Skiffle, Schlurfs und Skandale

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Skiffle, Schlurfs und Skandale
Skiffle, Schlurfs und Skandale | norient.com                              20 Sep 2021 11:35:44

    Skiffle, Schlurfs und Skandale
    by Heinrich Deisl

    Im dreiteiligen Buchprojekt Im Puls der Nacht spannt skug-
    Chefredakteur Heinrich Deisl einen Bogen von der «guten
    alten» Kaiserzeit bis heute und zeigt popkulturell
    bedeutsame Stationen und Locations in Wien auf. Im Puls der
    Nacht ist ein alternativer Kulturgeschichte-Soundtrack, der
    sich im letzten Jahr erschienenen ersten Band aus dem Art
    Club, dem «Herrn Karl» und der Informellen Gruppe, dem
    Strohkoffer, Filmen wie The Sound of Music und Schamlos
    und der Musik von Max Brand, Anton Karas und der Worried
    Men Skiffle Group zusammensetzt. Für diesen kleinen
    Einblick in das Buch hat Deisl Teile über Wiener Poptheorie
    und über Novak’s Kapelle kompiliert.

    Popinterventionen in Wien
    Noch immer verstellt die medial allgegenwärtige klassische Musiktradition
    Wiens den Blick auf seine sub- und popkulturellen Phänomene. Das Erbe der
    Ersten und Zweiten Wiener Schule ist weiterhin derart gewichtig, dass es in
    der internationalen Betrachtung die populärkulturell relevante
    Musikproduktion schlicht ver- und zudeckt.

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    Avancierte Pop-Ansätze in der Zwischenkriegszeit – Musikkabarett, Jazz –
    waren ab 1934 radikal unterdrückt worden. Und die offene Phase unter der
    alliierten Besatzung zwischen 1945 und 1955 wurde durch den rigiden
    Kulturkonservativismus des darauf folgenden Jahrzehnts wieder
    zurückgenommen. Erst mit dem «Schnulzenerlass» durch den ORF-
    Intendanten Gerd Bacher wurde 1968 internationaler Pop in Österreich
    konsensfähig. Mit der Arena-Besetzung 1976 als verspäteter «Summer of
    Love» als letzte Vorphase und durch Falcos «Rock me Amadeus» als
    Konsolidierung war schließlich auch Wien im Lande Pop angelangt und
    konnte an seiner popkulturellen Traditionsbildung arbeiten.

    Bereits in der Zwischenkriegszeit hatte es in Wien rebellische Jugendgruppen
    gegeben, nämlich die «Schlurfs», die Arbeiterjugendliche waren, und die
    «Swings» mit einem weitestgehend gutbürgerlichen Hintergrund. Um als
    verdächtig zu gelten, war es seit der Zeit des «Anschlusses» ausreichend
    gewesen, statt eines zackigen «Sieg Heil» ein lockeres «Swing Heil» auf den
    Lippen zu führen. Hier lässt sich eine frühe Form der gegenseitigen
    Kenntlichmachung subkultureller Codesysteme festmachen.

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    Wiener Schlurfs der 1930er-Jahre

    In den 1930er Jahren wurde auf popkultureller Ebene das multiethnische Erbe
    der Kaiserzeit abgewürgt und als filmische Adaption nach Hollywood
    transferiert. Während des Kalten Kriegs kam dieser einst bedeutende
    zentraleuropäische Austausch praktisch komplett zum Erliegen. Wien verlor
    durch die Barriere des Eisernen Vorhangs seinen Status als
    mitteleuropäischer Achsenpunkt und bis 1989 war die Stadt weniger ein Tor

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    zum Osten als vielmehr die «östlichste» Metropole Westeuropas. Diese
    «Randlage» wurde dadurch verstärkt, dass man sich in den fünfziger Jahren
    aus Staatsraison der von den Nationalsozialisten missbrauchten Genres
    zwischen Wiener Klassik und Operette für Umdeutungen, Auslöschungen
    oder Weglassungen der jüngsten Vergangenheit bediente.

    Die enge geistige und kulturelle Atmosphäre der fünfziger und sechziger
    Jahre provozierte geradezu subversive Erscheinungen wie den Wiener
    Aktionismus als die bislang heftigste künstlerische Artikulation der
    Nachkriegszeit. Erst mit der politischen Zäsur der Kreisky-Ära ab 1970 wurde
    wieder versucht, an das vor allem von jüdischen Intellektuellen aus den
    Kronländern geprägte soziokulturelle und bildungsbürgerliche Erbe
    Österreichs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts anzuschließen.

