Marianne Beth Dietmar Goltschnigg (Hg.) - EIN BRÜCHIGES LEBEN IN BRIEFEN AUS WIEN UND DEM AMERIKANISCHEN EXIL - Vandenhoeck ...

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Marianne Beth Dietmar Goltschnigg (Hg.) - EIN BRÜCHIGES LEBEN IN BRIEFEN AUS WIEN UND DEM AMERIKANISCHEN EXIL - Vandenhoeck ...
Dietmar Goltschnigg (Hg.)

Marianne Beth
EIN B RÜ C H I G E S L E B E N I N BR IE FE N AUS WIE N
U ND D EM A M E R I K A N I S C H E N E XIL

                                           Juristin, Frauenrechtlerin,
                                Orientalistin, Religionspsychologin,
                                Philosophin, Soziologin, Ethnologin
Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

                       © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien
                  ISBN Print: 9783205213406 — ISBN E-Book: 9783205213413
Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

                       © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien
                  ISBN Print: 9783205213406 — ISBN E-Book: 9783205213413
Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

Dietmar Goltschnigg (Hg.)

MARIANNE BETH
Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und
dem amerikanischen Exil

Juristin, Frauenrechtlerin, Orientalistin, Religionspsychologin,
Philosophin, Soziologin, Ethnologin

                          © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien
                     ISBN Print: 9783205213406 — ISBN E-Book: 9783205213413
Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

    Publiziert mit freundlicher Unterstützung durch die Alexander von Humboldt-Stiftung (Bonn)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  :
    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
    in der Deutschen Nationalbibliografie  ; ­detaillierte bibliografische Daten
    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Umschlagabbildung  : DDr. Marianne Beth, Präsidentin der Österreichischen Frauenorganisation,
    Wien, 1928 © ÖNB

    © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1, A-1080 Wien
    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
    Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fallen bedarf der vorherigen
    schriftlichen Einwilligung des Verlages.

    Korrektorat  : Vera M. Schirl, Wien
    Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien
    Satz  : Michael Rauscher, Wien

    Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

    ISBN 978-3-205-21341-3

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                  ISBN Print: 9783205213406 — ISBN E-Book: 9783205213413
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7

Abkürzungen und Zitierweise.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                        15

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                    17
   1. Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                          .   .   .   .   .    17
      Elternhaus, Jugend, Orientalistik-Studium . . . . . . . . . . . . .                                                             .   .   .   .   .    17
      Taufe, Heirat, Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                          .   .   .   .   .    21
      Jusstudium, Rechtsanwältin, Sozialphilanthropin . . . . . . . . . .                                                             .   .   .   .   .    26
      Frauenrechtlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                          .   .   .   .   .    30
      Universalgelehrte  : Religionspsychologin, Philosophin, Soziologin,
      Ethnologin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                          .   .   .   .   .    53
      Vom Brand des Wiener Justizpalasts zum »Anschluss« . . . . . . .                                                                .   .   .   .   .    56
   2. Amerikanisches Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                           .   .   .   .   .    62
      1939–1945 (Portland, Chicago) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                             .   .   .   .   .    62
      1946–1974 (Chicago, New York) . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                               .   .   .   .   .    72
      Politische Kommentatorin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                             .   .   .   .   .    76
      Private Scholar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                         .   .   .   .   .    80
      »Geldjuden« – »Jüdischer Selbsthass« – Innere Re-Konversion  ? . .                                                              .   .   .   .   .    89

B. Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
   1926–1939 (Wien) . . . . . . . .                       .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   101
   1939–1945 (Portland, Chicago). .                       .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   134
   1946–1960 (Chicago) . . . . . . .                      .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   202
   1960–1974 (New York) . . . . . .                       .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   347

C. Anhang.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
   1.   Zeittafel . . . . .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   493
   2.   Familienstemma .      .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   500
   3.   Bibliographie. . .    .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   501
   4.   Personenregister .    .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   512

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                      ISBN Print: 9783205213406 — ISBN E-Book: 9783205213413
Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

Vorwort

                                                                       After all, we had a good time,
                                              and I love America more than I have ever loved Austria
                                                                                     (Nr. 43, S. 197).

Diese Liebeserklärung an das »miraculous and wonderful country« Amerika, die Mari-
anne Beth am 15. März 1945, sechs Jahre nach ihrer Flucht aus Wien und kurz vor
Ende des Zweiten Weltkriegs, in einem Brief aus Chicago nach Gedera/Palästina an
ihren Bruder Wolfgang von Weisl zum Ausdruck brachte, ist eine Momentaufnahme,
geschuldet der kurz zuvor empfangenen amerikanischen Citizenship. Objektiv ist die-
ses Bekenntnis so richtig wie falsch, zumindest ist es ebenso zu relativieren wie viele
andere widersprüchliche Urteile, die Marianne Beth im Laufe ihres langen Lebens über
Österreich und Amerika, über ihre Familie, ja sogar über sich selbst abgegeben hat. Ge-
prägt durch ihre verehrten, wenige Jahre vor ihrer Geburt aus Prag nach Wien übersie-
delten Eltern, die beide »stolze Österreicher« waren,1 hat sie in ihrem Heimatland als
erste promovierte Orientalistin (1912) und erste promovierte Juristin (1921), als erste
niedergelassene Rechtsanwältin und international führende bürgerlich-liberale Frau-
enrechtlerin, als Ehefrau und Mutter zweier Kinder durchaus glückliche, sinnerfüllte
Lebensjahre verbracht, die dann jedoch 1938 mit dem »Anschluss« Österreichs an Hit-
lerdeutschland ein jähes, unwiderrufliches Ende fanden. Im amerikanischen Exil hat sie
nicht mehr – ihren gehobenen, intellektuellen Ansprüchen gemäß – Fuß fassen können.
Die »Neue Welt«, Lebensstil und Mentalität der amerikanischen Durchschnittsbevöl-
kerung blieben ihr fremd und verschlossen, ja bisweilen verachtenswert. Schon nach
dem ersten Exiljahr in Portland/Oregon hatte sie am 4. Mai 1940 ihrem Bruder, der
nach Palästina entkommen war, ohne Umschweife gestehen müssen  : »I cannot tell you,
how nauseating I find the average American mentality.« Nach ihren ersten Unterrichts-
stunden am dortigen Reed College hatte sie erklärt  : »I cannot acquiesce, how sad, how
terrible, how unspeakably dumb the American schools are« (Nr. 25, S. 149). Ihre vor-
schriftsgemäße Meldung beim Immigration Office in Portland empfand sie als »a most
distressing experience«  : »But I feel happy that Austria has been recognized as a friendly

1 Vgl. Ernst Franz von Weisls auf der Hochzeitsreise 1889 gemeinsam mit seiner Frau ChvW abgelegte
  Bekenntnis  : »Ich bin so stolz darauf, ein Österreicher zu sein. Es gibt doch nichts Schöneres als unser
  Österreich« (Böhmische Juden auf Wanderschaft über Prag nach Wien. Charlotte von Weisls Familien-
  geschichte. Text, Kontext, Kommentar, Analyse. Wien, Köln, Weimar  : Böhlau 2019, S. 235 = GmF).

