Solang sie noch am Leben sind

 
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Maximilian Steinbeis
10 September 2021
Mehr als zwei Wochen ist es her, dass das letzte deutsche Evakuierungsflugzeug aus
Kabul abgehoben ist. Was die Bundesrepublik dort zurückgelassen hat, ist ein
Versprechen. Denjenigen Menschen, „für die Deutschland besondere Verantwortung
trägt“, hat die Bundesregierung versprochen, sie „bei der sicheren Ausreise aus
Afghanistan zu unterstützen“. Dieses Versprechen gilt nicht nur den sogenannten
Ortskräften, die in Afghanistan für sie gearbeitet haben, sondern auch „besonders
schutzbedürftigen Menschen“: Menschenrechtsaktivist_innen, Richter_innen,
Journalist_innen, Anwält_innen, Künstler_innen, Intellektuelle, Wissenschaftler_innen –
Menschen mit einem Wort, die wohl ganz überwiegend schon bisher den Versprechen
des Westens vertraut haben und überhaupt dem Traumbild, das so ein rechter
Innenminister sich von einer idealen Asylbewerber_in macht (soweit er nicht eh von ganz
anderen Sachen träumt), ziemlich nahe kommen dürften. Diese Menschen irren in diesen
Tagen in Kabul von Versteck zu Versteck, auf dass sich die Einlösung des deutschen
Versprechens nicht dadurch erledigt, dass die Taliban sie vorher finden.

Zeit spielt also eine gewisse Rolle. Das Versprechen ist obendrein limitiert: es gilt nur für
solche Menschen, „die die Bundesregierung bis zum Ende der militärischen
Evakuierungsaktion als besonders gefährdet identifiziert hat, und denen wir eine Ausreise
mit der Bundeswehr in Aussicht gestellt hatten“. Die verschiedenen Bundesministerien
führen offenbar Listen, auf aber nur die draufkommt, wer sich rechtzeitig – also vor dem
26.8., dem Datum des endgültigen Abzugs – gemeldet hat.

Der Stichtag 26.8. war vorher nirgends kommuniziert worden. Ich habe vor zwei Tagen
mit Tilmann Röder von der FU Berlin gesprochen, der seit Jahren das Auswärtige Amt in
Sachen Rechtsstaatsförderung in Afghanistan berät und die Initiative Luftbrücke
Afghanistan mitgegründet hat, die sich um die Koordination und Sortierung der per Email
eintreffenden Hilferufe aus Kabul kümmert. Er wisse von über 1300 Personen plus
Familien, die wegen dieses Stichtags aus dem Raster fliegen, hat er mir gesagt. Was aus
ihnen werden soll, weiß kein Mensch.

Die Absender der Hilferufe, die vor diesem Stichtag eingelaufen sind, warten um so
länger auf ein Signal aus Berlin. Die Menschen in ihren Verstecken in Kabul wissen
zumeist noch nicht mal, ob sie überhaupt auf so einer Liste stehen. Tilmann Röder sagt,
er wisse von zwei oder drei Fällen, wo jemand kontaktiert worden sei, unter Tausenden.
Und selbst da habe es keinerlei Hinweise gegeben, was jetzt weiter mit ihnen passieren
soll.

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Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (m/w/d) an der Juristischen Fakultät der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gesucht:

Ausschreibung für eine wiss. Mitarbeiter*in-Stelle (50 %, zunächst befristet) zum
nächstmöglichen Zeitpunkt am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Kunst- und
Kulturrecht von Frau Prof. Dr. Sophie Schönberger. Durch die institutionelle
Verknüpfung mit dem PRuF kann bei entsprechender inhaltlicher Ausrichtung auch eine
Einbindung in die Forschungsaktivitäten des Instituts erfolgen.

Bewerbungsfrist ist der 15.09.2021. Weitere Informationen gibt es hier.

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Was geschieht jetzt mit diesen Menschen? Wie läuft das Verfahren? Wer bestimmt über
sie und ihre „besondere Schutzbedürftigkeit“, und nach welchen Kriterien? Das weiß
niemand. Und mit jedem Tag, der vergeht, ohne dass es darauf Antworten gibt, wird das
Versprechen der Bundesrepublik Deutschland an die Menschen, für die sie „besondere
Verantwortung trägt“, weniger wert. In zwei Wochen sind Bundestagswahlen. Mal sehen,
wie viele von ihnen dann noch am Leben sind.

Ich habe am Dienstagabend meine Fragen dazu an die Pressestelle des
Bundesinnenministeriums übermittelt. Heute morgen habe ich angerufen, was denn da
der Stand sei. Die Fragen liegen beim zuständigen Fachreferat, hat es geheißen. Bislang
keine Antwort.