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    Bemerkenswert ist, dass dieser Schwenk zu jener Zeit passierte, als die
    Utopien und Desillusionierungen des Mai ’68 in der gesellschaftlichen Realität
    ankamen: Studentenproteste gegen den Vietnamkrieg, Gründung der RAF,
    aber auch von Greenpeace, Auflösung der Beatles und die Todesfälle von Jimi
    Hendrix, Janis Joplin, Brian Jones und Jim Morrison. Dazu kommen aus
    österreichischer Perspektive die Arena-Besetzung, die Volksabstimmung
    gegen das Atomkraftwerk Zwentendorf (1978) und die Besetzung der
    Hainburger Au (1984/85). Drei Ereignisse, die, abgesehen von den
    Besetzungen des WUK, dann der Gasser- und der Aegidi-/Spalowskygasse,
    das in zivilen Ungehorsam noch weitgehend ungeübte Österreich in seinen
    Grundfesten erschüttern sollten.

    Während Post-Punk, New Wave und Hardcore in Großbritannien und den USA
    von neokonservativen Wirtschaftsbedingungen (Thatcherism/Reaganomics)
    geprägt waren, konnte Österreich von der vergleichsweise Popkultur-affinen
    Politik durch Bruno Kreisky und Wiens Bürgermeister Helmut Zilk (1984–94)
    breitenwirksam profitieren. Wahrscheinlich führte genau dieser
    sozialdemokratisch entschärfte Liberalismus dazu, dass Wiener Punk und
    New Wave eine vergleichsweise weit weniger sozialrevolutionäre Sprengkraft
    entwickelte – oder besser: entwickeln musste. Diese Sprengkraft hatte sich in
    den mittleren und späten Sechzigern mit aktionistischen Statements
    entladen, wie sie in ihrer Radikalität nicht einmal zwischen 2000 und 2003
    durch die Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPÖ provoziert
    werden konnten. Wie die angloamerikanischen Beispiele zeigen, kam aber aus
    politischer Sicht die Vienna Electronica also nicht von ungefähr.

    Im Zenit: Novak’s Kapelle
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    Die prägendsten Rock-Erschütterungen jener Zeit hinterließ die von 1967 bis
    1980 aktive Band Novak’s Kapelle. Ihr psychedelisch aufgeladener, räudiger
    Proto-Punk galt als heimische Antwort auf Iggy & The Stooges. Sie standen
    in dem Ruf, die skandalträchtigste Band des Landes zu sein, wegen ihrer
    außergewöhnlichen Live-Shows wurden sie vom Szeneclub Atrium als
    Hausband engagiert und spielten bei der Eröffnung des VoomVoom.

    Ende Jänner 1969 traten Novak’s Kapelle in der ORF-Sendung «Countdown»
    mit ihrer kurz vorher veröffentlichten Debüt-Single «Hypodermic Needle»
    auf, umrahmt von einer rauschhaften Performance. Gegen Schluss bewegen
    sich die Tänzerinnen in einem Ambiente, bei dem unbestimmt bleibt, ob es
    sich um einen Vulkanausbruch, eine Atombombenexplosion, einen Brunnen
    oder um ein sonstiges, auf jeden Fall sexuell konnotiertes Bild handelt.

    «Als wir ‹Hypodermic Needle› im Konzerthaus aufnahmen, hat es Novak’s
    Kapelle erst gut drei Monate gegeben», erzählt Peter Travnicek,
    Mitbegründer, Bassist und Grafiker der Band. «Wir haben die Musik für die
    beiden Single-Seiten in drei Stunden reingehämmert, es gab praktisch keine
    Überspielungen. Die Konzerte waren durchdesignte Happenings mit
    Lichtshow und Einlagen. In der Nachkriegszeit haben die Leute aufgebaut
    und wir haben uns gebärdet. Zu unseren Konzerten sind bis zu fübnfhundert
    Leute gekommen, aber wenn wir in Österreich auf Tour waren, mussten wir
    bei Bekannten übernachten, weil uns kein Hotel genommen hat, so wie wir
    aussahen und drauf waren.»