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                       ISBN Print: 9783205213406 — ISBN E-Book: 9783205213413
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    country« (Nr. 32, 7. Februar 1942, S. 166, kursiv  : Hg.). Amerika hingegen sei – so
    tröstet sie fünf Jahre später ihren Bruder Wolfgang und dessen Frau Noemi, geb. Zu-
    ckermann, nach beider Entscheidung, das »jüdische Schicksal« in Palästina/Israel auf
    sich zu nehmen und nicht nach Amerika auszuwandern – »ein unerhört harter Boden«,
    wo es keine »seelische Heimat« gebe (Nr. 58, 16. September 1947, S. 222). Gleichwohl
    sei Amerika, so scheint Marianne ihren Bruder abermals fünf Jahre später zu verlo-
    cken, »für jeden ein Erlebnis […] von Wichtigkeit«, sie freue sich sehr, wenn er zu
    Besuch kommen werde – »schon damit es ihm dann in Israel besser gefällt« (Nr. 88,
    November 1952, S. 280). Die persönliche Verfassung der aus Wien ins amerikanische
    Exil vertriebenen Wiener Jüdin ist oft von tiefer, sprachlich in poetische und umso be-
    rührendere Metaphern gehüllter Melancholie erfüllt, die der eingangs zitierten Lie-
    beserklärung an die »Neue Welt« diametral entgegenstehen  : »Und seit ich in Amerika
    gelandet bin, habe ich nur noch das Gefühl wie ein Stein, der langsam und beständig
    untergeht, gänzlich außerhalb der Welt. Wie sagen die Juden so schön  : ›aus der Welt
    gefallen‹« (Nr. 95, 6. März 1956, S. 292). Das letzte Amerika-Bild, das sie am 5. De-
    zember 1970 ihrem Bruder übermittelt, zeitigt den geradezu abschreckenden Befund
    eines hasserfüllten Rassismus, der sie an die österreichischen Zustände unmittelbar vor
    dem »Anschluss« an Nazideutschland erinnert  :

        Die Situation hier ist ungefähr so oder schlimmer, als sie zu Schuschniggs Zeiten in Wien
        war.2 Viel schlimmer. Nicht weil der Gegner gefährlich ist, sondern weil die allgemeine, unge-
        richtete Hasswelle beinahe den Siedepunkt erreicht hat. […]. Weder eine Rechtsdiktatur noch
        eine Demokratie sind dieser Aufgabe gewachsen. Und das Gefühl des Volkes ist Hass, gegen
        die Intellektuellen, die Juden, die Neger, die ausländische Konkurrenz, das Establishment usw.
        (Nr. 184, S. 462, kursiv  : Hg.).

    Die beiden, fast genau gleich langen Hälften, in die Marianne Beths 94 Jahre währendes
    Leben zerfällt, sind indes völlig inkommensurabel  : 48 Jahre im kaiserlich habsburgi-
    schen und republikanischen Wien, 46 Exiljahre in Portland, Chicago und New York  ;
    die erlebten Gegensätze der beiden Welten könnten schroffer nicht sein. Sie, die in
    der österreichischen und internationalen Frauenbewegung mit unablässigem und viel-
    bewundertem Engagement eine Reihe einflussreicher Funktionen bekleidet hatte, zog
    sich in Amerika völlig ins Privatleben zurück und übernahm kein einziges öffentliches
    Amt mehr. Kein einziges Mal hat sie nach ihrer Vertreibung je wieder den Boden ihrer
    österreichischen Heimat betreten. »Mit Händen und Füßen« hat sie sich »gegen das

    2 Kurt Schuschnigg (1897–1977)  : 1934–1938 letzter Bundeskanzler der Ersten Republik Österreich
      (vgl. Nr. 37, S. 177, Anm. 224).

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Vorwort                                                                                                    9

Zurückgehen gesträubt« (Nr. 108, 6. November 1957, S. 314). Kein einziges Mal hat
sie Amerika verlassen. Die politische und kulturelle Entwicklung der Zweiten Republik
Österreich war ihr, der kosmopolitischen Zeitungsleserin, in den Briefen kein einziges
Wort mehr wert. Aber die kleine, am 27. April 1973 im New Yorker Österreichischen
Generalkonsulat veranstaltete Feier zur Goldenen Erneuerung ihres juridischen Wiener
Doktordiploms aus dem Jahre 1921 erfüllte sie dann doch mit Genugtuung, und sie
fühlte sich geschmeichelt, dass sie in der österreichischen Presse der zwölf Jahre älte-
ren nobelpreisverdächtigen, 1938 nach Stockholm emigrierten Wiener Physikerin Lise
Meitner (1878–1968) zur Seite gestellt wurde – ein gewiss ehrenvoller Vergleich, dem
sie freilich, um nicht »größenwahnsinnig« zu erscheinen, bescheiden widersprochen
hat  : »Aber dass man nicht ganz vergessen ist, das macht einem doch Freude« (Nr. 196,
S. 486). Wie hätte sie wohl im Jahre 2009 reagiert, als anlässlich des 90-jährigen Jubi-
läums der Zulassung von Frauen zum Studium der Rechtswissenschaften in Österreich
ihr zum ehrenden Angedenken eine »Marianne-Beth-Gastprofessur für Legal Gender
Studies« am Wiener Juridicum eingerichtet wurde  ? Die feierliche Erinnerung an den
Beginn des juristischen Frauenstudiums in Österreich fiel mit dem 25. Todesjahr seiner
einst prominenten Pionierin zusammen, die zu diesem Zeitpunkt aber fast schon wieder
in Vergessenheit geraten war. Der vorliegende Band mit ihren erstmals veröffentlichten
gesammelten Briefen erscheint zum nunmehr hundertjährigen Jubiläum der ersten Pro-
motion einer Österreicherin zur Doktorin der Jurisprudenz.
   Marianne Beths Leben, Werk und Wirkung sind größtenteils noch unerforscht. In
den letzten beiden Jahrzehnten sind meist nur ein- bis zweiseitige lexikalische Arti-
kel über sie erschienen.3 Hervorzuheben sind einige wenige, etwas längere Beiträge aus
Holland und Deutschland  : von Jacob A. van Belzen zur Religionspsychologin4 und von
Oda Cordes zur Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin im Rahmen eines monumen-
talen Buches über die Berliner Juristin und Frauenrechtlerin Marie Munk, die mit der
Wiener Kollegin Marianne Beth gut bekannt war und sich in vielerlei Hinsicht mit ihr
vergleichen lässt.5 Informationen über die 46 amerikanischen Exiljahre Marianne Beths

3 Siehe in der Bibliographie des Anhangs beispielsweise die Arbeiten von Edith Leisch-Prost (2002),
  Marion Röwekamp (2005, 2011), Hartmut Ludwig und Eberhard Röhm (2014) sowie von Barbara
  Sauer (2016).
4 Jacob A. van Belzen  : Pionierin der Religionspsychologie. Marianne Beth (1890–1984). In  : Archive
  for the Psychology of Religion (Amsterdam) 32 (2010), S. 125–145  ; A Political End to a Pioneering
  Career. Marianne Beth and the Psychology of Religion. In  : Religions. Open Access Journal (Basel) 2
  (2011), S. 247–263  ; Religionspsychologie. Eine historische Analyse im Spiegel der Internationalen Ge-
  sellschaft. Berlin, Heidelberg  : Springer 2015, S. 89–103.
5 Oda Cordes  : Marie Munk (1885–1978). Leben und Werk. Köln, Weimar, Wien  : Böhlau 2015,
  S. 133–137, 802–808.

