Nichts geht mehr. Geht nichts mehr? - Flüchtlingsrat ...
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Fluchtgründe und Rückkehrrisiken Nichts geht mehr. Geht nichts mehr? Thomas Rudhof-Seibert Afghanistan vor dem Truppenabzug Seit dem 1. Mai 2021 ver- Auf Sieg rüsten sich allein die Taliban, bloß informell gehalten, aufgrund des Aus- die sich in allem bestätigt und gerecht- schlusses des Iran aus der sog. „internati- lassen die ausländischen fertigt sehen: gegen sie richtete sich die onalen Staatengemeinschaft.“ Intervention, die Invasoren ziehen ab, Truppen Afghanistan, der sie bleiben. Der Regierung des Präsiden- Darüber hinaus sprachen alle Beteiligten immer wieder mit Pakistan, der ersten ten Ashraf Ghani – bezeichnenderweise Abzug soll (ausgerechnet!) von fast allen Beteiligten meist mit dem Schutzmacht der Taliban. Alle – bis auf Indien: Pakistan und Indien reden so gut am 11. September abge- Taliban-Ausdruck „Kabul Administration“ wie gar nicht miteinander. Die Taliban benannt – bleiben dann nur noch die eige- jedenfalls haben unter Verweis auf die schlossen sein. Damit geht nen Waffen. Dasselbe gilt für alle ande- geplante Teilnahme der „Kabul Adminis- ren Parteien: Das einzig greifbare Resultat eine von Anfang an ge- der den Abzug weniger als dürftig legiti- tration“ ihre eigene Beteiligung an der für Anfang Mai vorgesehenen Konferenz mierenden „Friedensverhandlungen“ liegt scheiterte, zwanzig Jahre in der offen durchgeführten allgemeinen in Istanbul frühzeitig abgesagt. Eingela- den waren Vertreter*innen aller involvier- sich fortschleppende und Selbstbewaffnung ausnahmslos aller ver- ten Staaten: die USA, die EU, Russland, bliebenen Akteur*innen. China, Indien und Pakistan, die Türkei ist immer blutige Intervention Das schließt sogar – warum zur Hölle als Gastgeber prominent dabei. Eingela- zu Ende. auch nicht? – die zwischen allen Stüh- den sind die afghanischen bewaffneten len gefangene afghanische Demokratie- Formationen, von der Regierung in Kabul und Menschenrechtsbewegung ein. Tat- über die Taliban bis zu den Warlords. sächlich musste das Kabuler Büro des Letztere verstehen sich als medico-Partners Afghanistan Human Vertreter*innen der verschiedenen ethni- Rights and Democracy Organisation schen Gruppen, deren Konflikt seit zwei (AHRDO) immer schon von bewaffne- Jahrhunderten die Tiefengrammatik des ten Wachen geschützt werden. Nachdem postkolonialen afghanischen Dauerkrie- die AHRDO-Kolleg*innen vor zwei Jahren ges bildet. Die Taliban fungieren dabei einen Fluchtweg in ein Nachbargebäude als Repräsentation der Paschtun*innen, angelegt hatten, auf dem sie zum Schutz der größten aller Gruppen, vor den vor Verfolgern eine Eisentür hinter sich Usbek*innen, Tadschik*innen, Hazara schließen können, lagern im Büro jetzt oder Sadat. Nicht eingeladen sind allein auch schwerere Waffen. Quiet days in Sprecher*innen der Demokratie- und Kabul? Das nun gerade nicht – wie auch? Menschenrechtsbewegung. Nicht dabei sind Sprecher*innen von Überlebenden Keiner weiß mehr der Gewalt gleich welchen ethnischen oder religiösen Hintergrunds. Sie wurden Allerdings ist der Rückfall des nie befrie- in allen bisherigen Verhandlungsrunden, deten gewaltsamen Konflikts in den offe- wenn überhaupt, dann nur in Lobbyge- nen Krieg aller gegen alle noch nicht ganz sprächen am Rand gehört. Das wird wohl beschlossene Sache. Es ist nicht einmal so bleiben. sicher, ob die Taliban im September wirk- lich bewaffnet nach der Macht greifen Dennoch lassen ausnahmslos alle aus- werden. Deshalb wird noch immer flei- ländischen Regierungen von der Fiktion ßig weiterverhandelt. Auf die Gesprächs- nicht ab, dass es sich um einen “Afghan- runden in Doha folgten weitere Verhand- owned and Afghan-led process” handeln lungen in Moskau und Teheran, letztere würde, also um einen Prozess, der von 130 · 06/2021 * Der Schlepper Nr. 100 * www.frsh.de