Das Bundesinnenministerium trägt politische Verantwortung für sein Tun und Lassen.
Und wenn es die nicht wahrnimmt, müssen wir es halt tun, die Bürger_innen der
Bundesrepublik Deutschland, die am 26.9. wahlberechtigt sind. Wenn wir sie nicht
wahrnehmen?

Well, that’s on us then.

Rückkehrer
Anders steht es um die Justiz. Die ist unabhängig und damit gerade nicht politisch
verantwortlich. Man kann sie nicht zur Verantwortung ziehen für das, was sie anrichtet.
Man kann nicht mit ihr abrechnen. Das kann sie nur selber tun.

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Hat sie Anlass dazu?

Bis vor sehr kurzer Zeit konnte die deutschen Verwaltungsgerichte in Afghanistan in
vielen Fällen keine „ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der
Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder
innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) für Geflüchtete und damit
kein Recht auf subsidiären Schutz erkennen. Jedenfalls „volljährige, alleinstehende und
arbeitsfähige afghanische Männer“ hätten in Afghanistan auch nicht ohne weiteres
unmenschliche Behandlung zu befürchten, die einer Abschiebung im Wege stehe, und
mussten daher bis zum 11.8., als der Bundesinnenminister diese Praxis endlich
aussetzte, befürchten, in ein Flugzeug gesetzt und nach Kabul geflogen zu werden. Also,
wie wir jetzt wissen und wohl auch schon länger wissen konnten, direkt in die Hände der
Taliban. Die auch und gerade von volljährigen, alleinstehenden und arbeitsfähigen
afghanischen Männern jetzt vermutlich Rechenschaft darüber verlangen, warum sie denn
zu den Ungläubigen geflohen sind, anstatt für Allah zur Waffe zu greifen.

Wie gefährlich es für eine bestimmte Afghan_in in ihrem Heimatland werden kann, ist
keine Rechts-, sondern eine Sachfrage. Das muss erst ermittelt werden. Es ist viel
verlangt von so einer Richter_in irgendwo in Ansbach, eine Prognose darüber
abzugeben, wie gefährlich es für einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Ecke
von Nangarhar denn wohl werden könnte. Aber sie kann sich dazu einer Fülle von
Erkenntnisquellen bedienen; Auswärtiges Amt und EASO wissen allerhand, UNHCR und
die Menschenrechts-NGOs ebenfalls, wobei diese Erkenntnisquellen schnell veralten,
und theoretisch könnte sie auch ein Sachverständigengutachten einholen. Trotzdem
bleibt das ein mühsames und fehleranfälliges Geschäft, zumal so viel davon abhängt,
und manche fänden besser, wenn das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zentrale
„Länderleitentscheidungen“ zu der jeweiligen Gefahrenlage fällen könnte, wie es sie z.B.
in Großbritannien gibt, aber das hat sich politisch nicht durchgesetzt.

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Wie die Richter_in nun die Beweise bewertet – darin ist sie weitestgehend frei. Es gilt der
Grundsatz der freien Beweiswürdigung, und der ist nach der üblichen Formel erst und
insbesondere dann verletzt, wenn sie Umstände ignoriert, „deren

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Entscheidungserheblichkeit sich ihr hätte aufdrängen müssen„. Gehört dazu auch das,
was die Ethnologin Friederike Stahlmann bereits 2018 in einem 354 Seiten starken
Gutachten über das Schicksal herausgefunden hat, das Rückkehrer aus dem Westen in
Afghanistan erwartet?

    Rückkehrer haben diese Wahl (für welche Seite sie arbeiten und kämpfen wollen)
    schon durch ihre Flucht getroffen, indem sie aus Sicht der Taliban ihr Land und ihre
    religiöse Pflicht verraten und sich bewusst dem Machtanspruch der Taliban
    entzogen und statt des Kampfes auf Seiten der Taliban lieber ihr Leben riskiert
    haben, um sich unter den Schutz der Ungläubigen zu stellen. Die Flucht nach
    Europa ist somit ein Akt des politischen Widerstands. Die religiöse Legitimation um
    den Kampf für das Islamische Emirat sorgt zudem dafür, dass diese Feindschaft
    religiös definiert wird. Das bringt in der Konsequenz all jene, die als Gegner
    wahrgenommen werden, in die tödliche Gefahr, zu Apostaten, Spionen oder sogar
    Ausländern deklariert zu werden. (S. 310)

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) in Valetta, eine EU-Agentur,
die für die Asylbehörden der Mitgliedstaaten relevante Informationen über
Herkunftsländer recherchiert, veröffentlichte – gestützt auch auf Stahlmanns Forschung –
im September 2020 einen Bericht über „Afghan nationals perceived as Westernized“:

    In their August 2018 report, the UNHCR noted that ‘[t]here are reports of individuals
    who returned from Western countries [to Afghanistan] having been threatened,
    tortured or killed by AGEs [Anti–Government Elements] on the grounds that they
    were perceived to have adopted values associated with these countries, or they
    had become “foreigners” or that they were spies for or supported a Western
    country.’ The same source indicated that the following individuals could be
    additionally seen as Westernised by the AGEs: humanitarian and development
    workers, and women in public sphere.