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    10                                                                                                   Vorwort

    waren bisher gänzlich unbekannt. Diese beträchtliche Lücke wird nun durch die hier
    edierten Briefe erstmals überbrückt. Ihre frühen Lebensjahre bis 1928 sind durch eine
    »Selbstschilderung« dokumentiert, die in Elga Kerns bekanntes »Standardwerk« Füh-
    rende Frauen Europas (1928) aufgenommen wurde6, unmittelbar anschließend an die
    autobiographische Skizze einer anderen Wiener Jüdin, der 25 Jahre älteren Romanistin
    Elise Richter7, an die Marianne Beth den ersten im vorliegenden Band abgedruckten
    Brief vom 22. Dezember 1926 adressiert hat (S. 101).
       Die hier edierten insgesamt zweihundert Briefe, die in zeitlicher Abfolge die »Selbst-
    schilderung« Marianne Beths nahtlos fortsetzen, gewähren einen authentischen Ein-
    blick in ihre innere und äußere Biographie, ein bewegtes und bewegendes, vielfach brü-
    chiges österreichisch-amerikanisch-jüdisches Schicksal, in dem sich die Weltgeschichte
    des 20. Jahrhunderts mit zwei globalen Kriegen und drei Jahrzehnten des »Kalten
    Kriegs« zwischen den beiden Großmächten der USA und der Sowjetunion, mit den
    Stellvertreterkriegen in Korea und Vietnam sowie mit der Gründung des Staates Is-
    rael und dessen weiterer, von Krisen und Kriegen gefährdeter politischer Entwicklung
    widerspiegelt. Insofern sind diese Zeugnisse auch von eminenter, repräsentativer zeit-
    geschichtlicher Bedeutung.
       Diese Briefedition ist die erste Buchpublikation zu Marianne Beth und versteht sich
    als erster Band eines geplanten größeren Forschungsprojekts. Der zweite Band wird
    alle ihre kleineren, verstreut und oft entlegen in verschiedenen österreichischen und
    deutschen Tageszeitungen, Fachjournalen und Frauenmagazinen, Sammelbänden und
    Handbüchern erschienenen juristischen und frauenpolitischen, orientalistischen und
    religionspsychologischen, philosophischen, soziologischen und ethnologisch-anthropo-
    logischen Aufsätze, Studien, Essays, Feuilletons, Rezensionen, Kongress- und Reisebe-
    richte präsentieren, ferner ihre bisher ungedruckte Dissertation Eigentumsveränderun-
    gen im israelitischen und babylonischen Recht (1912). Dieses ansehnliche, in nur wenigen
    Jahren bis 1938 veröffentlichte Schrifttum dokumentiert die herausragenden Leistun-
    gen, die die universalgelehrte Verfasserin auf vielen sozialpolitischen, frauenrechtlichen,
    geistes- und kulturwissenschaftlichen Gebieten erbracht hat. Auf der Grundlage der
    beiden Editionsbände soll dann eine umfassende Monographie über Leben, Werk und
    Wirkung Marianne Beths das ambitionierte Forschungsprojekt abschließen.
       Alle hier edierten Briefe sind – mit Ausnahme von vier, an Elise Richter adressier-
    ten – im Jerusalemer Archiv der Familie Weisl aufbewahrt und lassen sich nach den
    jeweiligen Wohnsitzen der Verfasserin in vier aufeinanderfolgende Zeitabschnitte glie-

    6 Marianne Beth  : Lernen und Arbeiten. In  : Führende Frauen Europas. In sechzehn Selbstschilderungen.
      Hg. und eingeleitet von Elga Kern. München  : Reinhardt 1928, S. 94–115.
    7 Elise Richter  : Erziehung und Entwicklung. In  : Führende Frauen Europas (Anm. 6), S. 70–93.

                       © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien
                  ISBN Print: 9783205213406 — ISBN E-Book: 9783205213413
Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

Vorwort                                                                                                 11

dern  : 1. 20 Briefe aus Wien (1926–1939), 2. 25 aus Portland und Chicago (1939–1945),
3. 85 aus Chicago (1946–1960), 4. 70 aus New York (1960–1974). Die Datierung der
Briefe aus dem Exil erwies sich indes für den Herausgeber nicht selten als ein schwie-
riges Unterfangen, da Marianne Beth mit Zeitangaben sehr eigenwillig verfuhr. »Ich
datiere keine Briefe«, wehrte sie von vornherein diesbezügliche Vorhaltungen ihres Bru-
ders Wolfgang von Weisl ab, »weil ich gewöhnlich keine Ahnung habe, welches Datum
es ist. Wenn ich ein Datum schreibe, kannst Du Gift darauf nehmen, dass es falsch ist«
(Nr. 105, 1. August 1957, S. 311). So ließen sich die Datierungen einer Reihe von Brie-
fen nur indirekt auf Umwegen rekonstruieren, bis sich eine schlüssige, nachvollziehbare
Chronologie ergab, wie sie nunmehr vorliegt.
   Fast alle hier edierten Briefe Marianne Beths sind an engere Familienangehörige
gerichtet, zumeist an ihren Bruder Wolfgang von Weisl, der 1938 noch kurz vor dem
Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich mit Frau, Kindern und Mutter
Charlotte aus Wien über die Schweiz nach Frankreich geflüchtet war, zuerst nach Pa-
ris, dann weiter nach Angers und Marseille. Von dort waren ihm mit seiner Familie
auf dem letzten Schiff vor der Kriegserklärung Mussolinis an Frankreich und England
(10. Juni 1940) die Überfahrt nach Beirut und die Weiterreise nach Palästina geglückt,
wo er sich in Gedera zwischen Jerusalem und Tel Aviv hauptberuflich als Arzt und Lei-
ter eines Sanatoriums niederließ. Als führender Zionist des radikalen revisionistischen
Flügels im Gefolge Wladimir Zeev Jabotinskys, als vielseitiger Schriftsteller und Jour-
nalist, als Organisator und Leiter des ersten Offizierskurses der Hagana in Tel Yosef und
als 52-jähriger Artilleriekommandant 1948 im Befreiungs- und Unabhängigkeitskrieg
gegen die in die Wüste Negev einmarschierten ägyptischen Truppen darf Wolfgang von
Weisl zu den Wegbereitern des Staates Israel gezählt werden.8
   In ihrem letzten hier abgedruckten Brief kondoliert Marianne Beth ihrer verwitwe-
ten Schwägerin Noemi, geb. Zuckermann, deren Mann wenige Tage zuvor, am 21. Feb-
ruar 1974, in Gedera 78-jährig verstorben war. Im Nachhang zu seinem 75. Geburtstag
im Jahre 1971 hatte er als Mitinitiator und Präsident der am 16. Juli 1963 in Wien ge-
gründeten »Österreichisch-Israelischen Gesellschaft« noch das Bundesverdienstkreuz
der Republik Österreich erhalten, ein »Ehrenzeichen«, das in den Augen der noch zehn
Jahre länger lebenden älteren Schwester nicht nur eine »Ehrung« für den Bruder, son-
dern »irgendwie« auch für die ganze Familie Weisl »bis ins tausendste Geschlecht« be-
deutet hatte (Nr. 188, S. 469).

