie in der Mehrheitsgesellschaft der Ureinwohner über den ganzen Kontinent. der Vereinigten Staaten kaum. Bei dem Aktivis- Dieses Vorgehen führte zu einem „Indianer- mus, der seit 1950 den Fortschritt der moder- problem“, das in direktem Gegensatz zu den nen indianischen Stämme vorantreibt, handelt Grundwerten des Landes steht und bis heu- es sich um eine soziale Bewegung vom selben te andauert. Die Situation der unterdrückten Rang wie die Bürgerrechts-, Frauen- und Um- Indianer, die inmitten einer freien und demo- weltbewegungen. Es ist eine Geschichte, die es kratischen Gesellschaft leben, verblüfft und verdient, erzählt zu werden. Angesichts syste- verwirrt die amerikanische Bevölkerung seit matischer Unterdrückung ist die menschliche langem. Solange dieser Widerspruch besteht, Erfahrung immer die Gleiche: Ungerechte Be- werden die USA auch weiterhin von jenen Dä- dingungen machen das Leben unerträglich, monen heimgesucht werden, die allen schein- und das Ziel, diese Ungerechtigkeiten zu über- bar freien Nationen begegnen, die auf Enteig- winden, bringt starke soziale Bewegungen her- nung und Unterdrückung beruhen. Sie stellen vor. Im Kampf um Gerechtigkeit für die ameri- unsere Legitimität, unser Selbstbild und un- kanischen Ureinwohner ist dieses Grundprin- seren nationalen Ursprungsmythos in Frage. zip eindeutig gegeben. Denn eine demokratische Gesellschaft, in der ein Teil frei und der andere unterdrückt ist, Demokratie und Menschenrechte bilden das kann es nicht geben. Fundament des amerikanischen Experiments, doch die Vereinigten Staaten haben sich, wie Im Jahr 1950 erreichte die Lage der amerika- die Erfahrung der amerikanischen Ureinwoh- nischen Ureinwohner einen Tiefpunkt.2 Unter ner beweist, nicht immer an ihre Grundwerte 2 Dieser Artikel konzentriert sich hauptsächlich auf den gehalten. Beim Auf- und Ausbau nationaler Aktivismus der (nord-)amerikanischen Ureinwohner, Institutionen, die die Freiheit vieler Bevölke- obwohl die indigene Bevölkerung der Vereinigten rungsgruppen garantieren, blieben die India- Staaten die Ureinwohner Alaskas und Hawaiis mit ein- schließt. Heute gehören fast drei Millionen amerikani- nerinnen und Indianer außen vor. In der jun- sche Indianer und Ureinwohner Alaskas zu 500 staatlich gen und aufstrebenden Republik sah man sie anerkannten Indianerstämmen. Circa 30 Prozent der amerikanischen Indianer leben in Reservaten, 70 Pro- als entbehrlich an. Um Raum für Siedler und zent dagegen in Städten. Die 500 Stämme haben 369 Einwanderer zu schaffen, wurden sie von Ero- Abkommen mit den Vereinigten Staaten geschlossen und pflegen bilaterale Beziehungen zur US-Regierung. Ihnen gehören 40 Millionen Hektar treuhänderisch ge- 1 Da die Ureinwohner der 48 kontinentalen Staaten der schütztes Stammesland mit bedeutenden Bodenschät- USA sich selbst als „Indianer“ bezeichnen, wird der Be- zen: knapp 18 Millionen Hektar Naturweide bzw. Wei- griff auch in dieser Studie verwendet. – D. Red. deland, 2 Millionen Hektar Wirtschaftswald, 1 Million 2
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG widrigsten sozioökonomischen Umständen rechtsbewegung die amerikanische Politik. Sie lebten die Indianer in einer Gesellschaft, die verdeutlichte den amerikanischen Ureinwoh- von Rassentrennung und der Vormacht des nern, dass es möglich war, Ungerechtigkeit „Großen Weißen Vaters“ gekennzeichnet war. durch Widerstand zu überwinden. Aufstände Alle Bereiche und Ministerien der Regierung standen infolgedessen bis Mitte der 1970er waren daran beteiligt, die letzten Fragmen- Jahre auf der Tagesordnung. Langfristig jedoch te indianischer Kultur zu zerstören und ihre erwies sich die von den indianischen Stämmen in Abkommen und Verträgen eingegangenen und ihrer gewählten Führerschaft aufgebaute Versprechen zu brechen. An diesem Tiefpunkt, Tribal Sovereignty Movement als einflussrei- in ihrer schwersten Stunde, als bloßes Überle- cher. Gewiss: Die Vertreter dieser Bewegung ben auf der Tagesordnung stand, brachten die wurden vom politischem Aktivismus der Ame- schwer getroffenen Indianerstämme den Wil- rican Indian Movement, der Bewegung der len zum Widerstand auf. amerikanischen Indianer (AIM), ansgespornt und gestärkt. Die AIM erreichte in den frühen In den 1950er und 1960er Jahren unternahmen 1970er Jahren ihren Höhepunkt und verband die amerikanischen Indianer einen letzten ver- die spirituelle Kraft der Indianer mit direktem zweifelten Versuch, sich dem Vorhaben der politischem Aktivismus. Die größere Bewe- Regierung zu widersetzen, ihre Assimilation zu gung für Selbstbestimmung konzentrierte sich forcieren. Durch die öffentliche Verfechtung hingegen auf die Autonomie der Ureinwohner ihrer Interessen gelang es ihnen schließlich, und arbeitete daran, die neue Indianerpolitik die Regierung zur Aufgabe ihres Assimilati- der Nixon-Regierung umzusetzen. Mit ihrer onsvorhabens zu zwingen. Angeführt wurde breiten Basis widersetzte sie sich dem Leben der Kampf von Organisationen, in denen sich unter ungleichen Bedingungen, indem sie ihr gewählte Stammesoberhäupter und unter- angestammtes Land und kulturelles Erbe zu- schiedliche Stämme zusammenschlossen, die rückforderte und ihr Recht auf Selbstbestim- die Selbstbestimmung der Indianer anstrebten mung und Selbstwertgefühl beanspruchte. In – angespornt von einer aufkeimenden Jugend- den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bewegung, die aus wachsender Unzufrieden- erforderte der Kampf für Gleichberechtigung heit hervorging. Beeinflusst von Intellektuellen, dann eine diszipliniertere Haltung. Durchge- die die Situation vor dem historischen Hinter- setzt wurden die gesellschaftlichen Verände- grund des Kolonialismus analysierten, stellte rungen ab etwa 1970 durch juristische Kämpfe, die Stammesjugend die bestehende Ordnung politische Interessenvertretung, wissenschaft- mit zunehmendem Kampfgeist in Frage. In den liche Forschung, dem Basisaktivismus