Würde man anerkennen, dass allein der Aufenthalt in Europa als solcher in den Augen
der Taliban ein individueller Verfolgungsgrund ist, dann müsste man allen Afghan_innen,
egal wovor sie ursprünglich geflohen waren, nicht nur subsidiären Schutz, sondern Asyl
gewähren. Soweit die Justiz die Verantwortung für eine solche Entscheidung nicht auf
sich nehmen wollte – könnte man das nicht vielleicht sogar verstehen?

Andererseits: Wofür sind die Gerichte unabhängig, anders als die von ihren Wähler_innen
bedrängten Politiker_innen, wenn nicht dafür, einen Abschiebestopp verhängen zu
können, wo die Sachlage einen Abschiebestopp verlangt?

Die Woche auf dem Verfassungsblog

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Morgen jähren sich die Terroranschläge vom 11. September 2001 zum 20. Mal. Was hat
damals begonnen? Als Auftaktevent für unsere Kette von Online-Symposien, die wir in
den nächsten Monaten gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte und gefördert
von der Bundeszentrale für politische Bildung aus diesem Anlass veranstalten wollen,
haben wir heute mittag live mit drei tollen Gästen – EVA PILS, ANJA MIHR und
STEPHAN DETJEN, moderiert von our own MARLENE STRAUB – die Folgen der
Anschläge auf Recht und Verfassung im nationalen, europäischen und globalen Rahmen
diskutiert.

Die Verfassung von Afghanistan von 2004 halten manche für mitschuldig am
Zusammenbruch des politischen Systems. SHAMSHAD PASARLAY widerspricht: Trotz
ihrer Mängel hätte die Verfassung funktionieren können, wenn sich beizeiten der
politische Wille gefunden hätte, an diesen Mängeln etwas zu ändern.

Im Wahlprogramm der CDU/CSU findet sich unterdessen eine asylrechtliche Forderung,
der man ihre Brisanz nicht auf den ersten Blick anmerkt: eine Liste mit „kleinen sicheren
Herkunftsstaaten„, die nur für den unionsrechtlich determinierten Flüchtlingsschutz und
den subsidiären Schutz eine Sicherheitsvermutung etabliert. Für RHEA NACHTIGALL
verbirgt sich dahinter der verfassungswidrige Versuch, den Widerstand des Bundesrats
gegen eine Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten zu umgehen.

„Gib der Natur Rechte!“, fordert ein Volksbegehren in Bayern, das natürliche
Eigenrechte in die bayerische Landesverfassung aufnehmen möchte. ELENA SOFIA
EWERING und ANDREAS GUTMANN halten das für verfassungsrechtlich
unproblematisch und eine große Chance für eine Weiterentwicklung des Rechts.

Kurz vor der Bundestagswahl wächst die Angst vor Fake News und Desinformation in
Deutschland. SEBASTIAN GOLLA warnt davor, das Gegenmittel in neuen Strafgesetzen
zu suchen.

Im Kampf gegen den Klimawandel kommt Jurist_innen eine Schlüsselrolle zu. SASKIA
STUCKI, GUILLAUME FUTHAZAR, TOM SPARKS, ERIK TUCHTFELD und HANNAH
FOEHR rufen dazu auf, sich dem World Lawyer’s Pledge on Climate Change
anzuschließen.

Unser Online-Symposium „To Break Up or Regulate Big Tech“ zum Digitalen
Gesetzgebungspaket der EU ist in die zweite Woche und zu Ende gegangen mit
Beiträgen von CATALINA GOANTA, JENS-UWE FRANCK und MARTIN PEITZ, HANNAH
RUSCHEMEIER, PADDY LEERSEN und RUTH JANAL.

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Wie schon letzte Woche angekündigt gibt es ab diesem Sonntag um 18 Uhr etwas
Besonderes zu sehen, und zwar hier. Nicht verpassen!

Das war’s für diese Woche. Ihnen alles Gute, unterstützen Sie uns bitte auf Steady oder
über Paypal, und bleiben Sie gesund, geimpft oder genesen!

Ihr

Max Steinbeis

LICENSED UNDER CC BY SA
SUGGESTED CITATION Steinbeis, Maximilian: Solang sie noch am Leben sind,
VerfBlog, 2021/9/10, https://verfassungsblog.de/solang-sie-noch-am-leben-sind/, DOI:
10.17176/20210911-093857-0.

Maximilian Steinbeis Maximilian Steinbeis ist Gründer und Chefredakteur des
Verfassungsblogs.

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