8 Vgl. die beiden kürzlich im Böhlau Verlag erschienenen Bände  : Wolfgang von Weisl. Der Weg eines
  österreichischen Zionisten aus der untergegangenen Habsburgermonarchie zur Gründung des Staates Is-
  rael (2019) und Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus. »Erlöser«, »Der
  Anfang der Wandlung Israels« (2020).

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

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       Nur eine Handvoll der erhaltenen Briefe Marianne Beths sind an andere, ›außen-
    stehende‹ Adressaten gerichtet. Die vier erwähnten Briefe an Elise Richter befinden
    sich in der Wienbibliothek9, der für die Übersendung und Abdruckgenehmigung dieser
    Dokumente herzlich gedankt sei. Sie zeugen von dem – freilich vergeblichen – Versuch
    Marianne Beths, die erste, 1905 an einer deutschsprachigen Universität habilitierte Do-
    zentin und von 1922 bis 1930 Vorsitzende des von ihr als Zweigstelle der »International
    Federation of University Women« gegründeten »Verbands der akademischen Frauen Ös-
    terreichs« für eine offizielle Funktion auch in der »Österreichischen Frauenorganisation«
    zu gewinnen, als deren Gründungspräsidentin seit Mai 1927 Marianne Beth amtierte.
       Ansonsten gibt es nur mehr fünf an andere Persönlichkeiten adressierte Briefe, da-
    von der letzte aus dem nationalsozialistisch »gleichgeschalteten« Wien vom 15. Jänner
    1939 (Nr. 20), worin sich Marianne Beth bei Dexter Keezer, dem Präsidenten des Reed
    College in Portland, für die Erteilung einer »Lectureship of criminology and sociology«
    bedankt. In höchster Eile kündigt sie ihren Fluchtweg aus Wien an, der sie dann über
    London, wo sie sich noch von Mutter, Bruder Wolfgang und Schwägerin Noemi ver-
    abschieden konnte (vgl. Nr. 27, 4. Juni 1940, S. 158), nach Southampton und von dort
    weiter auf dem britischen Schiff »Georgic« nach Amerika führte.
       Aus Portland schrieb Marianne Beth am 10. Juni 1940 einen Brief an David Nach-
    mansohn (Nr. 28), einen angesehenen Medizinprofessor an der Columbia University in
    New York, der sich für die weltweite Scientific Community sowie für die Emigration
    von Gelehrten, insbesondere aus Hitlerdeutschland, nach Amerika engagierte, und erbat
    seine Unterstützung für einen Asylantrag ihres Bruders Wolfgang und des mit ihm in
    Paris zusammenarbeitenden Krebsforschers Eduard Jacobs, der nach der Machtüber-
    nahme Hitlers aus der Berliner Charité nach Frankreich geflüchtet war.
       Zwei Briefe Marianne Beths aus Chicago, jeweils vom 25. November 1946, der
    eine an Arthur W. Kohler (Nr. 49), Manager der Saturday Evening Post in Philadel-
    phia, der andere an Jacob Landau (Nr. 51), Chef der Jewish Telegraphic Agency in New
    York, befassen sich mit einem Tagebuch, das Wolfgang von Weisl kurz zuvor, vom Juli
    bis September 1946 während seiner von einem vierwöchigen Hungerstreik begleiteten
    Internierung im britischen, 15 Kilometer westlich von Jerusalem gelegenen Militärla-
    ger Latrun niedergeschrieben und in einer vom Deutschen ins Hebräische übersetzten
    Fassung erstveröffentlicht hatte.10 Der Versuch, das Journal ins Englische zu übertragen

     9 Nr. 1, 22. Dezember 1926, S. 101  ; Nr. 5, 12. August 1927, S. 107  ; Nr. 12, 21. März 1929, S. 119  ;
       Nr. 19, 26. Februar 1935, S. 132 (Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Nachlass
       Helene und Elise Richter, H.I.N. 232.203).
    10 WvW  : Tish’im-u-Shenayim Yeme Ma’atsar va-Tsom. Yoman Asir-Tsiyon [92 Tage Haft und Fasten.
       Tagebuch eines Gefangenen von Zion]. Tel Aviv  : N. Tverski 1946.

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

Vorwort                                                                                                 13

und als Buch in einem amerikanischen Verlag oder als Artikelserie in einer amerikani-
schen Zeitung zu publizieren, blieb jedoch erfolglos.11
   Den wertvollsten, weil autobiographisch informationsreichsten dieser Briefe an ›Au-
ßenstehende‹ hat Marianne Beth am 15. Juni 1968 aus New York an den vier Jahre
älteren Gelehrten Naftali Herz Tur-Sinai adressiert (Nr. 164), seit 1933 Professor für
Hebräisch an der Universität Jerusalem, den sie schon 1908 in Wien zu Beginn ihres
Orientalistikstudiums flüchtig kennengelernt hatte.
   Briefe, die an Marianne Beth noch in Wien adressiert wurden, sind keine erhalten.
Wie ihr Sohn Erich in einem Schreiben an Jacob A. van Belzen vom 15. November
2002 mitteilt, hatte die Gestapo 1938 sogleich nach dem »Anschluss« die Wiener Woh-
nung der Familie Beth in der Zitterhofergasse 8 durchwühlt und kofferweise Doku-
mente konfisziert.12 Von den Briefen an die amerikanische Exilantin, die sie »fast alle«
ihrem Sohn Erich weitergegeben hat (vgl. Nr. 186, 26. Mai 1971, S. 467), gibt es nur ei-
nige wenige ihres Bruders Wolfgang aus Gedera in Form rudimentärer, kaum mehr les-
barer Durchschläge im Jerusalemer Familienarchiv. Ihr Sohn Erich wie auch ihre Toch-
ter Nora haben in den USA offenbar keinerlei nachgelassene Dokumente der Mutter
aufbewahrt. Der einst von der Großmutter Charlotte von Weisl in einer bis zum Drei-
ßigjährigen Krieg zurückreichenden, dreihundertjährigen Geschichte ihrer böhmischen
Vorfahren13 beschworene »Familiensinn« ist bei den beiden »fanatisch« amerikanisierten
(vgl. Nr. 43, 15. März 1945, S. 197) Enkelkindern vollständig verblasst.
   Die Einleitung zu den hier edierten Briefen gliedert sich zeitlich und örtlich in zwei
Teile  : Marianne Beths erste Lebenshälfte in Wien, die zweite im amerikanischen Exil.
Ein Stellenkommentar zu den Briefen beschreibt deren materielle Beschaffenheit, bietet
Namen- und Begriffserklärungen, Angaben zu den oft nur beiläufig erwähnten Fami-
lienangehörigen und zu Personen des öffentlichen Lebens, Politikern, Schriftstellern,
Gelehrten, Medizinern, Psychologen, Philosophen, Künstlern etc., dazu Hinweise auf
inneramerikanische und globale politische Ereignisse, Konflikte und Kriege, ferner
Zitatbelege und Entschlüsselungen historischer und literarischer Anspielungen. Der
Anhang enthält eine Zeittafel mit den relevanten biographischen und in den Briefen
thematisierten historischen und politischen Fakten, ein Familienstemma der meist-
erwähnten Verwandten, eine nach gegenwärtigem Forschungsstand vervollständigte
Bibliographie der Schriften Marianne Beths, der von ihr gelesenen und ihrem Bruder
Wolfgang zur Lektüre anempfohlenen Werke anderer Autoren und Autorinnen sowie

11 Die deutschsprachige Originalfassung erschien erst 2019 (LW V 389–527).
12 Belzen  : Religionspsychologie (Anm. 4), S. 102.
13 Böhmische Juden auf Wanderschaft (Anm. 1).