einer folgenden Jahren entwickelten sich viele von ganzen Bevölkerungsgruppe und – allen vor- ihnen zu Anführern. Der krönende Höhepunkt an – den Stammesregierungen, die allen Wid- des Erfolgs dieser Kämpfe war schließlich die rigkeiten zum Trotz die Selbstbestimmung der historische Ankündigung Präsident Nixons im Indianer hochhielten und praktizierten. Der Jahr 1970, die bisherige Indianerpolitik aufzu- Kampf der letzten beiden Indianergeneratio- geben und die Politik der indianischen Selbst- nen für Gerechtigkeit beweist, wie ausgeprägt bestimmung einzuführen. ihr Überlebenswillen ist.3 Ende der 1960er Jahre, als die Ära der Zwangs- assimilation endete, bestimmte die Bürger- 3 Zur weiterführenden Bearbeitung des Themas vgl. Wal- ter Echo-Hawk: In the Light of Justice: The Rise of Human Rights in Native America and the UN Declaration on the Hektar Agrarflächen, 4 Prozent der Rohöl- und Erdgas- Rights of Indigenous Peoples (Fulcrum Publishing, 2013), reserven der USA, 40 Prozent der US-Uranreserven und und ders.: In The Court of the Conqueror: The Ten Worst 30 Prozent der Kohlereserven im Westen des Landes. Indian Cases Ever Decided (Fulcrum Publishing, 2010). 3
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG Gegenwärtige Herausforderungen ment blieb dieses Versprechen unerreichbar. für die Ureinwohner Amerikas Heute ist das primäre Ziel der Bewegung, die richtungsweisende Erklärung der Vereinten Da ihr Recht auf Selbstbestimmung nur teil- Nationen über die Rechte der indigenen Völ- weise verwirklicht wurde, ist der Kampf der ker (UNDRIP) aus dem Jahr 2007 in den USA zu amerikanischen Indianerbewegung, trotz implementieren und die Rechtskultur und das zahlreicher historischer Fortschritte im 20. gesellschaftliche Gefüge dementsprechend Jahrhundert, keineswegs abgeschlossen. Das auszurichten. Obwohl die Vereinigten Staa- historische Erbe der Eroberung und Unterdrü- ten die UNDRIP 2010 offiziell befürworteten, ckung kann in einem kolonialisierten Land wie blieb ihre Umsetzung aus, und es fanden kei- den USA nur schwer überwunden werden. Es ne Gespräche mit den führenden Persönlich- ist im Gerichtswesen und in der Sozialpolitik keiten der Indianer über die Implementierung des Landes ebenso tief verwurzelt wie in den der UN-Normen statt. Unter Berufung auf die Einstellungen der Bevölkerung. Obgleich die Menschenrechte verfolgt die Erklärung der Amerikaner als auf Gerechtigkeit bedachte Vereinten Nationen das Ziel, das Überleben, Menschen sehr stolz auf ihre Werte sind, zei- Wohlergehen und die Würde indigener Bevöl- tigt das Vermächtnis der Eroberung bis heute kerungsgruppen weltweit zu schützen. Vor die- Folgen. Es manifestiert sich in den anhalten- sem Hintergund bietet die vorliegende Unter- den sozialen Missständen in den Stammesge- suchung einen Überblick über den Aktivismus meinschaften, verhängnisvollen Gesetzesaus- der amerikanischen Ureinwohner von 1950 bis legungen und der schockierenden soziökono- zur Gegenwart. 4 mischen Benachteiligung der Indianerinnen und Indianer. Zudem brachte dieses Erbe ein Zunächst gilt es, den Begriff „Aktivismus“ ge- Oberstes Gericht hervor, das die hart erkämpf- nauer zu betrachten. Schließlich ist Aktivismus ten Rechte der Ureinwohner immer wieder der Motor für Gerechtigkeitsbewegungen – beschneidet. Angesichts dieser Hindernisse ist auch wenn Aktivisten durchaus von wissen- der Kampf der amerikanischen Ureinwohner schaftlicher Forschung, den Entscheidungen für Gerechtigkeit in den letzten Jahren ins Sto- leitender Persönlichkeiten und theoretischen cken gekommen. Grundlagen beeinflusst werden. Die vorliegen- de Studie versteht unter „Aktivismus“ sowohl Die weitreichenden Herausforderungen, mit militante, politische Kämpfe für grundlegende denen sich die Indianer heute konfrontiert se- gesellschaftliche Veränderungen als auch die hen, kennzeichnen die meisten der einst kolo- Politik gewählter Stammesführer, die eher kon- nialisierten Länder. Sie verhindern die vollstän- ventionellen Methoden folgt. dige Anerkennung indigener Menschenrechte im gegenwärtigen US-Rechtssystem. Es muss Die Untersuchung beleuchtet zunächst die noch viel geschehen, damit die Ureinwohner Bedrohung, die die Manifest-Destiny-Doktrin in den Vereinigten Staaten auf einer fairen 4 Diese komplexe Geschichte ist in einem umfangreichen und gleichberechtigten Basis am politischen Literaturbestand festgehalten, mit dem indigene Leser System beteiligt sein können, ohne auf ihre vertraut sind. Zu diesen Arbeiten gehören Daniel M. Menschenrechte verzichten zu müssen. Fest Cobb: Native American Activism in Cold War America: The Struggle for Sovereignty (University Press Kansas, steht: Das letzte Kapitel des amerikanischen 2008); Charles Wilkinson: Blood Struggle: The Rise of Experiments kann erst geschrieben werden, Modern Indian Nations (Norton, 2005); Paul Chat Smith wenn das Gerechtigkeitsversprechen auch für und Robert Allen Warrior: Like A Hurricane: The Indian Movement from Alcatraz to Wounded Knee (New York: die amerikanischen Ureinwohner eingelöst ist. New Press, 1996); Stan Steiner: The New Indians (Delta, Für die Gründer der Tribal Sovereignty Move- 1968). Vgl. auch Cobb (2008), n. 3, S. 210. 4