Fluchtgründe und Rückkehrrisiken In Afghanistan verschärft sich die Unsicherheitslage täglich. Die Innenministerkonferenz soll einen Abschiebungsstopp beschließen, aber #AfghanistanNotSafe. Dieses Nylon-Banner hat die Maße 2 x 1 Meter und wir hoffen, dass es bald an Fenstern und Fassaden hängt, an Kirchtürmen und Minaretten flattert, auf Demos und Kundgebungen getragen wird. Bezug gegen Versandkosten beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein: office@frsh.de Afghan*innen für Afghan*innen geführt traditioneller Bindung an Teheran, aber sche Staat, der Afghanistan mehr noch als würde. Nichts könnte falscher sein. dann auch um die Taliban. Indien geht bisher zu einer Basis seiner globalen Ope- es um den indisch-pakistanischen Kon- rationen machen will. flikt und um seinen eigenen „Krieg gegen Worum es geht Politisch geht es um die Form eines künf- den Terror.“ Dabei laviert das Land zwi- tigen afghanischen Staats: darum, ob Richtig ist, dass die zur Verhandlung Gela- schen seiner traditionellen Bindung an dieser weiter ein Zentralstaat oder ein denen ausschließlich ihren eigenen Inte- Moskau und der aktuell stärkeren Bin- wie auch immer föderalisierter Bundes- ressen folgen. So geht es den ausländi- dung an Washington. Mit im Kalkül Delhis staat sein soll. Ein Schweizer Modell ist schen Regierungen nicht um Afghanis- ist natürlich auch der indisch-chinesische die Option zugleich der Warlords wie der tan selbst, sondern allein um die Rolle des Konflikt. Demokratie- und Menschenrechtsbewe- kriegszerschundenen Hindukusch in ihren Den Taliban geht es, wie schon gesagt, gung, zu der deshalb auch viele Hazara jeweiligen geopolitischen Kalkülen. um ihren letztendlichen Sieg im über gehören, Angehörige der größten unter Den USA geht’s um ihre eigentlich schon zwanzigjährigen Krieg. Der Regierung in den kleineren ethnischen Gruppen. Tat- verlorene Rolle als Führungsmacht des Kabul geht es um ihren bloßen Bestand. sächlich hat der Krieg in dieser Frage globalen Empire, darin um die Wahrung Der ist extrem gefährdet, weil alle ande- seinen postkolonialen Ursprung: eth- des Gesichts und natürlich um den globa- ren Parteien zur Bildung einer All-Par- nisch-religiöse Konflikte größeren Ausma- len „Krieg gegen den Terror.“ Die euro- teien-Interimsregierung neigen, die dann ßes gab und gibt es in diesem Land erst päischen Länder sind mit den USA mit- irgendwann freie Wahlen durchführen seit dem 18. Jahrhundert, seit der ersten gehangen-mitgefangen, agieren aber soll, wegen der Demokratie, der Men- Gründung eines Staats des zuvor gar nicht auch auf eigene Rechnung, nicht zuletzt, schen- und der Frauenrechte. Solche gebräuchlichen Namens „Afghanistan.“ wie immer, im Blick auf Migrationspoli- freien Wahlen möchte Präsident Ghani Den Menschenrechtsaktivist*innen geht tik, d. h. auf Grenzsicherung: erbärmli- lieber innerhalb der nächsten sechs es in der Föderalisierung um die Über- cher geht’s immer. Russland verfolgt seine Monate: er sei ja schließlich bis dahin der windung dessen, was bisher unter einer eigenen Ansprüche aufs Empire und darin frei gewählte Präsident. An einer Inte- afghanischen Nation verstanden wurde, seine Ansprüche auf das, was in der russi- rimsregierung wollen die ethnisch basier- zugunsten eines sozialen Gefüges, das auf schen Amtssprache „Greater