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    der einschlägigen, verwendeten und weiterführenden Forschungsliteratur. Den Ab-
    schluss bildet ein Personenregister.
       Mein besonderer Dank gilt Barbara Lorenz für die Beratung in juristischen und re-
    ligionswissenschaftlichen Fragen, für Übersetzungshilfen, für die Digitalisierung von
    Marianne Beths orientalistischer Dissertation sowie für die kritische Durchsicht der
    Druckvorlage des gesamten Bandes. Bedankt seien Patrizia Gruber und Yaakov von
    Weisl für das Abfotografieren und Scannen der Briefe im Jerusalemer Familienarchiv,
    meine Tochter Dorit für das mühsame Abtippen der oft nur mehr schwer zu entziffern-
    den englischsprachigen Briefe. Last but not least danke ich der Großnichte Marianne
    Beths, Niva von Weisl, die – wie schon für die ersten drei publizierten Weisl-Bände
    (Anm. 1, 8) – auch diesmal wieder ihr Familienarchiv großzügig mit Rat und Tat ge-
    öffnet und meine Mitarbeiterinnen und mich persönlich während unserer Forschungs-
    aufenthalte in Jerusalem stets umsichtig und gastfreundlich betreut hat. Und zu guter
    Letzt danke ich den Mitarbeiterinnen des Böhlau Verlags für die nun schon mehrfach
    bewährte Zusammenarbeit  : Ursula Huber für die umsichtige Programmplanung, J­ ulia
    Roßberg für das verlässliche Projektmanagement, Vera M. Schirl für das sorgfältige
    Korrektorat und Michael Rauscher für die gefällige Herstellung des Satzes.

                                                                             Graz, zum Jahresbeginn 2021
                                                                                    Dietmar Goltschnigg

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

Abkürzungen und Zitierweise

Querverweise auf die Briefe werden mit deren Nummern, Datierungen und Seiten-
zahlen belegt.

AÖFV           Allgemeiner Österreichischer Frauenverein
BÖFV           Bund Österreichischer Frauenvereine
ChvW           Charlotte von Weisl
FIFMA          Fédération Internationale des Femmes Magistrats et Avocats
GmF            Böhmische Juden auf Wanderschaft über Prag nach Wien. Charlotte von
               Weisls Familiengeschichte. Text, Kontext, Kommentar, Analyse. Hg. von
               Dietmar Goltschnigg unter Mitarbeit von Charlotte Grollegg-Edler (†),
               Patrizia Gruber, Niva von Weisl. Wien, Köln, Weimar  : Böhlau 2020.
ICW            International Council of Women
IFBPW          International Federation of Business and Professional Women
LWV            Wolfgang von Weisl. Der Weg eines österreichischen Zionisten vom Unter-
               gang der Habsburgermonarchie zur Gründung des Staates Israel. Texte und
               Kontexte, Analysen und Kommentare. Hg. von Dietmar Goltschnigg unter
               Mitarbeit von Charlotte Grollegg-Edler (†), Patrizia Gruber, Victoria
               Kumar, Barbara Lorenz, Niva von Weisl. Wien, Köln, Weimar  : Böhlau
               2019.
MB             Marianne Beth
NFP            Neue Freie Presse (Wien)
ÖFO            Österreichische Frauenorganisation
WvW            Wolfgang von Weisl
ZfRP           Zeitschrift für Religionspsychologie (Wien)

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A. Einleitung

                                             Ihre Briefe sind politische und menschliche Dokumente
                                                       von blendender Geistesschärfe (WvW, 1968).1

                        Wir haben ja so viel überlebt  : Hitler, Nasser und die katholische Kirche.
           Wer uns das prophezeit hätte, den hätten wir für verrückt gehalten (MB, 1970, S. 460).

1. Wien

Elternhaus, Jugend, Orientalistik-Studium

Im Jahre 1928 veröffentlichte die deutsche Publizistin und Biologin Elga Kern eine
Sammlung von Selbstporträts Sechzehn führender Frauen Europas.2 Aufnahme fanden
Politikerinnen (vorwiegend Frauenrechtlerinnen), Natur- und Geisteswissenschaftlerin-
nen, Ärztinnen, Schriftstellerinnen, Komponistinnen und Künstlerinnen aus Deutsch-
land, England, Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, Italien, Frankreich, Russ-
land und der Schweiz.3 Auch Österreich war in dieser illustren Gesellschaft vertreten,
und zwar durch zwei evangelisch getaufte Wiener Jüdinnen  : Elise Richter (1865–1943),
1897 die erste Maturantin und 1905 die erste Universitätsdozentin (Romanistin) Ös-

1 Wolfgang von Weisl an Naftali Herz Tur-Sinai, 25. Mai 1968 (unveröffentlichter Brief im Archiv
  der Familie Weisl, Jerusalem).
2 Führende Frauen Europas. In sechzehn Selbstschilderungen. Mit einem Selbstporträt von Käthe Koll-
  witz. Hg. und eingeleitet von Elga Kern. München  : Reinhardt 1928.
3 Mary S. Allen, Kristine E. H. Bonnevie, Margery Irene Corbett-Ashby, Rhoda Erdmann, Henni
  Forchhammer, Maria Anna van Herwerden, Alexandra Kollontai, Käthe Kollwitz, Elisabeth Kuyper,
  Selma Lagerlöf, Gina Lombroso-Ferrero, Anna de Noailles, Elise Richter, Alice Salomon, Maria
  Waser, Gertrud Johanna Woker. MBs Beitrag wurde in einer Rezension des Bandes aus der Feder
  der Grazer Redakteurin Helene Wagner gewürdigt  : »Mit Bewunderung folgt man ihrem arbeits-
  reichen, arbeitsfreudigen Lebensweg und staunt über das Vollbrachte. Unermüdlich, wo es gilt zu
  gestalten, zu raten und zu helfen, ist sie bemüht, den Frauen Österreichs für ihre idealen und prakti-
  schen Bestrebungen ein Zentrum zu schaffen. Wer Dr. Marianne Beth kennt, weiß, dass sie vor allen
  zur Führerschaft in Österreich berufen ist« (H. W.  : Führende Frauen Europas. In  : Die Frau und ihre
  Interessen. Österreichische Frauenzeitung, Graz, Nr. 7, Jänner 1928, S. 2, kursiv  : Hg.).