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG während des Aufstiegs und Wachstums der rokee), Browning Pipestem (Oto-Missouri/ Vereinigten Staaten für die Indianer darstellte. Osage), Vine Deloria, Jr. (Standing Rock Sioux), Anschließend werden die Wegbereiter des mo- Russell Means (Lakota), Vernon Bellcourt (Chip- dernen Aktivismus der Indianer aus den 1950er pewa), Wallace Black Elk (Lakota), Patrick Left und 1960er Jahren in den Blick genommen. Ih- Hand (Kootenai) und Rubin Snake (Ho-Chunk). rem Aktivismus ist es zu verdanken, dass Prä- Wir stehen auf euren Schultern! Der „Große sident Nixon 1970 die Politik der Selbstbestim- Geist“ wirkt auf geheimnisvolle Weise: Ihr habt mung anerkannte. Darauf aufbauend wird der uns bis an die Schwelle wahrer Selbstbestim- Aufstieg der indianischen Stämme von 1970 mung geführt – ganz im Sinne der Verwendung bis zur Gegenwart einschließlich ihrer größten dieses Begriffs im modernen internationalen Erfolge und Misserfolge zusammengefasst. Menschenrecht und der Erklärung der Verein- Als Ausblick für die Zukunft soll abschließend ten Nationen über die Rechte der indigenen beschrieben werden, wie der Kampf der US- Völker. Die größte Herausforderung unserer amerikanischen Indianer für Gleichberechti- Generation heute besteht darin, eure Arbeit gung im 21. Jahrhundert fortgesetzt werden fortzuführen und die Rechte der amerikani- sollte. schen Indianer im 21. Jahrhundert anhand des Prinzips der universellen Menschenrechte zu Die vorliegende Studie ist respektvoll den definieren. Wir müssen die positiven Bestand- Stammesoberhäuptern, Interessenvertretern teile des existierenden amerikanischen Rechts und Aktivisten gewidmet, die nicht länger un- erhalten und mit Hilfe der UN-Erklärung einen ter uns weilen. Einige von ihnen, die in der Er- gerechteren, kohärenten Gesetzeskorpus for- innerung des Autors herausragen, sind: Clyde men. Diese Studie wird hoffentlich dazu bei- Warrior (Ponca), Martha Grass (Ponca), Robert tragen, dass die Menschrechte in Zukunft auch Thomas (Cherokee), Gerald Wilkinson (Che- für die Indianer Amerikas gelten. Das bleibende Vermächtnis der Eroberung Was ist das „Vermächtnis der Eroberung“? Über tagtäglich spürbar ist. Die USA weisen bis heu- die Eroberung des Westens wurde bereits viel te neokoloniale Züge auf – lange nachdem die geschrieben. Schulbücher und die Massen- internationale Staatengemeinschaft den Kolo- medien tendieren dazu, die US-Geschichte zu nialismus verurteilt hat. glorifizieren. Doch die dunkle Seite der Mani- fest-Destiny-Doktrin kann nicht verleugnet Die Geschichte der Eroberung hat ein tiefgrei- werden – sie forderte einen furchtbaren Tribut fendes gesellschaftliches Trauma hinterlassen. von den indianischen Stämmen. Im Folgenden Während 1492 mindesten fünf Millionen Indi- sollen diese traumatischen Ereignisse zunächst aner in dem Land lebten, das heute die Ver- genauer beschrieben werden, bevor der Frage einigten Staaten bildet, war ihre Zahl bis zum nachgegangen wird, wie deren Vermächtnis Jahr 1900 auf 250 000 geschrumpft. In diesen auch heute noch in der Rechtskultur, den In- 400 Jahren verkümmerte eine Bevölkerung stitutionen und im gesellschaftlichen Gefüge von über vier Millionen Menschen. Es ist ei- der Vereinigten Staaten präsent und für die in ner der größten Bevölkerungsverluste in der Stammesgemeinschaften lebenden Menschen Geschichte der Menschheit, in der ein solches 5
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG „Absterben“ 5 aufgrund von Katastrophen und Assimilation und absichtliche Zerstörung von Völkermorden wiederholt vorkam.6 All diese Stammeskulturen, -sprachen und -religionen.7 Fälle waren entsetzlich, doch die Überlebens- Hierbei handelt es sich um eine sukzessive Ab- rate der amerikanischen Indianer war mit nur folge traumatischer Ereignisse während eines rund fünf Prozent (bis 1900) besonders niedrig der turbulentesten Kapitel der amerikanischen und führte beinahe zu ihrem Aussterben. Der Geschichte. Bevölkerungsverlust des Pawnee-Stammes bietet hierfür ein erschütterndes Beispiel: Im Sozialforscher beschreiben die chronischen 18. Jahrhundert lag die Bevölkerungszahl noch Nachwirkungen traumatischer Ereignisse, bei 22 000, doch um das Jahr 1900 zählte der die bei Überlebenden beobachtet werden, Stamm nur noch 635 Mitglieder. als „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS). 8 Diese soziale Pathologie findet sich in Wissenschaftler haben sechs Hauptursachen den Gemeinschaften amerikanischer Urein- für den dramatischen Bevölkerungsrückgang wohner, deren Geschichte von katastrophalen ermittelt: erstens die illegale Gewaltanwen- Erfahrungen und Ereignissen geprägt ist. Sie dung der andauernden Kriegführung in über wird in der Fachliteratur als „postkoloniales vierzig „Indianerkriegen“ während eines Zeit- Stresssyndrom“, „historisches Trauma“ oder raums von hundert Jahren; zweitens die Ver- „nicht aufgearbeitete historische Trauer“ be- breitung pandemischer Krankheiten unter den schrieben.9 Wenn keine Heilung stattfindet, Indianderstämmen durch die Siedler im Ver- werden Trauma und unaufgearbeitete Trauer lauf der kolonialen Expansion; drittens die von von Generation zu Generation weitergege- der Regierung erzwungene Trennung indiani- ben. Diese Pathologien spiegeln sich in den scher Kinder von ihren Eltern und Stämmen im erschreckenden Statistiken bezüglich der Le- 19. und 20. Jahrhundert und deren Umsiedlung bensumstände und psychischer Krankheiten in nicht-indianische Milieus und Institutionen, in den heutigen Stammesgemeinschaften.10 in denen die Kinder zum Zweck ihrer Assimila- Die sozioökonomischen Indikatoren sind scho- tion in die Siedlergesellschaft einer Gehirnwä- ckierend: Erstens haben Indianer die höchste sche unterzogen wurden; viertens die erzwun- Armutsquote im ganzen Land – jeder Dritte gene Vertreibung indianischer Stämme von in einem Reservat wohnhafte Indianer lebt ihren angestammten Gebieten, die Umsied- unter der Armutsgrenze. Zweitens treffen wir lung und die weit verbreitete Enteignung indi- auf die höchste Gewaltkriminalitätsrate in ei- anischen Landes; fünftens die Zerstörung des nem Land, in dem amerikanische Indianer natürlichen Lebensraums, der Ökosysteme doppelt so häufig einem Gewaltverbrechen und der Existenzgrundlage der Stämme; und zum Opfer fallen wie Angehörige jeder ande- sechstens die von der Regierung erzwungene ren ethnischen Gruppe. Von den indianischen Frauen werden 34 Prozent im Verlauf ihres Le- 5 Russell Thornton: American Indian Holocaust and Sur- vival: A Population History Since 1492 (Norman: Univer- 7 Thornton (1987); vgl Echo-Hawk (2010), S. 399-420; und sity of Oklahoma 1987), S. 42-49. ders. (2013), S. 100-105, für weitere Analysen. 