Asia“ heißt. ten afghanischen Warlords je ihren eige- der individuellen und kollektiven Selbst- China geht es um China, der Türkei geht nen Anteil, ansonsten geht es ihnen wie bestimmung aller seiner Angehörigen es um die Türkei. Pakistan geht es um die der Regierung in Kabul auch nur um ihren beruhen würde. Das erste Wort käme Taliban, dem Iran um Minderheiten mit Bestand. Faktisch mit an Bord, wenn auch da eigentlich den Überlebenden der zu gar nichts eingeladen, ist der Islami- www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 100 * 06/2021 · 131
Fluchtgründe und Rückkehrrisiken Gewalt zu, gleich welchen ethnisch-religi- lebt das Land allein und ausschließlich von kel 13 der Allgemeinen Erklärung der ösen Hintergrunds. Die will aber niemand der Gewalt – die zu ihrer Durchführung Menschenrechte: wirklich anhören, und deshalb kommt und Aufrechterhaltung notwendigen Ver- 1. Jede* hat das Recht, sich innerhalb dieser Idee nur eine utopische Dimension waltungstätigkeiten und die Zuflüsse an eines Staates frei zu bewegen und seinen zu. Das wiederum spricht nicht gegen die humanitärer Hilfe eingeschlossen. Aufenthaltsort frei zu wählen. 2. Jede* Idee, sondern gegen die Wirklichkeit. Geschätzt 70 Prozent, nach ande- hat das Recht, jedes Land, einschließlich ren Berechnungen gar 90 Prozent seines eigenen, zu verlassen und in sein Gehen oder bleiben der Afghan*innen leben unterhalb der Land zurückzukehren. Armutsgrenze: eine ungeheuerliche Zahl. Zur Schwäche der Demokratie- und Men- Zu erinnern ist dabei an den Skandal, dass Und: In der tiefen Krise der globalen kapi- schenrechtsbewegung gehört, dass viele dem Menschenrecht auf Auswanderung talistischen Ökonomie ist gar nicht abzu- ihrer Aktivist*innen das Land bereits ver- formell noch kein Menschenrecht auf Ein- sehen, wie Afghanistan seine Zugehö- lassen haben und jeden weiteren Tag wanderung korrespondiert: obwohl letz- rigkeit zur weltweiten schnell wachsen- mehr von ihnen gehen. Sie tun es darin teres dem ersteren logisch einbeschrie- den Surplus-Bevölkerung ohne irgend- vielen, vielen anderen Afghan*innen ben ist und erst die Einheit beider ein ein existenzsicherndes Einkommen über- gleich. Allein 2019 haben über 100.000 wirkliches Recht auf Freizügigkeit konsti- winden sollte. Das Land ist bitterarm und Menschen das Land verlassen, insgesamt tuiert. Gehen zu wollen, gehen zu können wird es bleiben, alles, was ihm angebo- gibt es außerhalb des Landes weltweit 2,7 und an einem Ort der Wahl ankommen ten wird, ist Geschwätz. Auch das spricht Millionen Geflüchtete afghanischen Hin- zu dürfen ist nicht nur, doch besonders für die Rückkehr zum Krieg im vollen tergrunds. Von den im Land lebenden 35 für Afghan*innen das aktuell vordringliche Sinn des Begriffs: Schließlich ist der Krieg Millionen Menschen sind 2,6 Million Bin- Menschenrecht. selbst eine politische Ökonomie, und in nenvertriebene. 5,2 Millionen Menschen Afghanistan nach wie vor die unstrittig Allerdings können – und wollen nicht alle waren früher Geflüchtete, sind zwischen- aussichtsreichste für alle, die Waffen zu gehen. Zu ihnen gehören die Demokratie- zeitlich aber zurückgekehrt. Die Rück- benutzen wissen. Den Bodensatz dieser und Menschenrechtsaktivist*innen, die kehrbewegung ist heute natürlich ins Sto- Ökonomie bilden natürlich die Überle- in der objektiven Perspektivlosigkeit des cken geraten und messbar rückläufig. benden der Gewalt, die auf Dauer, wenn Landes an ihrer subjektiven Perspektive Ein starkes Motiv zum Verlassen des nicht auf immer physisch, psychisch und festhalten. Sie verlangen weiter, gehört zu Landes ist