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    terreichs, und Marianne Beth, 1921 die erste promovierte Juristin und 1928 die erste
    niedergelassene Rechtsanwältin Österreichs, die schon 1912 ebenfalls als erste Frau an
    der Wiener Universität in der Fachrichtung Orientalistik das philosophische Doktorat
    erworben hatte.4 Während Elise Richter nach dem »Anschluss« Österreichs an Hitler-
    deutschland im Oktober 1942 mit ihrer vier Jahre älteren Schwester, der vielfach ausge-
    zeichneten Anglistin und Theaterwissenschaftlerin Helene Richter, nach Theresienstadt
    deportiert wurde, wo beide ums Leben kamen – Helene schon wenige Wochen nach
    ihrer Ankunft im Lager, Elise sieben Monate später, im Juni 1943, – war Marianne
    Beth noch im Jänner 1939 die Flucht nach Amerika geglückt, wo sie jedoch weder ihre
    vielseitige wissenschaftlich-akademische noch ihre berufliche Karriere als Rechtsanwäl-
    tin fortsetzen konnte oder wollte.
       Marianne wurde 1890 in Wien-Mariahilf als erstes Kind Ernst Franz und Charlotte
    Weisls geboren, die beide kurz zuvor aus Prag nach Wien übersiedelt waren, wo ihre
    zurück über drei Jahrhunderte dokumentierte, stets habsburgtreue, böhmisch-jüdische
    Familiengeschichte ihren großbürgerlich-feudalen Höhepunkt und schon wenige Jahr-
    zehnte später ihr tragisches, unwiderrufliches Ende fand. Der Vater, seit 1886 vielbe-
    schäftigter und vermögender Anwalt in Wien, erlangte als Experte für österreichisches
    und europäisches Militärstrafrecht hohe internationale Anerkennung und wurde für
    seine Leistungen im September 1918, zwei Monate vor dem Ende des Ersten Welt-
    kriegs, vom letzten habsburgischen Kaiser Karl I. mit dem Orden der Eisernen Krone
    nobilitiert.5 Als enger Mitarbeiter des drei Jahre jüngeren, ebenfalls juristisch ausgebil-
    deten Theodor Herzl leitete Ernst Franz von Weisl in Wien die zionistische Bezirksor-
    ganisation Mariahilf-Neubau und befasste sich als langjähriger Präsident der Österrei-
    chisch-Ungarischen Kolonialgesellschaft (1898–1914) und Mitbegründer des Jüdischen
    Kolonisationsvereins (1904) vorzugsweise mit zionistischen Siedlungsprojekten, wie
    z. B. in Zypern oder Afrika, zur Vorbereitung auf »die große Rechnung«, die Schaf-
    fung einer jüdischen »Heimstätte« in Palästina.6 Mariannes Bruder Wolfgang von Weisl
    (1896–1974) spielte als Nahostexperte der zum Ullstein-Konzern gehörenden Berliner
    Vossischen Zeitung und der Wiener Neuen Freien Presse sowie seit den 1920er Jahren als
    revisionistischer Zionist unter der Ägide seines großen Vorbilds Wladimir Zeev Jabo-
    tinsky eine führende politische Rolle, sowohl in Österreich als auch vor Ort in Palästina.

    4 Siehe die Würdigung der beiden Österreicherinnen durch den zionistischen Schriftsteller Heinrich
      York-Steiner  : Wienerinnen als führende Frauen Europas. In  : Der Tag (Wien), 18. Dezember 1927,
      S. 20.
    5 Siehe Nr. 62, S. 233, Anm. 352.
    6 Ernst Franz Weisl  : Die ostafrikanische Besiedelungsfrage. In  : Jüdisches Volksblatt (Wien), 4. Sep-
      tember 1903.

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

1. Wien                                                                                                  19

   Wie sich Marianne Beth in ihrem Selbstporträt von 1928 nicht ohne einen gewissen
Stolz erinnerte, brauchte sie »niemals eine öffentliche Schule« zu besuchen,7 sondern
genoss – wie auch andere Töchter aus wohlhabendem jüdischem Elternhaus (z. B. die
beiden Schwestern Helene und Elise Richter) – das Privileg eines exklusiven Haus-
unterrichts, in den ersten Jahren vor allem durch ihre Mutter, eine akademisch aus-
gebildete Volks- und Bürgerschullehrerin, die in Prag die Staatsprüfungen für Englisch,
Französisch und Italienisch abgelegt hatte und außerdem fließend Tschechisch sprach.
Dieselben Sprachen beherrschte auch der Vater, zudem noch Russisch und Spanisch.
Mit acht Jahren übersetzte Marianne unter mütterlicher Anleitung Wilhelm Hauffs
historischen Roman Lichtenstein (1826) ins Französische. Die frühentwickelte und von
den Eltern geförderte multilinguale Begabung bildete die Basis für ihren weiteren Le-
bensweg bis ins amerikanische Exil, wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg hauptberuflich
in der Forschungsabteilung einer großen Ölindustriegesellschaft mit geologischen und
ökonomischen Übersetzungen beschäftigt war. Stets hatte Marianne als Kind ihre Nase
in irgendein Buch gesteckt, »sogar beim Schuhanziehen oder Frisieren«. In den folgen-
den Jahren wurde ihre Mutter durch einen »tüchtigen«, aus der Ukraine eingewanderten
Hauslehrer, einen zionistischen Sozialisten und Theologen namens Michael Berkowitz,
abgelöst, den sie noch viele Jahrzehnte später als einen ihrer wichtigsten Mentoren wür-
digte.8 Alljährlich legte Marianne als Externistin bis zur Matura (1908) am »strengsten
Wiener öffentlichen Knabengymnasium«, dem »k.u.k. akademischen«, die erforderli-
chen Semesterprüfungen ab, selbstverständlich mit »lauter vorzüglichen« Zensuren. Mit
geringerem Erfolg und größeren Anstrengungen hatte elf Jahre zuvor, am 15. Juli 1897,
an eben dieser Schule die damals bereits 32-jährige Elise Richter als erste Frau in der
Habsburgermonarchie die Matura geschafft.9
   Schon während ihrer Gymnasialzeit war Marianne Beth selbst eine gestrenge Haus-
lehrerin geworden und hatte als solche ihre beiden jüngeren Brüder Wolfgang und

7 MB  : Lernen und Arbeiten. In  : Führende Frauen Europas (Anm. 2), S. 96, daraus, sofern nicht anders
  nachgewiesen, die autobiographischen Zitate und Daten auf den folgenden Seiten.
8 Michael Berkowitz (Nr. 164, 15. Juni 1968, S. 428, Anm. 1031).
9 Bis 1892 war Mädchen in Österreich-Ungarn der Gymnasialbesuch nicht gestattet, erst seit Früh-
  jahr 1896 wurden sie zur Reifeprüfung zugelassen. Als Kommissionsvorsitzender hatte bei Elise
  Richters Reifeprüfung ein klassischer Philologe und »erklärter Feind des beginnenden Frauenstu-
  diums« zwei Stunden lang versucht, die erste k.u.k. Maturantin durchfallen zu lassen. Keinem der
  gymnasialen Prüfer war eine Fragestellung erlaubt  : »Als es sich unmöglich erwies, eine Fehlant-
  wort zu erzielen, setzte er [der Vorsitzende] es wenigstens durch, dass ich aus beiden Gegenstän-
  den ›Genügend  !‹ (Note IV ) bekam. Ich wurde förmlich krank über diese zwei Vierer – aber ich
  war ›Durch‹.« (Elise Richter  : Erziehung und Entwicklung. In  : Führende Frauen Europas, Anm. 2,
  S. 81 f.).