6 Im Mittelalter starben 40% der europäischen Bevölke- 8 Vgl. Thomas Ball: Prevalence Rates of Full and Partial rung aufgrund von Krieg, Krankheit und Hunger; in Ru- PTSD and Lifetime Trauma in a Sample of Adult Mem- anda fielen 1994 zahllose Menschen einem Völkermord bers of an Indian Tribe (University of Oregon Disserta- zu Opfer, bei dem 11% der Bevölkerung getötet wurden tion, 1998); Maria Yellow Horse Brave Heart: The Return und nur 29% der Tutsi-Bevölkerung einen hunderttägi- to the Sacred Path: Healing the Historical Trauma and gen Albtraum überlebten; und in Europa überlebten nur Historical Unresolved Grief Response among the Lako- 37% der jüdischen Bevölkerung den Holocaust. Vgl. J.M. ta through a Psychoeducational Group Intervention, in: Roberts: The Penguin History of the World (Oxford Uni- „Smith College Studies in Social Work“, 68 (3), Juni 1998, versity Press, 1990), S. 483-484; Philip Gourevitch: We S. 288-305. Wish To Inform You That Tomorrow We Will Be Killed 9 Ebd. With Our Families: Stories From Rwanda (Pacadot 1999). 10 Echo-Hawk (2013), S. 100-105. 6
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG bens vergewaltigt und 39 Prozent von ihnen Die Indianer-Gesetze werden Opfer häuslicher Gewalt – den Statis- tiken des Justizministeriums zufolge meist von Das Vermächtnis der Eroberung hat zudem Seiten nicht-indianischer Männer. Drittens of- tiefgreifende Auswirkungen auf das geltende fenbart sich die ständige Bedrohung der ver- Recht und ist in der Rechtskultur klar erkenn- bleibenden Überreste indianischer Kulturen, bar, denn die Aufgabe, das zu rechtfertigen, Sprachen, Stammesreligionen, heiliger Stätten was sich nicht rechtfertigen lässt, fiel den Ge- und geistiger Eigentumsrechte an ihrem Erbe richten zu. Wie zu erwarten war, gerieten die und ihrer Identität durch die Mehrheitsgesell- Juristen damit in Zugzwang. Sie mussten von schaft. Viertens verweisen Statistiken auf die den hohen Werten abweichen, auf die sich höchste Schulabbrecherquote des Landes (36 die Nation normalerweise beruft. Der Obers- Prozent) und niedrige Schulleistungen. Die- te Gerichtshof der USA griff auf das Recht der se Schulen verwenden indes Lehrpläne, die Eroberung und des Kolonialismus zurück und den Kindern amerikanischer Ureinwohner passte es dem amerikanischen Kontext an. Der den gleichberechtigten Zugang zu Bildung daraus entstandene Gesetzeskorpus ist als nachweislich verwehren. Fünftens spielen die Federal Indian Law (nationales Indianerrecht) Medien eine Rolle, die sich amerikanischen bekannt. Er bildet den rechtlichen Rahmen für Ureinwohnern gegenüber nicht verantworten die Definition der Rechte der amerikanischen müssen und voller rassistischer Klischees sind. Ureinwohner.12 Sie bieten weder reale Darstellungen amerika- nischer Indianer noch eine journalistische Be- Das nationale Indianerrecht enthält drei er- richterstattung über deren Probleme. Sechs- kennbare und sich teilweise überschneidende tens haben Indianer die niedrigste Lebens- Prinzipien: erstens das der Eroberung, zweitens erwartung im ganzen Land. US-Amerikaner das der Kolonisierung und drittens das Prinzip erhalten im Durchschnitt 60 Prozent mehr Ge- der Stammessouveränität bzw. des Protekto- sundheitsversorgung als die amerikanischen rats.13 Diese Prinzipien widersprechen sich, Ureinwohner. Die Rate der Alkoholabhängigen weshalb eine Spannung zwischen den guten unter Indianer ist 627 Prozent höher als bei und schlechten Seiten des geltenden Rechts allen anderen Bevölkerungsgruppen, die Rate besteht: Einerseits schützt das Recht die india- der Tuberkulosekranken mehr als 533 Pro- nischen Stämme, indem es die Ausübung ihrer zent höher, der Anteil der Diabetes-Kranken Selbstbestimmung innerhalb eines Protekto- 249 Prozent höher. Die Unfallraten liegen 204 rats fördert; andererseits wird die Selbstbe- Prozent höher, die Selbstmordrate 72 Prozent, stimmung von einer dunklen Seite des Rechts die Rate der Lungenentzündungen und Grip- mit anti-indigenen Charakterzügen behindert. peerkrankungen 71 Prozent und die Mordrate Infolgedessen ist das Indianerrecht kein ver- 63 Prozent höher. Sechstens schließlich ist das lässliches Bollwerk; vielmehr ist der gesetzli- Land, das sich im Eigentum amerikanischer In- che Rahmen flexibel und formbar. Er lässt sich dianerstämme befindet, bis zum Jahr 1955 auf zur Unterstützung oder zur Benachteiligung nur 2,3 Prozent seiner ursprünglichen Größe der Indianer auslegen – je nachdem, wie die geschrumpft.11 Diese sozioökonomischen Indi- politischen Winde wehen bzw. die Vorurteile in katoren indizieren ein immenses historisches der übrigen Bevölkerung geartet sind, die eine Trauma. Da sie schon so lange bestehen, gel- sich fortwährend ändernde rechtsprechen- ten sie heutzutage als „normal“ und drohen zu de oder gesetzgebende Politik beeinflussen. einem permanenten Bestandteils des Lebens amerikanischer Ureinwohner zu werden. 12 Die Hauptabhandlung ist Cohen’s Handbook of Federal Indian Law (LexisNexis, 2012, Hg.). 11 Ebd., S. 104-105. 13 Echo-Hawk (2013), S. 105-125. 7