die Ankündigung der USA existenziell Verwundeten und Verletzten. werden. Sie verlangen, dass die Überle- und ihrer Verbündeten, mit den eige- Sie sind die Verdammten dieses Landes. benden der Gewalt gehört werden, gleich nen Soldat*innen auch ihr afghanisches welchen ethnischen oder religiösen Hin- Zivilpersonal auszufliegen. Das ent- tergrunds. Gleichgültig auch, welcher der spricht zwar einer berechtigten Forde- Subjektive Perspektiven Kriegsparteien sie individuell vielleicht rung nicht nur der Betroffenen, trägt aber Auf den Punkt gebracht: Die Lage Afgha- zugehört haben, Taliban eingeschlossen. zur wachsenden Verzweiflung derer bei, nistans ist objektiv perspektivlos, wer Sie verlangen ernsthafte Verhandlungen die bleiben müssen. Die resultiert natür- etwas anderes behauptet, lügt wider bes- um Demokratisierung und Föderalisierung lich aus der Gewalt, hängt aber auch an seres Wissen und lügt schamlos. Trotz- auf der Grundlage des Menschenrechts. der desaströsen ökonomischen Lage. Sie dem übersetzt sich objektive Perspektiv- Sie können bis auf weiteres damit leben, ist der nicht vordringlich genannte, viel- losigkeit nicht umstandslos in subjektive dass dieser Prozess den Beitritt der Tali- leicht aber letztentscheidende Grund der Perspektivlosigkeit. Deshalb ist an dieser ban ins regierende Machtkartell ein- objektiven Perspektivlosigkeit. Auch wenn Stelle an das Menschenrecht auf Freizü- schließt. Sie greifen diesem Prozess Afghanistan an Ressourcen nicht arm ist, gigkeit zu erinnern, niedergelegt im Arti- voraus, indem sie selbst Möglichkeiten schaffen, vom je eigenen ethnisch-religi- ösen Hintergrund politisch Abstand zu nehmen. Nie völlig, doch täglich etwas Vielen Dank! mehr. Das beginnt mit Workshops, erprobt sich in gegenseitiger Hilfe auch Wir bedanken uns herzlich bei allen Autor*innen, Fotograf*innen und allen ökonomischer Art, spielt sich in Theater- anderen, deren Engagement dazu beiträgt, dass dieses Magazin regelmäßig eine festivals, äußert sich noch immer auch in breite Palette von Themen der Migration und Flüchtlingssolidarität im nördlichs- Demonstrationen, verstetigt sich in Netz- ten Bundesland und weit darüber hinaus behandeln kann. werken wie dem um die Afghan Human Als kleiner Verein sind wir auf die Mitarbeit der zahlreichen Ehren- und Haupt- Rights and Democracy Organisation. amtlichen angewiesen, die ihre Zeit für das Magazin „Der Schlepper“ verwen- Deren Selbstbehauptung ist Selbstbehaup- den. Daher möchten wir an dieser Stelle ausdrücklich dafür werben, sich an der tung der Demokratie in Afghanistan und Gestaltung von „Der Schlepper“ zu beteiligen. Vorstellungen von besonderen anderswo, und das zuerst in der eigenen Initiativen, Berichte über aktuelle Entwicklungen und Essays über spannende Person der jeweils Beteiligten. Der Idee (Flucht-)Geschichten sind uns stets willkommen. nach, also gegen die Wirklichkeit. Die Redaktion von „Der Schlepper“ schlepper@frsh.de Thomas Rudhof-Seibert ist Referent für Süd- und Süd-Ost-Asien und das Thema Menschenrechte bei der Organisation medico international in Frankfurt/ Main. www.medico.de 132 · 06/2021 * Der Schlepper Nr. 100 * www.frsh.de
Fluchtgründe und Rückkehrrisiken „Gesichter 2020“ Der Künstler Andranik Baghdasaryan ist 1988 in Eriwan / Armenien geboren und musste 2016 nach Deutschland fliehen. Das Thema Flucht über das Mittelmeer durchzieht sein in Deutschland entstandenes Werk wie ein roter Faden. www.facebook.com/andranik.baghdasaryan.5 www.baghdasaryan.de www.frsh.de * Der Schlepper Nr. 100 * 06/2021 · 133
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