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

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    Georg unterrichtet. Dass sie nach der Matura an der Universität studieren würde, war
    von vornherein festgelegt, nur der Studienwahl stellten sich zunächst einige Schwierig-
    keiten entgegen. Der patriarchalische Vater hatte sich als erstes Kind einen Buben als
    späteren Fachkollegen, Mitarbeiter und Nachfolger in seiner Kanzlei gewünscht. Als
    ihm dann aber »nur« eine Tochter geboren wurde, machte er aus der Not eine Tugend.
    Er erzog sich Marianne gleichsam als Ersatz »zum Sohn« und impfte ihr von Anfang
    an ein reges Interesse für juristische Fragen ein. Da aber Frauen in Österreich im Jahre
    1908 zum Studium der Rechtswissenschaften noch nicht zugelassen waren, inskribierte
    sie vorerst einmal als »ordentliche Hörerin« an der Philosophischen Fakultät10 der Wie-
    ner Universität das Fach Orientalistik und besuchte daneben als Hospitantin einzelne
    Lehrveranstaltungen an der Rechtswissenschaftlichen und auch an der Evangelisch-
    Theologischen Fakultät.
       Im Laufe ihres Orientalistikstudiums erlernte sie zum authentischen Verständnis der
    antiken Texte auch gleich die originalen Schriftsprachen mit – Arabisch, Syrisch, Assy-
    risch, Hebräisch, Koptisch und Ägyptisch  :

        Ich war mir bewusst, dass man eine Quelle, die man nicht in der Ursprache gelesen hat, nie
        verarbeiten darf – auch die beste Übersetzung entbehrt der schwingenden Obertöne, der aus-
        schlaggebenden Nebenbedeutungen des echten Textwortes und kann daher nur einen Teil des
        ursprünglichen Sinnes vermitteln.11

    Marianne Beth war nicht nur die erste weibliche Studierende am Wiener Orientalistik-
    institut, sondern – wie erwähnt – dort auch die erste Absolventin.12 1912 schloss sie ihr
    Studium innerhalb von kaum vier Jahren mit der Promotion zum Doktor der Philo-
    sophie ab, nach Approbation einer von dem angesehenen Orientalisten David Heinrich
    Müller13 betreuten und vorzüglich bewerteten Dissertation, deren Thema Eigentums-
    veränderungen im israelitischen und babylonischen Recht altorientalistische mit juristi-
    schen Fragestellungen verknüpfte. Bereits in dieser ersten Arbeit legte die 22-jährige
    Doktorandin den Grundstein für ihre künftigen, weitgespannten interdisziplinären und
    komparatistischen Forschungen. Die Dissertation war als Replik auf den aufsehenerre-

    10 In Österreich waren Frauen seit 1897 zum Philosophiestudium zugelassen (zum Medizinstudium
       seit 1900).
    11 MB  : Lernen und Arbeiten (Anm. 7), S. 99.
    12 Schreiben von Frau Gisela Procházka-Eisl, Professorin am Wiener Institut für Orientalistik, 20.
       November 2020.
    13 Vgl. Nr. 164, 15. Juni 1968, S. 427, an Naftali Herz Tur-Sinai. – Ausgangs- und Anknüpfungspunkt
       von MBs Dissertation ist David Heinrich Müllers Studie Die Gesetze Hammurabis und ihr Verhält-
       nis zur mosaischen Gesetzgebung sowie zu den XII Tafeln (Wien  : Hölder 1903).

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

1. Wien                                                                                                  21

genden internationalen Berliner »Babel-Bibel-Streit«14 angelegt, den der Assyriologe
Friedrich Delitzsch 1902 mit der These provoziert hatte, dass die jüdische Religion und
die Schilderungen des Alten Testaments auf babylonische Vorlagen zurückzuführen
seien. Anhand der alttestamentarischen Priesterschrift als jüdischer Quellentext und
des Codex Hammurabi als babylonisches Regelwerk untersuchte die Dissertantin ver-
gleichend eigentumsrelevante Rechtsinstitute (Erbschaft, Schenkung, Kauf, Verpfän-
dung, Erwerb, Übertragung, Eigentumsverlust), wobei – entgegen den von Delitzsch
vorgetragenen Thesen – die Unterschiede und Gegensätze zwischen den israelitischen
und den babylonischen Rechtsordnungen ganz bewusst stärker ins Blickfeld gerückt
wurden als deren Gemeinsamkeiten  : »Beständigkeit« bilde »die Grundlage des bibli-
schen Rechts« im »schwer um seine Existenz ringenden Kleinstaat Israel-Juda«, wäh-
rend in Babylon, der »Wiege der Menschheit« und »dem Haupt der Welt«, der »Wech-
sel« als »Lebensprinzip« vorherrsche.15 Marianne Beths Doktorarbeit zeichnet sich be-
sonders auch dadurch aus, dass sie keinem historistischen Selbstzweck dient, sondern
wiederholt Bezüge auch zum modernen deutschen und österreichischen Recht bis ins
späte 19. Jahrhundert herstellt. Auf den »Babel-Bibel-Streit« wird sie dann vor ihrer
Flucht nach Amerika noch einmal in ihrer letzten gedruckten Arbeit zurückkommen,
in der sie sich mit »der Ausdeutung der aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. überlieferten alt-
semitischen Texte befasst, die aus phönizischem Gebiet, und zwar aus Ras-Šamra an der
Nordküste Syriens stammen«.16

Taufe, Heirat, Familie

Der früh an den Religionswissenschaften interessierten Orientalistikstudentin war so-
wohl vom Rabbinerseminar wie auch von der Katholisch-Theologischen Fakultät der
Zugang zum Studium verwehrt worden, nur die Evangelisch-Theologische Fakultät
hatte sie als »außerordentliche Hörerin« akzeptiert. Hier lernte sie den Hofrat Professor
Karl Beth kennen, einen angesehenen Religionsphilosophen und Religionspsychologen,
der 1906 im jugendlichen Alter von 34 Jahren aus Berlin nach Wien als Ordinarius für

14 Den jahrelangen »Babel-Bibel-Streit« hatte Friedrich Delitzsch (1850–1922) am 13. Januar 1902 in
   Berlin in einem Vortrag vor der Deutschen Orientgesellschaft in Anwesenheit des beeindruckten
   deutschen Kaisers Wilhelm II. ausgelöst, wogegen konservative jüdische wie christliche Gelehrte
   mit scharfen Polemiken reagierten. Eine der Nebenfolgen des Berliner »Babel-Bibel-Streits« war
   die Popularisierung der deutschen Ausgrabungen in Vorderasien, insbesondere in Babylon. De-
   litzschs maßgebliches Buch Handel und Wandel in Altbabylonien (Stuttgart  : Deutsche Verlagsanstalt
   1910) wird von MB in ihrer Dissertation (S. 70) zitiert.
15 MB  : Eigentumsveränderungen im israelitischen und babylonischen Recht, S. 71.
16 Vgl. MB  : Die Religion von Ras-Šamra. In  : ZfRP (Wien) 10 (1937), S. 158–165.