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG Die Doktrin der Eroberung wurde von dem ren und definierte ihre Rechte aus Sicht der so genannten Marshall Court, dem Obersten Eroberer. Er erhielt die Beschlagnahme ihres Gerichtshof der USA unter der Leitung von Landes ohne Kompensation aufrecht: Richter John Marshall, implementiert. Die- ser legte die Ansprüche auf Land und Boden Jedes amerikanische Schulkind weiß, dass die der Indianerstämme in dem Urteil „Johnson eingeborenen Stämme dieses Kontinents ihrer angestammten Gebiete gewaltsam beraubt wur- v. M’Intosh“ (1823) fest.14 Das Gericht schrieb: den, und dass, selbst wenn die Indianer im Zuge „Besitzanspruch durch Eroberung wird ge- von Abkommen Millionen von Hektar als Gegen- waltsam erworben und aufrechterhalten“, und leistung für Decken, Essen und wertlosen Plunder „der Eroberer setzt seine Grenzen“. Der Begriff abtraten, es kein Verkauf, sondern der Wille des „Eroberung“ hat eine dunkle, bedrohliche Kon- Eroberers war, der sie ihres Landes beraubte. In den Worten des Obersten Richters Marshall: notation; er impliziert Aggression, Brutalität „unabhängig davon, wie abwegig die Anmaßung und Machtausübung bei der Aneignung von auch erscheinen mag, aus der Entdeckung eines Gebieten und der Unterjochung und Kontrolle bewohnten Landes eine Eroberung machen zu der Bewohner eines eroberten Landes.15 Für wollen; wenn das Prinzip am Anfang erst einmal gewöhnlich gilt in einer freien und demokrati- durchgesetzt und danach aufrechterhalten wur- schen Gesellschaft Eroberung nicht als legitime de; wenn ein Land unter diesem Prinzip erworben wurde und in Besitz geblieben ist; wenn das Eigen- Quelle der Regierungsmacht, denn das würde tum der breiten Masse der Gemeinschaft davon suggerieren, dass Gewalt und nicht die Zustim- abstammt; dann wird daraus Landesrecht und mung der Regierten die moralische Rechtferti- kann nicht hinterfragt werden.“17 gung der Regierung bildet. Stattdessen stützen sich Demokratien auf das Verfassungsrecht, Die offensichtliche Problematik dieses Gedan- wenn sie ihre Bürger und deren Beziehungen kengangs stellt seine fortgesetzte Anwendung untereinander lenken und gestalten. in Frage. Erstens steht die faktische und recht- liche Basis der Doktrin auf einer zweifelhaften Nach dem Gerichtsurteil „Johnson v. M’Intosh“ Grundlage.18 Zweitens passt das Prinzip der häufte sich die Kriegsmetaphorik in rechtli- Eroberung nicht zu einer freien und demokra- chen Stellungnahmen.16 Dieses Urteil und spä- tischen Gesellschaft – es steht im Widerspruch tere, darauf basierende Urteile ermöglichten zu den demokratischen Grundwerten, indige- es der Regierung, indianischen Landbesitz zu ne Rechte aus der Perspektive der Eroberung veräußern und über Indianerstämme und ihr zu definieren, wenn die Bill of Rights, die ersten Eigentum ohne deren Zustimmung oder den zehn Zusatzartikeln zur US-amerikanischen normalen, durch die Verfassung garantierten Verfassung, die Menschenrechte und grundle- Schutz zu verfügen. Bis 1955 war das Leitbild genden Freiheiten aller anderen Bürgerinnen der Eroberung fest im Rechtssystem veran- und Bürger schützt. Drittens ist in den moder- kert: Der Oberste Gerichtshof ging davon aus, nen internationalen Menschenrechtsgesetzen dass alle Indianerstämme erobert worden wa- kein Platz für die Doktrin der Eroberung; sie läuft den Prinzipien des Menschenrechts zuwi- 14 „Johnson v. M’Intosh“, 21 U.S. 543 (1823), schrieb den der und wurde von den Vereinten Nationen in Indianerstämmen extrem begrenzte Bodenrechte zu und rechtfertigte dieses Ergebnis mit den Doktrinen der Entdeckung und der Eroberung. 17 „Tee-Hit-Ton v. United States“ (1955), 348 U.S. 272, 322 15 „Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary“ (2005) defi- (1955). niert „Eroberung“ als den Akt des Eroberns, insbeson- 18 Die Vereinigten Staaten erwarben praktisch das gesam- dere von „im Krieg beschlagnahmten“ oder „mit Waffen- te indianische Land per Kauf in Friedens- und Freund- gewalt“ erlangten Gebieten. schaftsabkommen, nicht durch Waffengewalt, und die 16 Die säbelrasselnden Urteile nach Johnson werden näher Eingliederung indianischer Nationen in die Vereinigten betrachtet in Echo-Hawk (2013), S. 107-11; ders. (2010), Staaten kraft ihrer Abkommen gilt von Rechts wegen S. 123-159. nicht als Eroberung. Vgl. Echo-Hawk (2013), S. 109-110. 8
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG ihrer Erklärung über die Rechte der indigenen Gesetzeskorpus.20 Diese Urteile hatten keine Völker zurückgewiesen. zugunsten der Indianer verwaltete Ordnung im Sinn, sondern eine solche, die die Besetzung Das Recht des Kolonialismus ist ein weiteres ihres Landes erleichtern würde. „Das Haupt- Prinzip der Rechtsprechung, das dem der Er- ziel der Weißen in Amerika bestand darin, das oberung in vieler Hinsicht ähnelt. Der Oberste Land zu besetzen.“21 Dementprechend wurde Richter John Marshall übernahm in „Johnson v. das geltende Recht in den Dienst des Kolonia- M’Intosh“ diesen Gesetzeskorpus vom frühen lismus gestellt. Der Kolonialismus bietet jedoch internationalen Recht, indem er die Doktrin keineswegs einen angemessenen Rahmen, um der Entdeckung anwendete und ausweitete, so die Rechte der amerikanischen Ureinwohner dass sie in den amerikanischen Kontext pass- zu definieren. Erstens leidet er unter ausge- te. Professor Robert J. Miller definiert diese prägtem Rassismus. Zweitens ist jene Art des Doktrin der Entdeckung als Kolonialismus, die sich aus der dunklen Seite des nationalen Indianerrechts ergibt, weit ent- ein internationales Rechtsprinzip, unter dem euro- fernt vom Menschenrecht auf Selbstbestim- päische Länder, Kolonialisten und Siedler vom 15. mung, Selbstregierung und indigene Institutio- bis zum 20. Jahrhundert rechtliche Ansprüche auf die Ländereien, Besitztümer und Menschenrech- nen, so wie sie in der Erklärung der Vereinten te indigener Völker auf der ganzen Welt geltend Nationen festgeschrieben sind. Anstatt De- machten. Im Kern sah die Doktrin vor, dass europä- mokratie zu fördern, basieren die rechtlichen ische Neuankömmlinge automatisch ein Recht auf Prinzipien des Kolonialismus drittens auf un- Grundbesitz sowie souveräne, politische und öko- gerechten rechtlichen Fiktionen und verzögern nomische Macht über indigene Völker ohne deren demokratische Weiterentwicklung.22 Viertens Wissen bzw. Zustimmung erwarben. Als die Europä- er ihre Flaggen und religiösen Symbole in „neu ent- wird kolonialistische Herrschaft von der inter- deckten“ Ländern aufstellten, beriefen sie sich auf nationalen Staatengemeinschaft verurteilt. die weithin akzeptierten rechtlichen Verfahren