    Während «Hypodermic Needle» Heroinkonsum thematisierte und «Doing
    That Rhythm Thing» auf der B-Seite eindeutig zweideutige Anspielungen
    machte, konnte man «Smile Please» auf der Nachfolge-Single (1969) als

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    Gewaltagitation gegen Polizisten verstehen. Der ORF sah es so und setzte die
    Nummer auf die Schwarze Liste. «Für uns war das ja Lyrik, nicht Realität», so
    Travnicek. «Damals war die Polizei eine Kraft. Wenn etwas los war, sind sie
    mit der ‹Grünen Minna› und ihren Stahlhelmen ausgerückt wie in den
    vierziger Jahren.»

    Zu einem Festival in Köln 1969 waren neben The Kinks, Soft Machine und
    Deep Purple auch Novak’s Kapelle eingeladen. Als ob es sich um einen von
    Malcolm McLaren eingefädelten Coup gehandelt hätte, sorgten die Novak’s
    für ein Desaster: Sie mussten mit ihren eigenen Verstärkern spielen, die
    Travnicek zufolge im Vergleich zu den anderen Bands vollkommen
    unterdimensioniert waren und man sich so nicht adäquat hätte präsentieren
    können. Kurzerhand trat die Band von der Bühne ab und ließ ihre Roadies
    weiterspielen. Das Publikum bewarf die Ersatz-Novak’s mit Flaschen und der
    Veranstalter kappte die Stromzufuhr. Quasi als Draufgabe zündeten Novak’s
    Kapelle dann auch noch eine Union-Jack-Flagge an, was zu gehörigen
    Querelen mit den britischen Festival-Bands führte. In einem TV-Interview von
    1977 antwortete Sänger Walla Mauritz auf die Frage, was sie mit ihrer Musik
    ausdrücken wollten: «Ausdrücken woll’ ma nix. Das einzige, was ich je in
    meinem Leben ausdrücken wollte, ist ein Wimmerl».

    1971 wurden Aufnahmen für die Debüt-LP gemacht. Allerdings zog Ariola den
    Deal zurück und die Aufnahmen verschwanden in den Archiven. Zusätzlich
    zum Line-Up waren Padhi Frieberger (The Slaves) am Schlagzeug und
    Thomas Nordegg (The Hards) am Bass engagiert worden. Eine Platte, die
    Travnicek als «totalen Auswurf» bezeichnet. (Die offiziell nie
    herausgebrachten Debüt-Platten von The Slaves und von Novak’s Kapelle
    gelten als Mythos österreichischer Underground-Musik, und seit Jahren
    kursieren Gerüchte um deren Veröffentlichung.)

    In der Folge wurden die EPs Novakskapellelive (1977) und Brennmaterial für
    die 80er (1979) sowie ihre einzige LP Naked (1978) veröffentlicht, 1980 löste
    sich die Band auf. Rock war da schon längst nicht mehr das Gebot der
    Stunde, wenn es bereits Post-Punk (Hotel Morphila Orchestra), Industrial
    (Monoton), Hardcore (Extrem), New Wave (The Vogue) oder Disco
    (Supermax) gab. Gemessen an den österreichischen Verhältnissen, waren sie
    dermaßen zukünftig, dass ein Weitermachen oder gar eine Wiedervereinigung
    nur die eigene Mythenvernichtung bedeutet hätte. Mit Novak’s Kapelle war
    das «Böse-Buben»-Image des Rock auch in Österreich aufgeschlagen, und sie
    waren es, die diesen Mythos zu seinem abschließenden Höhepunkt brachten.

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    → Quellenverzeichnis
    Deisl, Heinrich. 2013. Im Puls der Nacht: Sub- und Populärkultur in Wien, Bd. I: 1955–1976.
       Mit einem Vorwort von Didi Neidhart. Wien: Turia + Kant.

    Der Text ist erstmalig erschienen im Journal für Musik Skug #93, 1-3/2013.

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    → Published on March 24, 2014

    → Last updated on July 27, 2020

    Heinrich Deisl is a Viennese music journalist and pop culture theoretician. He is
    editor in chief of skug – Journal für Musik, produces broadcasts for Radio Ö1, and is
    writing his PhD thesis on sound topographies of Viennese popular culture.

    → Topics

            Counter-Culture
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                  War
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