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    Systematische Theologie berufen worden war und hier später auch mehrmals als Dekan
    der Evangelisch-Theologischen Fakultät amtierte. Spontan von Inhalt, Methodik und
    Rhetorik seiner Lehrveranstaltungen begeistert, versäumte Marianne fortan keine ein-
    zige mehr, und nach nur zwei Jahren »entschloss« sich die zwanzigjährige Dissertantin
    der Orientalistik – nach ihren eigenen Worten – kurzerhand, den »verehrten Lehrer« zu
    ehelichen, zum »rechten Schrecken« nicht nur ihrer Kommilitonen, sondern auch ihrer
    Eltern und Brüder.
       Denn Marianne war, wie ihre Mutter in der Familienchronik zu berichten wusste,
    nicht nur eine geborene und im Elternhaus mustergültig sozialisierte Jüdin, sondern vor
    allem auch eine »glühende Zionistin«, »die erste Universitätsstudentin, die bei der Im-
    matrikulation ›Muttersprache Deutsch, Nationalität Jüdisch‹ angegeben hatte« (GmF
    270), was von der zionistischen Presse, sogar außerhalb Wiens, mit Genugtuung zur
    Kenntnis genommen worden war. Die Prager Zeitschrift Jung Juda hatte dieser Tatsache
    eine eigene Kundmachung unter der Schlagzeile Die erste jüdische Akademikerin in Wien
    gewidmet  :

       Bekanntlich ist es nach jahrelangen Anstrengungen unserer nationalbewussten akademischen
       Studentenschaft in Wien gelungen, von den akademischen Behörden die Anerkennung der
       jüdischen Nationalität zu erlangen. Die heurige Einschreibung auf der Wiener Universität
       brachte nun die erste Anmeldung einer Akademikerin, die im Nationale »jüdische« Nationali-
       tät bei deutscher Umgangssprache angab. Es ist dies die ordentliche Hörerin der Philosophie,
       Fräulein M a r i a nne Weisl , unsere langjährige Abonnentin, die 18jährige Tochter eines
       Wiener Advokaten, welche übrigens die hebräische Sprache auch als Konversationssprache
       vollständig beherrscht. Dass das Studium der hebräischen Sprache die junge Dame nicht an
       den übrigen Studien behinderte, ist der beste Beweis, dass sie das erste Mädchen in Wien
       war, das an einem Knabengymnasium als Externistin die sämtlichen Gymnasialklassen vom
       Beginne bis zur Matura glänzend absolvierte. Dies unserer weiblichen Jugend als Beispiel einer
       nationalbewussten Betätigung.17

    Nun aber ließ sich das 21jährige nationaljüdische »Fräulein« urplötzlich am 19. Mai
    1911 evangelisch taufen, um schon vier Monate später, am 11. September 1911, ihren
    Taufpaten, noch dazu einen Theologen, heiraten zu können. Marianne war in der sieben
    Generationen zurückzuverfolgenden Reihe ihrer direkten Vorfahren die einzige Frau,
    die diesen tabubrechenden Schritt beging. Die interkonfessionelle »Mischehe« galt als
    ultimative, irreversible Stufe der jüdischen Assimilation an die christliche Mehrheits-
    gesellschaft und wurde in der Regel von Zionisten, so auch an vorderster Front von

    17 Jung Juda. Zeitschrift für unsere Jugend (Prag) 9 (1908), Nr. 22 (30. Oktober), S. 348 f. (kursiv  : Hg.).

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Dietmar Goltschnigg (Hg.): Marianne Beth: Ein brüchiges Leben in Briefen aus Wien und dem amerikanischen Exil

1. Wien                                                                                                  23

Mariannes Vater unnachsichtig angeprangert. Acht Jahre vor der Eheschließung sei-
ner Tochter, 1903, hatte Ernst Franz Weisl noch öffentlich gegen jegliches »jüdische
Renegatentum« gewettert und vor allem die mit der christlichen Taufe einhergehende
»Mischehe« als »Rassenmord« im Sinne eines noch sträflicheren Selbstmords gebrand-
markt.18 Dementsprechend hämisch fielen nun die Reaktionen anderer Zionisten auf
den Religionsübertritt Mariannes aus. Die wöchentlich in der Wiener Jüdischen Zeitung,
dem »National-Jüdischen Organ« Österreichs, veröffentlichte Liste der Überläufer reihte
die Abtrünnige mit penibler Angabe der Wohnadresse in die Rubrik der Interessanten
Tauffälle ein  :

   Fr l. M a r i a nne Weisl , Universitätshörerin, VII., Kirchengasse 48, ließ sich von einem
   evangelischen Theologen ihrerseits zur Ehe und zum Luthertum bekehren. Frl. Weisl ist die
   Tochter des Advokaten Dr. Ernst Franz Weisl, der als Mitarbeiter Herzls begann, dann Mit-
   glied des Jüdischen Kolonisationsvereins – Observanz Alfred Stern19 – wurde und schließlich
   den Zutritt zu den feinsten christlichen Gesellschaftskreisen gefunden hat.20

Dass seine Schwester »einen Nichtjuden zum Mann genommen hatte, war ein schwe-
rer Schlag für beide Eltern«, erinnerte sich Bruder Wolfgang noch gegen Ende seines
Lebens in seinen Memoiren (LWV 200). Wohlgemerkt  : Marianne hatte sich Karl Beth
»zum Mann« und nicht dieser sich Marianne ›zur Frau genommen‹  ! »Wie es so weit
kam, dass sie sich in den stattlichen, aber viel älteren21 Mann verliebte, ist ein Kapitel für
sich«, gestand schicksalsergeben die konsternierte Mutter. »Ernst [ihr Mann] war ver-
zweifelt, er sah, wie Marianne unter der Unmöglichkeit litt, den ›Christen‹ zu heiraten.
Ich konnte den Jammer zu Hause nicht aushalten« (GmF 270 f.). Heinrich York-Stei-
ner, ein enger Mitarbeiter Theodor Herzls und treuer Freund der Familie Weisl, erin-
nerte noch eineinhalb Jahrzehnte später an die »zweijährige Brautzeit voller seelischer

18 Ernst Franz Weisl  : Rassenmord. Die Entsittlichung des Ehelebens der Juden der »besseren« Stände. In  :
   Jüdisches Volksblatt (Wien), 1. Mai 1903.
19 Alfred Stern (1831–1918)  : Rechtsanwalt, 1903 bis 1918 Präsident der Wiener Kultusgemeinde.
20 Liste der Überläufer vom 4. bis 11. Juli 1911. In  : Jüdische Zeitung. National-Jüdisches Organ (Wien)
   5 (1911), Nr. 28 (14. Juli), S. 7. Vgl. auch die von Saul Raphael Landau, dem vormaligen Chefredak-
   teur des zionistischen Zentralorgans Die Welt und späteren gehässigen Gegner Theodor Herzls, he-
   rausgegebene Neue National-Zeitung vom 2. Juni 1911, S. 10, wo Marianne Weisl in der Jahresliste
   1911 der Ausgetretenen als Nr. 224 gezählt wird. Ungeachtet dieses aufsehenerregenden, die Wiener
   Zionisten verstörenden Ereignisses findet sich im Briefkasten der Redaktion derselben Zeitung vom
   28. Juli 1911, S. 12, der Vermerk, dass – trotz dieser »Mischehe« – der »Designierung« von Mari-
   annes Vater Dr. Ernst Franz Weisl »für ein Kultusvorsteher-Mandat gar nichts im Wege stehe«.
21 Karl Beth, geboren 1872 in Förderstedt/Sachsen-Anhalt, war 18 Jahre älter als seine Frau Marianne.

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