und Rituale der Doktrin der Entdeckung, um den recht- Das dritte Prinzip, welches das nationale India- lichen Anspruch ihres Heimatlandes auf indigene nerrecht prägt, ist das der Stammessouveräni- Ländereien und Völker zu beweisen. Diese Doktrin beruhte auf feudalen, religiösen und rassistischen tät und des Protektorats. Es wurde in dem Ge- Ideen und damit auf dem Glauben, dass Europäer richtsurteil „Worcester v. Georgia“ und nachfol- und Christen den anderen Kulturen, Religionen und genden Urteilen beschrieben.23 Es handelt sich „Rassen“ dieser Welt überlegen seien.19 um ein die Rechte der Indianer schützendes Prinzip, das ein Gegengewicht zu den anderen Die Doktrin der Entdeckung ist ein anerkann- beiden Prinzipien der Eroberung und des Ko- tes und grundlegendes Prinzip kolonialisti- lonialismus darstellt. Dieses Prinzip definiert schen Rechts auf der ganzen Welt. Nachfol- die Selbstregierung der indianischen Stämme gende Gerichtsurteile beruhten auf dieser als deren grundlegendes Recht. Unter dem Doktrin und ergänzten sie durch die Prinzipi- Schutz der Vereinigten Staaten agieren sie als en der Vormundschaft und der unbeschränk- separate politische Gemeinschaften innerhalb ten Vollmacht, denen ebenfalls die Annahme der nationalen Ordnung. Vier fundamentale einer „rassischen“ und kulturellen Unterle- Rechtsgrundsätze ergeben sich aus dem Urteil genheit der Stammesvölker zugrunde lag. Im Zuge dieser Urteile schufen die Gerichte einen 20 Echo-Hawk (2013), S. 111-114. umfassenden – aber schädlichen – kolonialen 21 „Tee-Hit-Ton v. United States“; diese Entscheidung zitiert aus „Carino v. Insular Government of the Philippine Is- lands“, 212 U.S. 449 (1908). 19 Robert J. Miller, Lisa Lesage und Sebastian Lopez Es- 22 Echo-Hawk (2013), S. 115-116. carcena: The International Law of Discovery, Indigenous 23 „Worcester v. Georgia“, 31 U.S. 515 (1832); vgl. auch Peoples, and Chile, in: 89 Neb. L. Rev. 819, 820 (2011). Echo-Hawk (2013), S. 116-125. 9
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG „Worcester v. Georgia“: Erstens genießen Indi- legen; in ihrer Geschichte sehen wir extreme anerstämme ein souveränes Recht auf Selbst- Schwankungen zwischen den Konzepten der regierung frei von jeglicher Einmischung der Stammessouveränität und Selbstbestimmung Einzelstaaten, das ihnen trotz ihrer Eingliede- einerseits und der Assimilations- und Liquidie- rung in die Vereinigten Staaten nicht entzogen rungspolitik andererseits. Dieses Problem wird werden kann. Zweitens müssen indianische durch das Fehlen von Menschenrechten im na- Abkommen als wichtigstes geltendes Recht tionalen Indianerrecht noch verschärft, denn anerkannt werden. Drittens dürfen die Doktrin diese könnten klare Vorgaben hinsichtlich des der Entdeckung oder Erlasse aus Europa indi- Umgangs mit den Ureinwohnern machen und anisches Land oder indianische Souveränität auf diese Weise die politischen Schwankungen nicht untergraben. Viertens werden die Gren- abmildern. Leider meiden die grundlegenden zen der indianischen Reservate als Schutzwäl- Urteile absichtlich „abstrakte“ Gerechtigkeits- le gegen feindliche Staaten und Siedler aner- und Moralbegriffe, wenn es um die Definition kannt. Die Beziehung zwischen indianischen der Rechte amerikanischer Ureinwohner geht. Stämmen und den Vereinigten Staaten, wie Dies hat zu einem seltsam amoralischen Ge- sie in „Worcester v. Georgia“ festgelegt wird, setzeskorpus geführt, dem Diskurs und Gebote gleicht denen eines in internationalen Bezie- zum Thema Menschenrechte fehlen und der hungen üblichen Protektorats. Es handelt sich stattdessen von einer unglaublichen Menge dabei um eine schwächere Nation, die unter ungerechter Rechtsauffassungen dominiert dem Schutz einer stärkeren Nation existiert, wird.25 die ihre politische Integrität und ihr Wohler- gehen sicherstellt. Entsprechend des Prinzips des Protektorats werden Indianerstämme als Das andauernde politische Dilemma „Nationen“ und nicht als „Kolonien“ verstan- den. Die USA als die stärkere Macht sind dazu Das Vermächtnis der Eroberung hat zudem verpflichtet, indianische Nationen zu schützen, ein anhaltendes politisches Dilemma mit sich haben aber keinerlei Recht, sie auszubeuten, gebracht. Seit den Anfängen der Manifest-Des- zu zerstören bzw. ihnen ihre politischen, kul- tiny-Doktrin lautete die politische Frage: „Was turellen, Eigentums- oder Menschenrechte zu machen wir mit den indigenen Völkern?“ Da sie entziehen.24 aus dem Aufbau der Nation und ihrer Institu- tionen ausgeschlossen und stattdessen mar- Das Prinzip der Stammessouveränität in der ginalisiert wurden, sind die indigenen Völker Rechtsprechung hat es indianischen Stämmen einem politischen System unterworfen, das sie ermöglicht, in der Moderne große Fortschritte nicht mitgestalten durften und dem sie nicht zu erzielen. Es wird jedoch ständig gegen die zugestimmt haben. Das Problem der Eingliede- dunkle Seite des Rechts ausgespielt; und bis rung indigener Bevölkerungsgruppen ist eine diese interne Spannung aufgelöst ist, können wichtige Frage für Demokratien, die auf der indianische Stämme in einer von Gegensätz- Zustimmung der Regierten basieren und deren lichkeit gekennzeichneten Rechtsordnung nur Legitimität in jedem Bereich der Gesellschaft begrenzt Fortschritte erzielen. Sie können ihre von Konsens und dem Fehlen von Zwang ab- Selbstbestimmung nicht ausüben, solange sie hängt. Was die indigenen Völker betrifft, fehlt von den Doktrinen der Eroberung und des Ko- diese Zustimmung jedoch. Auf einer abstrak- lonialismus eingeschränkt werden. Außerdem ten Ebene sind sich alle einig, dass diese Grup- lässt sich Indianerpolitik in einem derartigen pen nicht weiterhin inmitten einer freien und rechtlichen Rahmen ganz unterschiedlich aus- 25 Edd., S. 12-16; vgl. auch Echo-Hawk (2010) für eine Un- tersuchung der dunklen Seite des bundesstaatlichen 24 Echo-Hawk (2013), S. 121-125. Indianerrechts. 10
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG demokratischen Gesellschaft an den Rand der Gesellschaft räumlich trennte; zweitens gedrängt und Gesetzen und Institutionen un- von der Ausrottung der amerikanischen Urein- terworfen werden können, die die repressiven wohner auf dem Höhepunkt der Indianerkrie- kolonialen Bedingungen einer längst vergan- ge zu einer friedlichen Politik der Zivilisierung genen Ära aufrechterhalten. Doch was ist der und Christianisierung von in Reservaten leben- beste Ansatz, indigene Völker in die nationale den Indianern, die Schutzbefohlene der Re- Gemeinschaft zu integrieren? gierung waren und assimiliert werden sollten (etwa 1886-1934); drittens vom Wiederaufbau Das ist eine irritierende Frage, denn die Situa- der Stammesregierungen unter dem Indian Re- tion der Ureinwohner entspricht weder dem organization Act (Gesetz zur Neuorganisierung allgemeinen Muster für die Staatswerdung der Indianer) zu deren Demontage durch die noch dem normalen Modus der Eingliederung Assimilations- und Liquidierungspolitik der von Einwanderern in die nationale Gemein- 1950er und 1960er Jahre; und viertens von schaft durch freiwillige Assimilation. Sie leben der Politik der Liquidierung zurück zur Wie- bereits in der Nation: Sie stammen aus der Zeit derherstellung der Stammesregierungen und vor ihrer Entstehung, fordern ihre Selbstbe- der Politik der Selbstbestimmung von 1970 bis stimmung und sind nicht bereit, ihren Grund zur Gegenwart, in deren Verlauf den Indianern und Boden oder ihre Kulturen aufgeben, um Kontrolle über ihr eigenes Schicksal gewährt sich zu assimilieren. Um ihrer ungewöhnlichen werden soll. Situation und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, müssen die gastgebenden Nationen Die Debatte über den besten Ansatz wird auch über die normalen Verfahrensweisen bei der heute noch geführt.27 Die UNDRIP von 2007 sozialen Eingliederung hinausgehen und mul- scheint nun einen Leitfaden zur Lösung dieses tikulturelle Gesellschaften mit einer multina- verwirrenden politischen Problems bereitzu- tionalen Dimension fördern. Diese Nationen stellen. Die UN-Erklärung spricht sich dafür müssen in der Lage sein, indigene Völker im aus, indigene Menschenrechte hinsichtlich der Einvernehmen und ohne Verletzung ihrer indi- Prinzipien Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, genen Menschenrechte in die nationale Kultur Nichtdiskriminierung und des Gebots von Treu einzubeziehen. Dieser Prozess wird in der Li- und Glauben anzuerkennen und sie bestä- teratur als „verspätete Nationenbildung“26 be- tigt die Politik der Selbstbestimmung als den schrieben, und bis er in den Vereinigten Staa- richtigen Ansatz. Wird dieser Pfad eingeschla- ten abgeschlossen ist, wird das Land in einem gen, können die von der UNDRIP beschriebe- Sumpf der Ungerechtigkeit und des Neokoloni- nen Schritte zur verspäteten Nationenbildung alismus stecken bleiben, in dem die Grundwer- den Vereinigten Staaten dabei helfen, ihr Ver- te und Ideale, die alle anderen teilen, für die mächtnis der Eroberung zu überwinden. indigenen Völker unerreichbar sind. Dieses Vermächtnis zeigt sich in den schockie- In den Vereinigten Staaten hat die Regierung renden sozialen Missständen, unter denen die widersprüchliche Ansätze für die Eingliede- Gemeinschaften amerikanischer Ureinwohner rung der amerikanischen Ureinwohner in die leiden, den rechtlichen Ungleichheiten und nationale Gemeinschaft gewählt. Historisch dem fortdauernden politischen Problem der gesehen reichen die Methoden erstens vom Eingliederung. Der indigene Aktivismus, der Protektoratssystem nach „Worcester v. Geor- sich seit 1950 darum bemüht, diese Ungerech- gia“ zum Indian Removal Act (Gesetz zur Um- tigkeiten aus dem Weg zu schaffen, soll im Fol- bzw. Aussiedlung), das die Indianer vom Rest genden in den Blick genommen werden. 26 Echo-Hawk (2013), S. 127-128. 27 Ebd., S. 130-131. 11
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG Der Aktivismus der amerikanischen Indianer seit 1950 Als das Vermächtnis der Eroberung in den durch die Bundesregierung zu sammeln. In 1950er Jahren seinen Höhepunkt erreichte, den 1950er Jahren verschob sich die Indianer- sank das Lebensniveau der Ureinwohner auf politik maßgeblich: Von nun galt es, das Ame- seinen absoluten Tiefpunkt. Gezwungen, in der rika der Indianer komplett von der Bildfläche untersten Schicht in einer nach Rassenkriterien verschwinden zu lassen. Eine umgehende Assi- segregierten Gesellschaft zu leben, glitten die milation der amerikanischen Indianer war das verarmten Indianerstämme in eine tiefe recht- Ziel – es wurde erreicht, indem die Regierung liche, soziale, ökonomische, politische und kul- bestehende Abkommen mit den den indiani- turelle Krise. Ihr Grundbesitz war so gering wie schen Stämmen aufhob, politische Beziehun- noch nie. Das bundesstaatliche Indianergesetz gen zu ihnen abbrach, sich von ihren Pflichten war auf seinem untersten Niveau angekom- lossagte und staatliche Programme, die der men.28 Vor allen Dingen aber zielte die nationa- Unterstützung der Indianer dienten, beendete. le Politik darauf ab, die Indianer verschwinden Der US-Kongress beabsichtigte zudem, indige- zu lassen. Während des Kalten Krieges fielen ne Ansprüche gegen die Vereinigten Staaten viele Bürgerrechte dem McCarthyismus zum ein für allemal durch die Indian Claims Commis- Opfer. Die Hysterie des „Lieber tot als rot“ ließ sion (Kommission für indianische Forderungen) wenig Raum für die Toleranz unterschiedlicher zu lösen.30 Das Bureau of Indian Affairs (BIA), das indigener Kulturen. Während Hollywood-Wes- Amt für indianische Angelegenheiten, entwi- tern die Vergangenheit romantisch verklärten, ckelte ein weitreichendes Programm zur „Um- brachte die Regierung die Indianerstämme an siedelung“ der Indianer von den Reservaten in den Rand des Aussterbens, und zwar mit einer Städte, wo sie sich in das städtische Leben in- Politik, die das Verschwinden des Amerikas der tegrieren sollten. Das Programm des BIA wur- Ureinwohner als Lösung für das „Indianerpro- de seit 1950 von Kommissar Dillon S. Myer ge- blem“ zum Ziel hatte. Es war die Ära der Liqui- leitet. Ein geeigneterer Kandidat als Myer war dierung (1943-1961).29 kaum zu finden: Er war wenige Jahre zuvor an dem Umsiedlungsprogramm für Japaner und In den Jahren zuvor (ab 1934) hatte die US-Re- japanisch-stämmige Amerikaner während des gierung die Selbstbestimmung der Indianer ge- Zweiten Weltkriegs beteiligt gewesen und hat- fördert, indem sie die Stämme dazu ermutigte, te als Direktor der Kriegsumsiedlungsbehörde eigene Regierungen zu bilden. Bis zum Zweiten Gefangenenlager geleitet. Es überrascht daher Weltkrieg kamen einige dieser neuen Regie- nicht, dass das BIA während seiner Amtszeit rungen zustande, doch nur wenige ihrer ge- wenig geneigt war, die indianische Identität, wählten Mitglieder hatten die Gelegenheit, Er- Kultur und Gesellschaft aufrechtzuerhalten.31 fahrungen mit der politischen Bevormundung Die Politik der Liquidierung begann offiziell im 28 Das „Tee-Hit-Ton“-Urteil von 1955 sanktionierte eine Jahr 1952, als der US-Kongress die Regierung der größten Landnahmen in der amerikanischen Justiz- aufforderte, Vorschläge zu unterbeiten, um die geschichte: dasselbe Gericht, das das schwarze Ameri- ka von der erzwungenen Rassentrennung in „Brown v. „schnellstmögliche Auflösung jeglicher bun- Board of Education“ (1954) befreit hatte, entschied, dass Indianer „wilde Stämme“ seien, die in einem eroberten 30 Die ICC wurde 1946 gegründet, um Forderungen in- Land lebten, und erlaubte der Regierung die Beschlag- dianischer Stämme im Zusammenhang mit unfairen nahme ihres Landes ohne Kompensation der Stammes- Geschäften, historischen Verfehlungen und der Über- besitzer. nahme indianischer Ländereien zu regeln. Vgl. Cohen’s, 29 Die Ära der Liquidierung wird beschrieben in +’s (2012), S. 87-88. §1.06, S. 84-93. 31 Ebd., S. 88, 85. 12
WALTER R. ECHO-HAWK DIE AMERIKANISCHE INDIANERBEWEGUNG desstaatlicher Beaufsichtigung und Steuerung Oxford University arbeitete er in den 1930er der Indianer voranzutreiben“.32 Im Beschluss und 1940er Jahren unter John Collier, dem 108 des Repräsentantenhauses von 1953 führ- Kommissar für indianische Angelegenheiten. te der Kongress eine nationale Politik ein, die Drei Jahrzehnte lang war er „der stärkste und Indianer der Gerichtsbarkeit der einzelnen eloquenteste indigene Verfechter des indiani- Bundesstaaten unterstellte und die Vormund- schen Nationalismus.“36 Schon früh erkannte schaft der Bundesregierung „so schnell wie McNickle die Notlage der Stämme als ein Phä- möglich“ beenden sollte.33 Weitere Gesetze zur nomen der Entkolonialisierung, da sie „die Wel- vollständigen Liquidierung bestimmter India- terfahrung anderer kolonialer Herrschaft un- nerstämme folgten unmittelbar. Sie liquidier- terworfener Naturvölker“37 teilten. Seine inter- ten das Vermögen von über 70 Stämmen, be- nationalistische Sichtweise wurde von indige- endeten deren Steuerung und Aufsicht durch nen Aktivisten der Ära der Liquidierung geteilt: die Bundesregierung und übergaben die In- Sie betrachteten die Indianerstämme als Ge- dianer der Gerichtsbarkeit und Kontrolle der meinschaften, die aus dem Kolonialismus her- jeweiligen Bundesstaaten. Diese drakonischen vorgegangen waren. Zu dieser Gruppe Intellek- Maßnahmen wurden ohne die Einwilligung der tueller gehörten neben McNickle auch andere betroffenen Stämme ergriffen und führten aktivistische Denker wie die NCAI-Geschäfts- dazu, dass sich die sozioökonomischen Bedin- führerin Helen Peterson (Northern Cheyenne/ gungen der Indianer weiter verschlechterten. Lakota), die Anthropologen Sol Tax und Robert Die Liquidierungsgesetze zielten darauf ab, die K. Thomas (Cherokee) sowie Oliver La Farge Autonomie der Indianerstämme zu zerschla- und der Anwalt Felix S. Cohen von der Asso- gen. Sie sollten sich in eine Gesellschaft auflö- ciation on American Indian Affairs (AAIA), der sen, die in ihrer Mitte keinen Platz für sie, ihre Gesellschaft für die Angelegenheiten der ame- Kulturen und ihre Regierungen vorsah. rikanischen Indianer. Mit Hilfe konventioneller politischer Methoden arbeiteten sie mit Stam- Der moderne indigene Aktivismus entstand, mesführern zusammen, um sich der Auflösung um diesem Schicksal zu entgehen. Die Urein- der Stämme zu widersetzen. Sie fochten defen- wohner Amerikas standen vor einer schweren sive Kämpfe aus, da das politische Überleben Herausforderung: Sie mussten einen Kampf das Gebot der Stunde war. Die Aktivistinnen ums bloße Überleben führen, da sie in einer und Aktivisten kämpften darum, die Liquidie- Nation lebten, die dazu entschlossen war, die rung der Indianerstämme zu vermeiden und letzten Überreste indigenen Lebens und indi- die Regierung dazu zu bewegen, ihre destruk- gener Kultur auszulöschen. Mit dem Ziel, sich tive Politik zu beenden. der Liquidierungspolitik zu widersetzen, wurde 1944 der National Congress of American Indians (NCAI) gegründet, eine politische Organisa- Die Red-Power-Bewegung tion, die mehrere Stämme umfasste.34 D’Arcy McNickle (1904-1977), einer der Mitbegründer Um 1960 ließen die Angriffe auf die Indianer des NCAI, übernahm die Leitung. McNickle nach. Eine neue internationale Ordnung be- war ein Schriftsteller und Anthropologe vom gann sich abzuzeichnen, als die Vereinten Na- Flathead-Reservat, der ein umfangreiches tionen öffentlich den Kolonialismus verurteil- Werk hinterließ.35 Nach seinem Studium an der ten. In den USA wurde John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt. Im selben Jahr ertönte der Schlachtruf des NCAI „Self-determination, 32 Ebd., S. 89 (zitiert H.R. Rep. No. 82-2503 (1952). 33 Ebd., S. 90. 34 www.ncai.org. 36 Ebd. 35 Wilkinson (2005), S. 99. 37 Cobb (2008), S. 9, 11. 13
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